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Prolog

Gemächlich spazierte ich den Korridor entlang, einen Zettel mit dem Grundriss von meiner frisch bezogenen Schule in der Hand. Wie sehr ich es doch verabscheute, immer wieder als Neuankömmling an einer Schule auftauchen zu müssen. Es war ein stetiger Kampf, mich jedes Mal aufs Neue in eine unbekannte Umgebung und unter Fremden Personen einzufinden. Die letzten vier Jahre hatten mich ganze vier Umzüge begleitet. Das hieß, Jahr für Jahr aufs Neue auf die Suche nach Freundschaften und meinem Platz im System zu gehen, einfach weil mein Vater als Diplomat tätig war und meine Mutter und ich jedes Mal mitziehen mussten, wenn er versetzt wurde.

 

Ich durchforstete das riesige Gebäude, auf der Suche nach meinem Klassenzimmer. Jede Stunde hetzte ich von einem Raum zum anderen, wechselte Bücher an meinem Schließfach und eilte dann zur nächsten Unterrichtsstunde. Es schien fast so, als hätten die Lehrer absichtlich die entlegensten Zimmer gewählt, um die Schüler zu einem unfreiwilligen Fitnessprogramm zu zwingen. Ich starrte auf den irritierenden Grundrissplan. Warum hatte ich in den Sommerferien nicht aufmerksam hingeschaut und mir gemerkt, wo sich die verschiedenen Klassenzimmer befanden? Damals hatte ich nicht viel zu tun gehabt. Anstelle dessen kannte ich nun das Gelände außerhalb des Gebäudes in- und auswendig, doch ich hatte keinen blassen Schimmer, wohin ich als Nächstes müsste.

 

So vertieft in meine Gedanken versunken, stiess ich plötzlich mit jemandem zusammens. "Verzeihung, es tut mir aufrichtig leid", murmelte ich, als ich den Blick hob. Ich schaute direkt in ein Paar strahlend blaue Augen und hatte das Gefühl, darin zu versinken. Meine Wangen wurden rot. Vor mir stand ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als ich. Ein Lächeln spielte um seine Lippen und er sagte: "Mach dir keine Sorgen, alles okay. Bist du neu hier?" Dabei deutete er auf den Grundriss in meiner Hand. Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande. "Wie heißt du?", atmete ich tief ein. "Michaela, und du?", hauchte ich hervor. Meine Stimme zitterte. Noch nie zuvor hatte es jemand geschafft, mich so aus der Fassung zu bringen. "Ich bin Nikolai. Aber nenn mich einfach Niko. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich muss jetzt weiter zum Unterricht." Ich verfolgte seinen Weg mit den Augen und brachte leicht verspätet ein leises "Tschüss" hervor. Liebe auf den ersten Blick oder ähnliche Vorstellungen hatte ich nie für realistisch gehalten, und dennoch war da etwas, das mich durcheinanderbrachte, etwas völlig Neues für mich...

1. Kapitel: Abschiede und Neuanfänge: Ein Leben im ständigen Wandel

"Michaela, kannst du bitte mal ins Wohnzimmer kommen?", drang die Stimme meines Vaters die Treppe hinauf. Innerlich seufzte ich auf. Was wollte er jetzt schon wieder von mir? Immer wenn mein Vater zu Hause war, schien meine Ruhe dahin zu sein. Natürlich liebte ich ihn, aber manchmal konnte er wirklich nerven. "Ich komme gleich, Dad", antwortete ich und versuchte, meine Gereiztheit aus meiner Stimme herauszuhalten. Offenbar hatte es geklappt, denn mein Vater sagte nichts mehr darauf. Ich verabschiedete mich rasch von meinen Freunden im Chat und schaltete den Computer aus. Mein Vater hatte wenig Geduld, wenn er uns über etwas Wichtiges informieren wollte. Meist konnte man an seiner Stimmlage erkennen, wenn es um etwas Bedeutendes ging. Genau so klang seine Stimme auch vorhin wieder. Mit diesen Gedanken ging ich etwas widerwillig die Treppen hinunter ins Wohnzimmer. Meine Eltern saßen am Tisch und sahen mich ernst an. Es wirkte, als hätten sie sich hier zu einer familiären Ratssitzung versammelt. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch und blickte in die Gesichter meiner Eltern. Als mein Vater und meine Mutter kurz Blickkontakt hatten und mich dann wieder bedeutsam ansahen, dämmerte es mir langsam.

 

"Nein, nicht schon wieder, oder? Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder? Ihr hattet mir doch hoch und heilig versprochen, hier zu bleiben, bis ich die Schule abgeschlossen habe", trotzte ich, meine Gereiztheit verbarg ich diesmal absichtlich nicht. Mein Tonfall erinnerte mich selbst an ein trotziges kleines Kind, aber das war mir gerade egal. Dieses Szenario wiederholte sich jedes Jahr wieder. Sie versprachen, an diesem Ort zu bleiben, damit ich meine Schulausbildung abschließen konnte. Aber als Diplomat konnte mein Vater jederzeit versetzt werden, und das hieß, dass wir oft umziehen mussten und dieses Versprechen immer wieder gebrochen wurde. Ich wusste auch nicht, weshalb ich es immer wieder glaubte. "Es tut mir leid, Süße. Aber du weißt, dass ich daran nichts ändern kann", entschuldigte sich mein Vater schnell, mit einem spürbaren Hauch von Reue. "Jedes Jahr dasselbe. Du versprichst mir, dass wir bleiben, ich finde neue Freunde, engagiere mich in der Schule, und am Ende des Jahres ziehen wir wieder weiter. Es ist wirklich frustrierend. Du weißt, wie sehr ich es hasse, immer die Neue in der Schule zu sein und mich jedes Mal neu einzufinden. Dann könnte ich genauso gut auf ein Internat gehen, statt ständig mitziehen zu müssen", fuhr ich sie wütend an. Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, stand ich auf, stapfte in mein Zimmer und schaltete die Musik auf volle Lautstärke. Den ganzen Tag über blieb ich in meinem Zimmer, ohne hervorzukommen. Die Tür war verschlossen und ich reagierte auf kein Klopfen an meiner Tür. Ich wollte einfach meine Ruhe haben.

 

Das Dasein als Diplomatenkind war eine Last, die ich oft verfluchte. Warum konnte mein Vater nicht einfach einen normalen Beruf haben wie alle anderen Eltern?

Einige Zeit später rief meine Mutter zum Abendessen. Ich stellte mich schlafend, um nicht hingehen zu müssen und meine Enttäuschung über die erneute Veränderung unseres Lebens vor meinen Eltern verbergen zu können. Am nächsten Morgen warteten meine besten Freundinnen, Irina und Isabella, vor der Schule auf mich. Ich hatte ihnen noch nichts von den jüngsten Entwicklungen erzählt. Sie wussten noch nichts davon, dass meine Eltern mir offenbart hatten, dass wir bald wieder umziehen würden. "Was ist los mit dir? Lächle mal wieder. Bald sind Sommerferien – eine Zeit zum Faulenzen und Spaßhaben. Poolpartys, Jungs, Sonnenbaden, Jungs, Shopping und Jungs", grinste Irina. Trotz meiner schlechten Laune konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Irina hatte vermutlich bereits Dutzende von Ausflugsplänen geschmiedet – sie war immer in Bewegung, sie konnte gar nicht anders. Isabella und ich mussten in den Ferien oft ihren abenteuerlichen Ideen folgen, die öfters schiefgingen als nicht, aber dennoch meistens Spaß machten. "Dann wünsche ich euch viel Spaß in den Sommerferien", erwiderte ich sarkastisch und verdunkelte wieder mein Gesicht zu einer Grimasse. "Wie meinst du das?", fragte mich Isabella. "Na, was wohl? Mein Vater hat mal wieder sein Versprechen nicht gehalten. Wir werden mal wieder umziehen. Ich kann ihn momentan echt nicht ausstehen." Ich ließ meinen Frust raus. Ohne auf eine Reaktion zu warten, lief ich zu meinem Spind und ließ meine Wut aufsteigen. Meine beiden Freundinnen waren überrascht mitten im Gang stehen geblieben. Ich war normalerweise nicht für solche emotionalen Ausbrüche bekannt. Die beiden rannten hinter mir her, um mit mir Schritt zu halten. "Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Den Sommer habe ich bereits durchgeplant. Ich hatte so viele großartige Ideen für uns alle! Und dabei sind wir alle vonnöten", sagte Irina entsetzt. "Wohin geht es denn dieses Mal? Du könntest sicher dieses Jahr bei mir wohnen. Du kennst meine Eltern, die sind echt unkompliziert." Ich sah sie an und seufzte. "Nein, ich habe keine Ahnung, wohin es geht. Ich habe gestern nicht einmal gefragt. Ich war einfach nur sauer und enttäuscht, weil mein Vater wieder sein Versprechen nicht eingehalten hat. Ich habe mich darauf gefreut, meine Schulzeit mit euch hier zu beenden. Mein Fehler, dass ich den Beiden noch einmal vertraut habe." Verärgert schüttelte ich den Kopf. "Ich schätze dein Angebot sehr, aber mein Vater wird dem ganz sicher nicht zustimmen. Er mag deine Eltern nicht besonders, besonders nach der letzten Party. Er findet, sie sind zu locker." Dabei verdrehte ich meine Augen und schmunzelte bei der Erinnerung. Auf Irinas letzter Homeparty war etwas zu viel Alkohol geflossen, und ich war ziemlich betrunken gewesen. Irinas Eltern hatten dabei mitgefeiert, anstatt die Situation in den Griff zu bekommen und den Alkoholkonsum zu stoppen. Die meisten Eltern waren damals ziemlich verärgert gewesen – mein Vater eingeschlossen. Meine beiden Freundinnen grinsten. "Meine Eltern haben mir damals ordentlich die Leviten gelesen. Sie wollten mir tatsächlich verbieten, mit Irina befreundet zu sein", erzählte Isabella, und Irina nickte zustimmend. "Ja, aber wie siehst du das Ganze jetzt? Du und Irina sind immer noch dicke Freundinnen, oder?" Ich war neugierig. "Natürlich sind wir das. Meine Eltern können sagen, was sie wollen, aber ich lasse mir von ihnen nicht meine Freunde vorschreiben. Sie haben meine Entscheidungen zu akzeptieren." Isabella sah stolz aus. "Und ich habe keine Zweifel daran, dass du deinen Willen durchsetzen kannst", scherzte Irina und stupste Isabella in die Seite. Isabella lachte. "So ist es, Lady Irina. Ich lasse mir von niemandem reinreden." Wir lachten. Die Schulsirene unterbrach unser Gespräch abrupt, und erinnerte uns daran, dass wir in unsere Klassenräume zu gehen haben. Der Schultag verlief relativ normal. Als die Schulsirene jedoch am Ende des Tages erneut ertönte, kam der Direktor persönlich in unsere Klasse. In der Schule war das höchst ungewöhnlich. Herr Miller war ein sympathischer älterer Mann, den wir alle mochten. Er leitete die Schule bereits seit Jahren, hatte guten Umgang mit den Schülern und war nicht allzu streng glücklicherweise. "Liebe Schülerinnen und Schüler, ich habe eine wichtige Ankündigung zu machen. Bitte hört alle aufmerksam zu. Wir haben heute die traurige Nachricht erhalten, dass Michaela und ihre Familie unsere Schule verlassen werden." Stille breitete sich im Raum aus. Ich spürte, wie meine Gesichtsfarbe wechselte. Ich wurde knallrot und ziemlich misstrauisch. War dies an der Schule so üblich? Warum sollte der Direktor so etwas in der Öffentlichkeit verkünden? Ich konnte fühlen, wie alle Blicke auf mich gerichtet waren. "Michaela, komm bitte nach vorne", sagte Herr Miller freundlich. Ich stand auf und ging langsam zum Pult. "Michaela, du warst eine wunderbare Schülerin in unserer Schule. Du hast dich immer engagiert, warst freundlich zu deinen Mitschülern und hast gezeigt, was es bedeutet, ein wahrer Teil unserer Schulgemeinschaft zu sein. Wir werden dich sehr vermissen. Deine Mitschülerinnen und Mitschüler haben eine kleine Abschiedsfeier für dich vorbereitet." Der Direktor lächelte mich an. Ich war völlig überrascht und total verlegen. Ich wusste nicht, dass meine Mitschülerinnen und Mitschüler so etwas planen würden. Ich wandte mich zu ihnen um und sah, wie sie lächelnd aufstanden und applaudierend mir zuklatschten. Tränen schossen mir in die Augen. Es war ein überwältigendes Gefühl zu wissen, dass ich so viele Freunde gefunden hatte, obwohl ich nur so kurz hier gewesen war. Die folgende Woche war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich war traurig, meine Freunde zurückzulassen, aber gleichzeitig auch etwas neugierig wo ich als nächstes hingehen würde. Meine Eltern hatte ich immer noch nicht gefragt. Sie sollten immer noch denken, dass ich sauer auf sie bin.

 

Meine Eltern waren um Verständnis bemüht und versuchten, mir alle positiven Seiten des Umzugs zu zeigen. Es würde neue Freundschaften, Erfahrungen und Möglichkeiten geben. Aber es war immer wieder anstrengend sich in den neuen Strukturen einzufügen. "Michaela, es ist Zeit, Abschied zu nehmen", sagte Isabella, als sie mich vor unserem Haus abholte. Meine Familie und ich hatten die letzten Tage damit verbracht, unsere Sachen zu packen und uns von unseren Freunden zu verabschieden. Es war schwer, loszulassen, aber ich wusste, dass es an der Zeit war, sich neuen Herausforderungen zu stellen. "Ja, du hast recht", antwortete ich und umarmte Isabella fest. "Ich werde euch alle so vermissen." "Und wir werden dich auch vermissen, aber vergiss nicht, dass wir immer für dich da sind. Egal, wo du bist, du hast eine Familie hier", erwiderte Irina und schloss sich unserer Umarmung an. "Danke, ihr beiden. Ich werde euch schrecklich vermissen." Ich ließ sie los und wischte mir die Tränen aus den Augen. "Versprich mir, in Kontakt zu bleiben, okay?" bat Isabella. "Natürlich werde ich das. Ihr seid schließlich nicht so leicht loszuwerden", scherzte ich. "Da hast du absolut recht", stimmte Irina zu und grinste. "Nun, das ist unser Abschiedsgeschenk für dich." Sie reichte mir ein Päckchen. "Für den Neuanfang. Mach es erst auf, wenn du im Flugzeug bist." Ich nahm das Päckchen an und steckte es in meine Tasche. "Ich werde es vermissen, euch beiden jeden Tag zu sehen", sagte ich leise. "Wir dich auch", antwortete Isabella. "Aber wer weiß, vielleicht besuchst du uns ja bald." "Ja, das wäre toll", fügte Irina hinzu. "Glaub mir, ich werde es in Erwägung ziehen", versprach ich und lächelte. Es war schwer, Abschied zu nehmen, aber ich wusste, dass diese Freundschaften für immer bestehen würden. "Komm schon, Mika, wir müssen los", rief mein Vater von der Haustür aus. Ich seufzte und wandte mich von meinen Freunden ab. "Das ist mein Flugzeug", sagte ich und zeigte auf den kleinen Spielzeugflieger, den ich in meiner Hand hielt. "Ich werde euch vermissen." "Wir dich auch", sagten Isabella und Irina im Chor. "Auf Wiedersehen, Mika!" "Auf Wiedersehen, ihr beiden!" Ich drehte mich um und ging zu meinem Vater, der auf mich wartete. "Bereit, Prinzessin?" fragte er und legte einen Arm um mich. "Ja, bereit." Wir gingen zum Auto und stiegen ein. Während wir das Haus meiner besten Freundinnen immer kleiner werden sahen, spürte ich einen Kloß im Hals und Tränen welche mir in die Augen stiegen. Ein Kapitel meines Lebens ging zu Ende, aber ein neues begann – voller Möglichkeiten, Abenteuer und unbekannter Freundschaften.

2. Kapitel: Veränderungen, Überraschungen und Neue Anfänge

Während der gesamten Autofahrt tauschte ich kein einziges Wort mit meinen Eltern. Ich wollte, dass sie bemerkten, wie verärgert ich immer noch auf sie war. Nun waren wir auf dem Weg zu unserem neuen Zuhause, dem neuen Ort, an dem wir das nächste Jahr verbringen und Leben würden. Ich war mittlerweile nicht mehr so naiv zu glauben, dass dies der letzte Umzug sein würde, auch wenn sie es wieder versprochen hatten. Der letzte Umzug vor meinem Schulabschluss. Mittlerweilen würde es mich nicht einmal wundern, wenn ich mitten im Jahr die Schule würde wechseln müssen.

 

Am Flughafen parkte mein Vater direkt neben dem Eingang. Wir nahmen unser Handgepäck und mein Vater suchte jemanden, der sich um das Gepäck kümmern würde, das ins Flugzeug gebracht werden sollte. Meine Mutter und ich begaben uns in Richtung eines Bistros. Dort holten wir uns ein Sandwich. "Schatz, du kannst nicht ewig schweigen. Du musst mit uns reden. Wir wissen, dass du wütend bist. Aber das war wirklich nicht unsere Absicht", sagte meine Mutter und sah mich mit ihren sanften Augen an. Normalerweise konnte ich ihr dann nicht lange böse sein. Heute allerdings war meine Stimmung nicht bereit, so schnell zu weichen.

 

"Mama, ihr habt mir schon zum x-ten Mal versprochen, dass wir nicht umziehen würden, bis ich meinen Schulabschluss gemacht habe. Und schon wieder habt ihr dieses Versprechen gebrochen. Ihr habt sogar meine Abschiedsparty ruiniert. Wir wollten uns anständig voneinander verabschieden. Das war die beste Klasse, die ich je hatte, und du weißt das auch. Ich habe mich noch nie so wohlgefühlt, trotz all der Umzüge und der Suche nach neuen Freunden. Und jetzt habt ihr mich wieder aus diesem Umfeld gerissen. Ich hasse es, die Tochter eines Diplomaten zu sein. Ich hasse es!", entlud sich meine Wut in einem Redeschwall und ich wurde immer lauter. In dem Moment war es mir egal dass die Menschen in der Nähe des Bistros begannen, sich nach mir umzudrehen.

"Süße, das war nicht unsere Absicht. Wir wollten dir nicht wehtun. Das weißt du doch", versuchte meine Mutter, mich zu trösten und etwas zu beruhigen. Sie wollte mich in den Arm nehmen, doch ich sträubte mich dagegen. Ich funkelte sie mit wütenden Augen an. "Lass mich einfach in Ruhe", stieß ich sie von mir weg. "Übrigens, wohin gehen wir dieses Mal?", fragte ich, denn bald musste ich es ja sowieso erfahren wo ich landen würde. Meine Mutter lächelte: "In die Schweiz." Ich war überrascht. Die Schweiz? Ich wusste nicht, warum, aber das hatte ich wirklich nicht erwartet. "Warum ausgerechnet in die Schweiz? Ich dachte, wir würden irgendwo in Kanada bleiben und nicht gleich den Kontinent verlassen. Das ist sogar schlimmer als ich dachte. Jetzt werde ich meine Freunde definitiv nicht mehr sehen. Es ist aus. Wir werden am Ende der Welt leben, und ihr sagt mir das erst jetzt", schlug ich mir mit der Hand vor die Stirn und wandte mich stöhnend von meiner Mutter ab.

 

Schließlich gesellte sich auch mein Vater wieder zu uns. Die Koffer waren aufgegeben und er hatte nur noch das Handgepäck dabei. Er strahlte vor Freude und schaute mich an, als ob er mich mit seiner Freude anstecken möchte. "Na, meine beiden Hübschen? Freut ihr euch auf den Neuanfang?", fragte er mit leuchtenden Augen. Er schien sich auf jeden Fall zu freuen. Ich schüttelte stöhnend den Kopf. Warum ausgerechnet ich? Wir begaben uns zum Check-In-Schalter. Zum Glück war die Schlange nicht lang und wir konnten schon bald bis zum Gate gehen.

 

Als wir im Flugzeug saßen, wusste ich, dass es endgültig war. Kein Weg mehr zurück. Obwohl ich wusste, dass mein Vater es in dieser Angelegenheit nie als Witz gemeint hatte, merkte ich dass in mir auch die letzte kleine Hoffnung gestorben war, dass wir bleiben würden. Doch jedes Mal, wenn ich dann im Flugzeug saß, war ich am Boden zerstört, dass es nicht so war. Es würde eine lange Reise werden. Wir mussten in London zwischenlanden und dann direkt nach Genf weiterfliegen.

 

"Papa, auf welche Schule werde ich in der Schweiz gehen?", fragte ich meinen Vater im Flugzeug, nachdem ich beschlossen hatte, dass mein Schweigen ohnehin nichts mehr ändern würde. "Nun, interessierst du dich doch noch für deine neue Heimat? Das freut mich. Du wirst auf ein Internat gehen, das Monte Rosa Internat. Es liegt am Genfer See und hat erstklassige Lehrer. Wir haben es ausgewählt, weil es dich optimal auf Colleges überall auf der Welt vorbereitet. Wir wissen, wie schwer es dir fällt, Montana zu verlassen und deine Freunde. Deshalb dachten wir, wenn du alt genug fürs College bist, könntest du allenfalls auch in Kanada studieren, wenn du immer noch zurück möchtest. Während des Jahres wirst du auf dem Campus leben, und für die Ferien finden wir sicherlich eine Lösung." Jetzt konnte ich lächeln. "Das ist die erste gute Nachricht, die ich höre, Papa", sagte ich und wandte mich dann wieder dem Fenster zu. Das waren wirklich gute Neuigkeiten. Das hiess, dass ich allenfalls immer noch mit Irina und Isabella aufs College gehen könnte. Dies musste ich die beiden sobald möglich wissen lassen.

 

Nach der Landung in London Heathrow war ich froh, endlich aufstehen zu können. Seit wir in Vancouver abgeflogen waren, hatte ich die ganze Zeit im Flugzeugsitz gesessen und Filme geschaut. Das Gepäck würde für uns umgeladen werden, glücklicherweise. Von hier aus dauerte nicht mehr lange, und wir würden in der Schweiz sein. Die Flugzeit von London nach Genf würde etwas mehr als eine Stunde dauern. Aber er würde erst in drei Stunden starten. So nutzte ich die Zeit, um mit meinem Handy eine Konferenzschaltung zu machen und Isabella sowie Irina anzurufen. Verschlafen nahmen die beiden ab. "Was ist los? Ist das Flugzeug abgestürzt?", fragte Irina gähnend. Verblüfft sah ich auf die Uhr. In London war bereits Mittag, genau 12:00 Uhr. "Oh Mist. Tut mir leid, Mädels. Ich habe die Zeitverschiebung total vergessen. Bei euch ist es mitten in der Nacht", entschuldigte ich mich und schlug mir die Hand vor die Stirn. "Kein Problem, jetzt bin ich ja sowieso wach. Was gibt's Neues?", meinte Isabella, die schon etwas wacher wirkte. "Mein Vater hat Neuigkeiten. In der Schweiz werde ich auf ein Internat gehen. Das bereitet mich auf Colleges überall in der Welt vor. Sprich ich kann dann wieder nach Kanada kommen. Das ist großartig, denn das bedeutet, mein Vater erlaubt mir, nach zwei Jahren wieder nach Kanada zu kommen und dort aufs College zu gehen. Unser ursprünglicher Plan kann also doch noch funktionieren", verkündete ich und quietschte dabei. Als Antwort hörte ich Jubelgeschrei durchs Telefon. "Das sind ja großartige Neuigkeiten", freute sich Isabella genauso begeistert wie ich. Auch Irina war überglücklich: "Das ist unglaublich. Dein Vater hat doch noch eine gute Seite, dass er immerhin soweit überlegt hat. Übrigens, alle finden es sehr schade, dass du schon gehen musstest. Sie lassen dich alle herzlich grüßen, mit Herzchen, Knuddeln, Küssen und allem Drum und Dran. Auch von Mr. Hale." Ich lachte: "Danke, Mädels. Mit Herzchen, Knuddeln und Küssen auch von Mr. Hale?" Man konnte Irinas Grinsen fast durchs Telefon hören: "Das hättest du wohl gerne, oder?" Wir hatten nie offen darüber gesprochen, aber wir fanden alle, dass Mr. Hale wirklich nett und auch ziemlich attraktiv war. So nett und attraktiv, wie man einen Lehrer und Tutor eben finden konnte. "Ich würde seine Herzchen, Knuddeln und Küsschen sofort annehmen", träumte Isabella vor sich hin. "Isabella, geh wieder schlafen. Du träumst doch nur. Gute Nacht, Irina. Ich lasse euch jetzt weiterschlafen", neckte ich die beiden und beendete das Telefongespräch.

 

"Mit wem hast du gesprochen? Hoffentlich hast du deine Freundinnen nicht geweckt", tadelte mich mein Vater leicht, aber er lächelte dabei. "Ich hatte vergessen, dass wir eine Zeitverschiebung haben", gestand ich kurz. Die Wut auf meine Eltern hatte etwas nachgelassen, und das schienen sie zu bemerken.

Wir mussten wir hier immer noch etwas mehr als eine Stunde warten, bevor wir ins Flugzeug in Richtung unserer neuen Heimat steigen konnten. Also ließ ich mich, von meiner Mutter zu einer Stunde Flughafenbummel überreden und wir schauten uns die Duty-Free Shops an. Kaufen taten wir jedoch nichts.

 

"Übrigens, kann ich eigentlich in unserem neuen Zuhause übernachten während der letzten Ferienwoche oder muss ich schon in im Internat bleiben?", fragte ich meine Eltern neugierig. Denn Neugierig war ich trotzdem auf das neue Haus, welches meine Eltern beziehen würden. Wir waren gerade in Genf gelandet und verließen das Flugzeug. Ich bemerkte, wie meine Eltern sich kurz ansahen. Ganz offensichtlich gab es noch etwas, das sie mir nicht verraten hatten. "Was? Was habt ihr mir verschwiegen?", hackte ich misstrauisch und etwas säuerlich nach. "Deine Mutter und ich werden nicht in Genf bleiben. Unsere Arbeitsplätze sind in Bern. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe, Süße. Eigentlich wollte ich es dir vorher sagen, aber dann warst du sauer und ich habe irgendwie den Zeitpunkt verpasst…", gestand mein Vater. Ich war baff. "Heißt das, ihr lasst mich im Stich oder was? Dann hättet ihr mich gleich in Vancouver lassen können. Dann wäre ich wenigstens nicht allein und hätte meine Freunde noch", sagte ich wütend. Jetzt war ich echt wieder sauer und genervt über meine Eltern. Wenn sie mich sowieso allein lassen würden, hätten sie mich nicht hierherschleppen müssen. "Wir wollten dich in der Nähe wissen. Wir sind viel schneller hier bei dir in Genf, als wenn etwas in Kanada passiert wäre", versuchte meine Mutter die Situation zu erklären und zu retten. "Mann, wirklich? Jedes Mal, wenn ich denke, dass vielleicht etwas Gutes aus der ganzen Sache hier kommen könnte, kommt wieder etwas Neues dazu, was mir einen Riesen Dämpfer gibt. ", fuhr ich sie wieder an. Das war wirklich wahr. Dann hätte ich genauso gut bei Isabella oder Irina unterkommen können. Deren Eltern wären sicherlich einverstanden gewesen. Nur meine Eltern mussten so streng sein. "Na komm, sei nicht so eingeschnappt. Das Monte Rosa Internat ist wirklich vielversprechend. Außerdem ist ein See in der Nähe, und die anderen Schüler sind in einer ähnlichen Situation wie du", versuchte mein Vater mich aufzuheitern. Jedoch scheiterte dieser Versuch kläglich. "Willst du den ganzen Weg bis zum Internat in mieser Stimmung verbringen?", seufzte mein Vater. Meine schweigende Antwort war ausreichend, um ihm zu zeigen, wie ich darüber dachte.

 

Tatsächlich hielt ich mein Schweigen bis zur Ankunft im Internat aufrecht. Dort traf mich die nächste Überraschung, da meine Eltern mir noch einen weiteren Punkt verschwiegen hatten: Die meisten anderen Schüler waren in den Sommerferien weg und würden erst kurz vor dem 1. September zurückkehren, also kurz vor Schulbeginn. Da wir aber erst Mitte Juli hatten, bedeutete das für mich, dass ich über einen ganzen Monat praktisch allein im Internat verbringen würde. Einem Internat, dass ich nicht kenne, dessen Land ich nicht kenne und keine Freunde habe. "Das könnt ihr mir doch nicht antun. Erst das ganze Drama mit dem Internat, und jetzt darf ich nicht einmal die Sommerferien bei euch in Bern verbringen. Sogar die werde ich auf diesem öden Schulgelände verbringen müssen, wo außer Lehrern niemand sein wird", murrte ich meine Eltern an. "Ach komm schon, dann hast du wenigstens Zeit, alles besser kennenzulernen. Außerdem gibt es Schüler, die hier Sommerkurse besuchen. Du wirst also nicht ganz allein sein", versuchte mein Vater mich zu beruhigen, während er meine Koffer aus dem Kofferraum hob. "Komm, wir suchen mal das Sekretariat. Dort können sie uns sicher sagen, wo dein Zimmer ist, Michaela. Dann können wir dir beim Einrichten helfen." Mit griesgrämiger Miene und schlechter Laune schleppte ich mich hinter meinen Eltern her in Richtung Sekretariat. Es war gut ausgeschildert und nicht zu verfehlen. Die Sekretärin hatte eine Hornbrille und ein extrem fröhliches Lächeln. Ihr Lächeln wirkte fast wie aufgemalt und eher wie eine Grimasse. Sie hatte graues Haar in einer Kurzhaarfrisur und war ziemlich groß und dünn. Mein Vater regelte den ganzen Papierkram und alle formalen Dinge, welche noch zu erledigen waren. Währenddessen ließ ich den Blick etwas wandern. Das Gebäude war wie das Klischee eines Internats. Es sah aus wie eine alte "Burg" oder wie auch immer man es nennen wollte. Es war aus Stein und vermutlich im Sommer angenehm kühl, im Winter aber sicher Mist zum Heizen. "Komm schon, Liebes. Schau mal, dein Zimmer wird dir gezeigt", rief mein Vater mit strahlenden Augen und holte mich aus meinen trüben Gedanken. Er schien definitiv aufgeregter als ich zu sein. Es war peinlich, wie sich meine Eltern verhielten. Als würden sie bald die Schule besuchen, nicht ihre 18-jährige Tochter. Die Sekretärin nahm sich Zeit und zeigte uns verschiedene Klassenzimmer, den Speisesaal, einen Gemeinschaftsraum und viele andere Räume. Aber ich versuchte gar nicht erst, mir alles einzuprägen. Den ganzen Sommer hätte ich ja Zeit, um mir alles anzusehen. Ohne Freunde, ohne Gesellschaft außer denjenigen, die für Sommerkurse hierbleiben würden. Es war also nicht sinnvoll, sich mit ihnen anzufreunden, da sie ohnehin bald wieder weg wären. Etwas, das die Sekretärin sagte, riss mich aus meinen trüben Gedanken und holte mich in die Realität zurück.

 

"Ihre Zimmergenossin ist übrigens auch den Sommer hiergeblieben, Miss Storm. Ihre Eltern konnten sie in diesem Jahr nicht auf Geschäftsreisen mitnehmen", sagte sie zu mir gewandt. "Moment mal, Zimmergenossin? Ich habe nicht einmal ein eigenes Zimmer hier?", fragte ich fassungslos. "Aber nein. Sonst hätten wir nicht genug Zimmer für so viel Studenten. Alena Sevilla war bisher die Einzige, da ihre ehemalige Mitbewohnerin das Internat vor Ende des Schuljahres verlassen hat. Ich denke, Sie und Miss Sevilla werden sich gut verstehen. Sie ist ein reizendes Mädchen", kommentierte sie ihre erste Aussage und runzelte die Stirn. Sie sah mich an und blieb vor einer Zimmertür stehen. "Das ist Ihr Zimmer und das von Miss Sevilla. Miss Sevilla ist wahrscheinlich gerade am See. Ihr Gepäck wird für Sie hochgebracht. Das Abendessen im Speisesaal wird um 18:00 Uhr serviert, bitte seien Sie pünktlich", sagte die Sekretärin, sah auf ihre Uhr und rechnete nach, "in genau zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten." Also war es 15:35 Uhr. Ich sah auf meine Uhr. Sie zeigte erst 07:35 Uhr. Ich war verwirrt und nickte. Klar, meine Uhr war noch auf kanadischer Zeit. Zum Abschied nickte die Sekretärin mir zu, schüttelte meinen Eltern die Hand und ging.

 

"Jetzt schau dir erst einmal dein Zimmer an und erkunde ein wenig die Umgebung. Ich bin sicher, es wird dir hier gefallen und du wirst dich prima einleben", flüsterte meine Mutter und drückte gleichzeitig die Türklinke zu meinem neuen Schlafzimmer herunter. Als ich eintrat, war ich überrascht. Die Zimmer waren großzügig geschnitten, fast wie kleine Studios. Eine Hälfte war leer, meine Hälfte. Dort stand ein Bett, ein ziemlich großer Schrank und ein Schreibtisch. Die andere Hälfte beherbergte eine ganze Bücherwand. Sie war voll mit Büchern. Daneben stand ein Bett mit Nachttisch und Nachttischlampe. Über dem Bett hing ein Poster mit einem Pferd darauf. Die Wand war in den Farben der spanischen Nationalflagge gestrichen: Rot, Gelb, Rot. Überall auf dem Boden lagen Klamotten verstreut, jedoch nur bis zu einer unsichtbaren Grenze. Daneben war meine Hälfte, und ich konnte damit machen, was ich wollte. Es gab noch eine weitere Tür in unserem Zimmer. Als ich sie öffnete, führte sie zu einem Badezimmer. "Na, immerhin haben wir ein eigenes Badezimmer", murmelte ich. Es gab eine Badewanne, eine Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, der geöffnet werden konnte, um Platz für einige Dinge dahinter zu bieten. "Nun, sieht doch gar nicht so schlecht aus", meinte mein Vater zu mir und lächelte leicht. "Ja, es geht schon. Außerdem scheint meine Zimmergenossin nicht so wählerisch zu sein wie Jazz aus meiner alten Klasse", bemerkte ich. "Woher weißt du das?", fragte meine Mutter. Ich sah sie an: "Ernsthaft, hier stehen eine halbe Bibliothek und ein Pferdeposter über dem Bett. Die Wand sieht aus wie die spanische Nationalflagge, und in der Ecke steht ein Fußball. Im Badezimmer gibt es keine Spuren von Make-up. Das sagt schon einiges aus." Meine Eltern fingen an zu lachen, als sie mich so aufgeregt reden hörten. "Du hast dir das Zimmer wirklich genau angesehen", grinste mein Vater und breitete die Arme zu einer Umarmung aus. "Komm her. Eine letzte Umarmung. Deine Mutter und ich müssen jetzt gehen." Ich sprang in seine Arme und drückte ihn fest. Dann ging ich zu meiner Mutter und umarmte auch sie noch einmal. Auch wenn ich wütend war, würde ich sie für eine Weile nicht mehr sehen und war nun auf mich allein gestellt sein. "Macht's gut. Wir sehen uns bald wieder", sagte meine Mutter. "Macht's gut", flüsterte ich und ließ sie los. Mein Vater gab mir einen letzten Kuss auf die Stirn und ließ mich dann auch los. "Wir sind stolz auf dich, Michaela. Du wirst das gut machen. Melde dich, wenn du irgendwas brauchst oder wenn du uns einfach mal hören willst", sagte mein Vater. Ich nickte und kämpfte gegen die Tränen an. "Ihr seid die Besten. Ich werde euch vermissen", flüsterte ich, bevor ich mich abwandte und aus dem Zimmer ging. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich, wie sie sich unterhalten. "Ist sie bereit, allein zu sein?", fragte meine Mutter besorgt. "Ich hoffe es. Sie ist stark und unabhängig", antwortete mein Vater. Dann schloss ich die Tür hinter mir und stand allein in meinem neuen Zuhause, das sich in den kommenden Wochen wahrscheinlich mehr wie eine Gefängniszelle anfühlen würde als wie ein Zuhause.

3. Kapitel: Sommer im Internat

Am nächsten Morgen musste ich bedauerlicherweise feststellen, dass meine Zimmergenossin eine Frühaufsteherin war. Während ich normalerweise ausschlafen konnte, war sie bereits um acht Uhr morgens hellwach. Aufgrund der Zeitverschiebung war bei mir sowieso alles durcheinander. Daheim wäre es jetzt vier Uhr nachmittags, und ich spürte immer noch die Auswirkungen des Jetlags. "Komm schon, Schlafmütze, raus aus den Federn. Wir haben schließlich vor, heute etwas zu unternehmen", neckte mich Alain und zog mir die Decke weg. "Gib mir meine Decke zurück. Ich möchte noch ein wenig liegen bleiben", erwiderte ich lachend und wir begannen spielerisch zu raufen. "Wenn ich aus der Dusche komme, solltest du bereit sein, selbst hineinzuspringen", drohte Alena mir nach einer Weile und verschwand mit ihren Sachen im Badezimmer. Ich ließ mich erneut ins Bett sinken und blickte mich um. Meine Seite des Zimmers musste definitiv noch dekoriert werden. Meine Koffer standen immer noch gepackt in der Ecke. Leise seufzte ich. "Wirst du mir später beim Auspacken helfen?", rief ich ins Badezimmer. "Natürlich." Obwohl wir uns gestern Abend beim Abendessen erst kennengelernt hatten, hatten wir uns auf Anhieb verstanden. Dies war etwas beruhigend, da ich so sicher schon jemand hatte den ich bei Schulbeginn kannte und mochte.

 

Ich hörte, wie sie die Dusche einschaltete. Sie richtete etwas her und stieg dann unter die Dusche. Daher beschloss ich, meine Duschutensilien aus dem Koffer zu graben den Rest meiner Dinge liess ich vorübergehend in den Koffern. Anschließend griff ich nach meinem Handy. Da es bei mir gerade acht Uhr dreißig war, wählte ich die Kurzwahltaste für unsere Konferenzschaltung. Irina und Isabella nahmen innerhalb kürzester Zeit ab. "Na, wie geht es unserer frisch gebackenen Schweizerin?", neckte mich Isabella und lachte. "Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, Schweizer Käse und Schokolade zu kosten", konterte ich lachend. "Ich wette, heute Abend gibt es Fondue für dich, Schätzchen", neckte mich Irina dieses Mal. Ich verzog das Gesicht. "Ihr seid wirklich witzig, ihr beiden. Was habt ihr heute noch vor?" Es folgte eine kurze Stille. "Nun ja, wir haben ein Klassengrillen. Mr. Hale wird auch da sein, aber eine bestimmte Person fehlt", sagte Isabella mit einem deutlich hörbaren Anflug von Grimasse. Klassengrillen, das hatte ich vergessen. "Das ist ja blöd. Ich helfe einmal bei der Organisation von sowas, und dann kann ich nicht einmal teilnehmen." Irina kicherte. "Stimmt, normalerweise hilfst du nie bei so etwas." Es folgte eine weitere kurze Stille. "Ich vermisse euch alle. Grüßt sie heute Abend von mir und sagt ihnen liebe Grüße aus dem doofen Internat", bat ich sie. "Aber von einer wirklich großartigen Mitbewohnerin", fügte Alena hinzu. Plötzlich stand sie neben mir, und ich zuckte leicht zusammen. "Musstest du mich so erschrecken?" grinste ich und boxte sie leicht gegen den Arm. "Wer war das denn? Willst du uns etwa schon ersetzen?", fragte Isabella neugierig. "Meine Zimmergenossin Alena. Sie ist eine echte Frühaufsteherin. Ich muss jetzt duschen gehen, sonst lässt sie mich auf den Koffern sitzen, und ich könnte wirklich Hilfe beim Auspacken gebrauchen", stellte ich Alena vor. "Klar, da ist also deine berühmte Zimmergenossin", verabschiedeten sich Isabella und Irina lachend von mir. Ich beendete das Gespräch, packte meine Duschutensilien ein und begab mich in Richtung Badezimmer. "Ich bin noch nicht einmal einen Tag hier, und du hast mich schon voll im Griff. Unglaublich", nörgelte ich leicht in Richtung Alena, bevor ich unter die Dusche stieg. Ich hörte nur ein leises Lachen von der anderen Seite der Tür und schüttelte den Kopf, bevor ich das Wasser laufen ließ. Ich liess einen kurzen Schrei fahren, da das Wasser eiskalt eingestellt war.

 

Nach der Dusche gingen wir erst einmal frühstücken. Als wir den Speisesaal betraten, entkam mir ein leiser Ausruf der Überraschung. Beim Frühstück konnte ich mich wirklich nicht beklagen. Ein reichhaltiges Buffet war aufgebaut, bei dem man sich sein Frühstück selbst zusammenstellen konnte. "So ein Frühstück bekomme ich sonst nur an meinem Geburtstag", grinste ich Alena an. Sie grinste zurück. "Wenn du früh genug kommst, bekommst du immer alles, was du magst. Ansonsten hast du Pech, merk dir das. Wenn die Schule erst einmal wieder läuft, sind die leckeren Sachen schnell weg und Nachschlag gibt es nur wenig." Wir füllten unsere Teller und setzten uns an irgendeinen Tisch, da es keine Sitzordnung gab. "So könnte jeder Morgen beginnen", lächelte ich. Mein Mund war voll mit Pfannkuchen, die mit Ahornsirup übergossen waren. Ich liebte Pfannkuchen mit Ahornsirup. Alena nickte und genoss ihr Frühstück ebenfalls in vollen Zügen. "Siehst du den Typen da drüben?", sagte sie plötzlich und zeigte auf einen Jungen, der etwa zwei Tischreihen entfernt alleine saß. Ich nickte und sah sie fragend an. "Ja, was ist mit ihm?", fragte ich. Ihre Wangen färbten sich leicht rosa. "Das ist Adon, er ist Algerier, ein Kumpel meines Bruders Enrico. Sie gehen in dieselbe Klasse. Er konnte nicht mit zum Campen, weil seine Eltern auch noch etwas mit ihm Unternehmen wollten", erzählte sie mir. Mir fiel auf, dass sie meine Frage immer noch nicht richtig beantwortet hatte. Vorsichtig, da unsere Freundschaft noch frisch war, hakte ich neugierig nach. "Okay, und was ist mit ihm?" Ich hob fragend die Augenbrauen. "Ich bin schon ewig in ihn verknallt, aber er weiß es nicht. Ich traue mich nicht, es ihm zu sagen, weil seine Familie Tuareg sind und sie ihn nicht mit einer europäischen Freundin sehen wollen. Sie möchten, dass er hier nur studiert", gestand sie mir. Sie sah unglücklich aus, als sie mir das erzählte. "Wie weißt du das?" Ich sah sie an und wollte ihr helfen, wusste aber nicht genau wie. "Enrico hat es mir erzählt. Ich habe versucht, ein bisschen mehr darüber herauszufinden." Ich runzelte die Stirn. Ich war nie besonders gut darin gewesen, Geheimnisse von Jungs zu ergründen, aber ich versuchte es zumindest. "Hat dein Bruder dir erzählt, wie Adon dazu steht? Vielleicht ist es ihm ja egal?" Alena schüttelte den Kopf und flüsterte leise: "Nein, das hat er nicht. Ich habe mich auch nicht getraut bei meinem Bruder mehr nachzuhaken. Ich wollte nicht dass es zu offensichtlich wird." Die ganze Situation schien sie wirklich zu beschäftigen. "Versuch doch, das herauszufinden. Vielleicht denkt Adon anders als seine Familie. Vielleicht will er seine eigenen Entscheidungen treffen. Und ihm hier so etwas zu verbieten sollte ja sowieso schwer sein." Ich versuchte, sie aufzumuntern, als eine Stimme hinter mir fragte: "Habe ich da gerade meinen Namen gehört?" Erschrocken richtete ich mich auf und drehte mich um. Hinter mir stand Adon, er war wohl noch mals zum Buffet und dabei an unserem Tisch vorbeigelaufen. Sofort wurde Alena leicht rot. "Ja, ich bin neu hier. Alena hat mir nur erzählt, dass du mit ihrem Bruder Enrico in der Klasse bist, aber nicht mit zum Campen konntest. Sie will mir ein paar Gesichter geben, an die ich mich erinnern kann, wenn das Schuljahr beginnt." Mein Versuch, die Situation zu retten, war ziemlich kläglich, aber Adon ließ es auf sich beruhen und setzte sich neben mich. "Stimmt, ich habe dich hier noch nicht gesehen. Wie heisst du?" Er war sehr direkt, aber freundlich. "Ich heiße Michaela." Ich lächelte ihn an, und er grinste zurück. "Alena hatte recht. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich nach Algerien gehe. Deshalb musste ich das Campen auslassen, leider. Jetzt hänge ich hier ein paar Tage alleine ab, weil Enrico und die anderen schon beim Campen sind. Ich wird nächste Woche hinfliegen." Er sprach gern und schien gerne in Gesellschaft zu sein, soweit ich das beurteilen konnte. Ausserdem konnte ich mir vorstellen, dass es langweilig sein musste ohne Freunde. "Erzähl etwas von deiner Heimat, da war ich noch nie." Ich versuchte, das Gespräch aufzubauen und in Gang zu halten, aber Alena war plötzlich ganz still. Man konnte ihre Schüchternheit förmlich spüren, nichts mehr von dem gerede dass im Zimmer von ihren Lippen kam. Adon erzählte mir viel über seine Heimat, seine Familie und alles Drumherum. Ich erfuhr von seinen vier Geschwistern, zwei Schwestern und zwei Brüdern. Er war der Älteste und wurde nach Europa geschickt, um zu studieren. Obwohl sie Tuareg waren, war seine Familie sesshaft geworden. Er selbst hatte jedoch zusammen mit einigen Gleichaltrigen noch als Nomaden gelebt. Seine Eltern wollten jedoch, dass er in Europa studierte, um in Algerien eine gute Arbeit zu finden und seine Familie zu unterstützen. Doch das passte nicht zu seinen eigenen Plänen. Er wollte die Welt bereisen und dann nach Europa zurückkehren, um hier eine Arbeit zu suchen. Er fragte auch mich etwas aus, wobei ich ihm von meinem bisherigen Leben als Diplomatentochter erzählte. Es war sehr leicht sich mit Adon zu unterhalten. Seine einfache Art, wirkte sehr beruhigend.

 

Wir unterhielten uns eine Weile, bis Alena wieder das Wort ergriff. "Wolltest du nicht deine Koffer auspacken und dein Zimmer etwas gemütlicher gestalten?" Während des ganzen Gesprächs mit Adon hatte sie kein Wort gesagt und mir das Reden überlassen. Sie signalisierte mir mit ihren Augen, dass ich ihr zustimmen sollte und sie ins Zimmer begleiten sollte. "Ja, stimmt. Es war schön, dich kennenzulernen, Adon", lächelte ich ihm zu. Er grinste zurück. "Ich wollte später zum See hinuntergehen. Kommt ihr auch?" Er sah mich abwechselnd an, und ich schaute Alena an, um ihre Meinung zu erfragen. Sie nickte: "Ja, wir kommen später nach." Dabei zitterte ihre Stimme leicht. Ich sah wieder zu Adon und nickte zur Bestätigung. "Klingt gut, dann sehen wir uns später." Alena war bereits losgelaufen und ich wollte ihr schon hinterher rennen, als Adon mich kurz am Arm festhielt. "Warte mal kurz." Er sprach leise, als er fortfuhr. "Sag mal, ist alles in Ordnung mit ihr?" Er nickte in Alenas Richtung, die einige Schritte vor uns war. "Ja, warum?" Ich war neugierig. "Sie hat kein Wort mit mir gesprochen. Außerdem ist sie immer so schweigsam, wenn ich in der Nähe bin. Bei den anderen ist sie viel lebhafter." Offensichtlich hatte er es bemerkt. Ein gutes Zeichen, er war aufmerksam, wenn sie in seiner Nähe war. Vielleicht mochte er sie sogar? "Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Sie hat einfach nicht gut geschlafen." Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Ich wusste nicht genau, warum ich gelogen hatte, aber ich fand, dass Alena selbst darüber sprechen sollte, dass sie in ihn verknallt war.

 

Als ich ins Zimmer kam, schaute mich Alena wütend an. "Ich gestehe dir, dass ich in ihn verknallt bin, und du flirtest sofort mit ihm. Und das auch noch in meiner Anwesenheit. Kann ich dir überhaupt vertrauen? Und außerdem, worüber habt ihr getuschelt, als ich vorausgegangen bin?" Sie hatte das Tuscheln also bemerkt. Und anscheinend war sie eifersüchtig. Ich fand das irgendwie süß, obwohl ich nicht genau wusste, warum. "Beruhige dich, Alena. Ich habe nicht mit Adon geflirtet. Er ist wirklich nett und ich denke sicher ein guter Freund. Aber ein Kumpel. Er ist nicht die Art von Typ auf die ich stehe. Außerdem kenne ich ihn erst seit ein paar Minuten. Was das Tuscheln angeht, hat er mich gefragt, ob ich weiß, was mit dir los ist. Du bist immer so ruhig in seiner Nähe, während du bei anderen viel lebendiger bist. Er wollte wissen ob ich den Grund dafür kenne. Ich habe ihm nur gesagt, dass du schlecht geschlafen hast." Ich beschwichtigte sie, und ihre Eifersuchtsanzeichen verschwanden. «Oh je tut mir leid dass ich dich so angegangen bin, dass wollte ich nicht. Verzeihst du mir?», entschuldigte sie sich umfangreich bei mir. «Da ich nicht nachtragend bin, verzeih ich dir fast alles. Unter der Bedingung dass du mir sofort beim auspacken hilfst.» forderte ich von ihr. Dabei knuffte ich sie in die Seite. Sie boxte mich leicht in die Seite und packte einen meiner Koffer um ihn auszupacken.

 

Gemeinsam machten wir uns daran, mein Zimmer einzurichten, und hatten dabei jede Menge Spaß. Nach etwa vier Stunden waren wir immer noch nicht fertig. Durch unser Herumalbern und gegenseitiges Aufhalten hatten wir kaum Fortschritte gemacht. Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Gerade hatte Alena eine Kissenschlacht gestartet, und überall im Zimmer lagen meine Sachen verstreut, als es an der Tür klopfte. Es war Adon der den Kopf hereinsteckte. "Ich dachte, ihr wolltet auch zum See kommen?", grinste er herein und wurde sogleich von einem Kissen getroffen. "Entschuldigung. Das Einrichten hat länger gedauert." Mehr bekam er als Antwort nicht von mir. Denn schon kam das nächste Kissen geflogen, geworfen von Alena. Wir hatten eine Menge Spaß. Nach weiteren zehn Minuten sah Adon sich im Zimmer um. "Nun, jetzt habt ihr wahrscheinlich mehr zu tun, als ursprünglich geplant, oder? Habt ihr überhaupt schon begonnen? Es sieht mehr danach aus, dass ihr einfach alles wild im Zimmer verstreut habt." Ich schaute mich im Zimmer um. Leider hatte er Recht. Die Kleider lagen im Raum verstreut, die Bilder, die ich aufhängen wollte, lagen auf dem Bett. Die Bücher waren überall, aber nicht im Bücherregal, die Badeutensilien lagen auf dem Nachttisch. Ich schnaubte. "Das ist alles Alenas Schuld. Deshalb darf sie alles alleine erledigen, und wir beiden gehen schon mal zum See." Ich zog dabei ein ernstes Gesicht und tat so, als würde ich meine Badesachen packen. Dies dauerte eine ganze Weile, da ich alles im durcheinander suchen musste.

 

Alena starrte mich mit großen Augen an. Offensichtlich hatte sie diese Reaktion nicht von mir erwartet und konnte noch nicht einschätzen ob ich scherzte oder es ernst meinte. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. "Ich mache nur Spaß." Ihre Gesichtszüge entspannten sich, und auch sie begann zu lachen. "Du bist wirklich gemein. Komm, lass uns weitermachen, damit wir endlich zum See gehen können." Ich wusste, dass sie das mit dem Gemeinsein nicht ernst meinte. "Ich helfe euch, sonst werdet ihr ewig nicht fertig." Adon fing an, Kleidungsstücke aufzusammeln. Zu dritt machten wir wirklich schnell Fortschritte. Allerdings konnte Adon es nicht lassen, einige Kommentare über meine Unterwäsche abzugeben. Typisch Jungs, kindisch, auch wenn sie älter waren. Alena und ich rollten mit den Augen und lächelten. Schnell waren wir mit dem Aufräumen und Einrichten fertig, jedenfalls das es annehmbar war. Die Details würden noch folgen. "Sagt mal, dürfen wir die Wände streichen?" Mir kam plötzlich eine Idee. "Sie dir meine an. Ich habe einfach Farben gekauft und gemacht. Hat niemand was gesagt." Auch die Bilder würden später aufgehängt werden. Wir packten unsere Sachen und gingen an den See.

 

Die restlichen Sommerferien vergingen wie im Fluge. Die erste Woche war Adon häufig mit uns unterwegs, bis er zu seiner Familie ging für die restlichen Ferien. Alena half mir mein Zimmer fertig einzurichten, die Wand zu streichen – Mintgrün – die Bilder aufzuhängen. Es sah am Schluss richtig gut aus. Wir gingen Baden, Shoppen und Alena zeigte mir das ganze Gelände und vieles mehr. Ich hatte kaum Zeit meine Eltern zu vermissen, da wir immer etwas unternahmen. Anfangs hatte ich noch regelmässiges Skypen mit meinen Eltern, dies liess jedoch schnell nach. Auch der Kontakt mit Isabella und Irina war momentan etwas flau. Es stellte sich trotz allem als schwieriger als Gedacht aus, die Freundschaft aufrecht zu erhalten, wenn ein ganzer Kontinent dazwischen lag. Ausserdem schätzte ich es sehr, dass Alena mich gut beschäftigte und ablenkte.

 

Eine Woche vor Schulbeginn kam wieder etwas Leben ins Internat. Die Schüler kehrten langsam ins Internat zurück. Darunter auch Alenas Bruder Enrico und seine Freunde. Alena stand am Eingang und hielt Ausschau nach ihrem Bruder. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte sie ihn doch sehr vermisst. Auch Adon sollt heute scheinbar wieder eintreffen. Wenigstens noch ein Gesicht dass ich kannte. «Iiiih, da ist er ja endlich.» Alena konnte nicht an sich halten und rannte los. Stirnrunzelnd schaute ich ihr hinterher wo sie hinrannte.

 

Schon fiel sie einem Jungen in die Arme. Schmunzelnd lief ich hinterher. Enrico stand da mit zwei Kollegen. «Michaela darf ich dir meinen Bruder Enrico vorstellen? Und die beiden anderen sind Kadour, Nazar und Gael. Leute dass ist meine neue Mitbewohnerin Michaela.» Ich wollte sie gerade Begrüssen als mir jemand von hinten die Finger über die Augen legte. «Na lernt ihr schon meine neue Freundin Michaela kennen?» klang eine vertraute Stimme zu der Gruppe. Das war nicht schwer zu erraten. «Wenn du nicht sofort deine Finger von meinen Augen nimmst, wisch ich dir eine.» zog ich Adon auf. Schon ging es los, dass sich alle gegenseitig aufzogen und humorvoll Piesacken. Ich hatte sofort das Gefühl, zu der Gruppe dazuzugehören. «Wo ist eigentlich Niko?» fragte Adon plötzlich. Anscheinend schien noch ein Mitglied der Gruppe zu fehlen. «Der wurde während des Campens angerufen. Seine Oma ist gestorben und er musste nach Hause. Er kommt kurz vor Schulbeginn wieder her.» klärte Nazar ihn auf.

Die letzte Woche vor den Ferien verbrachten wir hauptsächlich am See und badeten, spielten Volleyball und assen Picknick, welches wir heimlich von den Buffets mitnahmen. Denn laut Regeln sollten wir das Abendessen immer in der Schule einnehmen. Jedoch blieben wir meist länger am See. Die letzte Woche Sommerferien war im Nu vorbei und mein erster Schultag stand vor der Tür.

4. Kapitel: Neue Freundschaften und erste Eindrücke

Am ersten Schultag wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo meine Klassenzimmer waren. Ich hielt meinen Stundenplan und einen Lageplan der Schulräume in der Hand. Alena und ich mussten feststellen, dass wir enttäuschenderweise nicht in derselben Klasse waren. Also war ich auf mich allein gestellt. Die Neue ohne Freunde in der gleichen Klasse zu sein, führte dazu, dass ich mit einem Plan des Schulgeländes herumlaufen musste, obwohl ich sechs Wochen Zeit gehabt hatte, ihn mir einzuprägen. Ich hätte mich dafür ohrfeigen können.

 

So kam es, dass ich am 1. September, meinem ersten Schultag, zwar mit Alena zum Frühstück ging, aber mich trotzdem alleine fühlte. Alena bemühte sich wirklich, mich in ihre Clique aufzunehmen, aber irgendwie mochte ich die anderen Mädchen nicht. Da waren Kimberly, Aisha und Danielle. Sie schienen in die Kategorien Cheerleaderinnen und Klassendivas zu passen. Danach blieb ich auf mich gestellt. Die Schule stellte mir ein Fach zur Verfügung, in dem ich meine Bücher und andere Dinge aufbewahren konnte. Das erste Klassenzimmer war ziemlich weit davon entfernt, und das zweite war genau in die entgegengesetzte Richtung. Also lief ich den Gang entlang, den Zettel mit dem Schulgrundriss in der Hand. Wie sehr hasste ich es, die Neue an der Schule zu sein. In den letzten vier Jahren war ich viermal umgezogen. Das bedeutete, dass ich jedes Jahr neue Freunde finden musste, und das nur, weil mein Vater Diplomat war. Ich suchte mein Klassenzimmer. Dieses riesige Gebäude war frustrierend. In jeder Stunde musste ich von einem Klassenzimmer zu meinem Fach hetzen, Bücher wechseln und zum anderen Klassenzimmer eilen. Wahrscheinlich hatten die Lehrer absichtlich die weit voneinander entfernten Zimmer ausgewählt, um die Schüler zu mehr Bewegung zu animieren.

 

Ich sah mir den blöden Plan genauer an. Warum hatte ich mir in den Sommerferien nicht gemerkt, wo sich die Klassenzimmer befanden? Plötzlich stieß ich gegen jemanden. "Entschuldigung, es tut mir wirklich leid", stammelte ich und sah auf. Ein Paar strahlend blaue Augen sah mich an, und ich versank in ihnen. Ich wurde rot, als ich bemerkte, dass es ein Junge war, der vielleicht zwei Jahre älter war. Er lächelte und sagte: "Kein Problem, ist ja nichts passiert. Bist du neu hier?" Ich brachte nur ein schwaches Nicken heraus. "Und wie heißt du?", fragte ich mit gepiepster Stimme. "Michaela, und du?", sagte ich. "Ich bin Nikolai. Alle nennen mich Niko. Schön, dich kennengelernt zu haben. Muss jetzt weiter zum Unterricht." Ich sah ihm nach und gab etwas spät ein schwaches "Ciao" von mir. Ich hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber in diesem Moment fühlte es sich anders an...

 

Nein! Schluss damit, Liebe auf den ersten Blick gab es nicht. Wahrscheinlich sah er gar nicht so gut aus, und meine Augen hatten mir einen Streich gespielt. Ich schüttelte den Kopf, leicht verärgert über mich selbst, dass ich mich von einem Jungen so aus der Fassung bringen ließ. So kannte ich mich nicht.

Schließlich fand ich mein Klassenzimmer ohne weitere Umwege. Mein Eintritt in das Klassenzimmer wirkte wie ein Magnet. Alle Blicke richteten sich auf mich. Einige waren neugierig, andere gleichgültig, aber in diesem Moment sah ich keine verächtlichen Blicke. Ich sah mich um und bemerkte nur einen freien Platz in der Mitte des Klassenzimmers. Als ich darauf zusteuerte, versperrte mir jemand den Weg. "Hey, du musst Michaela sein. Adon hat mir bereits von dir erzählt. Ich bin Atara, seine Schwester", stellte sie sich freundlich vor und lächelte. Ich war verwirrt. Ich dachte, all seine Geschwister seien in Algerien. "Hey, ich bin etwas überrascht. Er hat mir von seinen Geschwistern erzählt, auch von dir. Aber er hat gesagt, er sei der Einzige hier." Sie lächelte freundlich. Kleine Krähenfüße bildeten sich in ihren Augenwinkeln. Sie schien locker und ehrlich zu sein, eine Person, die man einfach mochte – genauso wie ihren Bruder Adon. "Ich weiß, es ist auch mein erstes Jahr hier. Ich bin mit Adon zurückgekommen. Meine Eltern waren zunächst dagegen, dass ich hierherkomme und studiere. Eine Frau gehört ins Haus und soll sich um ihren Mann kümmern, ihn bekochen und ihm Kinder gebären. Wer will schon eine kluge Frau? Eine Frau, die möglicherweise klüger ist als ihr Mann? Aber Adon hat eine überzeugende Art. Keine Ahnung wie, aber er hat es geschafft, meine Eltern zu überreden. Ich bin so froh darüber. Endlich mehr Freiheit." Sie sprach gern, und ihr Englisch war gut. "Wo hast du so gut Englisch gelernt? Spricht man in Algerien nicht eher Französisch?" Ich konnte mich vage daran erinnern, dass Französisch einmal eine Amtssprache dort war oder vielleicht immer noch ist. "Stimmt, aber Adon hat mir beigebracht, und wir haben immer Englisch gesprochen, wenn wir alleine waren. So habe ich es im Laufe der Zeit gelernt." Ein Lehrer betrat das Zimmer. "Bitte nehmen Sie alle Platz. Ich möchte pünktlich mit dem Unterricht beginnen." Obwohl noch nicht einmal geklingelt hatte, setzten wir uns. Ich setzte mich auf den Stuhl, den ich anvisiert hatte. Neben mir saß glücklicherweise Atara. So war ich nicht die einzige Neue in der Klasse, und das gefiel mir schon viel besser. Auch dass ich jemand in der Klasse hatte, mit der ich mich wahrscheinlich gut verstehen würde.

 

 

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5. Kapitel

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Tag der Veröffentlichung: 30.08.2023

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Widmung:
An meine Familie

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