Der Regen trommelte gegen die grossen Fenster, sein Rhythmus wurde immer wieder durch heftige Windböen gebrochen. Es war kurz nach acht Uhr und stockdunkel. Weltuntergangsstimmung, dachte Alyssa und rieb sich die kalten Arme. Beklommen schaute sie sich im Schulzimmer um. Alle starrten sie an – einundzwanzig Augenpaare, einige neugierig, andere skeptisch, die meisten gleichgültig.
Sie trug ihren bordeauxroten Lieblingspullover von Mango. Die dunkelrot gefärbten Haare hingen als Fischgratzopf über die rechte Schulter, und ein schwarzer Lidstrich betonte ihre braunen Augen. Für den Zopf hatte Alyssa fünfzehn Minuten gebraucht, für die Augen eine halbe Stunde. Normalerweise verschwendete sie nie so viel Zeit im Badezimmer. Heute aber wollte sie sich von ihrer besten Seite zeigen.
Ihre Familie war nicht zum ersten Mal umgezogen: Kindergarten in Basel, Primarschule in Zug, die erste und zweite Oberstufe im Bündnerland, die letzte nun in einem Zürcher Vorort. Sie hatte gelernt, dass man die Macht des ersten Eindrucks nicht unterschätzen durfte. Vielleicht war sie deshalb so nervös. Ihr Körper fühlte sich schweissgebadet an, und ihre Stimmbänder waren so rau, als hätte sie den ganzen Morgen Eiswürfel gelutscht.
Grigorios Papadakis, der glatzköpfige Mathematiklehrer, räusperte sich. Vor einer halben Minute hatte er sie dazu aufgefordert, sich vorzustellen, und noch immer war kein Laut über ihre Lippen gekommen. Sie wusste, dass sie etwas sagen musste. Zaghaft öffnete sie den Mund. Papadakis reckte neugierig das Kinn.
„Mein Name ist Alyssa Müller“, begann sie.
„Das wissen wir!“, unterbrach sie ein Junge mit Gorillagesicht. Seine Mitschüler lachten.
Das blonde Mädchen neben ihm stiess ihn in die Seite. „Nun lass sie doch ausreden!“
Alyssa versuchte, ihre Nervosität zu verdrängen. „Mein Name ist Alyssa Müller“, wiederholte sie mit zittriger Stimme. „Ich bin vor zwei Wochen mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester hierhergezogen. Meine Hobbys sind Skifahren, Lesen und Musik.“
„Hast du einen Freund?“, fragte das Gorillagesicht.
„Nein.“
„Möchtest du einen?“
Papadakis räusperte sich wieder, diesmal gereizt. „Vielen Dank, Alyssa. Das reicht fürs Erste.“ Er zeigte auf den leeren Platz in der zweiten Reihe. Alyssa setzte sich neben eine Schülerin, deren kurze Haare wie verbrannte Zimtsternzacken vom Kopf abstanden. Sie besass das spitze Kinn einer Manga-Figur, grosse Augen und ein entwaffnendes Lächeln.
„Das hast du gut gemacht da vorn“, sagte sie. „Ich bin Chili.“ Ihre liebenswürdige Art war Wellness für Alyssas Seele. Über Alyssas Mund huschte ebenfalls ein Lächeln.
„Ich heisse Alyssa“, wiederholte sie und zuckte zusammen, als Papadakis laut um Ruhe bat.
Missmutig schaute sie zur Fensterfront. Es regnete immer noch in Strömen; die Tropfen lieferten sich ein Formel-1-Rennen auf den Scheiben. Sie konnte kaum glauben, dass sie am Vortag noch mit T-Shirt und Shorts auf der Terrasse gelegen hatte. Nun wirkten gestern und heute wie zwei andere Welten, zwei verschiedene Leben. Der Gedanke machte sie wehmütig.
Sie hatte nicht schon wieder umziehen wollen, Chur hatte ihr gefallen. Dort war sie mit einem Bein in den Bergen und mit dem anderen im städtischen Leben gestanden. Natürlich hatte sie sich umgehört: Das nächste Skigebiet lag keine dreissig Minuten von ihrem neuen Zuhause entfernt, ihre geliebten Berge waren also in greifbarer Nähe. Aber sollte sie das wirklich beruhigen? Würden sie nicht ohnehin bald wieder umziehen? Ihre Mutter hielt es selten lange an einem Ort aus. Das lag vermutlich an ihrer Erziehung: Alyssas Grosseltern waren Weltenbürger gewesen, die auf jedem Kontinent mindestens einen Kochtopf hinterlassen hatten. Wenigstens beschränkt sich meine Mutter auf die Schweiz, dachte sie und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Der Anblick der Regentropfen regte ihren Tränenfluss an. Auf einmal fühlte sie sich wie die grösste Einzelgängerin auf Erden. Sie war nicht kontaktscheu, aber als Umzugskind fand man nur schwer Freunde. Hoffentlich war das diesmal anders.
Sie atmete tief durch, um den Kloss aus ihrem Hals zu vertreiben. Er blieb wie Pappe stecken. Scheisse, fluchte sie innerlich.
Der Regen liess mit dem Gong zur Morgenpause nach. Alyssa verliess das Schulzimmer vor allen anderen und begab sich auf den Pausenplatz.
Die Schule befand sich im ländlichsten Gebiet weit und breit. Es gab nur eine Hauptstrasse, die wegen ihres direkten Autobahnanschlusses so stark befahren war, dass die lokalen Politiker regelmässig Vorstösse für eine Umfahrung unternahmen.
Mit Ausnahme der Hauptstrasse gab es hier vor allem Wohnquartiere, Bäume und Wiesen. Zum Dorfkern und angrenzenden See waren es mindestens fünfzehn Minuten zu Fuss. Alyssa blieb folglich keine Wahl: Sie musste die nächste halbe Stunde auf dem Pausenhof totschlagen.
Unter zwei Eichenbäumen entdeckte sie eine Parkbank. Der Regen hatte sich auf der Sitzfläche zu einem Teich angesammelt, wovon sie sich aber nicht abschrecken liess. Mit dem Jackenärmel wischte sie das Wasser weg und setzte sich hin. Dann zog sie ein Buch aus der Umhängetasche. Die Blätter knisterten, als sie nach dem Eselsohr suchte, das sie am Vorabend hinterlassen hatte. Ihr fehlten noch zwanzig Seiten bis zum Schluss, und der Mörder war so gut wie gefasst. Private Investigator Patrick van Pelt leistete einmal mehr hervorragende Arbeit.
„Was liest du da?“
Erschrocken hob sie den Kopf. Vor ihrer Parkbank standen auf einmal Chili und das blonde Mädchen aus ihrer Klasse, daneben eine leicht übergewichtige Brünette mit Mondgesicht.
Die Blondhaarige nahm ihr den Roman aus den Händen. „Blutleer“, zitierte sie den Titel und studierte den Buchrücken. Ihre geschwungenen Augenbrauen zuckten dabei skeptisch. Alyssas Wangen liefen knallrot an. Sie hasste es, wenn andere über ihren Geschmack urteilten. Erst recht, wenn es so perfekt aussehende Mädchen taten.
Tatsächlich wirkte die Blonde wie ein Model – und das, obwohl sie alles andere als makellos war. So hatte sie zum Beispiel ein riesiges Muttermal am Kinn. Für die Figur hingegen hätte Alyssa gemordet: feingliedrig und weiblich. Alyssa fühlte sich daneben wie ein Mähdrescher. Zwar war auch sie athletisch und schlank, aber eben auch sehr, sehr gross. Und welches Mädchen wollte schon neunzig Prozent aller Jungs überragen?
Das blondhaarige Mädchen gab ihr das Buch zurück. Ein sympathisches Lächeln huschte über ihre zartrosa Lippen. „Mein Name ist Natalie. Wir gehen in dieselbe Klasse“, stellte sie sich vor und zeigte auf die anderen Mädchen. „Das sind Chili und Yasmin.“
„Wir kennen uns bereits!“, rief Chili, und auf der Parkbank wurde es enger, als sie sich zusammen mit Yasmin dazu zwängte. Alyssa spürte, wie ihr Hintern auf einmal zur Hälfte in der Luft hing.
„Und jetzt erzähl mal – Blutleer, ja?“ Natalie liess nicht locker. „Das klingt nach Coop-Sammelkiste. Taugt die Geschichte etwas?“
„Ist ganz okay“, erwiderte Alyssa und verschwieg, dass sie sich längst unsterblich in die männliche Hauptfigur verliebt hatte.
Ihre Fantasie war berühmt und berüchtigt. Sie konnte kein Buch lesen, ohne sich alles bis in das kleinste Detail auszumalen. Jede Zeile verwandelte sich in ein Bild, und jeder Buchstabe sprang ihr so lebhaft entgegen, als sei die Geschichte real. Es war also kein Wunder, dass sie sich manchmal in eine Romanfigur verliebte, die ausserhalb ihres Kopfes gar nicht existierte. Und ebenso war es kein Wunder, dass sie so ziemlich jedes Buch, das man ihr vorlegte, mochte. Ihr Kopf schrieb ohnehin die halbe Geschichte um.
„Was liest du sonst so? Magst du Fantasy?“, fragte Yasmin. „Kennst du Wolfsmond von Sarah Kewell? Oder Transzendenz von Michael Steele?“
„Oh mein Gott, Transzendenz!“, rief Natalie, noch bevor Alyssa den Mund öffnen konnte. „Das ist mein absolutes Lieblingsbuch. Das kennst du bestimmt, oder?“ Die Mädchen starrten sie erwartungsvoll an.
Alyssa schluckte. Sie hatte noch nie von Transzendenz gehört.
„Der Name sagt mir was“, log sie trotzdem, da sie nicht negativ auffallen wollte. „Darin geht es um – äh … Transzendenz.“
Natalie kicherte. „Um die übersinnlichen Kräfte von Abigail Rose. Ich kann es dir ausleihen, wenn du möchtest. Es ist verdammt spannend und sehr realistisch!“
Alyssa bezweifelte, dass ein Fantasy-Buch realistisch sein konnte. Trotzdem nickte sie und hoffte, Natalie würde ihr Angebot wieder vergessen. Sie hatte keine Zeit für Transzendenz. Zu Hause lagen noch drei ungelesene Fälle von Patrick van Pelt. Ihre Wangen wurden rosig, als sie an den fiktiven Ermittler dachte. In diesem Moment entdeckte sie einen Jungen, der mit seinem Fahrrad auf ihre Parkbank zusteuerte. Ungläubig kniff sie die Augen zusammen.
Er sah aus wie die der kleine Bruder von Patrick van Pelt: mittelgross gewachsen, mit blond gewellten Haaren, schelmisch funkelnden Augen und Grübchen auf den Wangen, die sich vertieften, als er seinen Mund zu einem Lächeln verzog. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als er sie erreichte – und dann noch einen, als er Natalie hochzog und auf den Mund küsste.
„Hey, Baby.“
Die Ernüchterung schoss wie Eiswasser durch ihre Venen. Das hätte sie sich denken können: Ein solcher Junge musste eine Freundin haben. Dass seine Wahl auf Natalie gefallen war, überraschte sie ebenfalls nicht. Die beiden sahen aus wie ein Promi-Paar. Okay, sein „Baby“ war lächerlich gewesen. Trotzdem fasste Alyssa nach ihrem Zopf und fragte sich, ob sie ihn blond färben sollte.
„Alyssa, das ist Jonas“, sagte Natalie in diesem Moment, und Alyssas Knie wurden weich, als sie Jonas‘ Lächeln auffing. Da sie nur noch mit einer halben Pobacke auf der Sitzbank sass, verlor sie das Gleichgewicht und fiel herunter. Braunes Regenwasser spritzte durch die Luft. Sie würgte und hustete.
„Alles in Ordnung?“ Natalie sprang erschrocken an ihre Seite. Peinlich berührt liess sich Alyssa von ihr aufhelfen. Dabei erhaschte sie einen Blick auf einen zweiten Jungen, der ein paar Meter weiter weg unter einem Baum stand. Er trug eine grob gestrickte blaue Wollmütze. Darunter kamen dunkle Haarsträhnen zum Vorschein. Seine Mundwinkel waren spöttisch verzogen – offenbar hatte er Alyssas Sturz mitbekommen. Diese wäre am liebsten an Ort und Stelle abgetaucht. Sie liess Natalie los und klopfte sich den Schmutz von der Jacke. Ihr Kopf glühte vor Scham.
Das Hitzegefühl verstärkte sich, als Jonas an sie herantrat. Durch seine plötzliche Nähe versperrte er ihr die Sicht auf den anderen Jungen. Sie fragte sich, ob das seine Absicht war.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte er besorgt. Ein fruchtiges Parfüm ging von ihm aus. Der Duft hatte etwas Mädchenhaftes. Ausserdem war er etwas kleiner als sie. Sie sah sich trotzdem für den Bruchteil einer Sekunde mit ihm vor dem Traualtar stehen – mit dem wollbemützten Jungen als hineinplatzendem Nebenbuhler.
Natalie zerstörte den Tagtraum jäh. „Du solltest dich auf der Toilette frisch machen“, sagte sie und packte sie beim Arm. Alyssa liess sich wehrlos mitschleifen. Ihr Blick flog zu Jonas zurück. Im nächsten Moment haftete er wieder an dem Jungen mit der blauen Wollmütze.
Er beobachtete sie immer noch.
Ob er ebenfalls Frauenparfüm benutzte? Die Frage war absurd. Trotzdem hing Alyssa ihr lange nach.
Alyssas Mutter hiess Bettina, und seit der zweiten Scheidung galt ihre Liebe dem Kochen. Aus diesem Grund nannte sie sich Betty, und zwar nach der Werbeköchin Betty Bossi. Sie dozierte Politologie an zwei verschiedenen Fachhochschulen und kam oft erst spät nach Hause. Da sie trotzdem nicht auf grosse Menüs verzichten wollte, stand das Abendessen selten vor zwanzig Uhr auf dem Tisch.
Aktuell fuhr sie total auf vegane Gerichte ab. Alyssa hoffte, dass das nur eine Phase war. Jede Mahlzeit sah aus, als wollte ihre Mutter sie vergiften.
Heute gab es Kürbis-Gnocchi, die so dünnflüssig waren, dass sie noch auf dem Teller zu einem Teigklumpen zusammenwuchsen. Vorsichtig schielte Alyssa zu ihrem Bruder Noé und der kleinen Maja. Auch sie schienen wenig von den Ernährungsexperimenten ihrer Mutter zu halten.
Die Familie sass an einem Ecktisch in der Küche, da der Essplatz im Wohnzimmer von Zügelkartons belegt wurde.
„Packst du die vor unserem nächsten Umzug noch aus?“, fragte Alyssa zynisch, was ihrer Mutter einen tadelnden Blick entlockte. Sie war vierzig Jahre alt und pflegte ihr eigenes Aussehen wesentlich stärker als ihre Wohnung. Hier herrschte bereits nach zwei Wochen eine höhere Feinstaubbelastung als in China. Vielleicht lag es an dem Chaos daheim, dass sie immer in Panik geriet, sobald ihre Kinder aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Ihre erste Frage kam denn auch wenig überraschend: „Was habt ihr heute so getrieben? Wie war die Schule?“
„Der Kindergarten fängt erst morgen an!“, trällerte Maja, was ihr einen liebevollen Wangenknuff einbrachte.
„Ich weiss, Schätzchen. Aber wie erging es euch, Kids? Gefällt es dir am Gymnasium, Noé?“
„Es ist ganz okay“, druckste er herum. Seine Augen waren tiefrot geschwollen. Es war offensichtlich, dass er gekifft hatte. Alyssa musterte ihn abschätzig und zuckte zusammen, als sich Betty an sie wandte.
„Und bei dir, Alyssa?“
„Ganz okay“, wiederholte sie Noés Antwort, woraufhin ihre Mutter beleidigt die ausgedünnten Augenbrauen verzog.
„Muss man euch alles aus der Nase ziehen? Habt ihr denn gar nichts Spannendes erlebt?“
Alyssa dachte umgehend an den Jungen mit der blauen Wollmütze. Dann
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Literaturwerkstatt/Silvia Götschi
Bildmaterialien: Literaturwerkstatt GmbH
Lektorat: Silvia Götschi Literaturwerkstatt
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0694-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Rahel Hefti wuchs in der Nähe von Zürich auf. Sie studierte Medien- und Kommunikations- und Filmwissenschaften an der Universität Zürich und schloss 2013 ihr Masterstudium ab. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie zur persuasiven Wirkung von Product Placements in der modernen Belletristik.
Vor zweieinhalb Jahren erschien ihr Coming of Age-Roman «Das verlorene Dorf» beim Zentralschweizer Verlag Literaturwerkstatt. 2013 schrieb sie zudem einen Kurzkrimi für die Sommerliteraturausgabe des Strassenmagazins «Surprise». Weitere Gastautoren waren Milena Moser, Mitra Devi, Michael Herzig und Sunil Mann.
Im April 2015 veröffentlicht der Verlag Literaturwerkstatt Rahel Heftis zweites Jugendbuch «Alyssa Illusion».