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Zitat



Solches habe ich mit euch geredet, ass ihr in mir Frieden habet.
In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Johannes 16,33

Einstieg



»Wir werden immer zusammenbleiben.«
»Ja, für immer.«
»Und, wenn dies einmal nicht möglich sein, wenn irgendetwas uns dennoch auseinanderreissen sollte, dann werden wir uns ein Zeichen geben. Ja?«
»Ja. Sicher. Ganz sicher! Das werden wir. Ein Zeichen, einem Licht gleich oder was dann eben noch möglich sein wird.»
»Egal, welch dunkle Nacht uns dabei umgeben wird?«
»Ganz egal, welch dunkle Nacht auch sein wird. Selbst wenn sie noch so rabenschwarz und undurchdringlich zu sein scheint: Du weisst, umso heller wird dann unser Zeichen darin leuchten.«
»Und nie würden wir das Zeichen des anderen übersehen?«
»Nein, niemals! Wir würden es sofort erkennen.«
»Schön, dass es dich gibt.«
»Schön, dass es uns gibt.«
»Jetzt wissen wir um unser Zeichen.«
»Es ist das Zeichen unserer Liebe.«
»Ja! So sind wir nun bereit.«
»Ja, jetzt sind wir bereit.«
» Hast du Angst?«
»Ja! – So wie du.«

Die beiden lehnten an einem alten, mächtigen Kastanienbaum.
Ein heisser, lichtdurchfluteter Sommer lag hinter ihnen. Ein herbstlicher, kräftiger Südwind zog nun durch das unter ihnen liegende Churer Rheintal über die ansteigenden Wiesen zum Waldrand empor und liess die ersten farbigen Blätter tanzend zu Boden schweben. Als wollte er sie ärgern, wirbelte er Linda immer wieder ihre schwarzen Haare ins Gesicht.

Ihre Blicke schweiften über die in der anbrechenden Dämmerung erst spärlich beleuchtete Stadt Chur hinweg und verloren sich im letzten weichen Abendlicht dieses Tages in den Berggipfeln des südlichen Graubündner Oberlandes.

Prolog



Viele Jahre später …

Es hätte an jedem beliebigen Tag im Jahr zu irgendeiner Stunde geschehen können. Unabhängig davon, was in diesem Augenblick auf der Welt geschah.
Sei es, dass gerade der Weizen gesät oder in der Abenddämmerung mit riesigen Mähdreschern geerntet wurde. Sei es, dass Kinder mit unerledigten Hausaufgaben, dafür einer Notlüge in der Schultasche zur Schule gehen mussten. Sei es, dass Eltern einen sonnigen Ferientag am weiten Meer genossen, während ihre Kinder am Strand lachten und die Füsse in den heissen Sand eingruben. Es spielte auch keine Rolle, ob die Sonne einen sengend heissen Sommertag versprach oder nachts kalter Nieselregen auf die Häuser der Menschen fiel, während diese ruhig in ihren Betten schliefen oder sich sorgenvoll in ihren Kissen wälzten.

Es war unwichtig, ob die Menschen in diesem Moment Gutes oder Abscheuliches im Sinn hatten. Genauso bedeutungslos war es, ob nun ein Kind mit seinem Vater Blumen pflückte und dabei an die Mutter im Krankenhaus dachte oder ein einsamer, verzweifelter Mensch auf der Spitze eines Hochhauses stand, im Wissen, soeben seine ganze Familie zu Hause im Blutrausch ausgelöscht zu haben, und ihm nun der Mut für den finalen Sprung fehlte.

Der Grund, warum es genau in diesem Moment geschah, war ganz einfach:
Die Prophezeiung forderte ihre Erfüllung!

So musste es am heutigen Tage geschehen!
Es war der Tag, der für einen Menschen alles veränderte und dem deshalb sein bisher gewohntes Leben langsam entglitt.
Es war der Tag, an dem sich Wahrheit und Vertrauen unaufhaltsam auf eine dunkle und schwere Bedrohung zubewegten, um sich darin, wie die noch hellen, feuchten Farben eines Sommerbildes vor den erstarrten Augen des Malers, plötzlich in einem undurchdringlichen Wirrwarr aufzulösen.

An diesem Tag, 04:35 Uhr



Daan wachte auf und blickte auf die rot leuchtende Digitalanzeige seines Radioweckers.
04:35 Uhr.
An dieses nervende Ding hatte er sich noch immer nicht gewöhnt, obwohl Linda es bereits vor mehr als zwei Monaten aus dem Media Markt geholt hatte. Der Weckruf war das pure Grauen: So stellte sich Daan eine hyperventilierende Killerwespe in Todesangst vor, die in seinem Innenohr Amok surrte.
04:35 Uhr.
Daan fühlte sich ausgelaugt, gerädert, innerlich unruhig. Wie ein Zittern, ein leichtes Beben fühlte es sich an, obwohl er absolut still und bewegungslos im Dunkeln dalag.
Er drehte sich zu Lindas Seite hin.
Sie war nicht mehr im Bett. Seine Hand streifte in den leeren, noch warmen Bettinhalt hinein. Langsam sog er ihren Duft von dem ebenfalls noch warmen Kissen ein: Er liebte diesen – so roch sie nur, wenn sie schlief.
Er drehte sich mit ihrem Geruch in der Nase zurück, den Rücken ihrer Bettseite wieder zugewandt, und stellte sich schlafend.
Linda sollte nicht spüren, wenn sie wieder ins Bett zurückschlüpfte, wie unruhig und aufgewühlt er wieder war. So wie es auch in den letzten Wochen schon einige Male vorgekommen war, wenn sie in der Nacht kurz auf die Toilette ging und er deshalb aus seinem angespannten Schlaf aufwachte.
So bemühte er sich, gleichmässig und ruhig zu atmen, um glaubhaft schlafend zu wirken.
Trotzdem liess er seinen Rücken ein wenig abgedeckt, wohl wissend, sie würde ihn liebevoll zudecken, wenn sie sich wieder neben ihn legte.
Angestrengt horchte er in die Stille ihres Einfamilienhauses hinein. Alle Häuser und Bauten, ja sogar einzelne Räume, so glaubte er, hatten ihr eigenes Innenleben, und wenn man sich nur lange genug darin aufhielt, spürte man es. Das war nicht nur in seinem Heim so, sondern auch im Gebäude in der Altstadt von Chur, in dem sich seine Anwaltskanzlei befand. Da hörte er immer etwa das gleiche tägliche, wöchentliche Geräuschmuster heraus. Ein typisches Beispiel war der Mittwoch, wenn um 09:30 Uhr das gedämpfte Dröhnen der Müllabfuhr in die gut isolierten, klimatisierten Büroräume drang, während die Müllmänner draussen die Container lärmend hochzogen, scheppernd kippten und dann zurückschoben. Das gehörte zum Mittwoch genauso dazu wie die eine verschüchterte Patientin, welche stets um 07:55 Uhr vor der Tür zur psychiatrischen Praxis von Frau Dr. Schwarz stand und ihm wohl den jeweils kürzesten Blick zuwarf, der überhaupt möglich war, während er das Treppenhaus zu seiner Kanzlei weiter hochstieg.
Die Menschen waren Gewohnheitstiere, ob sie es wollten oder nicht. Sie nahmen manch ein Bild an der Wand erst wahr, nachdem es abgehängt worden war. Und vieles, was im Alltag hätte bemerkbar sein müssen, ging unbeachtet unter.
Je mehr er nun in dieser Nacht in die absolute Stille ihres Hauses lauschte, desto lauter begann diese zu werden. Sie schwoll in seinen Ohren zu einem Rauschen an, bis er glaubte, ihr Dröhnen zu spüren. Erst als er es nicht mehr aushielt und sein Ohr am Kissen rieb, wurde es leiser. Es kam aber nach wenigen Momenten zurück und forderte erneut seinen Platz.
Daan kannte diese laute Stille seit frühester Kindheit. Immer wieder war sie ihm an den unterschiedlichsten Orten begegnet.
Einmal, er erinnerte sich sehr gut daran, war er als kleiner Junge mit den Eltern in St. Moritz zum Skilaufen gewesen. Er fand sich plötzlich alleine weit abseits der Piste, in dem ihm unendlich scheinenden, glitzernden Weiss, im frischen Tiefschnee wieder. Er fuhr einfach los, konnte nicht anhalten, sah zu, wie die Skispitzen immer weiter durch das weiche herrliche Weiss glitten, bis er sich hoffnungslos verirrte. Dann setzte er sich hin, horchte in den tauben Schnee. Nur sein Herz hörte er pochen, sonst nur diese Stille, die bei angehaltenem Atem immer dröhnender und einsamer wurde.

Linda befand sich wohl, wie so oft in der Nacht, kurz auf der Toilette und holte sich danach ein Glas Wasser in der Küche.
Frauen, fand er, hatten sowieso eine viel zu kleine Blase bekommen – vor allem im Verhältnis zur Dauer ihrer Einkaufstouren: Gott musste also ein Mann sein. Ausserdem gab er ihm, dem Mann, den Orientierungssinn, um jeweils auf dem kürzesten Weg die nächste saubere Toilette in der Stadt zu finden: Denn bevor Linda ein nicht tadellos sauberes WC betreten würde, gäbe sie sich lieber mit einem Dornenbusch im Stadtpark zufrieden – egal, wie kalt es draussen war. So hatten sich zwangsweise bereits einige lustige, gemeinsame Pinkelerlebnisse ergeben. Wobei Daan zugeben musste, dass es seine eigene volle Blase gewesen war, die zur peinlichsten Situation geführt hatte. Sie beide waren zu einer erzkatholisch abgehaltenen Beerdigung gefahren und zeitlich sehr knapp angekommen. Unterwegs hatte er wohl zu viel Apfelschorle getrunken und so kam es, wie es kommen musste.
Die Abdankungsfeier wollte und wollte nicht enden und je voller seine Blase wurde, umso länger wurden die Gebete des Pfarrers und bald auch die seinigen, dass alles endlich ein Ende haben möge. Sie sassen in einer der vordersten Bankreihen; da konnte er doch nicht einfach verschwinden, zumal Linda und er die einzigen Auswärtigen in diesem Bauerndorf waren und deshalb die Blicke auf sich zogen.
Irgendwann wurde sein Schmerz so gross, dass er während des nächsten, wohl tausendsten Fürbittgebets einfach hinausgehen musste. Da er die Toilette irgendwo in der Kirche vermutete, verschwand er draussen zwischen den Grabsteinen und urinierte an die Friedhofsmauer – und, typisch für ihn, er wollte natürlich den vollen Druck ausnutzen und testen, wie hoch er die helle Mauer einnässen konnte.
Plötzlich gingen jedoch die Kirchentore auf; das letzte Gebet war wohl der Abschluss der Abdankung gewesen. Die Leute kamen langsam heraus, was übrigens auch Linda lachend vermerkte und nun ebenfalls ihren Rücken der auf sie zukommenden Trauergemeinde zuwandte. So wurde aus dem eben noch auf Rekordkurs hoch gezielten, vollen Strahl ein kümmerlicher Ruckelstrahl, der zu allem Übel auch noch seine Schuhspitzen traf. Linda schüttelte sich vor Lachen und hielt sich die Hand vor den Mund. Es war ihm unglaublich peinlich. Dass er sich noch zu den Trauernden umdrehen musste, lag noch vor ihm. So tat ein jeder so, als sei der grosse, dunkle Fleck an der Friedhofsmauer unsichtbar, die Spritzer auf den schwarzen Baleri-Schuhen Tautröpfchen und starrte gleichwohl darauf. Nachdem er eingepackt hatte, schüttelte er anstandshalber den Leuten zur Begrüssung noch die Hand.
Es war sehr blamabel gewesen und wahrscheinlich wurde in der kleinen Kirchentoilette nie zuvor so viel Seife nach einer Abdankungsfeier verbraucht wie an jenem Tag.

Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht, während er weiter den Schlafenden mimte.
Früher, da wäre er, falls überhaupt wach geworden, auch kurz aufgestanden. Er hätte sich eine Schorle aus der Küche geholt und Linda ein Wort der Nähe durch die angelehnte Toilettentüre zugeflüstert, obwohl er nicht hätte zu flüstern brauchen. Ihre kleine Marie hatte nämlich einen ausgezeichneten, tiefen Schlaf. Dennoch passte Flüstern seiner Meinung nach besser zur Stille einer Nacht. Er blickte dann immer noch kurz ins Kinderzimmer auf sein kleines Mädchen, wie es ruhig und gleichmässig atmend im Bettchen ein Bild von Zufriedenheit und Glück ausstrahlte.
Dann wärmte er Lindas Bett, indem er sich auf ihre Seite legte, bis sie zurückkam. Im Sommer schlug er ihre Bettdecke zurück und öffnete das Dachfenster ein wenig, um die laue Sommernachtsluft hereinströmen zu lassen und liebkoste Linda in den Schlaf zurück. Und wenn sie dann seitlich aneinander geschmiegt einschliefen, so roch er ihr Haar und ihre duftende Haut und küsste sanft ihren Nacken.
Von der ersten Sekunde an war er verrückt gewesen nach dieser Frau. Ihr Lachen hatte genügt, um ihn zu verzaubern. Marie, ihre Kleine, war vor Kurzem sieben Jahre alt und ein munteres, aufgewecktes Mädchen geworden. Wie schnell doch die Zeit verging! Wohin waren diese letzten Jahre bloss verschwunden?
Eben erst waren sie in der Geburtsvorbereitung in der Frauenklinik Fontana in Chur gewesen. Eine stolze Linda mit dickem Bauch und beide voller Vorfreude auf das zu erwartende Glück. Er konnte sich noch gut erinnern, wie sich der Bauch, ab dem achten Monat mit den Strampelbewegungen der Kleinen, selbstständig gemacht hatte, ebenso an den Schluckauf der Kleinen – wie lustig dies anzufühlen war. Jedes Mal war die Kleine kurz danach im Bauch wieder friedlich eingeschlafen.

Linda war auch in den Schwangerschaftsmonaten eine Schönheit gewesen. Sie hatte etwas mehr Kurven als sonst, trotz schlanker Figur. Nach der ersten Zeit mit viel Übelkeit und Stimmungsschwankungen waren es einfach wundervolle Monate gewesen, die sie beide genossen. Sie erlebten wirklich schöne Momente, wenn sie gemeinsam den Waldrand entlangspazierten und hinunter auf die Stadt und das Tal blickten. Schön war es, wenn die anderen Spaziergänger beim Vorbeigehen den Bauch seiner Linda bewunderten und sich mitfreuten.
Und als dann die Kleine nach knapp zehnstündiger Geburt endlich da war und Linda sie zum ersten Mal anschaute, während die Hebamme sie ihr auf die Brust legte, fühlte er: Diese Liebe kann nur eine Mutter geben.
Sie bekamen das beste Familieneckzimmer der Klinik mit Sicht über ganz Chur, Ems, das südliche Oberland und auf ihr eigenes Haus nicht weit unterhalb.
So verbrachten sie die erste Woche mit ihrer Kleinen zu dritt wie in einem Hotelzimmer: gut betreut und verköstigt, hoch über Chur.
Wie die Zeit nur dahinging – im Rückblick gerast war! Wie feiner Sand war sie durch seine Hände gerieselt.
Linda und Daan kannten sich schon sehr lange. Seit ihrer Jugendzeit. Für beide war es die erste grosse Liebe. Gemeinsam hatten sie wilde Jahre durchlebt und das Leben aus vollen, manchmal allzu vollen Zügen genossen. Mit Freunden so manche Nacht durchgefeiert. Oft fuhren sie verkatert im ersten Tageslicht mit dem Taxi heimwärts und schliefen tief in den Sonntag hinein, zogen dann mit dunklen Sonnenbrillen am frühen Sommernachmittag auf ihrer 60er-Jahre Vespa zum Freibad Sand und dösten sich bis in den späten Nachmittag hinein braun. Dann schwammen sie ein paar Runden im erfrischenden Wasser und setzten sich in der Altstadt unter die Bäume des Restaurants Marsöl, um einmal mehr zusammen die besten Schnitzel mit Pommes der Welt zu essen.
Zu zweit kurvten sie oft auf ihren Motorrädern durch die Alpen, über die höchsten Pässe auf einsamsten Strassen. Sie schliefen nach langen, anstrengenden Fahrradtouren inmitten der leeren, baumlosen Hochtäler im Zelt und kochten beim Eindunkeln auf dem kleinen Gaskocher etwas Feines. Sie drehten ihren ersten Joint zusammen und entdeckten gemeinsam die Höhen und Tiefen der Liebe.
Sie hatten sich schon immer ohne viele Worte verstanden und dennoch mit vielen Worten über Kleines, Unscheinbares auch heftig streiten können. In vielem waren sie gleich gepolt, in anderem ergänzten sie sich wunderbar, sodass nie die Spannung aus ihrer Beziehung wich: Ihre Liebe blieb lebendig.
Linda war eine wahre Schönheit, mit glatten schwarzen, zwei Handbreit unter ihre Schultern reichenden Haaren. Ihr leicht dunkler Teint, ihre blaugrau leuchtenden Augen und ihr Körper verzauberten ihn. Er war einfach verrückt nach ihr.
Daan konnte die vielen gemeinsamen Stunden mit ihr, an den kristallenen und manchmal einsam gelegenen Seen, die Abende an einem gemütlichen Feuer, nicht zählen; sie waren allesamt schön gewesen. Ihr Lachen war ein klares, helles, wunderschönes, mitreissendes Lachen, das direkt aus ihrem Innersten herausperlte. Ihre weissen Zähne, die dank Zahnspange in der Teenagerzeit perfekt gereiht waren, blitzten zwischen sinnlichen Lippen hervor.
Das war aber alles nichts im Vergleich zu dem einen Blick, den sie ihm so oft schenkte. Die Art, wie sie ihn anschaute, liess ihn spüren, wie sehr sie ihn liebte. Dieser Blick allein gab ihm eigentlich alles. Er genoss ihre Schönheit in jedem Augenblick in vollen Zügen, nie aber hätte er auf diesen Blick verzichten mögen.
Es war ihre gemeinsame Liebe, die Linda schön und begehrenswert machte.

In dieser Nacht stand er nicht auf, um eine Apfelschorle zu holen. In ihrem Einfamilienhaus in der Lürlibadstrasse, das in die sanft ansteigende Bergflanke oberhalb von Chur hineingebaut war, herrschte weiterhin eine absolute Stille.
Daan schaute erneut auf die rot leuchtenden Digitalzeichen des Weckers.
04:54!
Vielleicht fühlte sich Linda unwohl und sie sass in der Küche an der Bar und trank einen Tee.
Er musste einfach kurz nachsehen, egal, wie sie sich zurzeit verstanden. Vielleicht brauchte sie seine Nähe. Da spielte es keine Rolle, in welch verfahrener Situation sie im Moment fest steckten. Da zählte nur eines: für sie da zu sein. Sie würde auf jeden Fall das Gleiche für ihn tun.
Er schlug seine Bettdecke zurück.
Barfüssig schlurfte er durchs dämmrige Schlafzimmer in den Flur hinaus und schlug sich dabei, wie so oft, sein rechtes Knie an der Bettumrandung aus Massivholz an.
»Verdammt noch mal!«, zischte er gereizt leise vor sich hin.
Ohne das Licht anzuknipsen, deshalb umso vorsichtiger, und mit einem zweiten, nicht ganz verhaltenen Fluch zwischen Lippen, humpelte er um die Ecke und sah, dass kein Licht unter dem Türspalt der geschlossenen Badezimmertüre hindurchschimmerte.
Er stieg die breite, grosszügig angelegte Treppe hinunter. Der Bewegungsmelder klackte auf, als dieser ihn erfasste, und leuchtete die Steintreppe hell aus. Geblendet vom grellen Licht, kniff er die Augen zusammen und hielt seine Hand schützend vor sein Gesicht.
Wie hasste er diese verdammten Dinger, vor allem mitten in der Nacht; dennoch waren sie praktisch.
Linda hatte sich beim Bau des Hauses Bewegungsmelder gewünscht. So wurden sie in jedem Durchgang installiert. Als er sich in der ersten Zeit nach dem Einzug in der Nacht jeweils über die verdammten Blender, wie er diese nannte, ärgerte, lachte Linda nur und fragte ihn, ob es denn sinnvoll sei wenn diese nur bei Tage funktionierten. Und vor allem, ob das Licht, von Hand angeknipst, in der Nacht langsamer anginge. Er musste damals schmunzeln. Sie hatte ja recht gehabt.

Auch das Gästebadezimmer im unteren Stock fand er leer und dunkel vor, ebenso die kleine Gästetoilette im Eingangsbereich.
Verwundert blieb er im Korridor stehen.
Das Licht ging nach dreissig Sekunden aus, um sogleich wieder, mit dem ersten Schritt in Richtung Küche, anzugehen.
Leer!
Leer war auch das Wohnzimmer, in welchem der Geruch der neuen Ledersitzgruppe in der Luft hing.
Die dreiflügelige, aufschiebbare Terrassentüre, die zum Garten hinausführte, war von innen verriegelt. Ausserdem wäre es zu kalt gewesen, um in der nächtlichen Stille des Gartens vor dem plätschernden kleinen Wasserfall des Teiches seine Gedanken zu ordnen, wie Linda dies tagsüber gerne tat.
Die Haustüre war verschlossen; der Schlüssel steckte noch immer von innen.
Irritiert sprang er die Treppenstufen hoch, synchron dazu klackten die Bewegungsmelder. Er musste es sich verkneifen, die Türe von Maries Zimmer nicht einfach aufzureissen, zwang sich zur Ruhe und drückte die Türklinke vorsichtig und leise hinunter.
Im schwachen, vom Flur her einfallenden Lichtschein fand er ein leeres Bettchen.
Daan knipste das Zimmerlicht an.
Das Kinderbett war tatsächlich leer und als er die kleine Decke zurückschlug, spürte er noch die Wärme der kleinen Marie darin.
Daan war wie vor den Kopf gestossen und eilte barfüssig, nur in Unterwäsche, weiter durch das ganze Haus.
In allen Räumen knipste er das Licht an.
Erst leise, dann nach und nach lauter rief er Lindas Namen, dabei seinen Kopf in alle Richtungen wendend.

Stille!
Dröhnende Stille!

Linda und Marie waren weg!
Einfach weg!
Das konnte doch nicht sein!
Unmöglich!
Es musste ein böser Traum sein und er würde sogleich aufschrecken und Linda ruhig neben sich atmen hören. Aber das seltsam beklemmende Gefühl, welches in seiner Brust drückte, konnte er nicht verleugnen. Es war dasselbe, welches ihn geweckt hatte.
Klar, sie verstanden sich seit fast einem Jahr nicht mehr wirklich gut. Eigentlich schon und doch auch wiederum nicht. Sie sprachen dennoch gemeinsam über diese Sache. Keine Äusserung von Linda hatte darauf hingedeutet, dass sie hätte weggehen wollen – und auf diese Weise sowieso nicht. Nein, das glich Linda nicht; niemals hätte sie auf diese Art alles hingeschmissen. Ihre Beziehung war ja nicht hoffnungslos angeknackst. Zumindest glaubte er dies. Es gab noch immer Bewegung in ihrer Ehe. Und vor allem: Sie liebten sich nach wie vor innig, das spürten beide sehr stark. Und doch hatte sich Linda aus seiner Sicht sehr verändert. Sie war einfach nicht mehr die, die er seit vielen Jahren kannte.
Seit sie mit dieser verdammten Kirche oder Gemeinschaft, wie auch immer man diese bezeichnen mochte, zu tun hatte und fast jeden Sonntag deren Gottesdienst besuchte, war sie nicht mehr dieselbe.
Sie versuchte, ihm klarzumachen, warum sie das nun so wollte, welchen Sinn sie daraus gewinnen konnte, und hätte ihn gerne daran teilhaben lassen. Sie bemühte sich sehr um ihn – das spürte er. Trotzdem konnte er ihr Tun nicht nachvollziehen. Er verstand nicht, weshalb sie sich zu einer solchen Kirche oder Gemeinschaft hingezogen fühlte.
Oft sah er sie im Garten im gestreiften Strandkorb sitzen, den sie im Urlaub an der Ostsee gekauft und teuer in die Schweiz hatten liefern lassen. In sich selbst versunken, sass sie dann im Schneidersitz nach vorne gebeugt da und las in der Bibel oder in christlichen Zeitschriften. Sie gab ein Bild der Entspanntheit, wie sie dasass und las, eine Tasse Tee dabei trank und sich hin und wieder etwas notierte. Genauso wie sie früher ihre Frauenzeitschriften oder einen Roman gelesen hatte.
Wenn er in solchen Momenten jeweils an ihr vorbeiging, blickte sie kurz auf und lächelte ihn an.
Am liebsten hätte er sie dann in den Arm genommen und endlos gestreichelt, gedrückt und ihre Nasenspitze geküsst. Doch jetzt war sie eine andere – und ihr Verhalten bewirkte, dass er sich zurückzog.
Natürlich bemerkte er, dass auch Linda litt, wenn er sich ihr entzog, aber er konnte ihrem neuen Glauben nichts abgewinnen. Wie auch? Das war doch alles nicht nachvollziehbar mit diesem Jesus und der heilen Welt darum herum.
Es war das erste Mal, dass er und Linda bei etwas Wichtigem so unterschiedlich dachten und fühlten.
Früher hatten sie ihre Meinung über Gott und die Religion geteilt. Das war nun nicht mehr so. Aus irgendeinem Grund hatte sich Linda verändert.
Gewiss gab es da draussen einen Gott oder Schöpfer, aber damit basta!
Immerhin hatten sie sich kirchlich trauen lassen und anschliessend ein rauschendes Fest gefeiert: Auch der eingeladene Pastor hatte mächtig gebechert.
Hatten sie vor dieser Sektengeschichte denn nicht ein anständiges Leben gelebt, auch ohne einen derart vereinnahmenden Gott? Er trank und rauchte nicht mehr, seit er zwanzig war, betrog Linda nie, arbeitete nicht zu viel und war so oft wie möglich zu Hause: Eigentlich war doch alles in bester Ordnung. Es war sein, ihr gemeinsames Leben, das ihn glücklich machte.
Sie hatten eine wundervolle Tochter, ein tolles Haus mit Aussicht über die gesamte Stadt – und auch nach Jahren zogen sie einander magisch an und immer noch regelmässig aus.
Perplex stand er nun im leeren Haus und dachte plötzlich an die kleine Sommersprosse an Lindas Oberlippe. Nur wenn sie ungeschminkt war, konnte man sie sehen. Er war von diesem kleinen Fleck immer hingerissen gewesen. Sein Herz würde so lange ihr gehören, wie er diese Sommersprosse sehen konnte, das wusste er seit ihrer ersten Begegnung. Sie hatten doch das, was alle Paare sich wünschen:
Sie hatten die wahre Liebe gefunden.
Es fehlte ihnen doch an nichts. Rein gar nichts. Warum sollte irgendwas verändert werden?
Jede Veränderung würde bloss dieses Gleichgewicht, diesen Frieden, ihr schönes und erfülltes Leben stören.
Aber genau das machte diese verdammte Kirche!
Ihr zuliebe hatte er Linda einige Male in diese Gemeinschaft, wie er sie bezeichnete, begleitet.
Die Leute dort freuten sich über sein Kommen, er sich wieder auf das Gehen. Alle waren sie scheissfreundlich. Wie in einem Werbespot für Zahnpasta lächelten sie sich gegenseitig in einem fort an, während sie einander mit jeweils nur einem Arm kurz halbseitig umarmten.
Mit diesem Ernst Holdener, dem Pastor der Gemeinde, hatte er zwei, drei kurze, zwar gar nicht so schlechte Gespräche geführt – doch wenn er die Gemeinschaft beim sogenannten Lobpreis inbrünstig die frommen Lieder singen hörte, einige mit geschlossenen Augen und die Hände hochhaltend, dann sah er, wie weltfremd das Ganze war. Denen fehlte doch einfach nur ein gesunder Halt im Leben. Die eigene innere Stärke.
Daan hatte bis dahin sein Leben genossen: Er war sehr zufrieden, seine Familie und sein Beruf waren sein Glück gewesen.
Bis eben diese Sandra bei Linda im Team zu arbeiten begonnen und sich nach und nach eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt hatte und Linda zu einem eingefangenen Schäfchen wurde.
Seine Linda! Das passte einfach nicht zu ihr. Sie war doch eine gewiefte Frau mit ausgeprägtem eigenen Willen und klarem Denkvermögen. Das gefiel ihm auch so an ihr. Sie war direkt und vermochte, sich klar abzugrenzen. Kein Telefonverkäufer hatte eine Chance bei ihr. Als sie gemeinsam Lindas Wagen gekauft hatten, redete der Verkäufer sich den Mund fusselig. Dennoch hatte sie sich den Rabatt erhandelt, den sie haben wollte. So war Linda.
Solange Daan nichts damit zu tun hatte, war er grundsätzlich tolerant gegenüber allen Frieden predigenden Glaubensrichtungen – mochte es dieser langhaarige Jesus in Birkenstocksandalen sein, irgendein südamerikanischer Sonnengott der Inkas, der Dalai Lama oder so ein Feng-Shui-Allmächtiger persönlich.
Wenn Menschen einen solchen Halt brauchten, andere aber damit in Ruhe liessen, sollte es ihm recht sein.
Als Rechtsanwalt und Notar zählten für ihn Fakten; ausserdem war er als inzwischen fünfunddreissigjähriger Mann gefestigt genug, um sein Leben in geplanten Bahnen laufen zu lassen. Die wilden Jahre waren längst vorbei, schon vor einiger Zeit auf eine familiäre Schiene geleitet worden, die ihn glücklich machte. Warum, verdammt noch mal, konnte Linda es nicht einfach dabei belassen? Sie hatte sich zuvor nie über ihr Leben beklagt. Im Gegenteil: Sie war sehr glücklich gewesen. Sie hatte ihm das deutlich gezeigt und er hatte es gefühlt.
Es war auch nicht Linda, die sich in den letzten Monaten mehr und mehr zurückzog. Er war es. Sie bewies ihm weiterhin ihre ganze Liebe und entzog sich ihm in keiner Hinsicht. Doch er spürte klar, dass die Grundlage ihres gemeinsamen Lebens nicht mehr dieselbe war. Linda war das ebenso bewusst, sie zog jedoch andere Konsequenzen daraus. Das alles hatte ihm schon lange, wenn er es sich auch selbst ungern eingestand, Angst gemacht.
Grosse Angst – denn Linda war die Liebe seines Lebens.

Das Haus war leer!
Stille!
Hatte er ihre Signale missinterpretiert?
Oder diese erst gar nicht wahrgenommen? Er hatte wohl bemerkt, wie sehr auch sie unter seiner Zurückhaltung gelitten hatte. War ihr sein Rückzug in den letzten Monaten zu viel geworden? Hatte sie dies als das Ende seiner Liebe gewertet?

Daan war vollkommen verwirrt.
Wohin und warum war sie nur so plötzlich gegangen?
Nirgends im Haus fand er eine Nachricht – rein gar nichts.
Vergeblich versuchte er, sie auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen. Die Combox schaltete sich sofort ein. Sie hatte es ausgeschaltet.
Er schickte ihr eine SMS mit der Bitte, sich umgehend zu melden, und schloss mit »ild« (ich liebe dich) ab.
Dann zog er seine Hausschuhe an und warf sich seinen schwarzen Adidas-Morgenmantel aus Frottee, den ihm Linda vom letzten Weihnachtseinkauf aus Ulm mitgebracht hatte, über die Schultern. Während er die Kellertreppe in die Garage hinunterstieg, knotete er ihn zu.
Im surrend aufglimmenden Licht der Neonröhren sah er beide Wagen vor sich stehen. Es roch nach Gummi, Werkzeug und Öl.
Unmerklich schüttelte er den Kopf, griff sich in sein dunkles Haar, atmete einmal tief ein und liess die Luft geräuschvoll und langsam durch die Nase ausströmen.
Es ergab einfach keinen Sinn.
Alle Fenster waren geschlossen. Nirgends schien eingebrochen worden zu sein und dennoch: Seine Liebsten waren weg.
Wo zum Teufel waren sie nur hingegangen? Und wie war ihr Verschwinden möglich? Das ganze Haus war doch von innen verschlossen!

Zurück in der Wohnküche im Erdgeschoss, drückte er den Espresso-Knopf an der eingeschalteten Kaffeemaschine und setzte sich an die Bar. In der tauben Stille des Hauses empfand er das krachende, mahlende Geräusch der Maschine und das Sprudeln des sich einfüllenden Kaffees beinahe als wohltuend.
So oft hatten Linda und er gemeinsam am Morgen schnell an der Bar gefrühstückt und Kaffee getrunken.
Im Geiste ging er nochmals den gestrigen Tag durch und wie sie gemeinsam schlafen gegangen waren. Während sie sich – wie jeden Abend – im Bett die Hände eincremte, bat sie ihn noch, er möge am nächsten Tag, also heute, Marie im Kindergarten abholen. Eine Kundenpräsentation würde möglicherweise länger dauern.
Nie hatte er ihr gesagt, wie sehr er die Art und Weise mochte, wie sie ihre Hände pflegte. Er liebte dieses allabendliche Ritual und verbarg geschickt, dass er sie dabei mit Genuss beobachtete. Auch wenn sie mit dem Wagen losfuhren, kramte Linda oft aus ihrer sportlichen Esprit-Handtasche, ein Geschenk von ihm, ihre Handcreme hervor und rieb sich damit ihre Hände ein. Es war ein Teil ihrer persönlichen Lebensart: Sie liebte Stil und Kultur, spielte wundervoll Klavier und Querflöte, besass geschmackvolle Wintermäntel, legte Wert auf gepflegte Schuhe. Sie war stilsicher, ohne ein Modepüppchen zu sein: Schliesslich mochte sie es auch, in ausgeleierter Jogginghose und schlabberigem T-Shirt auf dem Wohnzimmerboden sitzend, mit Marie und ihm gemeinsam Puzzles zusammenzusetzen oder in ihren G-Star-Jeans, in einem ausgetrockneten Bachbett auf versandeten Steinen hockend, einen Cervelat auf dem Feuer zu braten.
Wie oft hatten sie gemeinsam gelacht!
In den letzten Schwangerschaftswochen mit Marie ass sie so viele kleine Maiskölbchen, dass er sie deswegen oft auslachte. Eines Abends, während er sich rasierte, schlich sie sich leise von hinten an ihn heran – nur mit einem roten String bekleidet. Sie hatte sich jeweils eines der schmalen Maisdinger in beide Nasenlöcher und Ohren sowie eine Anzahl davon in den Mund gesteckt und presste zwischen den Lippen hervor: »Nimm mich – jetzt!«
Im ersten Moment erschrak er damals doch ein wenig. Als Linda seinen dümmlich verdutzen Blick sah und wie er kurz zusammenzuckte, prustete sie die Dinger quer durch das Badezimmer und kugelte sich vor Lachen, und je länger er dastand und wohl immer noch nicht besonders helle in die Welt guckte, umso mehr lachte Linda.
Plötzlich wurde sie dann still und schaute ihn erstaunt, ja fast erschreckt an: »Schatz, die Fruchtblase ist beim Lachen gerissen. Schnell, wir müssen los! Hol mir doch bitte noch ein Glas Saft aus der Küche und ein Handtuch!« Sie hielt dabei ihre Hände in den Schritt und setzte sich auf den Badewannenrand.
Beinahe liess er den Rasierapparat fallen, wusste nicht, wo anfangen, stürzte kopflos aus dem Badezimmer die Treppe hinunter und kam mit dem überschwappenden Glas Orangensaft, immer noch nackt und mit zitternden Händen, zurück.
»Danke, mein Schatz. Ich war einfach zu faul, um selbst hinunterzugehen, aber Durst hatte ich schon. Kein Wunder, bei den vielen Maiskölbchen. Ach, ich denke unser Baby lässt sich doch noch Zeit ...« Sie nahm das Glas und begann von Neuem zu lachen.
So stand er mit einem Pulsschlag von 180, nackt und nur zur Hälfte rasiert vor seiner hochschwangeren Frau, die ihn mit einem Glas Saft in der Hand anlachte.

Das war schon lange her. Er drückte nochmals den Espresso-Knopf.
Jetzt waren die beiden weg – und nein, kein einziges Zeichen hatte sie ihm zuvor gegeben. Oder hatte er es nicht wahrgenommen? Hatte er es im Alltag übersehen? Ihre Stoppschilder überfahren, ohne dies zu wollen und zu fühlen? Sein Rückzug – hatte dieser ihn unachtsam werden lassen für die Signale seiner Liebsten? Es war doch er, der durch diese Sektengeschichte so in die Enge getrieben wurde.
Sein Leben, das hatte er sofort gewusst, als sie von dieser Kirche erzählte, würde bald eine Wende nehmen. Aber so einschneidend?
Daan goss sich ein wenig Rahm in seinen Kaffee, rührte mechanisch um und hörte dabei, wie der Kaffeelöffel am Tassenrand ungleichmässig hell anschlug, während er überlegte, wie er sie wohl finden oder zumindest erreichen könnte.
Es war doch sein Recht, zu erfahren, wo die beiden steckten.
Lange konnten sie noch nicht weg sein, denn die leeren Betten hatten sich noch eben warm angefühlt.
Wie die beiden aus dem – eben immer noch – verschlossenen Haus gekommen waren, war ihm ein absolutes Rätsel.

Ausserdem würde Linda so etwas nie tun: einfach abhauen!
Eine solche Handlungsweise entsprach nicht ihrem Charakter. Also musste etwas anderes geschehen sein. Natürlich hatte er von Beziehungsdramen, bei denen ein Partner überstürzt und völlig unerwartet handelt, schon gehört. Das geschah immer wieder.
Doch seine Linda würde das niemals machen.
Basta!
Zu lange kannte er sie schon. Auch wenn es jetzt so aussah: Dieses plötzliche Verschwinden war nicht Lindas Art.
Punkt!
Sie würde sich demnächst melden und dann eine logische Erklärung bereithaben.
Er nahm sein Mobiltelefon und den Hörer des Festanschlusses an sich. Das gewohnte Freizeichen des Festanschlusses ertönte, sein iPhone funktionierte ebenfalls.

Beklemmende Stille!
Ein Haus ohne Leben!

Als er durch die grosse Fensterfront, welche sich durch das gesamte Wohnzimmer bis zur Küche mit Bar hinzog, auf die schlafende Stadt Chur hinunterblickte, bemerkte er das Aufblinken zweier Blaulichter. Wohl ein Unfall.
Daan zwang sich erneut zur Ruhe, durchsuchte vom Keller bis zum Dachstock nochmals alle Räume Dachstock, sah in allen Schränken nach, überprüfte die Türen und Fenster. Die sich selbst befohlene Ruhe wandelte sich wieder in Unruhe, wurde fast unerträglich – die Vergangenheit drückte sich, wie der Winter den Nebel in die Täler, in ihn hinein.

Seit nunmehr fünfzehn Jahren hatte er nicht mehr an ihn gedacht. Oder zumindest mit abnehmender Intensität, sodass das einmal Geschehene nur noch wie ein kleiner Dorn in ihm verankert war. Ein kleiner Widerhaken von Grauen, der jetzt auftauchte, an dem er nicht zog, den er zurück in die Vergessenheit schob. Bloss den Höllenhund schlafen lassen. Auf Zehenspitzen gehen, falls er, Daan, wieder einmal unbeabsichtigt in dessen Nähe kam. Leise davonschleichen, denn die massive, eiserne Kette riss, wenn das Untier zur Raserei kam und sich das Bild des flüchtenden Opfers flackernd in den Höllenhundaugen spiegelte.
Daan war einen Moment zu unvorsichtig gewesen. Das Tier tauchte wieder aus seiner Vergangenheit auf – und Daan fühlte, wie ihn nun das Augenpaar fokussierte, wie er in dessen unseligen Bann gezogen wurde.
»Neeeein!«
Es schrie aus ihm heraus.
Die dunklen Tage dieser endlosen Wochen. Die Ereignisse, welche ihn im Grandhotel Excelsior geschunden und gepeinigt hatten – waren sie wieder da? Als Folge der Anspannung während der letzten Monate? Alles wegen Lindas Begeisterung für diese Kirche?

Seine eigene Vergangenheit überwältigte ihn: Rücklings fiel er in die neue Ledersitzgruppe – verschwand in dieser – und in seine bis anhin dunkelsten Tage zurück. Er ahnte nicht, dass diese Vergangenheit nichts war im Vergleich zu dem, was ihn noch erwartete. Denn sowohl das Furchtbarste, was ein Mensch ertragen kann, wie auch das Wunderbarste, was ein Mensch erleben darf, lagen nun vor ihm.

15 Jahre zuvor



St. Moritz in der Schweiz.
Daan irrte in Todesangst durch die vielen endlosen Gänge des Grandhotels Excelsior, des teuersten Luxushotels der Welt.
Es war das Grandhotel seiner Eltern, in welchem der amerikanische Präsident gastierte und mit ihm die weltweit bedeutendsten Persönlichkeiten ein- und ausgingen, ihre Ferien verbrachten und dabei entscheidende Gespräche in entspannter Atmosphäre führten. In legeren Lacoste-Pullovern oder locker zugeknöpften Hemden mit nach hinten gekrempelten Ärmeln standen sie in der Lobby oder im weitläufigen Park zusammen, redeten und lachten miteinander; eine Hand dabei lässig in der Hosentasche vergraben.

Es war Nacht! Oder doch Tag?
Stunden-, tagelang hatte Daan zuvor die vielen Hundert Zimmer und Gänge nach ihm vertrauten Menschen durchkämmt. Hatte deren Namen geflüstert oder laut gerufen, während er – wie im Fieber – durch die vereinsamten Gebäude hetzte.
Niemand war mehr da!
Alle waren sie einfach weg. Verschwunden! Von einem Moment auf den anderen!
Bis auf das böse Dunkle, das er fand, obwohl er es nicht gesucht hatte, und das ihn jetzt erbarmungslos jagte.

Seine Lungen brannten.
Er keuchte lautstark durch das vierte Untergeschoss, entlang den mannshohen Industriewaschautomaten, durch die Lingerie bis zu den Versorgungstunneln, welche die vielen Vorratsräume mit den Stockwerken darüber verbanden; überall Rohre und Leitungen in den hohen, roh betonierten Gängen.
Seit Tagen hatte er niemanden mehr gesehen.
Nur das Böse, das ihn nie ruhen liess, fühlte er nur allzu nahe. Immer wieder versuchte es, ihn zu greifen. Kaum hatte er sich irgendwo versteckt, spürte es ihn wieder auf und er musste weiter, immer weiter. Nie fühlte er sich sicher, nie fand er seine Ruhe. Niemals durfte er zurückschauen – das wusste er, seit es das erste Mal geschehen war. Damals war er noch ein kleiner Junge.
Dieses Mal hatte es kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag begonnen.
Gemeinsam mit Linda, Freunden und Bekannten, rund zweihundert geladenen Gästen, hatte er im kleinsten Saal des Grandhotels ausgelassen gefeiert.
Am nächsten Tag hatte er Linda im Wagen seiner Mutter nach Chur zu ihrer Wohngemeinschaft in der Altstadt gefahren. Er hatte mit ihr noch den Nachmittag verbracht, bevor am Abend das Konzert mit dem Graubündner Philharmonie Orchester in der St. Martinskirche in Chur begann.
Nachdem er am Abend des übernächsten Tages nach St. Moritz zurückgekommen war und sich die schweren Tore der Tiefgarage des Grandhotels surrend hinter ihm geschlossen hatten, begann das Grauen. Seit diesem Moment hetzte er in den Katakomben des Hotels von Versteck zu Versteck auf der Suche nach dem Ausgang und den Menschen.

Daan kroch in einen der quadratischen Wäschewagen aus Aluminium und vergrub sich unter einem Berg schmutziger Bettlaken.
Sein Herz pochte laut, seinen Atem hielt er gepresst, um so leise wie möglich die dringend benötigte Luft zu bekommen.
Dunkel war es und still.
Totenstill!
Angestrengt lauschte er aus seinem Versteck nach Geräuschen in diesem Koloss aus Mauern, Gängen, Aufzügen, Räumen, Rohren, Kameras, Lichtern, Schiebetüren und Teppichen ...
»Bitte, Gott, lass ihn mich nicht finden«, flehte er mit lautloser Stimme. »Lass ihn diesmal vorüberziehen, bitte, nur dieses eine Mal, bitte ... – ich brauche eine Pause!«
Bis heute war dies sein letztes unerhörtes Gebet gewesen, denn niemals wieder hatte er ein solches gesprochen.

Daan hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Irgendwann wurde der Wäschewagen angestossen. Von Todesangst gepeinigt, sprang er nach wenigen Metern hinaus, rannte los, um verzweifelt im tiefen, vom kraftlosen Schein der Nachtlichter beleuchteten Untergrund weiter nach einem Ausgang zu suchen.
Daan hörte nichts mehr, nicht einmal das Böse, das ihn lautstark zu holen versuchte, während er weiterhetzte. Er stolperte, raffte sich wieder auf, rannte noch schneller. Nach Luft ringend, stützte er sich für einige Sekunden an einer Mauer ab und spürte es wieder – das Böse – genau hinter sich!
Im Nacken fühlte er dessen heissen Atem. Genau wie in der Geschichte des Höllenhundes Ronulus, welche ihm seine Nanny Arul vorgelesen hatte, als er zehn war. Damals hatte er sich davor gefürchtet, das Buch selbst zu lesen: Das Titelbild erschien ihm angsteinflössend – hatte aber auch eine grosse Neugier auf die Geschichte geweckt. Lange hatte er Arul gedrängt, bis diese nachgab. Dann endlich, angespannt, die Bettdecke bis übers Kinn hochgezogen, hatte er gebannt zugehört. Ronulus verfolgte ihn danach bis in seine Träume und bescherte ihm einige unruhige Nächte.

Der gelbe, müde Schein der Neonröhren zog unter seinen gehetzten Schritten vorbei.
Daan war zu erschöpft.
Es schien ihm, als wolle ihn das Böse wie die Maus jagende Katze vor dem finalen Schlag noch quälen, ihm immer die Fluchtmöglichkeit noch offen lassend, die er nutzen musste, bis ihm all seine Kraft und sein Wille geraubt waren und es schliesslich über ihn, den schon lange Besiegten, herfallen konnte!

Der Durst zwang ihn, in einer Personaltoilette seinen Mund unter den Wasserhahn zu halten. Es war ein Durst, wie er ihn noch nie verspürt hatte: tief, lechzend und unstillbar. Gierig trank er in hastigen Schlucken, denn das dunkle Böse konnte nicht mehr weit sein.
Wohin nun?
Sein Orientierungssinn drehte wie ein Kompass, von Tausenden von Polen umgeben, völlig im Leeren.
Seit seinem vierten Lebensjahr, als seine Eltern aus Israel hierhergezogen waren, war das Grandhotel Excelsior, neben der Jugendstilvilla unten am See, sein Zuhause gewesen. Er kannte bald jeden Winkel, jeden Raum und war mit allen Fahrstühlen unzählige Male gefahren – in jede Ecke hatte er seine Nase gesteckt, ausser in das sechste Untergeschoss mit den vielen Katakomben für den Kriegs- oder Katastrophenfall: Es war nur mit einem geheimen Zutrittscode zu betreten. Niemals ging er freiwillig dort hinunter!
Doch von der grossen Werkstatthalle, in der die Fahrzeuge für die riesige Gartenanlage mit Teichen und Springbrunnen sowie für den Golfplatz gewartet wurden, bis hin zur Dekorationsabteilung des Hotels war ihm alles vertraut. Als Kind war ihm das Grandhotel viel riesiger vorgekommen, als es eigentlich war.
Er bewunderte damals die vielen teuren, verdunkelten Limousinen, die vom Flugplatz Samedan die vornehmen Gäste aus aller Welt ins Excelsior brachten, und bestaunte die Hubschrauber, die auf dem hoteleigenen Landeplatz Gäste ausspuckten: Er lachte über die in kostspieligen Pelz gehüllten Damen, wenn sie beim Aussteigen ihre Hüte im abnehmenden Rotorwind festhalten mussten.
Wenn jeweils der Präsident der Vereinigten Staaten mit Frau und Hund anreiste, um seinen Winterurlaub in St. Moritz zu verbringen, war stets Tage vor dessen Ankunft eine fieberhafte Geschäftigkeit im gesamten Grandhotel zu spüren. Als kleiner Junge sass er damals neben seinen Eltern am Tisch und starrte unentwegt den hohen Besuch an, sodass alle lachten. Er hatte nie verstanden, warum.

Nun wusste er nur noch, dass er in diesem Koloss gefangen war und – ausser ihm – keine Menschenseele mehr hier war.
Alle waren einfach verschwunden!
Aber warum nur? Warum hatte man ihn alleine zurückgelassen?
Wie ein Blinder tastete er sich durch die vielen Gänge und Räume. Irgendwann fand er sich im sechsten Obergeschoss eines mächtigen Nebentraktes wieder und starrte, nach Luft ringend, durch das grosse Fenster nach draussen.
Wie er hinaufgekommen war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Angestrengt schaute er in den diesigen Wintertag hinaus und sah – nichts.
Weder erblickte er St. Moritz noch den See. Nur eine weisse Wand baute sich im Nichts vor ihm auf.

Nur er und das dunkle Böse waren noch hier.
Die Tage gingen zeitverzerrt dahin. Er schlief, vom Bösen gehetzt, an den verrücktesten Orten, um nicht gefunden zu werden. Dick in Decken eingehüllt, im zimmergrossen, verchromten Kühlschrank der Hauptküche, auf dem weissen mit Kacheln ausgelegten Boden. Oder in der grossen Trommel einer Waschmaschine, in der er mit einem Stück Stoff die Türe blockierte, um sich nicht aus Versehen selbst einzusperren.

So sehr er in den nächsten Tagen auch suchte, er fand die Hotellobby oder sonstige Ausgänge einfach nicht wieder: Immer, wenn er glaubte, fast am Ziel zu sein, befand er sich in einem der obersten Stockwerke, wo er unmöglich aus einem der Fenster klettern konnte, oder irrte im nun plötzlich fensterlosen Erdgeschoss umher.
Zu fliehen schien unmöglich zu sein.
Bis er eines Tages – gejagt von seinem dunklen Peiniger, durchtränkt von Angst, geistig und körperlich ausgezehrt von den Wochen der Flucht – plötzlich den rettenden Ausgang vor sich sah.
Der schwarze Häscher, das Böse selbst, hatte ihn in den Wochen zuvor Hunderte von Malen verfehlt und doch nicht von ihm abgelassen. Sollte es nun wirklich zu Ende sein oder war es wieder eine Art Fata Morgana, die sich fatalerweise im Hoffnungslosen auflösen würde?
Keine Hoffnung war allemal besser als eine falsche.

Da stand er nun vor dem exklusiven, gläsernen Ausgang, unfähig, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Seine Beine blieben starr, während er hörte, wie sein böser Greifer von hinten tief aus dem Schlund des Gebäudes die sechs Stockwerke hochjagte. Schneller, immer schneller werdend, bevor er schliesslich ungestüm und bösartig schnaubend die Lobby erreichte. Ohne sich umzudrehen, spürte Daan, dass das Dunkle abrupt innehielt, wohl wissend, es nicht mehr eilig zu haben, falls es sich überhaupt je hatte beeilen müssen.
Das Böse stierte ihn stoisch von hinten an.
Es fokussierte ihn mit seinem unheilvollen Blick.
Irgendetwas schien es zu irritieren. Warum schlug es noch nicht zu?
Daan stand steif, geduckt, mit leicht hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf da. Er konnte und wollte sich nicht mehr wehren.
Er war müde geworden. Sehr müde!
Die wochenlange Tortur hatte zu viel Kraft gekostet. Jetzt wollte er nicht mehr, zumal er auch vor dem Eingang des Grandhotels keine Menschen sah und das sonst herrliche Grün des Parks unverändert grau und stumpf dalag. Die diesige Nebelwand baute sich noch immer drohend vor ihm auf.
Das Dunkle würde ihn wohl auch dort draussen jagen..
Ängstlich, ausgelaugt, und wehrlos, wie er war, senkte er seine Schultern.
Da setzte sich das Böse langsam wieder in Bewegung.
Von hinten kam es, durch die pompöse Halle der noblen Lobby, immer schneller und unaufhaltsam, auf ihn zu.
Daan fühlte ganz genau, was hinter seinem Rücken geschah, spürte mit jeder Faser seines Körpers das Unheil näher und näher auf sich zukommen.
Das Böse schlug seine Pranken tief in ihn hinein. Kurz zuckte Daan noch im Stehen auf, als hätte ihn ein heftiger Stromschlag getroffen, dann schleifte es ihn mit sich fort –
durch die Lobby hinab in den Schlund des Gebäudes, unter den glimmenden Neonröhren, Abwasserleitungen und dem feuchten, muffigen Mauerwerk hindurch bis ins Reich der Dunkelheit: bis ins sechste Untergeschoss, tief in die unterirdischen Katakomben.
Daans rot geränderte Augen waren müde und ausdruckslos zur Decke gerichtet, während er – die Füsse am Boden nachschleifend – weggezerrt wurde. Seine Arme hingen genauso schlaff nach unten wie sein gesamter Körper.
So zog das Böse ihn ins Dunkle zurück. Dorthin, wo er schon oft gewesen war und doch nie sein wollte.
Einmal mehr!

Daans Eltern und die Ärzte der psychiatrischen Privatklinik erzählten allerdings eine vollkommen andere Geschichte von dem, was er erlebt hatte.
Als die Medikamente langsam zu wirken begannen und er ein weiteres Mal aus seiner Psychose erwachte, blieb in ihm ein noch grösseres Gefühl der Unsicherheit zurück als sonst. Eine junge Angestellte aus Puerto Rico hatte ihn, nicht mehr ansprechbar und mit angstvoll aufgerissenen Augen, auf dem Boden einer Damen-Personaltoilette gefunden, drei Tage bevor er zwanzig geworden war.
Weder das scheinbar erlebte Geburtstagsfest noch die Tage in Chur mit Linda, ebenso das Konzert in der St. Martinskirche waren wirklich jemals geschehen, sondern das alles lag noch – wie geplant – vor ihm. Erst nach dem Erwachen aus der Psychose wurde ihm klar, wann er darin abgetaucht war. Dem hoteleigenen Notarzt blieb nichts anderes übrig, als ihn ein weiteres Mal in die psychiatrische Privatklinik Berghalde von Professor Doktor Weilemann einzuweisen.
Dr. Weilemann war einer der engsten Freunde seiner Eltern: Daan befand sich somit in besten Händen.
Seit seiner Kindheit wurde intensiv nach der Ursache seiner Aussetzer gesucht. Daan erhielt die beste medizinische Abklärung, die angeboten wurde.
Die Ärzte hatten schon früh eine Psychose diagnostiziert.
Immer wieder hatte Daan für Monate Ruhe, dann holte ihn diese Krankheit erneut ein – und mit ihr kamen die seltsamen, grauenvollen, für ihn realen Erlebnisse zurück. Sie endeten stets in einer menschenleeren Welt, waren aber so lebendig, dass er sich nach dem Erwachen erst wieder an die wiedergewonnene Realität gewöhnen musste.
Nie vergass er das bezaubernde Gesicht seiner wunderschönen Mutter, wie sie am Bett sass und seine Hand hielt, ihn mit ihren Augen liebkoste, während er aus der letzten Psychose zurück ins wirkliche Leben dämmerte. Die wenigen Fältchen, die ihre Augen umspielten, wärmten ihn, wenn sie ihm ihr Lächeln schenkte. Auch im Alter von zwanzig Jahren blieb die enge Bindung zu ihr offensichtlich.
Nach zwei Tagen in der Klinik Berghalde war Daan wieder stabil genug, um wie geplant seinen zwanzigsten Geburtstag zu feiern und anschliessend mit Linda nach Chur zu fahren und dem Konzert beizuwohnen.
An diesem Tag schwor Daan dem Drogenkonsum ab.
Er fürchtete, das regelmässige Rauchen von Marihuana könnte seine Krankheit tatsächlich fördern.
Linda hatte schon ein Jahr zuvor das Kiffen auf wenige Wochenenden reduziert. Gemeinsam beschlossen sie dann, ganz damit aufzuhören.
Er war sich so sicher, all dieses Schlimme erlebt zu haben. An jede Einzelheit seines Abtauchens konnte er sich noch genau erinnern. Es war wie eine zweite Realität gewesen, fernab eines noch so deutlichen Traums. Und doch war es nicht vergleichbar mit dem Hier und Jetzt.
Wer aber konnte ihm beweisen, dass dies jetzt die Realität war und er sich nicht immer noch in den Klauen des Bösen befand und dieses Leben hier nur träumte? Vielleicht lag er irgendwo geschunden in einer nassen, dunklen Ecke und die geglaubte Wirklichkeit war nur ein Wunschgedanke, ein schöner Traum, eine Flucht aus dem unerträglichen Wirklichen. Was dann? Wohin waren die vorgegebenen Himmelsrichtungen verschwunden?
Prof. Dr. Weilemann hatte in verschiedenen Einzelsitzungen erklärt, dass genau dies eine Psychose ausmache, indem sie für den Betroffenen zu einer zweiten Realität würde.
Daan blieb nichts anderes übrig, als dies so anzunehmen. Er versuchte, das Furchtbare zu überwinden.
Bis heute hatte er niemandem davon erzählt: Er versuchte, es zu verdrängen, dass er damals nicht mehr weitermachen wollte und beinahe einen Schlussstrich unter sein Leben gezogen hatte. Nie zu wissen, wann die nächste dunkle, zeitverzerrte Jagd auf ihn begann und das abgrundtiefe Böse hinter sich zu fühlen, die völlige Ausweglosigkeit aus dem Grandhotel zu spüren, war damals zu viel für ihn. Es war einmal zu oft geschehen, als er glaubte, ertragen zu können.
Linda, seine Lebensliebe, war damals, vor fünfzehn Jahren, als er seine Himmelsrichtungen verlor, zu seinem Kompass geworden.
Die Auswüchse seines Geistes waren danach ausgeblieben.
Bis heute?

Sehr früh am Morgen



Der angenehme Geruch der neuen Sitzgarnitur vermischte sich nun mit dem ganzen Unheil: Daan sass nach wie vor – in Gedanken versunken – im weichen Leder, als er wieder in das wirkliche Hier und Jetzt auftauchte.
Er war noch immer alleine in ihrem gemeinsamen Haus in Chur. Oder etwa doch nicht?
War das alles hier real, so unrealistisch sich das Ganze auch darstellte? War er nach nun fünfzehn Jahren erneut in eine solche Ausnahmesituation geraten wie zuletzt mit zwanzig?
Nie konnte ihm jemand schlüssig beantworten, warum er früher oft in diese andere Welt gezogen worden war: Keiner fand je den Auslöser dafür.
Sass er jetzt womöglich wieder irgendwo in einer Ecke und musste warten, um gefunden und zurückgeholt zu werden?
Dass seine Linda mit Marie auf diese Art und Weise verschwunden sein sollte, erschien ihm noch abstruser als eine mögliche erneute Psychose. Diesmal wünschte er sie sich jedoch, denn dann wären Linda und Marie noch hier. Aber wenn er sich doch in der Wirklichkeit aufhielt? Was dann? Was war sein Leben ohne Familie denn noch wert?
Als Kind Superreicher aufgewachsen, hatte er gute Eltern gehabt, die alles für ihn taten, ihm Liebe gaben und ihn oft auf ihre Reisen rund um die Welt mitnahmen. Dennoch, dies hier war sein Leben: Linda und Marie – die kleine Familie.
Doch genau darin bestand das Wesen einer Psychose: Sie verwischte beim Betroffenen die Grenzen zwischen Realität und Wahn und machte es unmöglich, das eine vom Anderen zu unterscheiden. Wie hätte sich Daan denn nun orientieren sollen?
Falls dies doch ein Rückfall war, konnte er erfahrungsgemäss sehr lange anhalten. Sein letztes Abtauchen in die psychotische Welt hatte für ihn endlos scheinende Wochen gedauert, für die Welt draussen nur einige Stunden. Und dennoch, er hätte eine solche mit Handkuss dem Verschwinden seiner Liebsten vorgezogen – egal, wie zerstörend sich diese Schübe bisher ausgewirkt hatten.

Daan hielt es im gemeinsamen, leeren Haus nicht mehr aus und stieg in seinen dunklen Audi RS6.
Brachial startete der starke Zwölfzylinder. Während sich das breite Garagentor surrend vor ihm öffnete, schaltete sich die automatische Beleuchtung vor dem Hause ein.
Der Motor dröhnte tief und laut in diesen stillen Aprilmorgen hinein.
Die roten Rückleuchten des schweren Wagens verschwanden aus der Ausfahrt, als er in die Lürlibadstrasse einbog.
Die Anzeige des Multi-Navigationssystems wechselte auf seinen Knopfdruck zum integrierten Autotelefonbildschirm und leuchtete bei der Umstellung blau auf. Obwohl es dies bei eingehenden Anrufen selbständig vornahm und dabei noch das Foto des Anrufers zeigte, wollte Daan bereit sein, falls Linda ihn anrufen sollte. Deshalb stellte er auf den manuellen Anrufannahme-Modus um.
Ziellos fuhr er durch die von Laternen gelbrötlich beleuchteten Strassen.
Die Angst kroch weiter in ihn hinein.
Eine bekannte Angst.
Dunkel, perfide, heimtückisch und hinterhältig!
Jeden Zentimeter, den er dieser jetzt von sich preisgab, musste er später mühsam zurückerobern.
Wie immer, wenn er sich vom Alltag ausklinken musste oder wollte, fuhr er über den Postplatz, durch das Obertor, weiter in die Talenge Richtung Meiersboden bis ans Ende der Strasse. Dort wendete er jeweils und fuhr gedankenverloren südwärts aus der Stadt, nahmt die alte, in der Nacht vereinsamte Landstrasse nach Domat/Ems, Reichenau, hinauf nach Bonaduz und ins Domleschg bis nach Thusis. Auf der Autobahn fuhr er dann Richtung Chur zurück.
Wenn er mehr Zeit brauchte, um seine Gedanken zu ordnen, hielt er beim Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau an. Unter der rostigen, alten Eisenbahnbrücke stand er dann und wartete auf den Moment, in dem die Ruhe wieder bei ihm einkehrte.
So auch heute.
Lediglich ein mit rostigen, roten Güterwagen bestückter Zug rollte quietschend und ächzend über die alte Stahlbrücke und verschwand, die zurückkehrende Stille hinter sich herziehend, in der Morgendämmerung.
Daan wusste, heute würde er nicht bleiben können, bis alles gut war.
Er wartete weiter auf ein Zeichen von Linda. Sobald die Zeiger seiner Uhr auf die Sieben rückten, würde er ihre Eltern anrufen. Sie mussten doch um das Verschwinden ihrer Tochter wissen. Sie hatten ja immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt.
Verdammt! Das alles nur wegen dieses Jesuswahns, dem Linda erlegen war.
Daan sass regungslos im Wagen.
Sein Blick blieb immer wieder am Bildschirm seines Navigationssystems hängen, um sich danach erneut im fliessenden Wasser des Rheins zu verlieren.
Wie gerne hätte er jetzt ihr Bild aufleuchten sehen. Er hätte ihr keine Vorwürfe gemacht, wäre nur froh gewesen, endlich ihre Stimme zu hören.
In Gedanken suchte er nach den unglaublichsten Möglichkeiten, um sich das Verschwinden von Linda und Marie zu erklären. Vielleicht hatte sie ihn bloss aufrütteln wollen, um ihm zu zeigen, wie es sich anfühlte, wenn sie und Marie nicht mehr da wären, weil er Linda in der letzten Zeit links liegen gelassen hatte. Vieleicht war sie mit einem fremden Mann, einem dieser Jesusanhänger, durchgebrannt oder die ganze Sekte hatte heute Nacht kollektiven Selbstmord verübt.
Blödsinn!
Er war ja dort in dieser Kirche gewesen und sein ausgeprägter Spürsinn für Menschen liess ihn nichts in diese Richtung vermuten: Das kam für diese Gemeinde nicht infrage – eher, dass jeder von ihnen aus purer Nächstenliebe hundert Bäume umarmt und dazu aus voller Brust ein Loblied auf Gott gesungen hätte.
Vielleicht war Linda auch schon wieder zu Hause, hatte ihren Fehler, einfach ohne Erklärung zu verschwinden, erkannt?
Dies wäre immerhin eine Möglichkeit gewesen. Vielleicht hatte sie auch ihm Raum zum Nachdenken geben wollen und sich deshalb noch nicht telefonisch bei ihm gemeldet.
Dieser Gedanke bewegte ihn zum Losfahren.
Via Sprachbefehl liess er sich mit Zuhause verbinden. Niemand hob ab und er stellte sich vor, wie das regelmässige Klingeln durch das leere, einsame Haus hallte, bis sich knackend der Anrufbeantworter einschaltete.
Die süsse Kinderstimme der kleinen Marie meldete sich und bat den Anrufer, nach dem Signalton zu sprechen.
»Hallo meine zwei Süssen. Ich bin auf dem Heimweg und vermisse euch schon sehr!«
Daan wusste nicht, warum er auf das Band gesprochen hatte, er wollte sich wahrscheinlich selbst ein Gefühl von Alltag vermitteln.
Schon oft hatte er, wenn Linda im Stress war und keine Zeit für seine Anrufe hatte oder sie sich auf einem Spaziergang mit Marie befand, den beiden eine liebevolle Nachricht hinterlassen.
Immer schneller fuhr er nun heimwärts.
Als er das grosse, in den Hang gebaute und hell erleuchtete Haus sah, stieg die Hoffnung in ihm auf, sie könnte nun daheim sein – obwohl: Linda hätte bestimmt alle überflüssigen Lichter gelöscht. Seine Stimmung sank im selben Moment wieder auf den Gefrierpunkt.
Den Wagen liess er mitten auf dem Platz vor dem Hause stehen, dort, wo er sich wünschte, mit seiner Tochter einmal Basketball spielen zu können. Den Korb hatte er schon längst über dem Garagentor angebracht. Schon so manche Körbe hatte er geworfen und sich dabei vorgestellt, wie seine Kinder irgendwann einmal um seine Beine wirbeln und gegen ihn gewinnen würden, um sich danach in verschwitzten T-Shirts und mit heissen, roten Köpfen in der Küche zu erfrischen. Linda würde aus dem Musikzimmer auf den Vorplatz hinaussehen und dabei Klavier spielen. Ihr Spiel wäre durch das gekippte Fenster zu hören.

Mit klammem Gefühl betrat er die Stille ihres Hauses und fand es so vor, wie er es verlassen hatte.
Leer!
Er durchsuchte erneut jeden Raum, ging hinaus in den Garten, um den kleinen Teich, öffnete sogar den Geräteschuppen.
Leer!
So plötzlich zu verschwinden – das passte einfach nicht zu seiner Linda.
Es musste etwas geschehen sein. Niemand hatte doch ins Haus eindringen können und niemand konnte das Haus verlassen haben. Alles war fein säuberlich verschlossen gewesen. Sein Hausschlüssel hatte doch noch immer auf der Innenseite im Schloss gesteckt. Zudem hatte er ihre Handtasche gefunden. Ohne diese wäre Linda niemals weiter als bis zum Briefkasten gegangen. In seiner Hektik hatte er zuerst nicht daran gedacht. Mobiltelefon, Geldbörse, Schlüssel, alles war noch darin.
Daan war ein Mensch mit messerscharfem Verstand. Dass die fehlenden Puzzelteile ihm ein unmögliches Bild vor Augen führten, das aber Tatsache war, verwirrte ihn deshalb noch zusätzlich.
Sollte er die Polizei informieren?
Nein, er musste noch den Morgen abwarten.
Die Zeit kroch unendlich langsam voran. Mit dem regelmässigen Ticken der Küchenuhr gingen die endlosen Sekunden dieser Nacht in Minuten über. Kurz vor sieben, als es langsam hell wurde, hielt er es nicht mehr

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Literaturwerkstatt GmbH
Bildmaterialien: Literaturwerkstatt GmbH
Lektorat: Elisabeth Pfurtscheller
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2012
ISBN: 978-3-86479-437-7

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