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Eins


Heute Morgen um sieben fiel meine Welt aus der Ordnung.
Das Ganze trug etwas Endgültiges in sich.

Trennungen geschehen nicht von einem auf den anderen Tag. Ich müsste es ja wissen. Sie kommen in kleinen Schüben. Gut möglich, dass die Zeichen vor einem halben Jahr schon auf Sturm standen.

Es ist Frühling. Der Apfelbaum vor meinem Küchenfenster trägt blassrosa Blüten. Dahinter die Lorbeerhecke und ein wolkenloser Himmel wie ein unfertiges Gemälde. Das milde Klima ist ungewöhnlich für die Jahreszeit, und ich erreiche den Punkt, wo ich stöhnend meinen Hitzewallungen trotze.
Auf dem Boden liegen die gelben Narzissen, erst noch aus dem Garten gepflückt, zusammen mit meiner Lieblingsvase, die in tausend Stücke zersprungen ist.

Auch mein Leben liegt in Scherben. Wieder einmal.

Die ewige Liebe als Täuschung. Letztendlich als grosse Enttäuschung.
Ich solle einen Psychotherapeuten aufsuchen, waren Daniels letzte Worte gewesen, bevor er nach dem Schlüssel griff und das Haus verliess. Als ich ihn mit dem Wagen davonfahren sah, spürte ich nichts als Leere.

Daniels verbaler Angriff liess mich meine Kontrolle vergessen. Ich fegte die Vase vom Tisch. Leider zu spät. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte es mitbekommen.

Im Dezember waren Daniel und ich in unser neues Haus eingezogen. In den weissen Palast mit Sicht auf See und Berge. In ein Schloss, das mich an meine Kindheitsträume erinnerte, mit Türmen und Sprossenfenstern. Dornröschens Schloss und Daniels Traum von der Altersresidenz. Und er mein Prinz, der mich wachgeküsst hatte. Alles, was sich in meinen Fantasien entwickelte, setzte Daniel in die Wirklichkeit um.
Konnte er meine Gedanken lesen, so wie er meine Handynachrichten las?

In diesem Haus wollte Daniel mit mir alt werden. Sich abzusichern, dies gab ihm ein gutes Gefühl. Vorsorge auch mit der Pensionskasse. Er würde sich vorzeitig aus seiner Firma zurückziehen. Er hatte schon klare Vorstellungen, was er in Zukunft alles mit mir zu unternehmen gedachte. Urlaub von einem Monat und mehr. Rund um die Welt reisen.

Ich hatte soeben eine Reise zu mir selbst begonnen.
Daniels Ideen erschreckten mich.

Ich nehme die Scherben mit einem Tuch zusammen. Schade um die schöne Vase. Meine Tochter Helena hatte sie mir zu meinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Diese Vase und die Botschaft, dass sie heiraten werde. Ja, und Grossmutter würde ich auch. Und erst noch schmerzlos. Schöne heile Welt.
Das war im letzten Sommer gewesen.

Wann ist man alt?
- Wenn man das erste graue Schamhaar auszupft?
- Wenn man merkt, wie belanglos die Dinge geworden sind, die man früher so gewichtet hat?
- Oder doch erst, wenn sich in der eigenen Familie eine neue Generation anmeldet?
- Oder ist es am Ende eine Kumulation von vielen Dingen?

Äusserlich war ich tatsächlich älter geworden.
Nicht von einem auf den anderen Tag. Es kam schleichend.
Wenn ich Fotografien von früher betrachte, so fällt mir die stetige Veränderung auf. Die prallen Wangen von damals sind markanteren (sagte Daniel), mageren (sage ich) gewichen.
Du hast Charakter bekommen, fand Daniel. Seine Stärken lagen darin, mit mir nett zu sein.

Das Alter sei vergleichbar mit den vier Jahreszeiten, meinte Mutter, als wir noch miteinander redeten.
Tatsächlich beobachte ich seit meinem Vierzigsten die Natur mit anderen Augen. Und mein Spiegelbild reflektiert heute das leicht verfärbte Blatt am Baum, das in naher Zukunft verwelken wird. Es dauert nicht mehr so lange wie es bis dahin gedauert hat.
Den Frühling vor dem Fenster zu bestaunen ist wie noch einmal eintauchen in die Jugend. Die blassrosa Blüten schmücken eine kurze Zeit die Bäume; bald trägt sie der Wind weg. Momente sind vergänglich. Man kann nicht in ihnen verweilen.
Genauso wenig wie man die Jugend bewahren kann.

Vieles an mir schwabbelt. Beuge ich mich vornüber, trotzt meine Haut kaum noch der Schwerkraft. In den letzten Monaten habe ich zugenommen, und das empfinde ich als schlimmstes dieser unausweichlichen Plagen.

Alt werden ist hässlich. So wurde es mir einmal eingeimpft.

Ich war mir nie bewusst, wie lange die Sommerzeit für mich dauerte, diese längste aller Jahreszeiten. Unfähig war ich, sie auszukosten.
Es tut genauso weh wie die Tatsache, dass meine Lebensmitte schon lange hinter mir ist. Ich kann mir nicht vorstellen hundert Jahre alt zu werden.
Fünfzig zu sein ist wie ein Aufbäumen vor dem Abstieg.
Danach geht es rapide bergab. Das behauptete auch Mutter. Sie ist jetzt fünfundsiebzig.

Meine Freundin Flavia ist vier Jahre älter als ich. Ihre körperliche Veränderung beobachte ich mit akribischem Interesse. Beruhigend, dass sie mir immer ein wenig vorauseilt. Flavia bereitet mich unbewusst darauf vor, was mir noch blüht. Andererseits bin ich nervös, dass ich bald auch so sein werde. Flavia hat sich den Jahren hingegeben. Ihr Alter trägt sie mit Würde wie sie sagt. Sie macht jetzt Yoga und liest Bücher von Dalai Lama. Sie ist demütig geworden und strahlt eine Schönheit aus, die von innen zu kommen scheint.

Wie wird Schönheit definiert?
- ist sie a) das Produkt einer Werbung, die uns ein Muster vorgaukelt?
- oder b) eine vom Gehirn produzierte Gedankendeformation?
- und ist sie c) ein auf die heutige hedonistische Gesellschaft abgemessenes
Empfinden?

Für mich ist Schönheit das Gegenteil von Hässlich!
Und hässlich ist es, alt zu werden!

Das Alter ist zudem ein Scherz. Das Alter zeichnet unseren Charakter als Karikatur. Das Alter verbirgt nichts.
Wenn ich am Quai spazieren gehe, schaue ich mir die alten Leute immer genau an. Sie präsentieren ihr gelebtes Ich. Im Alter kann man niemanden mehr belügen.
Es ist wie ein Möbelstück mit Kratzern. Nicht der stärkste Lack vermag sie zuzudecken. Und auch die beste Farbe blättert irgendwann wieder ab und präsentiert uns die Patina.

Mit fünfzig hat man die Wahl, sagte erst noch Daniel. Er hat drei Jahre mehr auf dem Buckel als ich und trägt seine Falten als Aushängeschild reifer Erfahrungen. Zudem fährt er einen Maserati mit weiss ich wie vielen Pferdestärken. Mit diesem Schlitten trage er seine Potenz zu Grabe, sagte er letzthin. Aber er kann über sich selber lachen, und das macht ihn bei allen sympathisch.
Man habe die Wahl zwischen Akzeptanz oder Kampf.
Daniel war schon immer fürs Kämpfen. Er färbte sich die grauen Haare dunkler. Er liess sich einen Oberlippenbart wachsen, der von Natur aus schwarz blieb. Seine Kleider kauft er seit neustem bei einem guten Freund ein, der ihn als Werbeclown alternder Gigolos benützt. Daniel selbst meinte, dass Antiquitäten den besonderen Reiz darin hätten, dass sie durch ihr Alter an Profil gewännen.
Daniel versuchte immer, mich von meinen nihilistischen Gedanken abzuhalten.
Meine Schwarzmalerei hob er mit seinen positiven Äusserungen auf.
Es tat gut, einen Mann wie ihn an meiner Seite zu wissen.

Als wir vor sieben Jahren heirateten, war ich mir absolut sicher: Den oder keinen!
Auf dem Weg zum Zivilstandsamt hatte ich zwei gescheiterte Ehen und eine dreijährige Beziehung hinter mir. Auch Daniel geschieden. Trotzdem Hoffnung auf romantische Gefühle und eine umfassende Liebe.
Sehnsucht nach unseren Körpern.
Offensichtlich brachten uns die niederen Gelüste zusammen. Die Gier nach physischem Austausch. Seine und meine Geständnisse, dass wir in unseren früheren Partnerschaften zu kurz gekommen seien.
Endlich das Pendant gefunden. Tage wurden zu Nächten und umgekehrt. Kaum ein Ort, der nicht als Beischlafstätte gedient hätte. Die Sexualität wurde zum Thema; wir gingen völlig darin auf. Daniel wurde zu meinem Lehrmeister, ich zu seiner Lehrmeisterin. Kaum ein Flecken Haut, der nicht ausprobiert wurde, keine Öffnung, die unausgekostet blieb. Wir trieben uns an die Grenzen einer zerstörenden Leidenschaft.

Es gab Zeiten, da stellten wir unseren Verstand ganz ab.

Nach Jahren der körperlichen Abstinenz, tat die Erfahrung gut, wie mein Körper auf zärtliche Berührungen reagierte.
Er habe zeitlebens nach dieser Frau gesucht, wie ich es sei, sagte Daniel. Was anderes als mein Äusseres hätte er an mir sehen können? Mein Körper war schliesslich einmal mein Kapital gewesen. Meine gutproportionierte Figur, meine langen Haare gefielen ihm, meine Augen. Stundenlang hätte er in sie hinein sehen können.
Meine Augen als Spiegel der Seele?
Daniel hatte nie in meine Seele geblickt, obwohl er zuletzt glaubte, alles von mir zu wissen.
Aus Angst, dass er zuviel Erschreckendes sehen würde? Aus Furcht, dass ihm mein Körper abhanden kam?

Wie gross die Wohnung wirkt. Weiss, hell und lichtdurchflutet.
Neuerdings finde ich sie steril.
Die andere Seite von zwei Individuen, die früher alles gesammelt hatten, was sich in einem Leben ansammelt. Als wir zusammenzogen, hatten wir den Ballast vergangener Jahre abgeworfen. Auf Daniels Anraten hin, trennte ich mich sogar von meinen Fotoalben. Alles, was mich in irgendeiner Weise an früher erinnerte, landete auf dem Müll. Ich radierte meine Vergangenheit aus.
Radikal. Unaufhaltsam.
Auch die Vergangenheit vor meiner Vergangenheit.
Unser Haus als Neubeginn und Ausgangslage auf dem Weg zur Pension. Ein neuer Lebensabschnitt. Wahrscheinlich der letzte!

Ich brach Kontakte ab. Ich verlor viele meiner Freunde. Sogar meine Mutter hatte ich seit der Hochzeit nur einmal gesehen. Aber dies war nicht Daniels Verschulden, sondern viel mehr meine Art, Mutters Äusserungen in Bezug auf meine erneute Heirat zu rächen. Es ging sie nichts an, wie und an welcher Seite ich mein Leben lebte.
Es scheint mir, als hätte sie mit meinen Männern Erbarmen gehabt. Teilte ich ihr heute mit, dass sich Daniel von mir getrennt hat, würde sie mir an den Kopf werfen, dass sie dies voraus gesehen habe.
Meine Mutter sieht immer alles im Voraus.

Heute weiss ich, dass es ein nicht wieder gutzumachender Fehler war. Man kann die Vergangenheit nicht auslöschen, genauso wenig wie man Menschen einfach aus dem Gedächtnis streichen kann. Wir verändern uns und bleiben trotzdem ein Leben lang der, der wir von Geburt an sind. Unser Schicksal mag vorgegeben sein. Wir allein haben es in der Hand, das Muster umzusetzen, aus dem Plan ein Gebäude zu errichten.
Die Grundmauern bleiben jedoch immer dieselben.

Mit Daniels Firma konnte ich mich nie identifizieren. Dies war seine Welt, aus der er nach Feierabend heimkam, einen Schalter betätigte und auf lautlos stellte. Unsere Interessen galten der materiellen Glückseligkeit. Wie und wo verbringen wir den Winterurlaub, welche Farbe sollte unser nächstes Auto haben, wo gab es Fünfsternerestaurants?
Man kann sich über längere Zeit über Wasser halten, wenn man tüchtig strampelt. Doch irgendwann holt einen die Tiefe ein. Zieht sie uns unweigerlich hinunter.
Die anregenden Gespräche waren eines Tages plötzlich verstummt. Kennt man sich in- und auswendig, bleiben keine Themen mehr. Nicht einmal mehr dirty Talks vermochten uns mehr zu fesseln.

Gegen aussen erschienen wir als das perfekte Paar. Daniel, der immer Charmante, der Galan auf dem Pflaster der Scheinwelt. Schliesslich besteht sein Beruf darin, die Leute an der Nase herumzuführen. Und ich, sein Gegenpol. Die Frau, die auch äusserlich zu ihm passte. Die eher ruhige, deren Feuer zwar schwelte, aber nie ausbrach. Niemals in der Öffentlichkeit. Ich hatte gelernt, mich zu beherrschen.
Ich glaube, dass wir uns nie wirklich ergänzt haben.

Daniel war beliebt. Bevor er mich kennen lernte, hatte er in verschiedenen Vereinen mitgewirkt. War Präsident im Golfclub, Aktuar bei einer politischen Vereinigung.
Als ich in sein Leben trat, änderte sich das. Fortan glaubte er, sich von allem zurückziehen zu müssen. Ich war sein Mass aller Dinge.
Damals ahnte ich noch nicht, dass mir diese besitzergreifende Liebe beinahe die Luft zum Atmen nahm.
Meine beiden Freundinnen beneideten mich um diesen Mann. Sie träumten davon, sich dermassen verwöhnen zu lassen, wie ich mich von Daniel verwöhnen liess. Er las mir bald jeden Wunsch von den Lippen. Die Gespräche erübrigten sich.

Manchmal ersehnte ich mir Ruhe.
Einen Tag allein sein.
Eine Nacht lang Luft bekommen.

Ich werfe die Narzissen auf den Komposthaufen im Garten. Ihre gelben schlappen Blüten. Die Sonne steht halb über dem Hügel gegenüber dem Haus. Wenn die Temperaturen ansteigen, was der Wetterprophet vorausgesagt hat, soll es heute ein sehr heisser Tag werden.

Die Natur verbrennt genauso wie meine Seele verbrennt.

Daniel wird vielleicht wieder kommen. Er ist jedes Mal wieder gekommen.
Die Verlustangst übernimmt mein ganzes Denken. Mich überfällt Schwindel. Ich schleppe mich auf das Bett im Schlafzimmer.

Die Bereitschaft zum Streiten hatte in letzter Zeit zugenommen. Meistens gab eine Kleinigkeit den Anlass dazu. Oft lag es an mir, weil sich meine Stimme nicht so anhörte, wie Daniel sie gern gehört hätte.
Die Diskussion, wie meine Stimme zu klingen hatte, steigerte sich ins Unermessliche und artete aus. Mich nervte es nur noch.
Meistens wussten wir im Nachhinein nicht mehr, was genau für den Streit ausschlaggebend gewesen war.
Aber es zermürbte.
Immer ein wenig mehr.

Der Streit endete meistens mit seiner Entschuldigung. Aus Angst, dass er mich verlieren könnte. Daniels Angst immer spürbar.

Die Versöhnung wie üblich im Bett.

Aus Vorwürfen wurden Versprechen, aus Tränen Lust.
Ich mochte es, wenn mich Daniel befriedigte. Er hatte mich gelehrt, mich ihm bedingungslos hinzugeben, meinen Körper für ihn zu öffnen und Tabugrenzen zu überschreiten. Ich mochte seine stimulierenden Hände, seinen Mund auf der Entdeckungsreise, seine erregende Zunge, die keinen Teil meines Leibes ausliess. Daniel trieb mich von einem zum anderen Höhepunkt, von einem in den nächsten Wahnsinn.
Meine zunehmende Unersättlichkeit hatte ich ihm zu verdanken.

Meine Gedanken waren oftmals nur noch von Lustgewinn und Befriedigung beherrscht.

War es Liebe?
Kann man körperliche Zuneigung mit Liebe gleichsetzen?
Wird Liebe nicht vielmehr mit Begierde verwechselt?

Mein Apfelbaum hat noch nie so viele Blüten getragen. Im letzten Herbst pflückte ich bloss fünf Äpfel. Es hatte schon Jahre gegeben, da trug er keine Früchte.
Der Apfelbaum war ein Geschenk von Mutter zur Geburt meiner Tochter Helena. Das einzige, was ich nicht aus meiner Vergangenheit verbannte. Seither begleitet er mich überallhin und erinnert mich immer wieder an die Schönheit meines Kindes und daran, dass es Helena besser macht als ich. Der Baum wächst in einem grossen Terrakotta-Topf.
Daniel akzeptierte es nur widerwillig. Als Gegenzug durfte er seinen langjährigen Ficus behalten, der jetzt im Wohnzimmer steht.
Auch in unserem Leben existierten Kompromisse.

Für Daniels Verschwinden bestrafe ich mich, indem ich nichts zu Mittag esse. In der Hoffung, dass er wieder auftaucht. Zwanzig nach zwölf.
Bestimmt wird er wieder nach Hause kommen.

Ich bin kein Musterbeispiel, wenn es um Ernährung geht.
Mit meinem gestörten Essverhalten trieb ich sogar meine Tochter an die Grenzen zu einer Magersucht. Als Helena während ihrer Pubertät an Gewicht zunahm, akzeptierte sie es nicht, dass sie mehr auf die Waage brachte als ich. Sie schwärmte davon, eines Tages Model zu werden wie ich es gewesen war.
Aus kleinen unbedeutenden Diäten wurde Zwang, aus gelegentlichen sportlichen Aktivitäten Übermass. Innerhalb eines Jahres verlor Helena an Körperkonsistenz, dass es mir Angst machte. Ich suchte mit ihr Ärzte auf, Psychologen und Ernährungsberater.
Helena verliebte sich in den Psychologen und hat heute ihre Sucht im Griff.

Ich selber schaffte es erst mit Daniel, mich von dieser Störung zu befreien.
Nichtessen war wie Selbstkasteiung, Bestrafung an mir selbst, war Schmerz.

Essen sei verbunden mit Lust, sagte Daniel. Ist Sinnlichkeit und Freude.
Mit Daniel hatte ich gelernt, mich auch diesen Gelüsten hinzugeben. Essen als Kultur. Essen als sinnliche Wahrnehmung.
Für ihn gab es nichts Schöneres, als am Samstagabend ein Feinschmeckerlokal aufzusuchen und von exotischen Speisen zu kosten. Daniel war ein Gourmet; er verstand etwas davon. Er lehrte mich auch Dinge zu essen, mit denen sich allein meine Augen nicht hatten anfreunden können. Daniel weckte den Geschmacksinn in mir.

Daniel kochte für mich.
Im Gegensatz zu mir entpuppte er sich als ausgezeichneter Koch. Er liebte die subtile Küche und experimentierte gern.
Oftmals ass ich mit verbundenen Augen. Sein Spiel bestand darin, herauszufinden, was er mir auf die Zunge gelegt hatte.
Ich vertraute ihm.

Inzwischen ist es fast zwanzig Uhr. Ich habe den ganzen Tag gewartet. Der Abend legt sich mit bleierner Dämmerung über die Landschaft. Wie die Schwingen eines urweltlichen Vogels.
Von Daniel keine Spur.

Ich gehe ins Badezimmer. Schwarze Bodenplatten, weisse Fliesen, Hightech-Armaturen. Unser Badezimmer als Beweis, dass wir es uns leisten können. Spiegel überall.
Früher reflektierten Spiegel meine Vollkommenheit, meine Selbstverliebtheit. Heute werfen sie mir die bittere Wahrheit an den Kopf: Ich gehöre zu den Ausrangierten! Da können noch so viele Journale und Zeitungsartikel das Gegenteil behaupten. Wer uns fünfzigjährigen Frauen in den Himmel emporhebt, der wittert finanziellen Aufschwung. Die Werbung macht es uns vor und lacht sich dumm und dämlich ins Fäustchen.
Erst kürzlich brachte mir Daniel eine Antifaltencreme mit, welche ein Freund in dessen Firma betreut. Mit dem Fachschinesisch auf der Verpackungsbeilage mühe ich mich nicht ab. Ich weiss aber, dass dies erfundene Namen und Ausdrücke sind. Je exotischer etwas klingt, umso effizienter wird verkauft. Hat Daniel gesagt.


Und Daniel hat mich verlassen!
Ich muss mir also nichts vormachen.
Mit Antifaltencremes verschwindet das Geld, aber weder Unebenheiten noch Depressionen.

Ich öffne den Toilettenschrank. Daniels spärliche Pflegeprodukte stehen noch immer an ihrem Platz. Die Nachtcreme, für die ich ihn überredet hatte, Rasierschaum und Messer, das Eau de Cologne.

Es gab Samstage in der Stadt, wo wir von einem Geschäft zum anderen flanierten. Arm in Arm, gestylt bis in die Fingerspitzen. Daniel im dunklen Anzug mit Krawatte und ich im Designerkleid. Wie zwei Fremde, die ihren Weg durch ein Gewühl von Menschen bahnten, von Leuten, die erschrocken auseinanderstieben, als hätten wir ein ansteckendes Virus in uns.
Der Respekt gegenüber dem Alter hätte offensichtlicher nicht sein können.
Daniel genoss unsere Auftritte. Er fühlte sich rundum wohl mit mir.
Wir tummelten in Warenhäusern, in der Musikabteilung, bei der Damenwäsche. In der Kosmetikabteilung verweilten wir oft unverhältnismässig lange. Es machte uns Spass, uns von der Verkäuferin beraten zu lassen. Ausprobieren. Die Sinne aktivieren. Uns von der Vielfalt der Produkte zu berauschen.
Farben und Gerüche inspirierten. Uns, die Gefangenen des dekadenten Konsumverhaltens.
Wir steckten mittendrin und es gefiel uns.

Heute kann ich den Duft von Daniels Rasierwasser kaum mehr ertragen. Er hängt im Badezimmer, als hätte Daniel den Raum erst noch betreten. Dieser Geruch, der ihn schon morgens penetrant begleitete. Eine Verfälschung des ureigenen Aromas. Ich weiss nicht einmal, wie Daniel darunter roch.

Daniel ruft nicht an.
Draussen nachtet es.

Es gibt kaum noch dunkle Nächte. Nicht hier in der Nähe der Stadt, wo Streulichter die Natur durcheinander bringen. Als würden wir uns fürchten, in totaler Finsternis zu leben. Ein blasser Mond hängt über den Bergen. Wirft phosphoreszierendes Licht auf unser Haus.
Dornröschen sitzt auf der Bank beim Garagentor und weiss nicht wie weiter.
Der Duft des Rittersporns weht zu mir hin. Vor ein paar Tagen hat ihn der Gärtner gepflanzt. Rote, blaue und violette Büschel. Viel zu früh in diesem Jahr, doch Daniel bestand darauf. Er möge es, wenn alles schon fertig aussehe, sagte er. Auch der Rasen fängt an zu wachsen. Und die Vögel singen in den spriessenden Bäumen.
Als Hymne auf die Sinnlosigkeit.

Kühl wird es. Die Hitze des Tages ist wie weggeblasen. Mitte April. Mir fröstelt. Ich gehe zurück ins Haus, in die sterilen Räume. Daniel mag es puristisch.
Der Anrufbeantworter blinkt nicht. Möglicherweise wird Daniel nie mehr kommen. Seine untrüglichen Spuren sind allgegenwärtig. Spuren von Sterilität.
Vielleicht sollte ich damit beginnen, die Wohnung umzustellen.

Ich fange mit der Kommode an und räume sie aus, lege die Kleider aufs Bett, auf den Boden. Nicht aus Wut, sondern aus der Überzeugung, damit ein wenig Leben in die Zimmer zu bringen. Später ist der Boden mit meiner ganzen Garderobe bepflastert. Mit all den teuren Designerkleidern. Daniel mochte es, wenn ich auffiel.
Jedes Teil erzählt Geschichten aus Episoden, Erlebnissen, Abenteuern.
Der goldbestickte Sari erweckt Erinnerungen an unsere Hochzeit auf Bali. An den Tempel in der Lagune, während wir von würzigen Gerüchen umgeben, einander das Jawort gaben. An die Melodie der Wellen, das stetige Glitzern auf ihrem Kamm, als wären die Sterne vom Himmel gefallen. Den Gesang des Windes, wenn er durch die Palmwedel fuhr. An die mystische Nacht, in der sich die Götter Dinge zuflüsterten, die wir noch Wochen später zu vernehmen gedachten. Unsere Körper mit diesem Mirakel verbunden und die Idee, dass es bis an unser Lebensende anhalten würde.
Das schwarze Chiffonkleid: Ich trug es an den Konzerten. Wo die Philharmoniker Mozart vortrugen, Händel, Bach, Tschaikowski. Wo ich bei Orffs Carmina Burana weinte und bei allen anderen klassischen Melodien weinte, weil ich dann immer an sehr Trauriges denken musste.
Das gelbe Kleid mit den pinkfarbenen Rosen ist Daniels Lieblingskleid. Er hatte mich dazu überredet, es zu kaufen, um endlich von meinen schwarzen Klamotten loszukommen.
Auch im Wohnzimmer öffne ich den Schrank und entnehme ihm das teure Geschirr, die filigranen Tassen und Teller, die englische Porzellankollektion. Auch die ist neu. Daniel wollte es so.
Trennung von der Vergangenheit, Aufbruch in ein zukünftiges Leben. Der Anfang vom Ende.

Der Beginn unseres Altwerdens.
Jetzt hat mich Daniel verlassen.

Flavia weilt mit ihrer Yogagruppe auf Korsika. Ich werde sie morgen nicht anrufen können. Marion, meine andere Freundin wird mich wie immer nicht verstehen. Sie wähnt mich als glückliche Hausfrau. Ich möchte ihr den Glauben lassen.

Ich knipse im ganzen Haus die Lichter an. Sofort wirkt die Kühle noch kälter. Die weissen Steinplatten schimmern unter dem Porzellan. Weiss auch die Vorhänge an den weissen Sprossenfenstern neben der weissen Wand.
Weiss ist die Unschuld, die Keuschheit, die Jungfräulichkeit.
Schwarz ist meine Seele.

Plötzlicher Gedanke an meine Mutter.
Kurz nach meiner Heirat mit Daniel gingen wir im Streit auseinander. Seither habe ich sie nie mehr gesehen. Ich weiss, dass Helena den Kontakt mit ihr noch pflegt. Vielleicht behandelt Mutter meine Tochter besser als sie mich behandelt hat.

Man kann sich Mütter nicht wegdenken. Sie bleiben ein Leben lang präsent und noch lange darüber hinaus, sagte Flavia. Ich habe den Gedanken an meine Mutter verdrängt.
Sie log mich nie an. Verschwieg aber auch die Wahrheit.
Meine Wurzeln sind mir fremd, meinen Vater kenne ich nicht.

Mit fünfzig nicht der passende Moment, um sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem ein tiefes Bedürfnis, das mich seit dem Morgen beherrscht. Mit Daniel ist meine Geborgenheit gegangen. Die Wiege auseinander gefallen, in der ich mich wohlfühlte.
Ich wähle Mutters Nummer. Seit ihr Mann gestorben ist, lebt sie in einer Wohngemeinschaft für Pensionäre. Hat da ihr eigenes Zimmer und ihren eigenen Telefonanschluss. Und sei zufrieden, wie ich von Helena weiss.

Vielleicht sollte ich nicht mit ihr sprechen. Nach Jahren des Schweigens.
Mutter ist skeptisch, wie sie es zeitlebens mir gegenüber war. Als müsste sie sich auch jetzt am Telefon die Möglichkeit offen lassen, die Verbindung zu unterbrechen, wenn ihr meine Stimme zu unangenehm wird.
Ich möchte dich sehen, sage ich.
Auf der anderen Seite bleibt es stumm. Kein Wunder, Mutter fühlt sich bestimmt von mir überrumpelt. Nach so langer Zeit.
Komme mir jetzt bitte nicht mit Vorwürfen, fahre ich fort, ich weiss, dass ich Fehler gemacht habe. Doch man hat immer die Chance, diese wieder gutzumachen oder sich selber zu verändern.
Ich weiss ja nicht einmal mehr, wie du aussiehst! Mutters zaghafte Äusserung. Den Schmerz in meinem Inneren kann sie zum Glück nicht fühlen. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass sie sich noch nicht wesentlich verändert hat. Sie beurteilte mich schon als kleines Mädchen nach meinem Äusseren, als hätte ich damals keine Seele besessen. Sie schickte mich mit kaum sechs Jahren zum Ballettunterricht. Ich war ihre kleine Prinzessin. Ihr Talent.
Schönheit und Anmut zelebrieren. Um jeden Preis. Wie hoch der Preis war, erfahre ich erst heute an meinem Körper. Ich bin Hülle geblieben. Das hat mir Daniel heute Morgen gnadenlos ins Gesicht gesagt.
Es kostet mich Überwindung. Ich bitte sie, zu ihr kommen zu dürfen. Ins Altenheim, was sie sofort dementiert. Es sei eine Wohngemeinschaft mit eigenem Zimmer. Und ich solle ja nichts mitbringen, endet sie abrupt, was sich trotzdem wie eine Einladung anhört.
Vielleicht macht auch sie sich ein Gewissen.

Erst um Mitternacht versuche ich, mich in den Schlaf zu wiegen.
Es bleibt beim Versuch.

Zu lange an Daniels Seite geschlafen. Seinen Geruch eingeatmet, sein geräuschvolles Atmen vernommen. Oftmals mich an seiner Anwesenheit genervt, wenn er meine Betthälfte bezog. Aber er tröstete mich auch nach meinen schweren Träumen wenn ich schweissgebadet aus Abgründen aufwachte.
Umso mehr fehlt er mir.
Man gewöhnt sich aneinander. Ob ich ihm genauso fehle?

Auf einmal diese Ahnung.
Daniel an der Seite einer anderen Frau. Haare einer Fremden, nach denen er schlaftrunken greift, ihren Körper, den er an seine Seite zieht, die Küsse in ihrem Nacken, die zarten und doch fordernden Berührungen. Und sie mit steigernder Lust seine Erregung erwidernd.
Ich ermahne mich selbst, mich nicht in etwas hineinzusteigern.
Ich wehre mich gegen eine unsichtbare Kraft, die mich zu zerstören versucht.
Es gelingt mir nicht, zur Ruhe zu kommen. Ich gehe in die Küche, nachdem ich über die Kleider auf dem Boden gestiegen und das Geschirr im Wohnzimmer umgangen bin. Den Riss in der Steinplatte sehe ich erst jetzt. Der Riss in meiner Seele kommt mir genauso real vor.
Ich möchte weinen und finde die Tränen nicht. Lange knie ich auf den Boden und versuche, die beschädigte Platte mit Speichel aufzuhellen. In einer Schublade finde ich noch ein wenig weisse Farbe. Mit einem Pinsel streiche ich über die kaputte Stelle.
Man kann eine Wunde verarzten, aber niemals eine Narbe zum Verschwinden bringen.

Warum meldet sich Daniel nicht?

Fünfzig zu sein ist zwielichtig.
Man hat das Gefühl, als wäre man an ein Ziel gekommen. Auf die Spitze der Pyramide. Die Sicht in die Ferne ist klar; im (Lebens-)Herbst sieht man besonders weit. Man glaubt, den Punkt erreicht zu haben, dem man mühsam oder beschwingt entgegengegangen ist.
Oben sein konfrontiert uns jedoch unweigerlich mit dem Abstieg.
Die Gewissheit, dass ich auf dem absteigenden Weg bin, macht mir Angst. Dass ich den Weg vielleicht allein gehen werde, lässt meine Gedanken trudeln.
Und wohin würde ich mich ohne Reflektion entwickeln?

Daniel war mehr als nur mein Ehemann gewesen. Er verkörperte meine jugendlichen Wunschvorstellungen des perfekten Liebhabers. Er war Freund und Geliebter in einem und vor allem: Er spiegelte mich. Er reflektierte mich so stark, dass sich seine Schattenseiten auch auf mich projizierten. Daraus hätten wir uns entwickeln können. In dieselbe Richtung. Und doch individuell.

Unsere Beziehung scheiterte an meiner Unzulänglichkeit, wie jede meiner vorhergehenden Beziehungen schon gescheitert war.

Fünfzig als Aufforderung, in mir selbst die zu finden, die ich wirklich bin? Ein Appell, nach meinen Wurzeln zu suchen? Die Lebensmitte als eine Art spiritueller Adoleszenz anzusehen?

Ich schlafe unruhig in dieser Nacht. Ein sich immer wiederholender Traum treibt mir den Schweiss aus den Poren.
Eine Meeresbucht, gelbkörniger Sand. Dahinter steigen sanfte Hügel an. Die eine Hälfte des Strandes ist von der Sonne beschienen. Ich stehe auf der Schattenseite, möchte auf die andere gelangen. Je weiter ich mich auf die Sonnenseite bewege, umso länger wird der Schatten, der mich verfolgt. Ich werde das Gefühl nicht los, in meinem Leben etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben.

Oder immer zu spät angekommen zu sein.

Zwei


Bevor ich das Haus am Morgen verlasse, vergewissere ich mich, ob sich nicht doch eine Nachricht von Daniel auf dem Telefonbeantworter befindet.
Enttäuscht gehe ich in die Garage. Da steht mein schwarzer Roadster. Ein Geschenk von Daniel. Ich müsste hundert Jahre arbeiten, um ihm all das zurückzubezahlen, was er mir an Materiellem ermöglicht hat.
Geld sei nicht wichtig, waren stets seine Worte.
Vielleicht kann man dies mit dieser trockenen Nonchalance sagen, wenn man selber genug davon hat.
Geld hatte für mich schon in jungen Jahren einen hohen Stellenwert. Nur besass ich nie uneingeschränkten Zugriff und nie genug davon. Bis zu meiner Volljährigkeit verwaltete meine Mutter die Finanzen, später war es mein erster Ehemann. Lange bevor meine Tochter zur Welt kam, war ich aus dem Business ausgestiegen. Schwangere und Stillende hatten keine Chance. Heute mag das ein bisschen anders sein. Heute präsentieren die Models ihre Sprösslinge gleich mit im Hochglanzjournal.
Die heutige Generation profitiert von unseren Anstrengungen und Kämpfen um die Rechte und Freiheiten der Frau, sagte Flavia. Im Gegensatz zu ihr kümmerte ich mich nie darum.

Der Platz an der Seite meines Wagens gähnt mir leer entgegen. Hier steht sonst Daniels Maserati, seine Potenzfalle. Ich weiss nicht,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Silvia Götschi
Bildmaterialien: Silvia Götschi
Lektorat: Literaturwerkstatt
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2012
ISBN: 978-3-95500-040-0

Alle Rechte vorbehalten

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