Herr K. sitzt auf einem Baum. Er ist fünfzig, hatte einige Mühe, die alte Weide zu erklimmen. Doch nun sitzt er hier, schaut übers Land, sein Land, und denkt über das Leben nach, sein Leben. Hier oben lässt sich's gut aushalten, das nächste Mal wird er sich jedoch eine Decke mitnehmen müssen, denkt er. Jetzt sitzt er hier und ist's zufrieden. Vorerst. Denn irgendwann muss er wieder runter, ins Haus, zur Frau. Der Alltag wird ihn einholen, unerbittlich. Alltag! Alle Tage das Gleiche, alle Tage dasselbe, alle Träume aufgebraucht ... Wenn das eine Midlife-Crisis ist, denkt er, na dann Prost Mahlzeit! Denn das bedeutet ja *Krise in der Mitte des Lebens*. Was fängt er mit der anderen Hälfte an? Viele Gedanken, die sich zu Fragen formen, keine Antworten. Vielleicht findet er sie hier, die Antworten, hier auf dem Baum.
Die Frau unten im Haus war ihm fremd geworden. Sie liefen im Alltag nebeneinander her. Keiner hatte dem anderen mehr etwas zu sagen; sie tauschten nur noch die notwendigsten Informationen miteinander aus. Gefühle blieben dabei außen vor. Die Einsamkeit, die er mit ihr im Haus spürte, empfindet er hier auf dem Baum nicht. Hier fühlt er sich frei. Frei von Zwängen, frei von der Verlogenheit des Alltags. Das merkt er jetzt, als er auf diesem Baum sitzt. Er wird sich das nächste Mal unbedingt eine Decke mitbringen müssen.
Während Herr K. noch auf der alten Weide sitzt und über sein Leben nachdenkt, denkt Frau K. auch nach. Jedoch nicht über das Leben ihres Mannes, sondern darüber, ob sie ihr eigenes beendet. Sie sitzt in ihrem tiefen Tal, Sinnlosigkeit hat sie erfasst. Sie steht hilflos in ihrer Küche herum und denkt an die wohl behüteten Tabletten in ihrem Nachtschränkchen. Sie gießt sich ein Glas Wasser ein, aber etwas hindert sie daran, ins Schlafzimmer zu gehen, dorthin, wo die erlösenden Tabletten liegen. Das Glas Wasser in ihrer Hand betrachtend, schweifen nun ihre Gedanken ab. Der Mann war ihr fremd geworden. Der Alltag entpuppte sich als ein Nebeneinander. Das Gesagte war lediglich ein Produkt von Banalitäten. Jedem blieben die Gefühle des Anderen verborgen. Die Einsamkeit, die sie spürt, konserviert sich als Kälte in den Wänden und prallt von da knallhart zu ihr zurück. Die Tabletten. Werden sie reichen? Oder lieber noch warten und das Unausweichliche auf später verschieben? Sie bleibt unschlüssig mit dem Glas Wasser in der Hand in der Küche stehen.
Herrn K. fröstelt leicht, aber die Intensität seiner Gedanken lässt ihn dies kaum spüren. Während er das Haus, sein Haus, betrachtet, schweifen seine Erinnerungen in die Ferne. Gestern hatte er noch freundliche Gesellschaft. Jetzt liegt sein Hund neben dieser alten Weide begraben. Der Hund war das einzige Lebewesen in seinem Haus, mit welchem er gerne seine Zeit verbrachte. Herr K. denkt an die vielen gemeinsamen Spaziergänge, die hinaus in die Felder hinter dem Haus führten. Ein kurzes Lächeln der Erinnerung huscht über sein Gesicht.
Als der Hund starb, erfasste Frau K. ebenfalls Trauer über den Verlust des Tieres, aber auch Hoffnung. Hoffnung darauf, dass der Mann an ihrer Seite bemerken würde, dass es neben dem Hund noch ein weiteres Lebewesen im Haus gab. Sie stellt sich vor, wie sie, Mann und Frau, gemeinsam über die Felder hinter dem Haus spazieren gehen. Während diese Vorstellung ihr ein kurzes Lächeln ins Gesicht zaubert, fröstelt sie leicht.
Die Frau wirft einen Blick auf das Glas Wasser in ihrer Hand. Ohne nachzudenken, schaltet sie das Radio ein. Gerade läuft Werbung, für dies und das. Den Inhalt der Worte erfasst sie nicht. Nur ein Satz bleibt haften: „Folge deinem eigenen Stern!“ Der Satz beginnt in ihrem Gehirn zu hämmern. Sie geht Richtung Schlafzimmer und denkt nur noch dies: Folge deinem eigenen Stern.
Herr K. sitzt in seinem Baum - einer Weide. Seine Gedanken töten die Zeit. Eine Decke wäre gut. Aber was ist eine Decke gegen diesen Moment des Glücks. Diesen Augenblick festhalten. Ist das Freiheit? Als er gestern in die Stadt fuhr, sah er auf einem großen Werbeplakat den Slogan eines Autoherstellers. „Folge deinem eigenen Stern!“ Das fällt ihm nun wieder ein. Während er über diesen Satz nachdenkt, breitet er die Arm aus und fliegt. Er folgt seinem eigenen Stern.
Das Radio brüllt seine Botschaften in die Welt hinaus; die Weide wiegt im Takt dazu. Das Gehöft ist menschenleer; nur der Hund liegt in seinem Grab.
Texte: Signe Winter
Bildmaterialien: Signe Winter
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2013
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