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Der Tribun

Der oberste Tribun bittet ins Auditorium. Geladen ist das Volk. Es geht um nichts geringeres als um die Verleihung einer Medaille. Ausgelobt wird diese Ehrung, um herauszufinden, welcher der Menschen dieser Medaille würdig sei. Das Kriterium dafür solle einerseits sein, dass derjenige sich etwas traut und fähig ist, etwas zu wagen. Andererseits müsse dieser Mensch nachweisen, dass er eine von seinem Willen unabhängig wirkende Kraft besitze. Diese Kraft müsse Quell seiner seelischen Leistung darstellen, die sich in Tempo, Intensität und Ausdauer ausdrücke. Das Zusammenspiel von Mut und Antrieb solle der Grund sein, um diese Medaille erhalten zu können. Die Entscheidung darüber sei, nachdem sich die Anwärter vorgestellt haben, vom Volke zu treffen.

Die Zusammenkunft

An besagtem Tage füllt sich das Auditorium mit allerlei Menschen; darunter auch die Bewerber um die Medaille. Der Tribun eröffnet die Zusammenkunft.

Der erste Aspirant tritt vor das Tribunal und sagt:

»Immer, wenn es brenzlig wird, bin ich mit meinen Kameraden zur Stelle. Wir leisten unseren Dienst - oft genug unter Einsatz unseres Lebens, weil wir für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen. Dafür unterziehen wir uns regelmäßigen Fortbildungen und absolvieren Übungen, um im Ernstfall effektiv handeln zu können. Jeder einzelne von uns hat einen sehr persönlichen Antrieb, sich dieser Beschäftigung in der Freizeit hinzugeben. Da ist die persönliche Herausforderung, eigene Leistungsgrenzen zu erfahren und diese im entscheidenden Moment auch überschreiten zu können. Ein wichtiger Faktor ist auch die Anerkennung - die individuelle durch Familie und Freunde und die der Gesellschaft, die uns ihr Vertrauen entgegenbringt.«

Ein anderer junger Mann spricht:

»Ich bin ein moderner Held. Böse Zungen behaupten, ich sei ein Adrenalinjunkie. Ich springe von Klippen, hohen Gebäuden oder einem Berg. Beim Sprung, der zwanzig bis dreißig Sekunden dauert, besteht die Kunst darin, den Fallschirm im richtigen Moment zu öffnen. Einen Ersatzschirm gibt es nicht. Ziel ist es, an persönliche physische und auch psychische Grenze zu gelangen. Kritiker meinen, es sei ein Spiel mit dem Tod. Ich suche mit diesen Sprüngen den ultimativen Kick und denke, dass ich die individuelle Freiheit habe über mein Leben selbst zu bestimmen.«

Der nächste Bewerber geht (etwas staksig) nach vorn und führt über sich aus:

»Es begann mit einem Gepard. Mein Partner und ich fuhren von der Alten in die Neue Welt, um dort die Zuschauer zu verzaubern. Als die weißen Tiger hinzukamen, waren unsere Show und die Illusion, die wir dem Publikum jeden Tag aufs Neue präsentierten, perfekt. Bis zu jenem Tag, als ein weißer Tiger sich auf mich stürzte. Schwerverletzt überlebte ich und trotz der halbseitigen Lähmung begann ich, wieder laufen und sprechen zu lernen. Nicht aufgeben, weiterleben, um mit meinen Tieren zusammen leben zu können – das war der Antrieb in meinem Leben.«

Eine Gestalt steigt aufs Podium und ihr Sprechen hat einen Nachhall:

»Gestern habe ich mich umgebracht ... Ich habe alles versucht in meinem Leben ... Ein wenig Zufriedenheit war mein Ziel ... Es gelang mir nicht ... Meine Kraft zu leben, reichte nicht mehr aus ... Der Moment, als ich mich dazu entschloss, mein Leben zu beenden, verlangte mir all meinen Mut ab ... Oft wird gesagt, es ist der Mut der Verzweiflung ...«

Das Mädchen, das soeben zu reden beginnt, hat die traditionelle Kleidung ihres Landes an:

»Meine Forderung, dass Mädchen in meiner Heimat auch nach der vierten Klasse in die Schule gehen dürfen, hatte mich fast mein Leben gekostet. Die, für die meine Ansicht eine Provokation darstellt, nennen sich selbst *Schüler* oder *Suchende* und sind zumeist aus traditionellen Schulen. Nachdem diese *Gotteskrieger* in unser Tal kamen und viele Schulen zerstörten und uns Mädchen den Schulbesuch verboten, begann ich über unseren Alltag und die stattgefundenen Grausamkeiten in unserer besetzten Heimat zu bloggen. So geriet ich, wie mein Vater, der Vorsitzender des Verbandes der Privatschulen war, in das Visier der radikalen Besetzer. Auch wenn meine Gesundheit beschädigt wurde, ich habe überlebt: Eines Tages möchte ich in meine Heimat zurückkehren und Premierministerin werden.«

Der Jüngling, der nun spricht, ist ebenfalls in seine traditionelle Kleidung gehüllt:

»Ich bin ein Kämpfer, ein Soldat, ein Krieger. Ich kämpfe für meine Überzeugung, für meinen Glauben. Mein Handeln entspringt meinem Ehrenkodex. Um unser Ziel, die Errichtung einer Gesellschaft, in der Geistliche die Führung übernehmen sollen, zu erreichen, verfolgen wir, und wenn es sein muss, töten wir auch, die Menschen, die uns daran hindern wollen. Unsere Gegner sind die Ausländer, die zu wissen glauben, was für unser Land gut ist; aber auch Einheimische, die mit diesen Ausländern zusammen arbeiten.«

Ein zwölfjähriger Junge mit Basecap betritt das Rednerpult:

»Die Medien nennen mich *ein Wunderkind*. Mir ist klar, dass es nicht unbedingt normal ist, in meinem Alter bereits eine bezahlte Anstellung an einer Universität als Forscher für Astrophysik inne zu haben. Dass ich über Einstein, schwarze Löcher und sterbende Sterne spreche, finden viele selbstbewusst und mutig. Ich nicht! Denn das fällt mir leicht. Viel mehr Mut benötige ich, um mit anderen Menschen in direkten Kontakt zu treten oder mit ihnen zu kommunizieren, da ich Dinge nicht kann, die den meisten Menschen angeboren sind.«

Eine junge Frau kommt nach vorn:

»Lange habe ich meinen tief sitzenden Schmerz ertränkt. Viel zu lange! Bis ich merkte, dass es der Schmerz ist, der mich krank macht. Den Mut, mein persönliches Leid zu beenden, muss ich täglich neu entwickeln, um eigene Fehler einzusehen und korrigieren zu können. Auch müssen immer wieder Lösungen gefunden werden, um die drohende Lethargie zu überwinden und sich selbst anzutreiben, damit ich möglichst suchtfrei leben kann.«

Eine ältere Frau erhebt sich und ergreift das Wort:

»Ich schreibe. In meinem Land werden meine Bücher nicht veröffentlicht. In meinen Texten schreibe ich über Katastrophen, Krieg und Diktatur. Auch wenn ich vom Staat, in dem ich beheimatet bin, beschuldigt wurde, Agentin eines feindlichen Geheimdienstes zu sein, mein Telefon abgehört wurde und mir öffentliche Auftritte nicht mehr möglich waren, und ich deshalb für mehrere Jahre ins europäische Exil ging, kehrte ich in meine Heimat zurück. Ich ging zu denen, die keine Stimme haben.«

Ein Mann mittleren Alters meldet sich nun zu Wort:

»Auch ich schreibe. Und obwohl meine Texte in den Medien meines Landes veröffentlicht werden, bin ich ein Stachel der Gesellschaft. Mit beißendem Witz und verbalem Zorn diagnostiziere ich die Verquickungen der Politik mit der der Wirtschaft. Die gesellschaftlichen Zustände machen es Künstlern wie mir jedoch immer schwerer, die herrschenden Missstände in überspitzter Form anzuprangern. Immer öfter erstickt das Lachen der Zuhörer bei dem, was ich zu sagen habe.«

Viele andere treten noch vor: Da ist der Aktivist, der sein Leben riskiert, um in spektakulären Aktionen auf die Umweltverschmutzung aufmerksam zu machen oder der Mann, der sensible Daten seiner Regierung an die Öffentlichkeit weitergibt, um diese darüber aufzuklären. Aber auch die Frau, die auf die Straße geht, um gegen die Verhältnisse in ihrem Land zu demonstrieren. Oder die Frau, die ihr zweites Kind nicht abtrieb, obwohl die Regierung ihres Landes eine Ein-Kind-Politik verordnet. Menschen aus allen Bereichen, aus jeder Nation, unterschiedlichen Alters treten vor und erzählen dem Auditorium ihre persönliche Geschichte.

Die Entscheidung

Nachdem alle Anwärter zu Wort gekommen sind, geht das Volk in Klausur. Lange beraten sie darüber, wer derjenige sei, der die Medaille verdient habe. Aber ach! Das Volk kann sich auf keinen Einzelnen, wie vom Tribun verlangt, einigen. Zu sehr gehen die Meinungen über die Vorträge der Bewerber auseinander; zu unterschiedlich sind die Standpunkte darüber, was Mut und Antrieb im Einzelnen und im Zusammenwirken sind. So treten die Vertreter des Volkes denn vor den Tribun und teilen ihm mit, dass das Volk zu keiner einstimmigen Wahl gekommen ist. Der Tribun überlegt einen Moment lang. Dann nimmt er die Medaille und wirft sie schwungvoll in den Ozean mit den Worten: »Nun besitzt diese Medaille niemand und sie gehört allen!«

Impressum

Texte: Signe Winter
Bildmaterialien: BookRix-Edition
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vorhandene Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht zufällig.

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