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Prolog


Dich wollen und nicht halten können
Dich trinken und trotzdem verdursten
Dich essen und den Hunger nicht stillen
Dich lieben und doch

Dich loslassen müssen



Ein Sommermorgen.
Zwanzig vor vier auf dem Hauptbahnhof und immer noch stockdunkel.
Ich wünschte, es wäre später und ich hätte dies alles schon hinter mir. Wenige Menschen auf dem Perron. Zwei Herren im Anzug in meiner Nähe, ein paar Mädchen, Studentinnen, nahm ich an. Alle schweigend. Der Geruch von Maschinenöl. Blecherne Stimmen über die Mikrofone und die Ankündigung meines Zuges.
Mir gegenüber stand Gina, still, in sich gekehrt; ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle meine Worte schienen mir abhanden gekommen zu sein.
Ich hasste Abschiede. Sie vermittelten mir immer ein Gefühl von Leere, von einem sonderbaren Vakuum. Und dieser Abschied warf mehr als zuvor die Frage auf, ob ich mich richtig entschieden hatte.
Ein erzwungenes Lächeln auf Ginas Gesicht.
Sie griff in ihre Tasche und holte ein Buch hervor. Klein war es, mit rotem und neutralem Einband. Ein Leineneinband, zumindest fühlte es sich so an, es mochte um die zweihundert Seiten umfassen, was mir durch den Kopf ging, als es mir Gina in die Hand drückte. Sie hatte eine Schnur darum gebunden.
„Es ist mein Abschiedsgeschenk“, sagte sie. „Aber versprich mir, dass du es erst anschaust, wenn du im Zug sitzt.“
Tränen in ihren Augen wie durchsichtige Perlen, während ich sie beschämt ansah. Ich sagte ihr nicht, dass es mir auch nicht besser ging. Gina sollte nicht denken, dass mich das Weggehen genauso schmerzte.
Wenig später die Spitze einer starren stählernen Komposition, die langsam in den Bahnhof rollte.
Fast lautlos kamen die Waggons zum Stehen. Türen klappten nach aussen auf, ein paar Gestalten mit Koffern und Taschen traten über die Treppe.
„Lass es uns kurz machen!“
Mein vergeblicher Versuch, emotionslos zu klingen. Gina sah mich schweigend an. Ihre traurigen Augen wie unausgesprochene Worte, was mich zutiefst berührte.
„Ich möchte dich noch einmal umarmen.“
Sie fiel nach vorn, als hätte sie darauf gewartet. Schlang stürmisch die Arme um meinen Hals und drückte darin ihre ganze Verzweiflung aus. Ein inneres heftiges Weinen.
Sehnsucht auch in mir. Schmerzendes Verlangen, noch einmal ihren Körper zu spüren. Ihren schönen Körper, den ich nie ganz besessen hatte.
Ich verbarg mein Gesicht in ihren Haaren, im Gelb zermalten Weizens. Ein Duft wie von Honig.
So viel, was ich ihr noch sagen wollte. Mein Versäumtes nachholen. Mir fehlten die Worte.
Zu spät für irgendwelche Geständnisse.
„Du kannst dich ruhig in dein Abteil begeben“, schniefte Gina, während sie sich aus der Umklammerung löste. Nervös suchte sie nach einem Taschentuch.
Ich reichte ihr meines. Blick auf die Bahnhofuhr. Zehn vor vier. Noch ein paar Minuten, dann würde es vorüber sein.
Wieder etwas Vergangenes. Eine Geschichte. Die Stadt, meine Arbeit hier, Gina. Vor allem Gina.
Ich griff nach dem Koffer, der neben meinen Füssen stand.
„Pass auf dich auf!“
Das Einzige, was ich herausbrachte. Nur keine Sentimentalitäten. Gina hatte wohl etwas anderes erwartet.
Zwei Schritte trennten mich vom Eingang. Zeit genug, um es mir noch einmal zu überlegen. Zum Umkehren zu spät.
Ich stieg über die Eisentritte.
Etwas unbeholfen zwang ich mich mit dem sperrigen Koffer durch die Türöffnung und sah mich nach einem Platz um, wo ich in Fahrtrichtung und am Fenster sitzen konnte. Eine völlig sinnlose Übung. Von den Plätzen gähnte mir Leere entgegen.
Ich hievte den Koffer auf die Gepäckablage über mir, entledigte mich der Jacke und hängte sie an die Vorrichtung neben dem Fenster. Während ich durch die Scheiben blickte, sah ich Gina über den Bahnsteig schreiten. Mit diesem unverkennbaren geschmeidigen Gang, welcher mich an eine Katze erinnerte. Wie auf leisen Pfoten, weil sie nie fest auf den Fersen aufstand. Ihre Hüfte schwang, der Rock, ihr wohlgeformter Po. Die halblangen Haare flatterten ein wenig im Wind, der von der Bahnhofhalle her wehte.
Da ging sie.
Da entschwand ein halbes Jahr. Tage und Abende und eine Liebe, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber dies wurde mir erst jetzt bewusst, derweil ich an der Fensterscheibe klebte und vergeblich versuchte, die Frau auszumachen, die sich zwischen den anderen Leuten auflöste, als hätte es sie nie gegeben.
Kaum in Worte zu fassen, welche Traurigkeit mich in diesem Moment erfasste. Ein würgender Schmerz in meiner Kehle. Ich kam mir feige vor.
Ich liess mich in den Polstersitz fallen, froh darüber, dass ich mir ein Erste-Klasse-Billett geleistet hatte. Wenn die Welt unterging, so doch wenigstens angenehm. Weich liess sich alles besser ertragen. Ich streckte die Beine von mir und legte das rote Buch auf meine Oberschenkel.
Was mochte Gina bewogen haben, mir ein Buch zu schenken? Und was beinhaltete es? Auf dem Umschlag weder ein Titel noch der Name eines Autors. Ein Buch mit einem roten Einband.
Vielleicht wieder eine von ihren unzähligen Eigenheiten, mit denen sie mich täglich neu überrascht hatte.
Ich blickte auf meine Armbanduhr.
Der Zug würde, falls er pünktlich abfuhr, den Bahnhof in fünf Minuten verlassen. Es blieb mir also keine Zeit, nach Gina zu suchen.
Das Leben ging weiter. Neuer Abschnitt, neue Herausforderung.
In wenigen Stunden in einer anderen Stadt. Endlich eingetroffen, wofür ich Wochen und Monate gekämpft und worauf ich insgeheim gehofft hatte. Es gab kein Zurück mehr, zumindest nicht in diesem Augenblick.
Ich hatte eine neue Anstellung, die mir unter besseren Arbeitsbedingungen mehr Lohn bescherte. Mitarbeiter in einer renommierten Werbeagentur. Ein Posten in einer Firma, die sich ausschliesslich im medizinischen Bereich betätigte.
Dass dies am Ende einer Probezeit lag, hinderte mich nicht daran, weiter nach den Sternen zu greifen. Einmal in den Kopf gesetzt, wollte ich meine Ziele erreichen. Nicht umsonst hatte ich in den vergangenen Jahren Entbehrungen auf mich genommen, dabei sogar meine Freunde vernachlässigt.
Und meine Frau verloren.
Ich musste wieder an Gina denken. Ich erinnerte mich an ihre Aussage, dass man das Glück in der Sternschnuppe entdecken könne, denn diese sei greifbarer als ein Stern.
Sie irrte sich.
Wieder sah ich aus dem Fenster.
Zugreisende eilten dem Eingang entgegen, als flüchteten sie vor einer Flut. Dumpf prallte die Waggontür gegen die Armlehne des ersten Sitzes. Leute verteilten sich auf die leeren Polstersessel. Ich versuchte an ihren Gesichtern die Gedanken abzulesen, in ihren Augen die Teilnahmslosigkeit, an ihrer Mimik die verratene Gleichgültigkeit. Wohin würde sie ihre Reise führen? War es Abschied oder gab es ein Wiedersehen?
Ich starrte auf den roten Leineneinband, nicht bereit, die Schlaufe zu lösen. Die Schlaufe mit den gekringelten Bändchen. So fest ineinandergezurrt, dass ich mir die Fingernägel beschädigt hätte, wenn ich sie löste. Ich hob das Buch ein wenig an und versuchte einen mir vertrauten Geruch darauf auszumachen. Ein klein wenig von dem Parfum zu erhaschen, das Gina immer auf sich trug. Es gelang mir nicht. Mit der Frau hatte sich auch das Fluidum verflüchtigt.
Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Es begann das Schaukeln der Wagen, während sie über die zahlreichen Weichen aus dem Bahnhof balancierten. Ich sah die Köpfe der Reisenden im Gleichtakt sich hin und her bewegen. Ihre starren Körper. Als würden sie alle dem Kommando des Stabs eines unsichtbaren Dirigenten folgen.
Der Zug passierte einen kurzen Tunnel und legte dann an Tempo zu.
Sogleich überfiel mich Trägheit.
Das gleichmässige Rütteln vermittelte etwas Beruhigendes. Ich griff nach einer Zeitung, die auf dem Fensterbord lag, ohne dem roten Buch weiter Beachtung zu schenken.
Farbige Titel tanzten vor meinen Augen. Ich versuchte, einen Text zu verinnerlichen. Trotzdem wusste ich danach nicht, was ich gelesen hatte. Meine Gedanken schwebten wie der Vogel, den ich im Zenit auszumachen glaubte, während ich durch die Scheiben sah.

Abschied hat immer zwei Seiten.
Etwas hinter sich lassen heisst gleichzeitig etwas Neues beginnen. Dies hatte mir Gina beigebracht. Bezog ich das auf meinen Beruf, musste ich ihr recht geben. Alles andere ist ein Prozess, verbunden mit seelischer Arbeit, und kann nicht dadurch forciert werden, indem wir es verdrängen.
Vielleicht hatte mich Gina auch dies gelehrt.

Noch lagen Himmel und Erde in gespenstischem Schatten. Noch hing ein verblassender Mond in der Unendlichkeit. Doch ein Schimmer von Lila fiel, erst noch zaghaft sich wehrend, in den frühen Dunst des Morgens. Erzitternde sphärische Klänge. Ein Einhauchen. Einatmen. Als küsste die Muse schon die schneebedeckten Kuppen der Alpen, die Firne, die Sahnehäubchen unter dem Bogentor. Begleitet von Fanfaren, im Purpurgewand, warf sie ihren Körper ins Land, und mit ihr das Gefolge: Aurora, die Göttin des Morgenrots. Gleichsam überflutet von zartem Gold.
Schwarzblau erhoben sich die Felsen.
Wälder davor. Häuser und Kirchtürme. Ein See, der still im Tal lag.
Ich legte die Zeitung zurück. Zog die Markisen bis zur Mitte herunter, weil Sonnenlicht mich blendete. Vergeblicher Versuch, meine Augen offen zu halten. Resigniert gab ich mich dem monotonen Geräusch des Zuges hin und liess mich in eine andere Dimension fallen.

Ich schlief zwei Stunden. Vielleicht auch drei.
Draussen zog eine konturenlose Landschaft vorbei. Kein Haus, kein Baum, kaum Sträucher. Ein Schatten bloss auf den erstarrten Feldern, Lok und Wagen als ein zuckender Wurm.
Das Buch zog erneut meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schlaufe liess sich immer noch nicht lösen; ich riss die Bänder über die Kante.
Oftmals entscheidet die fünfte Seite eines Buches, ob ich eine Geschichte lesen oder beiseite legen würde. Der Prolog, ein Vorwort oder der Beginn eines Romans müssen mich mit dem ersten Satz zu fesseln vermögen.
Ich schlug den Deckel auf und blätterte die Seiten um.
Kein Titel, kein Name, kein Text. Gähnende Leere. Ein Buch ohne Inhalt, ohne Gesicht. Mein erster Gedanke, dass mich Gina veralbern wollte. Dass sie das, was zwischen uns gewesen war, wie ein leeres Buch empfand.
Eine symbolträchtige Aussage ohne Worte.
Und dann fiel diese Karte heraus. Direkt vor meine Füsse. Die Karte, die ich damals nach dem Besuch des Varietés gesucht hatte, weil mir die Zeichnung darauf gefiel.
Zögernder Griff zum Boden. Ich drehte die Karte um.
Gina bat mich, die Reise nach Wien als Gelegenheit zu benutzen, um meine Vergangenheit in dieses Buch zu schreiben. Alles Belastende zu verfassen, nichts auszulassen, insbesondere nicht das Negative. Den Kopf leeren, die Gedanken, das Herz. Alles, was vor unserer Begegnung gewesen sei.
... und wenn du alles niedergeschrieben hast, verbrenne das Buch!, endete sie.
Solche Ideen hegte nur Gina. Ich nahm mir vor, das Buch in den Abfallkübel unter der Ablage zu werfen. Nie und nimmer würde ich schreiben, womöglich noch in Tagebuchform. Und wie sollte ich neunzehn Jahre meines Lebens aus dem Gedächtnis streichen, als hätten sie nie existiert?
Neun Stunden lagen noch vor mir.
Ich hätte Gina gern darauf angesprochen. Sie gefragt, was sie damit meinte. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ich sie in Zukunft wiedersehen würde. In diesem Moment gehörte auch sie der Vergangenheit an. Wie alles, was ich zu verwirklichen vermochte, dem Vergangenen angehörte. Ich schaute auf die leeren Buchseiten, und mir wurde plötzlich klar, dass sich in meinem Leben das Verflossene immer vor die Gegenwart stellte. Als wehrte ich mich absichtlich, den Augenblick anzunehmen. Und ich glaubte zu verstehen, was mir Gina sagen wollte.
Je weiter mich der Zug von ihr wegbrachte, umso stärker wurde der Drang, umzukehren. Ich hatte ihr Unrecht getan. Wie sie mich angeschaut hatte. Vorwurfsvoll oder fragend oder einfach nur traurig. Dieser Blick blieb in mir haften. Und das Gefühl, nun auch sie verloren zu haben.
Die Verlustangst wird grösser, je älter man wird. Die Unbeschwertheit der Jugend macht klaren Überlegungen Platz. Vielleicht auch Berechnungen.
Man kann auch so aufräumen, überlegte ich mir. Klarheit schaffen. Den Fundus ausmisten. Vielleicht musste ich mich aufraffen und mich mit dem Gewesenen aussöhnen.
Ich bestellte Kaffee und klappte vor mir den Tisch herunter.

Eins


Ganz plötzlich bist du
in mein Leben gekommen
wie ein Komet vom Nichts ins All

Als ein Augenblick
in dessen Kern schon das Erlöschen steckt
Vergehen und wieder verschwinden




Anfang November und Regen – die ganze Woche schon.
Kein Licht vermochte mein Zimmer zu erheitern. Und noch weniger meine Laune. Ich nahm jetzt sogar die Mahlzeiten hier ein, um nicht in die Kantine gehen zu müssen. In der Zwischenzeit stapelte sich das Verpackungsmaterial von Imbissen neben Schreibpapier und schmutzigen Kleidungsstücken. Der Abfalleimer quoll von zerknüllten angefangenen Briefen über. Es fiel mir schwer, meine Freizeit konstruktiv zu gestalten. Ich war unmotiviert und fühlte mich krank.
Hinter mir lag ein arbeitsintensiver Tag. Vieles, was mich beschäftigte. Doch weder die administrative Arbeit am Vormittag noch die unzähligen Tests am Nachmittag gingen mir durch den Sinn, alles Routine. Ich grübelte über anderes. Unfähig, meine Gedanken im Zaum zu halten. Sie frassen mich von innen nach aussen auf. Sollte ich einmal sterben, dann aus dem Grund, weil ich zu viel nachdachte.
Weil ich an Valeria dachte.

„Wird ein Mann von seiner grossen Liebe verlassen, soll er sich damit abfinden und nicht noch Jahre später in Illusionen leben!“

Die Worte meines engsten Freundes hatten keine allzu grosse Wirkung gezeigt. Von ihm, dem Ahnungslosen.
Wie leicht lässt sich darüber sprechen, solange es einen selbst nicht betrifft.

Man verändert sich, wenn man verliert, was man liebt.

Nach der grossen Liebe und dem Verlassenwerden kommt unweigerlich eine verzerrte Reflektion. Nicht der kleinste Versuch, die Fehler bei mir selbst zu sehen.
Und solange ich mich im Recht zu wähnen glaubte, würde es sich zum Guten wenden. Alles, was man gibt, kehrt zu einem zurück. Jede gute Tat wird belohnt und jede Hässlichkeit, die wir den anderen antun, rächt sich irgendwann im Leben.
Nur, und dies war mir lange nicht bewusst gewesen, kommen die Dinge nie aus der Richtung, in die man sie geschickt hat.

Noch huschte sie wie ein Geist durch meine Träume: Valeria Caminada. Nicht nur ihr Name, auch sie selbst war wie ein Mantra.
Die Melodie am Ende eines Films. Tägliches Zurückspulen zum Anfang. Immer wieder Möglichkeiten aufspüren. Bilder in Erinnerung rufen. Andere Wege einschlagen. Abwägen. Als drücke man durch verschiedene Programme und halte da an, wo es spannend ist.
Das Ende blieb immer dasselbe.

Sehnsucht nach dieser unkontrollierbaren Leidenschaft.

Seit Tagen versuchte ich vergeblich, an Valeria zu schreiben. Kein Satz, der mir gelang. Kaum eine Zeile, die vernünftig klang.
Schon hundert Mal hatte ich den Telefonhörer in der Hand, fünfzig Mal gewählt. Zehn Mal ihre Stimme vernommen. Jedes Mal feige aufgelegt, ohne mich zu melden.
Bloss, um sie zu hören.
Ich kämpfte darum, mein Zimmer zu verlassen.
Seit einem Jahr wohnte ich in Universitätsnähe und hatte mir noch nie zuvor Gedanken darüber gemacht, dass mich die Unterkunft einschloss. Und da ich die meiste Zeit im Labor verbrachte, schien es unwichtig. Ein grosszügigeres Studio hätte meine psychische Verfassung kaum wesentlich verändert.
Dieser Novemberabend. Seltsam unwirklich, diffus. Jeder Moment, den ich länger im Zimmer verbrachte, nebelte mich mehr ein.
Vielleicht noch hätte ich mich ans Pult setzen mögen. Wieder einen Brief an Valeria beginnen. Wenn ich erst einmal sass, hätte meine Hand wie ferngesteuert über das Blatt geschrieben. Sätze, die ich im Nachhinein vernichtete.
Ich griff nach der Pillenschachtel, brach eine neue Packung auf. Legte sie nachdenklich wieder zurück.
Der Nebel in meinem Kopf wäre dadurch nicht verschwunden.

Nach langen Überlegungen brachte mich ein Spaziergang ins Zentrum der Stadt.
Ich mochte die Stadt am unteren Ende des Sees. Wo jedes Haus, jeder Turm, jedes Monument seine eigenen Geschichten erzählte, als lauschte ich auch jetzt ihren Stimmen. Wie sie im Abfluss der Dachrinnen sangen, in den finsteren Gullys. Vor den Steinbrunnen, auf den mit Kopfstein gepflasterten Plätzen oder den Fassaden mit den Fresken.
Sie war ein Teil von mir geworden, eine Verbündete auf dem Feldzug ums Vergessen. Ich tauchte ein in deren Schlund, wenn mich heftige Melancholie befiel, zermarterte mir das Hirn in verschwiegenen Nischen. Klagte gegen Mauern, als stünde ich mitten in Jerusalem. Sog ihren dampfenden Atem ein, ein Geruch, der Leben versprach.
Die Stadt umgab mich wie die Wiege das Kleinkind. Das Gefühl des Alleinseins verlor ein wenig von seinem Schrecken.

Auffrischende Brise.
Nässe auf dem Asphalt. Pfützen, in denen sich die Lichter reflektierten und Spiralen, während ich meinen Schuh dort hinein setzte. Tausend versprühte Goldplättchen. Meine Füsse klamm vor Kälte. Es trieb mich immer näher an die beleuchteten Geschäfte, in die Nähe überfüllter Auslagen und üppiger Dekorationen, die auf Weihnachten aufmerksam machten.
Anfang November.
Dennoch überwand ich mich nicht, in einen dieser Läden zu treten. Hätte es nicht geregnet, wäre ich am Seeufer unterwegs gewesen. Laufen balsamierte mir die Seele ein. Im Laufen ertrug ich meine Schmerzen, die an meinem Körper zehrten und immer wieder von Neuem durch meine konfusen Gedanken geschürt wurden.
Ich blieb vor einem hellen Fenster stehen. Mein Blick fiel auf das Plakat, das für eine Bilderausstellung warb. Fremde Bilder, genauso fremd wie das Porträt des Künstlers. Ich hatte von dem Maler noch nie zuvor etwas gehört.
Ich folgte dem Menschenstrom, der sich in die Räume ergoss. Ein stetiges Schlucken. Ein Würgen in die Kunstgalerie. Bald umfingen mich Wärme und ein Geruch von Käsekuchen. Genauso absurd wie die Gemälde, vor denen ich mich wiederfand.
An den Wänden hingen Bilder, die mich an Visionen erinnerten oder an Träume, von denen ich in letzter Zeit oft heimgesucht worden war.
Ich mochte den November nicht besonders.
Monat ohne Perspektiven. Zeit ohne Ziel. Im November schien alles vorbei und nichts hatte angefangen. Der Anflug von Ausgebranntsein, schwer zuzuordnen und ich nicht bereit, daran etwas zu ändern. Ich sei auf dem sichersten Weg in eine Depression zu fallen, hatte mir mein Freund gesagt.
Mit dem Schmerz in meinem Inneren hatte ich mittlerweile leben gelernt. Wenn sich der Schmerz zurückzog, fehlte mir etwas. Dann dachte ich solange über dessen Ursache nach, dass er noch heftiger auftrat und mein Herz zu zerreissen drohte.
Der Raum im Neonlicht.
Die Menschen bewegten sich fast lautlos. Die einen hielten Gläser in der Hand und Häppchen, die überall auf runden Tischen bereitgestellt waren. Minikäsekuchen. Daher der Geruch. Viele der Anwesenden diskutierten leise.
Stimmengemurmel. Räuspern. Dazwischen helles Klingen von aneinandergestossenen Gläsern. Immer wieder interessant, wie schnell sich Menschen zusammenfinden, wenn es Essen und Trinken umsonst gibt.
Bilder gerahmt oder schlicht, ohne Rahmen. Auf Sockeln Skulpturen mitten im Raum. Etwas zwischen abstrakt und konkret. Der Künstler ausser Zweifel ein Multitalent. Er schaffte es sogar, nebst den herkömmlichen Acryl- und Ölzeichnungen, die Airbrush-Technik einzubringen. Die Entstehung der Ölgemälde lag Jahre zurück, was ich im Prospekt las. Die jüngsten Werke – das pure Gegenteil. Spritzpistole und Schablone, nahm ich an. Kein Mensch kann ohne Hilfswerkzeug so exakte Striche ziehen. Farbe aus der Dose, was mich an Kommerz erinnerte.
Die Ausstellung diente wohl dem Gesamtwerk, der Entwicklung vom Einfachen zum Qualifizierten. Eine Metamorphose erstaunlichen Ausmasses. Unglaublich, wie viele Menschen es gibt, die sich für diese Art von Kunst interessieren, die, wie ich meinte, nicht mal den Schatten von alten Meistern darstellt. Schwierig in der heutigen Zeit, wo alles in Überfluss und Völle daherkommt. Wo geht man noch hin, wenn die Spitze erreicht ist. Allenfalls verirrt man sich im Weltall, stürzt ab.
Oder man stellt Bilder her wie diese hier.
Gaffen und sich in Szene setzen. All diese Schwarzgekleideten, wie Krähen auf einem gemähten Maisfeld, die hungrig nach Körnern picken, nach den Minikäsekuchen. Künstliches Schnabulieren, ein stetiges Bemühen um lockeren Smalltalk. Ich sah Schatten vorbeihuschen, Frauen und Männer. Gestalten im kaleidoskopischen Wirrwarr.

Und plötzlich diese Frau!
Sie kam nicht herein. Sie schoss in den Raum. Ein Schweifstern, der flüchtig noch etwas von dem mit sich zog, was sich draussen vor der Tür abspielte. Ein Komet, der mein Universum erhellte und meine unheilvollen Gedanken verbannte. Als hätte ihr Eintreffen den tieferen Sinn gehabt, meine Melancholie zu beseitigen.
Sofort schien alles durch sie ausgefüllt zu sein. Ein elektrisierendes Leuchten und doch so fremd. Ein Sonnenstrahl an diesem ungemütlichen Novemberabend.
Wie betäubt starrte ich sie an.
Sie war jung, knapp zwanzig, schätzte ich. Irritiertes Umhersehen, als hätte sie nicht gewusst, wo sie sich hinstellen sollte. Über ihren dunklen Anorak liefen Bäche. Es musste draussen stark regnen. Sie schob die Kapuze vom Kopf, schüttelte sich wie ein nasser Pudel. Ungeachtet dessen, mit diesem Benehmen ein Gemälde zerstören zu können. Haare, die an eine verspätete Punkszene erinnerten. An einen blonden Igel.
Die Tasche in ihren Händen drückte sie eng an sich. Ein Lächeln jetzt auf ihrem Gesicht, das nicht mir, sondern der Allgemeinheit galt. Oder jemandem, den ich noch nicht bemerkt hatte.

Es gibt Momente, die möchte man einfrieren, weil sie in der Art nie wieder zurückkehren.

Wie die Anwesenheit dieser Frau.
Da stand sie. Die Tasche vor ihrer Brust, der nasse Anorak, der noch immer tropfte, dieses Lächeln. Die zerzausten Haare.
Trotz ihrer Aufmachung ging etwas Sinnliches von ihr aus. Meine Blicke unablässig auf ihr.
Die Fremde bemerkte mich nicht.
Wie hätte sie auch. Ich fand mich nichts Besonderes, kein Mann, nach dem man sich umdreht. Zu gross, zu schlaksig, und meine Haare hätten einen Schnitt nötig gehabt. Ich hatte es nicht einmal für nötig gefunden, mich richtig zu kämmen. Wozu denn? Ich musste niemandem gefallen. Das war Vergangenheit. Einerseits beruhigte es mich, den Kampf mit der Konkurrenz aufgegeben zu haben. Niemand mehr, den ich beeindrucken musste. Andererseits hatte es sehr viel mit meiner Bequemlichkeit um meine Person zu tun. Mein Aussehen war belanglos.
Ich ging in sicherem Abstand hinter ihr.
Sie bewegte sich geschmeidig, leichtfüssig, hielt ihren Kopf gerade. Ich stellte sie mir in einem Ballettröckchen vor. Taft um ihre Taille, ihre zierliche Figur, ein Schmetterling.
Ich folgte ihr wie ein herrenloses Hündchen.
Sie stand vor einem Gemälde, auf dem Monde klebten. Spuren von zu viel Farbe. Ein Relief, welches sich über die ganze Leinwand verteilte. Ein Spinnengewebe aus Öl oder Acryl. Dazwischen tanzten Figuren. Engeln gleich schwebten sie über das erdrückend Düstere.
Soll ich auf die Frau zugehen? Sie könnte meine Tochter sein.
Etwas anfangen, von dem ich von vorneherein wusste, dass es keinen Bestand haben würde? Und vor allem: Wollte ich meinem Naturell, in meinem Schneckenhaus zu sitzen und die Dinge um mich aus sicherer Distanz zu betrachten, plötzlich untreu werden?
Meine Neugier war grösser als die Gewissensbisse. Ich konnte nichts mehr verlieren.
Denn ich hatte schon alles verloren.
Kein Verdacht, dass sie mich vielleicht ignorieren könnte. Von einer Zurückweisung ihrerseits sah ich ab. Es zog mich zu ihr hin, als hätte sie ein Magnet ausgefahren, unsichtbare Fäden, die mich als Marionette in ihre Nähe zerrten.
Eine Serviceangestellte, die den Gästen Getränke reichte, nahm mir die Entscheidung ab. Ich griff nach zwei Gläsern auf dem Tablett und stand danach noch eine Weile im Raum, gleichgültig und doch hoffend, dass sich die Fremde vor dem Gemälde nach mir umdrehen mochte.
Sie schien vertieft zu sein und gleichzeitig fasziniert. Oder sie versank in ihren Gedanken, wie auch ich es oft tat. Man betrachtet wohl etwas, aber kann im Nachhinein nicht erklären, was es gewesen ist. Es ist mehr ein Schauen durch die Dinge. In eine andere Welt. Man sieht zwar den Gegenstand, doch nicht wirklich, weil er sich verfälscht. Der innere Blick weilt schon anderswo.
Ich spürte eine gewisse Übereinstimmung.
„Gefällt Ihnen das Gemälde?“
Ich hätte auch über das Wetter reden können, über den Nebel in der Stadt, der mir manchmal so sehr zusetzte, die trüben Herbsttage. Und es wäre genauso plump dahergekommen. Warum sagte ich nicht einfach, dass ich sie kennenlernen wollte?
(Gefällt Ihnen das Gemälde?)
Sie wandte sich um.
Keine Unsicherheit. Kein Verhaspeln. Sie wurde nicht einmal rot. Sie schenkte mir sofort ein Lächeln. Das Piercing auf dem rechten Schneidezahn irritierte mich. Ich schluckte. Lächerliches Unbehagen.
„Es erinnert mich irgendwie an Okkultismus“, sagte sie. „Ich weiss nicht, wohin ich es einordnen kann.“
„In die Epoche der Judenverfolgung“, sagte ich, „aus der so mancher Künstler hervorgegangen ist. Marc Chagall zum Beispiel, der hat eine Zeit lang auch so düster gemalt. Passt doch hervorragend in die heutige Zeit. Krieg, wohin man sieht. Armut. Elend ...“
„Nun, Chagall kann man wenigstens noch betrachten, finden Sie nicht auch?“
Schelmisches Grinsen.
Ich lächelte trotz meiner Gedanken. Das sei meine ganz persönliche Ansicht, fügte ich hinzu. „Und, Chagalls Frau hat da schon einen gewissen Ausgleich geschaffen.“
Wieder dieses Piercing. Ungewöhnliche Augen.
„Chagalls Frau? Ich glaubte, die habe geschrieben?“
Erst jetzt reichte ich ihr eines der beiden Weingläser.
„Chagalls Frau hiess übrigens Bella“, sagte sie, „geborene Rosenfeld und hat geschrieben. Ich heisse Gina Beez, und Marc Chagall hiess nicht wirklich Marc, sondern Moses ... Moishe Zakharaovich Shagalov, in gekürzter Form Moishe Segal. Zum Wohl!“
„Sie befassen sich mit Chagall?“
„Ein wenig von Berufs wegen“, sagte sie. „Es gibt viele Themen, die mich interessieren.“
Diese Haare! Frech, witzig. Unüblich bei einer Frau.
„Begegnungen zum Beispiel?“ Ich starrte auf ihre Tasche. „Auch Begegnung kann ein Thema sein.“
Ich wusste, dass ich sie damit provozierte und hätte mir im selben Moment die Zunge abbeissen mögen.
Regel Nummer eins: Beginne ein Gespräch nie mit dem Wetter, aber hüte dich auch davor, das Gegenüber in die Enge zu treiben. Und vor allem: Sei nicht kindisch! Ich hatte die Richtung verfehlt.
„Begegnung kann ein Thema sein ...“
Töricht von mir, es noch einmal zu wiederholen.
Gina wandte sich ab und sah auf das Gemälde an der Wand. Ich hätte es nicht anders getan.
Die Zeit genügte, um sie von der Seite her zu betrachten. Nicht uninteressant, was ich sah. Ein eigenwilliges Profil – als Schatten an die Wand geworfen, kurze, blonde Haare, mehr weiss als blond, als reflektierten tausend kleine Sonnen darin. Der Verlauf der Nase, die unteren Lippen ein wenig vorgeschoben, ein markantes Kinn. Nicht wirklich schön. Speziell eben. Es war ihre Ausstrahlung. Das Lachen.
Ihre Aura, hätte Valeria gesagt.
Sie drehte sich wieder mir zu.
„Ich habe täglich ein paar Begegnungen“, sagte sie ... „solche, die ich bewusst plane. Aber das sind dann berechnende Verabredungen und haben mit Zufall nichts zu tun. Begegnungen wie diese hier geschehen dann, wenn es Zeit ist, dass sie zufallen. Dann sind es keine Zufälle, sondern Vorsehungen. Dann hat irgendjemand im Himmel zwei Menschen ausgesucht, die sich hier und jetzt begegnen müssen. Vielleicht sind unsere Seelen längst schon im Universum verschmolzen, lange bevor wir uns hier getroffen haben ...“
Ihre Schlagfertigkeit amüsierte mich.
„Ich heisse Ondrej Novotny, bin Mikrobiologe und komme aus Frankfurt.“
Grosses Bedürfnis, vom Thema abzulenken, das mir doch ein wenig zu delikat vorkam und von Esoterik hielt ich nicht sehr viel.
„Ah, ein Tüftler also.“ Gina starrte an die Wand. „Ich werde zur gegebenen Zeit auf Ihr Wissen zurückgreifen. Dann werden Sie mich vielleicht beeindrucken können.“
Hatte ich nicht soeben einen zynischen Unterton daraus gehört?
„Sind Sie immer so präzise in Ihren Angaben?“, fragte Gina schmunzelnd. „Wie sagten Sie, ist Ihr Name? Novotny? Das klingt tschechisch.“
Sie überforderte und überraschte mich gleichzeitig.
„Meine Eltern verliessen 1968 Prag“, verriet ich.
Gina nickte. Sie trank den Wein wie Wasser.
„Prager Frühling“, sagte sie. „... Der Anfang des kommunistischen Endes zwanzig Jahre später. Die Nacht vom zwanzigsten auf den einundzwanzigsten August 1968, als fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die tschechoslowakische Hauptstadt einmarschierten ...“
„... waren Sie noch nicht geboren“, nahm ich an.
Gina musterte mich über den Glasrand. Ich hätte mir die Haare schneiden sollen.
„War das jetzt ein Versuch, mich nach meinem Alter zu befragen?“
Wieder dieses schelmische Lächeln. „Ich werde im April sechsundzwanzig. Ich weiss, dass man mich jünger schätzt, das muss wohl an den Genen liegen.“ „Haben Sie mit dem Künstler zu tun?“
„Nein, ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen.“
Ich verschwieg, dass ich mich letztendlich in diesen Räumen aufwärmen wollte.
„Irgendetwas hat mich hierhin gezogen.“
„Doch nicht etwa diese Bilder ...“ Wieder schmunzeln.
„Sie gefallen Ihnen also nicht?“
Ich dachte, den eigentlichen Grund vor mir zu haben. Es gibt Dinge, welche sich nicht erklären lassen.
„In meinem Beruf kann ich nicht immer auswählen, wo ich gerne sein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Literaturwerkstatt
Bildmaterialien: Silvia Götschi
Lektorat: Bärbel Philipp
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2012
ISBN: 978-3-95500-403-3

Alle Rechte vorbehalten

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