Lieber Darion,
heute bin ich ganz früh aufgestanden, noch bevor die Sonne aufgegangen ist. Um so früh wie möglich am Fluss zu sein, wo du mir früher das Schwimmen beigebracht hast. Ich hab meine Füße ins Wasser gleiten lassen und sonnte mich in der Sonne, wie wir es früher immer zusammen gemacht haben. Heute ist es genau sechs Jahre her, wo wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Ich glaube immer noch, dass du am Leben bist. Ich werde die Hoffnung nie aufgeben und werde immer weiter nach dir suchen.
Ich vermisse dich.
Sie löste sich von dem alten Tagebucheintrag und blätterte in ihrem geliebten Tagebuch nach vorne und schaute auf die erste Seite. Auch wenn es schon fast dunkel war und dämmerte, konnte sie seine Worte genau erkennen.
Liebe Sia,
dieses Tagebuch habe ich vor kurzen von einem Händler, der auf Durchreise war für meine kleine Schwester gekauft. Es ist nichts Besonderes, aber ich möchte das du alle Tage die dir etwas bedeuten aufschreibst und nie vergisst.
In Liebe dein Bruder…
Sie hatte es schon oft gelesen, beinahe jeden Tag, den sie ohne ihn verbringen musste. Damit sie nie die Wahrheit vergaß. Wie konnte sie auch, es war der schrecklichste Tag ihres Lebens. Allein der Gedanke an diesen Tag machte sie wieder zu dem kleinen, unschuldigen Mädchen das ihr Bruder einst in ihr sah.
Sie hatte schon sehr lange nicht mehr in ihr Tagebuch geschrieben, denn sie war der Ansicht dass es nichts Besonderes mehr in ihrem Leben gab. Seid sie geflohen war, war sie auf sich alleine gestellt. Mit nur einem Ziel vor Augen: Ihren Bruder zu finden.
Als sie nicht mehr die richtigen Worte fand um zu auf zu schreiben, hörte sie auf, um ihren Schmerz zu unterdrücken, der sie immer quälte, wenn sie an ihren Bruder dachte.
Schnell klappte sie das Tagebuch zu und steckte es in die Tasche, die früher einmal ihrer Mutter gehörte hatte. Mit ihren Fingern strich sie über das raue Wildleder der Tasche. Ihre Mutter hatte sie ihr zu ihrem siebten Geburtstag geschenkt, ein Jahr vor dem Krieg. Mit ihrer Erinnerung lehnte sie sich an die Wand und schloss die Augen. Sie merkte nicht, dass sie in einen Traum glitt.
Bilder tauchten vor ihren Augen auf.
Sie stand auf einer Lichtung und schaute zum Mond hinauf.
Der eiserne Wind wehte durch ihr Haar. Sie genoss die Aussicht von einem kleinen Hügel weit entfernt ihres Dorfes. Da die Nacht schon angebrochen war sah sie die wunderschönen Blüten der Nachtviole aufblühen. Vereinzelnd sah sie auch Füchse und hörte das Rufen von Eulen. Die Bäume, die Wiese, alles war ruhig. Sie liebte diesen Moment der Ruhe. Abgeschirmt von dem Dorf. Abgeschirmt von allem.
Sie liebte es den Sonnenuntergang zu beobachten und zu warten bis sie den Mond sah. Heute war Vollmond, darauf freute sie sich schon den ganzen Tag. Sie schloss die Augen und sog die kühle Nachtluft in sich ein. Sie wünschte es wäre immer so.
Doch auf einmal zerstörte etwas diese Ruhe. Sie blickte zum Himmel hinauf.
Plötzlich färbte sich der Mond Blutrot und leuchtete am Horizont wie ein Feuer im Ozean auf. Es fing an zu regnen.
Sie wusste, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
Erschrocken riss sie den Kopf herum und sah in die Richtung aus der sie kam.Schon von weiten sah sie ein zerstörtes Dorf … ihr Dorf. Mit Tränen in den Augen rannte sie die Lichtung hinunter. Mit ihren kurzen beinen war sie zwar schnell, aber durch den Regen rutschte sie immer wieder aus. Mit verdreckter Kleidung erreichte Sia endlich das Dorf.
Trotz ihrer verschwommenen Sicht, sah sie die Blutgetränkte Erde. Erst jetzt hörte sie die entsetzten Schreie. Überall lagen leblose Körper.
Auf einmal blieb sie stehen. Vor ihr auf dem Boden lag Lenn. Leblos. Der Sohn der besten Freundin ihrer Mutter war tot.
Mitten in seiner Brust steckte ein Dolch. Durch sein Hemd sickerte noch immer Blut. Sia kniete sich neben Lenn hin und schüttelte ihn. Doch dann wurde ihr klar, dass er nicht mehr aufwachen würde. Er war nur ein paar Jahre älter als sie, vielleicht zehn. Früher als er noch nicht mit auf die Jagd genommen wurde haben sie beide miteinander gespielt. Doch als er dann älter wurde verlor er das Interesse an einem acht Jährigen Mädchen.
Wie in Trance raffte sie sich auf, starrte aber immer noch auf den toten Köper unter ihr.
Plötzlich hörte sie eine bekannte und gebrochene Stimme.
„Lauf Sia… Lauf. Lenn ist nicht mehr zu helfen. Sie haben ihn mir genommen! Sie haben mir meinen kleinen Jungen genommen…“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Worte verstand. Sie drehte sich um und rannte zu der Hütte in der sie mit ihrer Familie wohnte.
Wo war ihre Familie? Sie brauchte sie jetzt. Wussten sie schon was mit Lenn passiert war? Sie musste sie finden. Sie wollte, dass ihre Mutter sie in die Arme schloss und sagte es sei nur ein Albtraum gewesen. Dass sie gleich aufstehen müsste, um den Vollmond noch zu sehen.
An der Hütte angekommen, wollte sie gerade die Türe ihres zu Hauses öffnen, als sie von zwei starken Händen nach hinten gezogen wird. Sie zappelte wild herum, doch sie war zu klein, zu schwach.
Sie wurde herum gedreht und starrte erleichtert in die Augen ihres Anführers Kieran. „Sia...“, er schaute weg und schluckte, „Sia, meine kleine, deine Eltern… deine Mum und dein Dad sie… wir konnten ihnen nicht mehr helfen. Es tut mir so schrecklich leid.“
Man sah Kieran an das er sehr traurig war, aber was meine er damit dass sie ihren Eltern nicht mehr helfen konnten? Für ein so junges Mädchen waren diese Worte schwer zu verstehen. Wie auch? Sie hatte ihre Eltern doch erst vor weniger als vier Stunden gesehen.
Endlich wand sie sich aus Kierans Griff.
Sia drehte sich um und wollte ins Haus gehen, doch Kieran hielt sie wieder fest. „Sia. Das solltest du dir nicht ansehen. Behalte deine Eltern so in Erinnerung wie sie war-“
Bevor er zu Ende sprechen konnte, schrie jemand: „Kieran, hilf mir!“ Dadurch wurde Kieran abgelenkt und schaute zur Seite, wo Lenns Mutter gerade auf ihre Knie sank.
Sia ergriff die Chance und drehte sich um und öffnete ganz langsam die Tür. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf in den Raum.
Da lag etwas auf dem Boden. Langsam ging sie darauf zu. Als sie näher kam, sah sie ihren Vater. Er lag auf den Rücken. Seine Augen starrten offen in den hinteren Teil des Hauses. Sein Mund war offen.
Schnell lief Sia ihn zu und kniete sich neben ihn. Sie rüttelte ihn.
„ Daddy! Daddy! Was ist denn? Warum guckst du so? Es ist etwas Schreckliches passiert. Wo ist Mummy? Daddy? Daddy?“
Plötzlich spürte sie etwas nassen an ihrer Hand die sie auf dem Boden abgestützt hatte. Sie verlagerte ihr Gewicht und sah ihre Finger an. Sie schimmerten rot. Sie sah zwischen ihrem Vater und ihren Fingern hin und her, als ihr Gehirn das alles endlich verstand.
„ Nein Daddy, Nein. Wach auf. Bitte wach doch auf. Daddy bitte. Bitte.“
Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Plötzlich hörte sie ein schwaches stöhnen.
Sie blickte in die Richtung wo ihr Vater auch hingesehen hatte als er starb.
Dort lag noch etwas, oder jemand. Sie starrte nur dieses Etwas an, wollte nicht noch mehr schrecken sehen. Nicht noch jemanden verlieren den sie liebte.
„Sia, meine Kleine…“
Sie erkannte die Stimme ihrer Mutter. Blitzschnell stand sie auf und rannte zu ihr.
„ Mummy? Mummy. Was ist passiert. Ich war auf dem Hügel und als ich wieder kam… da… Mummy Daddy ist…“
Sie konnte es nicht aussprechen.
Sie lies sich neben ihrer Mutter fallen. Sie lag neben dem Bett ihrer Eltern. Erst vor ein paar Tagen war Sia noch in dieses Bett gekrabbelt, weil sie böse geträumt hatte. Ihre Eltern hatten sie dann in die Arme genommen und ihr gesagt, dass es nur ein Traum war. Doch jetzt, hier in diesem Moment erkannte sie das es jetzt gar kein Traum war. Und wenn war es ein brutaler Albtraum.
„ Sia, ich liebe dich, genau wie es dein Vater tat. Du musst dich verstecken oder gleich fliehen. Finde deinen Bruder und…“ Ihre Stimme versagte.
„ Bald bin ich nicht mehr da. Dann bin ich bei Daddy. Und… wir schauen euch von dort aus zu wie ihr… lebt. Finde deinen Bruder meine kleine… Ich liebe euch so… es tut mir so leid…“
„ Mummy… ich lieb dich auch und ich werde Dare schon finden und dann bring ich ihn hier her und… Mummy? Mummy? Was ist?“
Mühsam sah Sia zu wie ihre Mummy noch einmal mit letzter Kraft die Augen öffnete und eine einzelne Träne dem verdreckten Gesicht ihrer Mutter hinunter lief. Dann schloss die die Augen.
„Nein… Nein…“ flüsterte Sia.
Sie brach zusammen. Erkannte dass sie nun auch ihre Mutter verloren hatte. Nun hatte sie nur noch ihren Bruder, aber wo war Darion?
Sie stand auf, kramte in ihrer Tasche, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte nach einem Tuch und wischte sich damit durchs Gesicht.
Sie musste ihn finden.
Ein letztes Mal blickte sie sich um als sie zur Tür ging.
Sie sah ihre Eltern. Tot. Ermordet. Ihre leblosen Körper lehnten an der Hüttenwand. Erneute Tränen schossen ihr in die Augen und hinderten sie daran ihre Familie anzustarren. Sia hielt es nicht mehr aus und rannte weg, wie die Stimme von Kieran es ihr vorhin geraten hatte. Sie stolperte oft über Körper oder zusammengefallende Häuser, doch sie rappelte sich jedes Mal wieder auf und lief in den Wald, wo sie nicht mehr die Trümmerhaufen ihres Dorfes sehen musste. Da sah sie eine Gestalt in den Wald rennen. Sie war zu weit weg, um zu erkennen wer es war. Doch sie hoffte nur auf eine einzige Person...
Am nächsten Morgen wachte sie noch immer an der Wand lehnend auf.
Wir würden uns total über Komentare, Kritiken und Meinungen freuen, da dies unser erstes Buch ist. Dankeschön im vorraus. ;-)
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Tag der Veröffentlichung: 19.06.2014
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