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Herbst

»Geh, rede mit ihm und kläre das, was zwischen euch steht.« Die mir so vertraute Stimme Andreas‘ hatte einen besonders warmen Klang angenommen. »Viel Zeit hast du nicht mehr, Reiner. Ich möchte, dass deine Albträume aufhören.«

Seine Hand ruhte auf meiner Schulter. Er wollte mich beruhigen. Trotz allem fühlte ich mich unsicher und verstört wie ein Schuljunge. Es war nichts als die blanke Angst vor meinen Vater zu treten und ihn anzusprechen. Eigentlich sollte ich über diese Empfindungen längst hinausgewachsen sein, aber für die Konfrontation gab es dafür kein passendes Alter und keinen richtigen Moment.

Nervös zuckte mein Lid.

Fünfzehn Jahre war es her – so lang und doch nicht lang genug. Ich schüttelte den Gedanken ab und schob den Autoschlüssel in meine Manteltasche. Feuchtigkeit blieb auf dem Plastik zurück. Meine Hände schwitzten. Der Besuch bei meinem Vater raubte mir jede Sicherheit. Das was ich vorhatte fühlte sich falsch an. Aber Andreas hatte recht, ich konnte es nicht länger aufschieben. Das Leben des alten Mannes neigte sich seinem Ende zu.

Der Kies knirschte unter meinen Schuhen, als ich einen Schritt nach vorn machte. Hinter mir hörte ich Andreas. Sein Mantel raschelte. Ich sah mich um. Er lehnte an der Beifahrertür meines Wagens, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt. Dennoch beobachtete er mich. Ich spürte seinen Blick fast körperlich. Vor den Lippen stieg sein Atem in weißen Wölkchen auf und verlor sich. Das Bild wirkte für mich geliebt und vertraut, trotz allem hoffnungslos. Ich sah an ihm vorbei zu der von Efeu überwucherten Mauer des Anwesens. Dank des kalten, bedeckten Tages verlor meine Umwelt alle Farben. Möglicherweise lag es nur an meiner Stimmung, aber dieser Ort kam mir abweisend und menschenfremd menschenfern vor. Andreas schob sich in mein Sichtfeld, als er sich vom Wagen abstieß. Es war seine stille, feste Art mir zu sagen, dass ich den Halt nicht verlieren sollte. Sachte nahm er meine Hand und lächelte. Mit seinen warmen, trockenen Fingern streichelte er über meine Haut. »Es ihm nicht zu sagen, wäre feige, Reiner. Es würde nicht zu dir passen. Du hast dich bisher allem gestellt.«

Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war seinen und meinen Anforderungen zu genügen.

Ein Ziehen in meinem Nacken jagte mir einen Schauder über den Rücken. Jemand beobachtete uns.

Viel zu schnell wandte ich mich der Villa zu. Mein Blick glitt an der heruntergekommenen Fassade hinauf, streifte die blinden Fenster, hinter denen ich den lauernden Schemen einer Person erwartete. Meine Erwartungen wurden enttäuscht. Ich sah nichts. Allerdings fühlte ich mich keineswegs beruhigt. Aus dem Schaudern erwuchs Kälte. Die Villa und der verrottende Garten fühlten sich wie ein Geisterhaus an. Der verwitterte, graue Putz und die abgestorbenen Rankpflanzen, die wie ein ausgetrocknetes Adergeflecht über den Mauern und Säulen lagen, verliehen dem Gebäude den Eindruck eines Leichnams. Kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges schien die Zeit an diesem Fleck im Nirgendwo eingefroren zu sein. Lebensfern und lebensfremd.

Mit trockenem Mund versuchte ich zu schlucken, aber meine Zunge klebte am Gaumen. Ich bekam kaum Luft. Großer Gott, was machte dieser Ort und sein Bewohner mit mir? Ich wollte wieder meine eigene innere Ruhe zurück. Den Mann, der ich jetzt war, kannte ich nicht und verachtete ihn. Ich senkte die Lider und atmete tief die kalte, schneeschwere Luft ein. Beruhige dich!

Tatsächlich hörte das innere Beben auf und zog sich mit dem Echo des schlechten Gefühls in einen verborgenen Winkel meiner Emotionen zurück. Ich schlug die Augen auf. Mir ging es etwas besser. Zeit sich auf das einzulassen, was mich erwartete. Sachte löste ich meine Hand aus Andreas‘, strich mir das Haar aus der Stirn und griff in die Innentasche meines Mantels. Ich war unleugbar nervös. Mechanisch, ohne darüber nachzudenken, zog ich mein abgegriffenes Zigarettenetui heraus, nahm mir eine und klemmte sie in den Mundwinkel. Andreas schüttelte leicht den Kopf. Er hatte recht, ich konnte meine Ängste nicht in Rauch aufgehen lassen. Unsicher trat ich auf den im Schatten der Balkon-Terrasse liegenden Eingang zu, während ich die Zigarette fortwarf und das Etui wieder einsteckte. Mit jedem Schritt, den ich der verwitterten Tür näher kam, schnürte sich meine Kehle zusammen. Die Unruhe kehrte zurück.

Mein Vater, der Soldat, der Mann ohne Gnade. Konnte ein Neunzigjähriger noch immer solch einen Schrecken verbreiten?

Andreas schloss zu mir auf. Er kannte die menschlichen untiefen dieses Mannes nicht, wusste nicht, was ihn erwartete. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Wahrscheinlich hatte er nicht erwartet, mich in solch jämmerlichem Zustand zu sehen. Was dachte er von mir? Sicher …

Die Eingangstür schwang auf. Das Geräusch der Angeln reichte an ein hohes Kreischen heran, das mir in die Knochen kroch. Ein Mann stand jenseits der Lichtgrenze. Der Anblick fuhr mir unter die Haut. Um meine Brust schien sich ein Stahlring zu spannen, der sich beständig zusammenzog. Ich blieb stehen und starrte in die Schatten des Flures. Angst lähmte mich. Weißglühender Schmerz sengte durch meine Eingeweide. Atemlos tastete ich über meine Seite. Der Eindruck verschwanden so rasch wie er gekommen waren. Hinter meinen Schläfen zogen sich die Gefäße spürbar zusammen. Wahrscheinlich hatte ich alle Farbe verloren. Ein hoher, heller Schmerz erwachte und bohrte sich in mein Gehirn. Ich kniff die Augen zu Schlitzen und versuchte meine Empfindungen und Erinnerungen, die ineinander flossen, zu verdrängen. Ich sank kurz in die Knie. Mir kam es vor, als habe mir jemand die unsichtbaren Fäden, die meine Bewegungen leiteten, durchgeschnitten. Andreas wollte vermutlich rein instinktiv zugreifen, aber ich hob die Hand, wehrte seine Hilfe ab. Keine Schwäche zeigen … Mühsam straffte ich mich, atmete tief ein und füllte meine Lungen mit Luft.

Sorge lag in Andreas Zügen. Langsam schien er an seiner eigenen Zuversicht zu zweifeln. »Sollen wir lieber wieder fahren?«

Am liebsten hätte ich ja gesagt.

Kies knirschte. Ich sah an Andreas vorbei. Viel konnte ich nicht erkennen, nur seine ungewöhnliche Größe und Masse fielen mir auf. Andreas trat zur Seite, sodass ich besser sehen konnte. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, war nach draußen getreten. Mit einiger Überraschung stellte ich fest, dass er dunkle Haut und weiche, gutmütige Gesichtszüge besaß. Sein bereits ergrautes Haar verlieh ihm etwas Stolzes, Elegantes, obwohl er Turnschuhe, Jeans und Sweatshirt trug. Er blinzelte ins Licht und schirmte mit einer Hand die Augen ab, ließ sie dann aber sinken. Er kam auf uns zu. Vor Andreas blieb er stehen. Er musterte uns kurz. In seinem Blick lag angenehme, unaufdringliche Freundlichkeit. Andreas und ich reichten ihm gerade bis zur Schulter. Ich kam mir vor wie Paul Edgecombe, der in dem Roman „The Green Mile“ zum ersten Mal John Coffey begegnete, mit dem Unterschied, dass dieser Mann türkischer oder arabischer Abstammung sein mochte. Seine großen, warmen Augen verengten sich kurz. Er streckte uns seine riesige Hand entgegen. Eine freundliche Geste, schließlich kannte er uns nicht. Ich hatte Andreas und mich nicht angekündigt.

»Guten Tag. Mein Name ist Arif Reza. Ich bin der Pfleger von Herrn von Schwindt.«

Ich ergriff sie. »Reiner von Schwindt.« Mit einer knappen Handbewegung wies ich auf Andreas, der Reza freundlich anlächelte.

»Das ist Andreas Bornhöfer, mein …«, ich unterbrach mich, denn ich wusste nicht, wie Reza reagieren würde. Normalerweise verheimlichte ich meine Neigung nicht, trug sie aber auch nicht öffentlich vor mir her. Dieser Mann war uns fremd. Wir konnten ihn beide nicht einschätzen. Vielleicht teilte er die Homophobie meines Vaters.

Reza betrachtete uns beide eingehend. Sein Blick blieb an unseren Händen hängen. Er hob eine Braue. Vermutlich waren ihm unsere Ringe aufgefallen. Ob es ihn in seinen religiösen Ansichten störte? Ein kurzes, erkennendes oder auch anerkennendes Lächeln huschte über seine Lippen, einen Moment später wurde er wieder ernst.

»Herr von Schwindt, stellen Sie besser keine allzu hohen Erwartungen an die Offenheit Ihres Vaters.« Reza klang sehr ernst. Er presste kurz die Lippen aufeinander und deutete ein vages Kopfschütteln an, während er die Hände in die Hüften stützte. »Ich weiß wenig über die Geschehnisse in der ferneren Vergangenheit, aber ihr Vater hat sich in den letzten Jahren nicht nennenswert geändert.«

Ich seufzte schwer. »Herr Reza, bringen Sie uns bitte zu ihm?«

 

Dunkel und schwer drückte die Atmosphäre in der alten, walnussholzvertäfelten Halle herab. Es schien sich nicht viel verändert zu haben, trotz allem erwachte das Gefühl von Befremdung. Ich erkannte die Geweihe und Jagdbüchsen an den Wänden wieder. Spinnweben und Staub hatten sich als feines Gespinst niedergelegt. Die breite, wuchtige Treppe und die niedrigen Türbögen riefen Erinnerungen an meine Kindheit wach, die Angst vor den Momenten, wenn mein Vater nicht in der Kaserne war, sondern hier. Die abscheuliche Präsenz seiner Gegenwart ließ mich heute wie damals schaudern.

Das war einst mein Zuhause gewesen. Der Gedanke fühlte sich so abstrakt an, dass ich ihn nicht zu fassen bekam. Mühsam kämpfte ich gegen die Klammer, die sich um meine Brust gelegt hatte, um mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Der Atemzug sog vermutlich all den Staub ein, denn in meiner Kehle kribbelte es, sodass ich zu husten begann. Leider nahm der Reiz nur zu, bis ich helle Blitze vor Augen sah. Andreas reichte mir seine Schmuckdose mit den Pfefferminzpastillen, nahm mich fest in den Arm und drückte mich an sich. Verkrampft schüttelte ich den Kopf, bemüht nicht die Enttäuschung in seinen Zügen zu sehen.

Reza wies auf den Salon und bot mir ein Glas Wasser an.

Im Hinausgehen nahm er unsere Mäntel und Hüte mit zur Garderobe in der Halle. Kurz danach beruhigte sich mein Hals wieder.

»Geht es wieder?«, fragte Andreas leise.

Trocken schluckte ich, versuchte zu antworten, beließ es aber bei einem Kopfnicken. Er wie auch ich wussten, dass der Anfall gleich wieder beginnen würde, wenn ich zu sprechen versuchte. Andreas war neben mir stehen geblieben, eine Hand auf meiner Schulter. Sachte streichelte er mich. Das sanfte, weiche, Gefühl drang durch den Stoff. Es fühlte sich so gut an. Wären wir zu Hause gewesen, in unserem weitläufigen, hellen Haus, hätte ich mich in seinem Arm entspannen können. Aber hier war es mir unmöglich. Trotz allem spürte ich seiner Zärtlichkeit eine Weile nach. Sie rief mir ins Bewusstsein, dass er meine Gegenwart und Zukunft war, nicht ein tyrannischer Greis.

Ich wandte mich zu ihm um. Obwohl er mich streichelte, galt seine Aufmerksamkeit dem Zimmer. Er wirkte ernst, erschüttert, so, als habe er diesen Raum zum ersten Mal in all seiner martialischen Pracht wahrgenommen, dabei wusste ich, dass er schon einmal hier gewesen war; vor fünfzehn Jahren.

Ich folgte seinem Blick. Er betrachtete die prominent ausgestellten, angelaufenen Rüstungen, Schwerter, Schilde und Hellebarden. Diese Erinnerungen waren meinem Vater und seiner Sammelleidenschaft zu schulden. Sie waren kein Teil unserer Familiengeschichte, worüber ich zeitlebens dankbar gewesen war. Die Historie der von Schwindts reichte zwar weit in das preußische Militär zurück, aber nicht bis ins ausgehende Mittelalter.

Andreas wies auf eine ziselierte Prunkrüstung und hob fragend die Brauen. Für sein Antiksammlerherz musste der schlechte Zustand eine Qual sein.

»Warum werden all diese musealen Schätze so wenig gepflegt?«

Ich hob die Schultern. »Vergiss nicht, dass das Haus Jahre lang leer gestanden hat.«

Schwach nickte Andreas. »Ich weiß, ja …« Seine klaren, kühnen Züge hatten sich verhärtet. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. In seinen Augen lag die immer wieder aufkeimende, kalte Wut auf meinen Vater. Mühsam atmete er durch. Nach einer Weile entspannte er sich wieder. Er machte eine Handbewegung, die all die Exponate einschloss. »Es ist eine stolze Sammlung.« Er unterbrach sich, verengte die Augen, bevor er fragte: »Ist er das? Ich habe ihn nur einmal sehr kurz gesehen.«

Mit einer knappen Kopfbewegung wies er auf die Galerie dunkler Portraits in wuchtigen Rahmen, die die verschiedenen von Schwindts abbildeten. Alle Männer auf diesen Bildern trugen Uniformen und sahen kalt und stolz auf uns herab. Ich musste die Bilder nicht betrachten. Wie schon als Kind fühlte ich den Blick ihrer entsetzlich lebendigen Augen. Sie verachteten alles, was nicht dem Militär angehörte – so auch mein Vater. Sein Bildnis hing über dem Kamin, eingerahmt von zwei Zwölfender-Geweihen, die er vor sechzig oder mehr Jahren geschossen hatte. Ich wollte nicht hinschauen. Sein Antlitz war mir besser bekannt als jedes andere. Darauf war er jung gewesen. Die ersten Jahre des Krieges hatten ihn bereits mit inneren und äußeren Narben gezeichnet. Sein dunkles Haar war ausrasiert und glänzte. Wahrscheinlich hatte er damals schon Brillantine benutzt, deren Geruch mich durch meine Kindheit verfolgt hatte. Er entsprach mit seinem Aussehen nur bedingt dem »Herrenmenschenbild«, dem er nachgeeifert war. Dennoch entsprach er mit seinem gefühllosen Blick und den markanten Zügen dem Urbild des SS-Leutnants. Er war immer eine furchteinflößende Erscheinung gewesen. Ein gewalttätiger Mann, der – wie immer es ihm gelungen war, um die Verurteilung im Sinne der Nazi-Verbrecher-Prozesse herumzukommen - weiterhin seinen Weg gegangen war.

»Ja, das ist mein Vater.«

Andreas‘ Brauen zuckten hoch. »Sicher hörst du es nicht gern, aber ihr ähnelt euch, davon abgesehen, dass du gelernt hast zu lieben und zu leben.«

»Ich höre es wirklich nicht gern«, entgegnete ich. Nun betrachtete ich das Bild doch. Mein Vater starrte auf uns herab. Er wirkte überheblich, entschlossen, zielstrebig … ich kniff die Augen zusammen und trat näher. Der Züge um seine Mundwinkeln waren bitter, nicht boshaft und seine Augen ernst, nicht kalt. Der Maler hatte etwas eingefangen, was ich an dem lebenden Mann nie wirklich bemerkt hatte. Hatte der Krieg bei ihm doch etwas ausgelöst? Wie hatte er diese Jahre erlebt? Vielleicht interpretierte ich zu stark, oder der Maler hatte ihm geschmeichelt, aber es wirkte echt, real.

Hinter mir hörte ich Schritte auf den knarrenden Dielen.

»Warten Sie, Herr Reza, ich helfe Ihnen«, sagte Andreas und löste sich von mir. Ich wandte mich um.

Er ging dem Pfleger entgegen.

»Vielen Dank, Herr Bornhöfer.« Reza lächelte angestrengt. Er balancierte eine silberne Servierplatte, auf der eine Porzellan-Kanne mit passenden, zierlichen Tässchen, Wassergläsern und eine gefüllte Karaffe standen. Andreas nahm ihm das Tablett ab und wartete, bis Reza den niedrigen Sofatisch von Papieren frei gemacht hatte. Unterlagen die mir in meiner Abscheu vor dem Ort vollkommen entgangen waren. Er legte die Schriftstücke auf einem Beistelltisch vor dem Kamin ab. Mit einem kurzen Blick auf den Briefkopf wusste ich, dass es sich um Entlassungspapiere der Gefängnis-Klinik Berlin, Teilvollzugsabteilung I handelte. Meine berufliche Neugier war geweckt. Während Reza einschenkte, blätterte ich kurz durch die ersten Seiten, ohne sie anzuheben. Das Papier raschelte leise. Ich hielt den Atem an. Ein Blick zu dem Pfleger sagte mir, dass er mir keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Andreas hatte ihn in ein Gespräch verwickelt. Meine Chance in die Unterlagen zu sehen. Sofort fielen mir die Begriffe Entlassung aus der Sicherheitsverwahrung, Leberkarzinom und Endstadium ins Auge. Ein eigenartig dumpfer Druck entstand in meinen Schläfen und legte sich auf mein Bewusstsein.

Mein Vater lag im Sterben. Dessen war ich mir bewusst gewesen. Dass es etwas anderes sein konnte als sein hohes Alter, wäre mir aber nie in den Sinn gekommen. Eigenartig …

Ich straffte mich und trat zu Andreas und Reza. Der Pfleger reichte mir eine Tasse Tee. »Hat sich Ihr Hals wieder beruhigt?«, fragte er.

»Ja. Der Staub hier reizt.«

Mit einem schwachen Lächeln sah Reza sich um. »Hier ist seit Jahren nichts gereinigt worden und ich kümmere mich nur um das Nötigste.« Seine Lippen klafften auf. Es wirkte, als wolle er noch etwas sagen. In seiner Miene lag Abscheu. Er spürte das Menschenfeindliche in den Räumen auch. »Sagen Sie ruhig, was Ihnen durch den Kopf geht«, forderte ich Reza auf. Andreas hob tadelnd eine Braue, schwieg aber.

Der Pfleger neigte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. »Es steht mir nicht zu etwas zu sagen. Ihr Vater bezahlt mich schließlich.«

»Es ist eine muffige Gruft mit antiquierten Grabbeigaben, die die glorifizierte Militärgeschichte der von Schwindts propagieren soll.« Meine Stimme klang selbst für mich klirrend kalt und herablassend. Meine Angst hatte sich in Ärger verwandelt.

Reza blinzelte, wiegte kurz den Kopf, nickte aber. »Ich fühle mich hier nicht wohl«, entgegnete er offen. »Ich weiß, dass ich für einen Mann arbeite, der mich vor siebzig Jahren wegen meiner Hautfarbe und meines Glaubens in die Gaskammern geschickt hätte.«

»Das ist zutiefst erniedrigend«, sagte Andreas. Er atmete schwer, als schnüre ihm dieses Haus mit seiner bedrückenden Atmosphäre die Luft ab. Sachte berührte ich seinen Arm. Mit einem lieben Lächeln dankte er mir.

»Warum tun Sie sich das an, Herr Reza?«, fragte ich. »Ich kenne Sie als Person nicht, aber wie Sie uns gegenüber aufgetreten sind, schätze ich Sie als sensiblen und zurückhaltenden Mann ein, die Sorte Mensch die mein Vater mit Vorliebe attackiert.«

Rezas Lippen zuckten. Er sah an uns vorbei. Sein Blick haftete an dem Portrait meines Vaters.

»Ich bin Assistenzarzt in der Onkologie des Strafvollzugs Berlin. Niemand hat sich bereit erklärt die Pflege von Herrn von Schwindt zu übernehmen und ich kenne seine ganze Krankengeschichte, weil ich ihn bereits im Vollzug betreut habe.«

»Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Situation in solch einem Haus zu arbeiten, schwer zusetzt«, sagte Andreas. »Das zeugt von Größe.«

Über Rezas Lippen huschte ein Lächeln. Ich fing seinen Blick kurz auf, bevor er sich an Andreas wandte. Er stemmte seine Hände in die Hüften. »Glauben Sie mir, im Strafvollzug habe ich es mit allen Arten von Menschen zu tun. Herr von Schwindt hebt sich nur durch seine verknöcherte Haltung ab, die nicht im Verhältnis zu seiner Intelligenz steht.«

Reza hatte ausgesprochen, was mir seit meiner Kindheit bewusst gewesen war. Mein Vater war intelligent, gebildet, eloquent, beeindruckend, aber seine soziale und politische Haltung entsprach der eines ungebildeten Vollidioten. Ich nickte. »Sie haben leider recht.«

Reza legte den Kopf schief. Er zögerte kurz. »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen, Herr von Schwindt?«

Ich nickte.

»Ich weiß, weshalb Ihr Vater verurteilt wurde. Er hat sie vor fünfzehn Jahren versucht zu töten. Warum bemühen Sie sich um seine Aufmerksamkeit? Er bringt Ihnen «, er sah zu Andreas, »und Herrn Bornhöfer nichts als negative Gefühle entgegen. Sie können ihn unmöglich noch von sich überzeugen.«

Mir stellten sich die Härchen auf meinen Unterarmen auf. Das Kribbeln durchlief mich und zog sich wie eine Schraubzwinge um meine Brust zusammen. Der Gedanke daran verursachte mir noch immer Schmerzen und begleitete mich bis in meine Träume.

»Ich will ihn nicht überzeugen «, sagte ich. »Es geht mir darum zu erfahren, was er sich damals dabei gedacht hatte. Ihm musste bewusst gewesen sein, dass er dafür ins Gefängnis kommt. Trotzdem hat er es getan. « Ich zögerte, versuchte mir den Tag in Erinnerung zu rufen. Wir hatten uns gestritten. Er hielt mir immer vor, dass ich homosexuell war und als Beamter im gehobenen Polizeidienst eine Verantwortung trug. Es hatte keinen Auslöser gegeben, nichts, was den versuchten Mord gerechtfertigt hätte. An diesem Tag hätte ich mit allem gerechnet, nur nicht, dass mein Vater seine lang aufrechterhaltene Fassung so gründlich verlieren könnte. Meine Mutter hatte in einer Ecke gesessen und das Gespräch ohne jede Gefühlsregung verfolgt. Auch das war nichts Ungewöhnliches gewesen, schließlich überließ sie immer meinem Vater die Diskussionen mit mir. Er hatte mich an diesem Tag so weit gebracht, dass ich überlegte den Kontakt endgültig abzubrechen. Aber davon war kein Wort über meine Lippen gekommen.

Reza beobachtete mich schweigend, bevor er zu Andreas sah. »Warum jetzt?«, fragte er. »Weil er nicht mehr lang zu leben hat?«

»Auch«, entgegnete Andreas für mich. »Ich will, dass Reiner und ich endlich in Frieden leben können, ohne die unausgesprochene Last, die Herr von Schwindt für meinen Mann ist.«

»Sie beide hatten fünfzehn Jahre Zeit …« Reza verkniff sich scheinbar die erneute Frage nach dem Warum.

»Ich war Polizeibeamter«, sagte ich. »Jeder Kontakt mit meinem Vater hat mich an meiner Menschenkenntnis und Arbeitsweise zweifeln lassen. Es war oft fatal nur an ihn zu denken. Sowohl die Geschehnisse von damals als auch meine persönlichen Ängste blockierten mich und machten es mir unmöglich mich auf das Wesentliche im Dienst zu konzentrieren.«

»Jetzt sind wir beide pensioniert«, sagte Andreas ernst. Die Phasen in denen es Reiner schlecht geht, nehmen seitdem zu. Er denkt zu viel darüber nach. Ich kann ihn ablenken, aber nichts an diesem Zustand ändern.«

Reza schluckte. »Ich kann Sie beide verstehen. Das muss geklärt werden.«

Er atmete aus und griff nach seinem Tee. »Leicht wird es Herr von Schwindt Ihnen nicht machen.«

Ich verstand worauf Reza hinaus wollte, schließlich kannte ich meinen Vater. Was sollte ich darauf entgegnen? Es war eine Tatsache, vielleicht scheiterte ich an dem alten Mann, ich wusste es nicht.

Still nippte ich an meinem Tee. Es war türkischer Schwarztee, kräftig und heiß. Er schmeckte überraschend gut. In kleinen Schlucken leerte ich die Tasse und stellte sie auf dem Tablett ab.

»In welchem Zustand befindet sich mein Vater?« Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf die Papiere vor dem Kamin.

»Die Schmerzen, die der Krebs mit sich bringt, zermürben ihn, zugleich halten sie seinen Verstand wach.« Zögernd fügte Reza hinzu: »Es ist entsetzlich zu sehen, wie klar er seinen Kopf gebrauchen kann. Ihr Vater ist vollständig bei sich, denkt und handelt logisch. Aber er hat viel Gewicht verloren und ist in den vergangen Jahren in sich zusammengegangen. Sein körperlicher Zustand ist erbärmlich.« Hilflos hob Reza die Arme. Sein gequälter Gesichtsausdruck verdeutlichte den Eindruck, dass er unter anderen Umständen – bei einer anderen Person sicher mehr Mitleid empfunden hätte.

»Andreas, willst du lieber hier bleiben?«, fragte ich.

Er verzog seine schmalen Lippen zu einem humorlosen Lächeln. »Nein. Auch wenn ich mich zurückhalten muss ihn nicht verbal anzugreifen, möchte ich für dich und mich dabei sein.«

 

Reza führte uns nach oben. Der muffige Geruch nach Medikamenten, Staub und Alter, der bereits schwach in der unteren Etage wahrnehmbar gewesen war, verdichtete sich. Das Aroma war abstoßend. Andererseits wurden wir beide langsam alt. Es konnte nicht mehr lang dauern, bis die Tapeten und Stoffe zu Hause ebenfalls den Atem des Dahinsiechens verströmen würden.

Andreas blieb auf den Stufen mehrfach kurz stehen und sah sich misstrauisch um, schloss aber rasch wieder auf. Im Flur der ersten Etage ging er neben mir. Seine Aufmerksamkeit galt der Vielzahl von Waffen und ausgestopften Tieren. Als er den präparierten Wildeber sah, der noch immer von der wuchtigen Pendeluhr meines Großvaters verdeckt wurde, zog er die Brauen zusammen. »Dein Vater liebte es zu töten.«

»Ja, leider.«

Ich konnte ihm ansehen, wie sehr dieses Haus seinen ethischen und moralischen Vorstellungen widersprach. Er als ehemaliger Polizei-Arzt liebte das Leben in all seinen Ausprägungen.

Die Villa verströmte abweisende Kälte. Sie war ein Mausoleum lebloser Erinnerungen, die uns aus gemalten und gläsernen Augen anstarrten.

Andreas befeuchtete sich die Lippen. Sein Blick flackerte. »Diese Atmosphäre ist bedrückend. So habe ich es nicht in Erinnerung gehabt.«

Spöttisch musterte ich ihn, kam aber zu keiner Antwort. Reza, der vor uns ging, blieb am Ende der Galerie stehen und wandte sich dem Schlafzimmer meiner Eltern zu. Es lag gegenüber dem Bad. Einerseits praktisch für meinen Vater, andererseits bezweifelte ich, dass er sich noch frei bewegen konnte. Durch Rezas Bemerkung, dass der alte Mann geistig bei sich sei, aber körperlich verfiel, wappnete ich mich auf einen unschönen Anblick, der dem Angstbild, das mein Vater zeitlebens auf mich ausgeübt hatte, erhebliche Risse versetzten konnte.

Innerlich hielt ich die Luft an, als der Pfleger die Klinke herabdrückte und graues Licht über den dünn gewordenen, sandfarbenen Sisal-Teppich kroch. Der Gestank nach Krankheit verschlug mir fast den Atem. Andreas hingegen zuckte mit keiner Wimper. Ihm war der Geruch vertraut. Stoisch stand er neben mir. Seine Finger berührten meine. Er ergriff meine Hand und drückte sie. Zärtlich strich er mit dem Daumen über meine Haut. Dieses Gefühl löste liebevolle Wärme in mir aus. Die reine Geste tat gut. Ich sah ihn an. Er lächelte zuversichtlich.

Reza betrat vor uns den Raum. Für einen Moment versperrte er mir die Sicht, doch als er zur Seite ging, bot sich uns beiden ein eigenartiges Bild. Ganz gegen jede Erwartung lag mein Vater nicht im Bett sondern saß in einem bequemen Sessel, der auf die Bedürfnisse eines körperlich angegriffenen Menschen ausgerichtet war. Trotz der furchtbaren Ausgezehrtheit, die Zeugnis des nicht zu leugnenden Krebsleidens war, umgab ihn eine stolze, überhebliche Aura. Er hielt sich gerade, die Arme auf die Lehnen gestützt. Sein Blick traf mich wie eine Kugel. Meine Eingeweide zogen sich krampfhaft zusammen. Instinktiv tastete ich über die Narbe an meinem Rücken, um den Schmerz, der nichts als eine Erinnerung sein konnte, zu verdrängen. Er verengte die Augen, als wisse er, was ich empfand.

Was ging in seinem Kopf vor? Trocken schluckte ich. Wahrscheinlich bemerkte er das Springen meines Adamsapfels über dem Hemdkragen. Seine dünnen Lippen waren ein blutleerer Strich. Ich bemerkte, wie sich seine wächsern fahle Haut über den Knochen spannte und sich die Kraterlandschaft aus Hautlappen und Falten verzog. Seine schütteren, vergilbten Brauen zuckten. Obwohl er wahrhaftig alt zu sein schien, hatte er sich kaum verändert. Das stolze Bild des Soldaten umgab ihn noch immer. Er vegetierte nicht. Mir kam es eher vor, als habe er uns erwartet und gewähre uns Audienz. Aus irgendeinem Grund fiel jede Angst von mir ab. Der erwachsene Mann verdrängte den kleinen Jungen, zu dem mich meine persönlichen Dämonen degradiert hatten, als wir vor der Villa ausgestiegen waren. Ich fasste Andreas‘ Hand fester, hielt sie, deutlich und fest genug, damit mein Vater sehen konnte, dass dieser Mann der essentielle Teil meines Lebens war.

Hätte er ausspucken können, ohne sich vor Reza zu erniedrigen, er hätte es wahrscheinlich getan. In seinem Blick lag Verachtung. Aber dieses Gefühl, sein Urteil berührte mich nicht – wenigstens für den Moment.

Ich liebte Andreas und er erwiderte diese Vielzahl kleiner und tiefer Gefühle, die sich hinter dem Wort verbargen mit wahrhaftiger Inbrunst. Diese Gewissheit war mein Schutz und mein Makel.

»Willst du mich demütigen?«, fragte mein Vater. Trotz der mir bekannten Worte erschien mir seine Stimme fremd. Sie hatte sich vermutlich durch Krankheit und Alter verändert, klang zu hoch und zu angestrengt. Die übliche Schärfe fehlte.

»Willst du mich ändern?«, fragte ich, wobei ich versuchte spöttisch zu klingen. Lächerlich … Er nahm es hin, schwieg und hob eine Braue.

»Wäre eine Begrüßung nach fünfzehn Jahren nicht angebracht – Vater?« Obwohl ich an ihn als meinen Vater dachte, kam mir diese Bezeichnung schwer über die Lippen. Es tat fast körperlich weh – natürlich ausgehend von der Narbe an meinem Rücken. Das Abwägen des für und wider mit ihm verwandt zu sein, hatte ich in den ersten Jahren nach seiner Tat schon hinter mich gebracht. Ich konnte mich nicht von der Verantwortung ein von Schwindt zu sein lossagen. Ich war unleugbar sein Sohn, nicht nur äußerlich.

Sachte schob ich mich an Reza, dem anzusehen war wie unwohl er sich fühlte, vorbei, tiefer in den Raum. Andreas folgte mir. Am Fußende des Ehebettes blieb ich stehen. Drei Schritte von meinem Vater entfernt zu sein, genügte. Andreas hingegen löste seine Hand aus der meinen und trat auf den alten Mann zu.

»Das ist Andreas Bornhöfer, Vater. Er ist mein Mann.«

Wenn ich ihn schockiert haben sollte, so zeigte er es nicht. Sein Blick strich an Andreas abwärts. Er betrachtete sich meinen Geliebten, Freund und Mann sehr eingehend. Erkannte er in ihm meinen Kollegen und Arzt? Diese lange Musterung machte mich nervös, insbesondere weil mein Vater schwieg. Kein herablassendes Wort, kein Angriff? Hatten ihm das Gefängnis oder die Krankheit den Giftstachel gezogen? Kurz wandte ich mich Reza zu, der hiergeblieben war, sich aber trivialen Arbeiten zugewandt hatte. Er richtete das Bettzeug und beachtete uns nicht – vordergründig. Auch er schien zu lauern. Die Situation begann sich spürbar aufzuladen. Das hier konnte nur schief gehen. Meine Instinkte, die ich mir als Hauptkommissar antrainiert hatte, erwachten.

Erneut wandte ich mich meinem Vater zu, allerdings mit dem Kribbeln eines Beobachters im Nacken. Er hob eine knochige, von knotigen Adern überzogene Hand, die Andreas wie selbstverständlich ergriff.

»Ich kann leider nicht sagen, dass ich mich freue Sie noch einmal in meinem Haus zu sehen, Herr Doktor Bornhöfer.«

»Diese Meinung teile ich, Herr von Schwindt.« In Andreas‘ Stimme schwang kein bisschen Unsicherheit mit. Wahrscheinlich beeindruckte er damit meinen Vater insofern dass er etwas mehr Respekt gezollt bekam.

»Können wir bitte diese steifen Floskeln lassen?«, fragte ich. »Uns ist bekannt, wie du zur gleichgeschlechtlichen Liebe im Allgemeinen und mir als homosexuellen Sohn im Speziellen stehst.«

Mein Vater warf mir einen kurzen, desinteressierten Blick zu. »Für mich ist das Thema vor fünfzehn Jahren erledigt gewesen, deswegen verstehe ich nicht, warum du dir die Mühe gemacht hast überhaupt hierher zu kommen.«

»Muss ich dir das erklären, Vater, oder hat deine Empathie noch weiter abgenommen?« Demonstrativ hob ich eine Braue.

Er schwieg. Andreas trat von ihm zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Reiner und ich wollten die wahrscheinlich letzte Möglichkeit nutzen, um bestimmte Dinge zu klären, Herr von Schwindt.«

»Reiner und Sie?« Mein Vater zog die Lippen zurück, sodass seine heruntergekommenen, goldüberkronten Zahnruinen sichtbar wurden.

»Ich muss mit dir reden bevor du stirbst.«

Humorlos lachte der alte Mann auf. Es klang, als bräche trockenes Holz. »Du musst mir nichts über dich erzählen. Ich weiß von der Sodomie, die du betreibst. Das möchte ich nicht hören. Es ekelt mich an und ich respektiere weder dich noch irgendeinen anderen Mann, der sich derart zügellos und widernatürlich verhält!«

Die Schärfe in seiner Stimme klang falsch. Er erzählte nur das nach, was er vor Jahren bereits gesagt hatte. Die Worte prallten an mir ab. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Du wirst mit dem Wissen sterben, dass du mich, den Homosexuellen, gezeugt und großgezogen hast. Selbst wenn du hundert Mal beteuerst, dass ich nicht mehr dein Sohn bin und mich versuchst aus der Welt zu schaffen, so änderst du nichts an dieser Tatsache.« Das auszusprechen war eine Wohltat. Er konnte es nicht dementieren. Rein logisch betrachtet, konnte er mich nur emotional aus seinem Fleisch schneiden, biologisch haftete dieser Makel an ihm und begleitete ihn bis ins Grab.

Sein Augenlid zuckte. Mit einer schwammig grauen Zunge leckte er sich über die trockenen Lippen. Er schien nachzudenken, sich etwas zurechtzulegen.

Wortlos trat Andreas an meine Seite und drückte meinen Arm. Ihm musste diese Situation unerträglich sein, zumal er diese Form der Anfeindung nicht gewohnt war. Seine Eltern lebten nicht mehr und seine Schwestern hatten sein ‚anders sein‘ akzeptiert, pflegten guten Kontakt zu uns und waren bereit gewesen, Trauzeugen bei unserer Hochzeit zu sein. Im Gegensatz zu mir, der ich bis zum Austritt aus meinem Dienst gewartet hatte, lebte Andreas seit langem offen seine Homosexualität aus. Er war ein Freidenker, ein Intellektueller aber auch eine Seele von einem Menschen. Und er stand zu mir, dem Zögernden. Gott, wie sehr ich ihn dafür liebte.

»Raus aus meinem Haus!«, schnappte mein Vater. »Reza, werfen Sie dieses Gesindel hinaus!«

So musste es kommen. Eigentlich hatte ich mit nichts anderem gerechnet. Die Reaktion war erbärmlich. Ihm fehlte die Kraft seine Boshaftigkeit in Worte zu fassen. Was immer in seinem Kopf vor sich ging, er konnte es nicht mehr aussprechen. Solch eine Schwäche kannte ich nicht von ihm. Es erschütterte mich.

»Wenn du meinst“, sagte ich. »Davon wird sich dein Leid nicht minimieren. Die Probleme bleiben, du hast sie nur nicht mehr vor Augen.«

Ich straffte mich und wollte mich gerade abwenden, als Andreas meine Hand packte. »Deswegen sind wir nicht hierhergekommen, Herr von Schwindt!«

Ich sah Andreas an. In seinem schmalen, immer noch schönen Gesicht zeigte sich blanke, tief sitzende Wut, die ihn aufzehrte. Andreas schluckte hart. Seine Halsschlagader pochte sichtbar. Er bebte.

»Warum haben Sie auf ihren Sohn geschossen?!«, fragte er scharf.

»Werfen Sie die Leute raus, Reza, ich will sie nicht mehr sehen!«

Hinter mir räusperte sich der Pfleger. Ich warf ihm einen Blick zu. Er hatte sich aufgerichtet. In seinen dunklen Augen brannte kaum verhaltene Wut. »Ich bin Ihr Betreuer, Herr von Schwindt, nicht Ihr Laufbursche!«

Rezas Worte demontierten wahrscheinlich Andreas‘ Plan meinen Vater zu einer Aussage zu bewegen. Dennoch bewunderte ich ihn für seine Haltung. Er bezog Stellung, wenn auch nur die eigene, um sich vor der Verantwortung zu schützen, die ihm nicht oblag. Damit drängte er meinen Vater in die Defensive. Ich konnte dem alten Mann ansehen, dass er Boden verlor, der für ihn wichtig war. Die Rollenverteilung gestaltete sich zu seinen Ungunsten.

»Die Zeiten in denen du andere für dich instrumentalisieren konntest sind vorbei, Vater.«

Er reagierte nicht. Sein Blick driftete ins Leere. Er schien sich zurückziehen zu wollen, konnte es aber nicht. Die Grenzen seines ohnehin eingeengten Reiches zogen sich um ihn zusammen, weswegen er sich hinter seinem wütenden Schweigen verschanzte. All das, was versuchte ihn zu bedrängen, prallte an seiner selbsterrichteten Schutzmauer ab. Wahrscheinlich hatte er den längeren Atem. Wenn ich mich nicht lächerlich machen wollte, musste ich mir die Niederlage gegen ihn eingestehen. Meine letzte Hoffnung Antworten zu erhalten, schmolz dahin. Eine andere Chance würde ich nicht mehr bekommen. Der Stein auf meiner Brust drückte herab. Es fiel mir schwer durchzuatmen. Wir – nein ich hatte es falsch angefangen und ihn in die Ecke gedrängt.

»Andreas?« Ich suchte den Blick meines Mannes. In seinen Augen stand dasselbe Wissen über die Ausweglosigkeit dieser Situation. Er nickte mehr oder weniger willig.

»Herr Reza, ich glaube Vater und Sohn brauchen einen Moment für sich.«

Reza, der innegehalten hatte nickte und wies zur Tür. »Bitte nach Ihnen, Herr Börnhöfer.«

 

Ich wartete, lauschte bis die Schritte beider Männer auf der Treppe verklungen waren und ich nur noch den flachen, gleichmäßigen Atem meines Vaters hörte. Mir war schlecht. Diese Situation setzte mir zu. All das Unverständnis und die Vorurteile, die mir seit Jahrzehnten entgegen schlugen, taten nicht mehr weh, aber sie bohrten und belasteten mich. Wie oft hatte ich wegen des Gefühls meiner Familie nicht zu genügen, nicht frei und gut arbeiten können? Mit der Unterstützung meiner Eltern wäre es mir vielleicht möglich gewesen. All die negativen Gefühle, die sie mir mitgegeben und die mich wie ein kaum wahrnehmbarer, schwer zu durchdringender Schleier eingewoben hatten, trug ich noch immer mit mir; selbst im Alter wurde ich sie nicht los.

Die Kritik an meiner Berufswahl, die Verweigerung von Anerkennung, dass ich Polizist geworden war und studiert hatte, das Unverständnis über meine Sexualität, der Mangel an Unterstützung und Liebe, all das verursachte in mir die innere Unruhe, die mich umtrieb. Damit konnte ich bis zu einem gewissen Grad leben, denn es gab Andreas, der mir genau das gab, was meine Familie mir verweigerte. Aber ich begriff nicht, warum er - mein eigener Vater - mir vor fünfzehn Jahren auf der Treppe in den Rücken geschossen hatte.

Ich stützte beide Ellbogen auf dem Fußende des wuchtigen, dunklen Ehebettes ab und sah zur Seite. Er erwiderte meinen Blick, wenn auch unter gesenkten, um die Pupille eingefallenen Lidern. Seine Lippen zitterten. Er wollte mich nicht in diesem Raum oder dem Haus haben. Ich störte seine Ruhe. Vielleicht zerfetzte ich durch meine Gegenwart auch nur den Kokon aus Ignoranz, oder seine Verdrängungstaktik zerbrach an mir – ich konnte es nicht sagen. Wahrscheinlich hätte er heute liebend gern ein weiteres Mal seine Waffe gegen mich gerichtet, um den Stachel aus seinem Fleisch zu reißen.

»Ich weiß, dass ich dich störe und ich weiß, dass du mich hasst, aber ich kann nicht einfach gehen. Begreifst du das, Vater?«

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und sanken in das Netz vieler Falten ein. Die geäderten Pupillen glänzten nass. Nach einer Weile – vielleicht waren es auch nur Sekundenbruchteile – nickte er.

»Es ist schwer dafür Worte zu finden.« Seine Stimme klang belegt.

»Wofür? Für den Abschied?«, fragte ich leise.

»Für die Wahrheit und den Abschied, ja.«

»Die Wahrheit ist, dass ich gegen deinen Willen Polizist geworden bin und seit zwei Jahren mit einem Mann l…«

»Schweig!« Das eine Wort klang wie ein Schuss. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Er schaffte es noch immer mich zu erschrecken. Mein Blinzeln musste wohl ausreichend gewirkt haben, um ihm erneuten Auftrieb zu geben.

»Ich rede, Reiner, und ich will nicht, dass du mich unterbrichst!« Seine Worte hatten ihrer Schärfe wiedergefunden.

Ich wollte instinktiv wiedersprechen. Meine Lippen zuckten, aber ich schwieg. Es brachte mir keinen Vorteil unsinnige Machtspiele auszufechten, wenn er bereit war sein Gewissen zu erleichtern. Sobald ich das Haus verlassen hatte, war all das hier, dieses kindische Gerangel um die Oberhand, bedeutungslos. Wir würden uns nicht noch einmal sehen. Ich richtete mich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihn in dem Glauben mich eingeschüchtert zu haben.

Mein Vater straffte sich so gut er konnte. Trotzdem wirkte er plötzlich verloren in dem wuchtigen Sessel.

»Du liebst es, dich in der Rolle des Märtyrers zu sehen«, sagte er ernst. »Ich erkenne nicht an, dass du Polizist und nicht Berufssoldat geworden bist. Ich verabscheue deine Männerliebe, habe dich deswegen aus dem Haus getrieben und wegen mir«, darauf schien er besonderen Wert zu legen, „hat sich deine Mutter getötet. Das ist deine Sicht, Reiner, nicht die Wahrheit.«

»Gibt es eine absolute Wahrheit?«, fragte ich. »Filterst du sie nicht auch durch deine Sicht?«

Er zog die fast vollkommen kahlen Stellen zusammen, an denen seine einst dichten Brauen gesessen hatten. Die steile Falte bedeutete nichts als ein Urteil - zu meinen Ungunsten. »Ich habe mehr gesehen und erlebt als du, Reiner. Das weißt du. Ich habe den Krieg und die schlimme Zeit danach überstanden.« Er rang nach Atem. »Auch wenn du es mir nicht glaubst, aber ich erkenne deinen Beruf an.«

Ich öffnete den Mund um zu widersprechen, aber er redete unbeeindruckt weiter. »Polizist, Kommissar zu sein ist heute nicht mehr dasselbe wert wie zu Kriegszeiten und du bist kein Held für mich wie es Arthur Nebe war!«

Überrascht musterte ich ihn. Mein Vater verehrte den Reichskriminaldirektor, der wegen seiner Kontakte zum Wiederstand hingerichtet wurde? Wahrscheinlich sah er in Nebe eher einen Soldatenkollegen der SS. Trotzdem gab mir die Einstellung zu denken, denn die Glorifizierung der NS-Zeit stand in diesem Haus nie zur Debatte. Er sprach nicht über seine SS-Zugehörigkeit, erwähnte nie den Kriegsdienst … Ich legte die Stirn in Falten. »Worauf willst du hinaus, Vater?«

»Seine Arbeit war eine Gratwanderung zwischen Wiederstand und Treue. Er war ein wirklicher Polizist, jemand der die Verantwortung, die er sich auf die Schultern geladen hatte, bis zum bitteren Ende getragen hat.«

Meinetwegen, das mochte sein, aber ich verstand nicht, worauf er hinsteuerte.

Seine Antwort ließ nicht auf sich warten. Gerade als ich nachfragen wollte, entgegnete er: »Du hast nicht das Rückgrat zu dem zu stehen, woran du glaubst!«

»Was willst du damit andeuten?«

Wenn ich in seinen Augen zu feige war zu meiner Homosexualität zu stehen – und etwas anderes konnte er nicht meinen - verstand ich ihn nicht. Er war es doch, der mir deswegen schon immer Vorhaltungen machte.

Vermutlich starrte ich ihn sehr infantil an, aber es war mir nicht möglich ein Wort über die Lippen zu bringen. Er kniff die Augen zusammen und zog wütend die Lippen zurück. »Ich verabscheue, dass du immer den Weg des geringsten Wiederstands gewählt hast.«

Ein wütendes Beben durchlief meinen Körper. »Das stimmt nicht! Ich habe dich und Mutter über meine Neigungen nie im Un…«

»Dir fehlt nicht der Mut die Wahrheit zu sagen, sondern fest dazu zu stehen und es mit allen Konsequenzen zu leben«, schnappte er. Er ballte seine knochendünne Hand zur Faust und ließ sie auf die Lehne niedersausen.

Das Zittern in mir nahm potentiell zu dem brodelnd heißen Zorn zu. Ich presste die Kiefer aufeinander. »Rede endlich, alter Mann. Sag, was du zu sagen hast, aber hör auf mich haltlos zu beleidigen!«

Als ich die Worte aussprach, begriff ich seine Taktik. Er beleidigte mich um sich zu schützen. Wenn er mich mundtot machte und mich verscheuchte, bevor ich zu meinen Fragen kam, hatte er gewonnen. Diese Erkenntnis beruhigte mich. Ich richtete mich auf und trat vor ihn. »Ich bin also feige.« Glücklicherweise klang der letzte, verzweifelte Rest Wut in meiner Stimme nicht durch. Tief atmete ich ein und suchte seinen Blick. Er wich aus. Scheinbar lag ich richtig mit meiner Vermutung. Ich musste nur zu meiner Selbstsicherheit zurückgelangen. Ruhig atmete ich ein und aus, als ich mein Jackett öffnete und die Hände in die Hosentaschen schob. »Meinetwegen, lassen wir diese Theorie meiner Feigheit im Raum stehen, Vater. Ich muss dir nichts mehr beweisen. Das Einzige, was ich von dir wissen will: Warum hast du damals auf mich geschossen?«

Sein Adamsapfel sprang über dem steifen Hemdkragen. Er spannte den Kiefer an, sodass ich die Muskeln und Bänder arbeiten sehen konnte. Verzweifelt versuchte er, an mir vorbei zu sehen. Er wand sich.

»Warum?«, wiederholte ich leise und stützte mich auf den Armlehnen rechts und links von ihm ab. Der Geruch nach Medikamenten und schlechtem, kaffeegeschwängerten Atem umfing mich. Ich war ihm nah, vielleicht näher als je zuvor in meinem Leben. All die kleinen Falten und Furchen, die ihm seine Vergangenheit in die Haut gerissen hatte, der graugelbe Speichel in seinen Mundwinkeln, die wächsernen Verfärbungen seiner Pupillen und das schwache Zittern seiner dünnen, breiten Lippen ergaben das Abbild eines von seinen Worten und Taten in die Ecke gedrängten Mannes, der nicht mehr die Kraft hatte zu kämpfen oder zu fliehen.

»Ich habe deine Mutter gedeckt«, flüsterte er. »Sie konnte deine Abartigkeit nicht ertragen und hat versucht den Schandfleck aus ihrer Blutlinie zu tilgen.«

Meine Brust krampfte sich zusammen. In meiner Kehle saß ein Kloß. Langsam richtete ich mich auf. Alles um mich versank im Nebel vollkommenen Unverständnisses.

Meine Mutter? Das Echo der Worte klang nach, aber es erreichte meinen Verstand nicht. Mir wollte in dem Moment nicht einmal einfallen wie sie war, aussah, klang … Dort wo Erinnerungen an sie existiert hatten, gab es nur noch dunstiges Nichts. Mein Mund und Rachen waren zu trocken um zu reden. Ich bezweifelte, dass ich überhaupt etwas Sinnvolles hervorgebracht hätte. Schwach schüttelte ich den Kopf.

Er war in sich zusammengesunken und starrte auf seine herabhängen Hände.

Der Anblick, die Haltung, ich konnte es nicht benennen, riss mich zurück. Ich wusste einfach dass er die Wahrheit sagte. Er hatte unschuldig im Gefängnis gesessen. Das Gefühl tiefer Betroffenheit drückte mich nieder. Fassungslos streckte ich eine Hand nach ihm aus. Er zuckte nicht zurück, als ich ihn berührte, sah mich aber auch nicht an. Ich ging vor ihm in die Knie, suchte seinen Blick. Seine Lider senkten sich. Etwas in ihm hatte sich verändert und war zerbrochen, vielleicht sein Stolz, vielleicht seine Ehre, ich wusste es nicht.

 

Wie lang wir schweigend beieinander saßen, konnte ich nicht sagen. Die Zeit verstrich, ohne dass einer von uns sprach. Mir fiel nichts ein. Die wirbelnden Worte in meinem Kopf ließen sich nicht weit genug einfangen, um meine Gefühle richtig zu berühren, andererseits erfasste ich sie auch nicht. Mir war schwindelig. Seit ich mich auf das Fensterbrett gesetzt hatte, fror ich. Eigenartig wie weit körperliche Eindrücke in den Vordergrund rückten, wenn sich der Kopf abzuschalten begann.

Eine Weile sah ich in den verwilderten Vorgarten und auf den einsamen Wagen. Der dunkle Lack verschmolz mit den dürren Büschen und dem erfrorenen Gras. Die dunklen, tiefhängenden Wolken schienen die Baumwipfel zu berühren. Ich schluckte mühsam. Dieser Ort war hoffnungslos und leer. Ich war Berlins Leben gewohnt, nicht die Einöde, in der die Villa stand. Das betäubende Gefühl verstärkte sich als Schneeregen einsetzte. Zu der Leere in mir kam Müdigkeit. Ich fühlte mich schwer, kraftlos, vollkommen erschöpft.

Nach einer Weile sah ich wieder zu meinem Vater. Er schien sich nicht bewegt zu haben. Vielleicht irrte ich mich auch.

Es war ein eigenartiges miteinander, wenn man es überhaupt so ausdrücken konnte. Die Stille und Einsamkeit in dem Raum hielt uns und trennte uns doch eher voneinander. Ich fühlte mich alleingelassen – wieder einmal - und war mir nicht sicher, mit Andreas über die neue Wahrheit und meine Gefühle reden zu können. Er war mein Mann, mein Partner, der, der mich nach dem Angriff lieben gelernt hatte, obwohl wir schon Jahre zuvor zusammengearbeitet hatten. Aber das hier war etwas Persönliches, Erschütterndes, nicht nur für mich, sondern auch für meinen Vater.

Langsam erhob ich mich und rieb mir über die Arme. In meinem Schädel hatte sich der starke Druck zu Kopfschmerzen aufgebaut. Obwohl sich der Zustand in mir kaum zwischen niederdrückend und haltlos forttreibend entscheiden konnte, erwachte mein Verstand. Es war wie damals, als ich den ersten Unfalltoten in meinem Leben gesehen hatte. Alles blockierte in mir, plötzlich öffnete sich die Welt um mich herum und ich war wieder fähig aufzunehmen.

Der erste Wunsch war die Flucht aus diesem Haus – nein, das konnte ich nicht. Mein Vater hatte sich zu etwas unmöglichem entschieden und alle Konsequenzen getragen – auch den Selbstmord meiner Mutter, der sich mir plötzlich erklärte. Natürlich konnte sie mit dieser Last, diesem Wissen, nicht leben. Allerdings zweifelte ich daran, dass sie den versuchten Tötungsakt an mir nicht ertrug. Wahrscheinlich lag es an meinem Vater. Er hatte ihr die Entscheidung abgenommen selbst die Verantwortung zu tragen. Letztlich war sie eine stolze Frau gewesen, ein Mensch für den seine Bevormundung nicht tragbar gewesen war. Alles was danach geschah, passierte deutlich sichtbar für mich, war aber ein Signal, das ich nicht verstanden hatte. Mein Leben lang hatte ich nicht genug nachgefragt, nicht ausreichend geforscht was Ursache und Wirkung war. Mein Wissen stützte sich auf Annahmen, die ich zu meiner Wahrheit gemacht hatte.

Was für ein unglaublicher Idiot ich doch war …

In dem Punkt begriff ich, warum mein Vater mich als Polizeibeamten nicht respektierte. Er hatte schon vor langer Zeit verstanden, dass ich zu stark in meiner eigenen kleinen Gefühlswelt gefangen war. Immer hielt ich mich für ausreichend sensibel, um kleine, menschliche Regungen zu bemerken, aber ich verstand nicht einmal die Menschen, die meine Kindheit begleitet hatten. Was meine Beziehung zu ihnen anging lag es daran, dass wir zu unterschiedlich gewesen waren, verschiedenen Generationen und Denkweisen nachhingen und sie auslebten. Diese Grenze war unser Untergang.

Ich kniete vor meinem Vater nieder. »Ich danke dir.«

Müde hob er den Kopf. Seine stumpfen Augen klärten sich kaum. Er blinzelte, nickte kaum merklich, bevor sich sein Blick wieder verschleierte. Mein Vater versank in seine Welt.

»Ich lasse Reza meine Telefonnummer da. Bitte, wenn du etwas möchtest, lass ihn mich anrufen.«

Er reagierte nicht. Ich hatte mit nichts anderem gerechnet. Still verließ ich den Raum. Als ich die Tür hinter mir zuzog, wusste ich, dass ich ihn eben gerade zum ersten Mal menschlich und nah erlebt, zugleich aber auch zum letzten Mal gesehen hatte.

 

Reza notierte meine Nummer im Stehen. »Ich will Ihnen keine Hoffnungen machen, Herr von Schwindt.« Kurz hob er den Blick. »Er wird Sie nicht kontaktieren.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete ich. »Es ist vielleicht mehr eine Geste, ein Signal, verstehen Sie?«

Warum versuchte ich mich zu erklären? Sicher wusste Reza, warum ich meine Nummer zurückließ.

Er richtete sich auf. »Hoffen wir, dass wir ihn beide falsch einschätzen.«

Als ich nickte, bemerkte ich Andreas, der mit unseren Mänteln über dem Arm den Salon betrat. Er wirkte still und in sich gekehrt. Scheinbar dachte er nach, denn sein Blick streifte Möbel, kroch über den Boden und verlor sich. Ich kannte diese Reaktion an ihm. So wirkte er auch wenn er arbeitete und ihm etwas eigenartig vorkam. Er legte die Mäntel über der Sofalehne ab, straffte sich und sah zu uns. Seine Lippen klafften auf, ohne dass er etwas sagte. Er wandte sich um und verließ den Raum. Ich konnte ihn von meiner Position vor der Treppe stehen sehen. Er rieb sich die Nasenwurzel, bevor er sich zu uns wandte, sich aber anders entschied und einige Stufen hochging. Er entschwand meinem Blick. Ich hörte das alte Holz unter seinem Gewicht knarren.

»Er nimmt starken Anteil an Ihnen«, sagte Reza unvermittelt.

Ich verstand auf was er hinaus wollte und nickte. »Damals hat er mich behandelt. Er wurde hierher gerufen nachdem auf mich …« Ich brach ab.

Reza atmete tief ein. »Das erzählte er mir. Notarzt und Rettungsdienst waren wohl schon vor Ort, als er eintraf. Ihre Position war verändert worden, aber Sie lagen wohl trotzdem noch vor der Treppe auf den Platten. Ich glaube, er hat nie ganz verstanden, wie es zu dem Schusswinkel gekommen ist.«

»Laut Bericht war er sehr flach. Ich bin auf der obersten Stufe in den Rücken geschossen worden und gestürzt. Fall und Kugel haben mich nichtbewusstlos werden lassen, aber ich war damals nicht mehr ausreichend bei mir, um irgendetwas auszusagen.« Ich wandte mich Reza zu. Er sah immer noch nach draußen. Nach einem Augenblick drehte er sich ab. Ruhig verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ihr Fall hat ihn scheinbar nicht losgelassen.«

»Er war damals ein guter Freund und Kollege …«

Bestimmt schüttelte Reza den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Er muss damals schon viel mehr für sie empfunden haben, denn er spricht mit unglaublicher Kraft und Leidenschaft von dem Moment, in dem er sie halb bewusstlos und unter Einfluss der schmerzstillenden Mittel vorfand. Es muss ihm Angst gemacht haben, dass Sie sterben.«

»Wir waren Freunde«, wiederholte ich.

Reza hob nur eine Braue. Nach einigen Sekunden entgegnete er: »Er hatte vermutlich Angst, Sie zu verlieren und die letzte Chance zu verpassen, Ihnen seine Gefühle zu zeigen.«

Ich lächelte, auch wenn mir bewusst war, dass es sicher nicht zu der Situation passte. Reza war empfindsam und intelligent. Er sah weiter und schätzte ihm fremde Menschen gut ein. Er mochte recht haben, wahrscheinlich traf er den Kern. Damals begann unsere gemeinsame Zeit. Aus  Freundschaft entstand tiefe Liebe, Wärme, Vertrauen und Verständnis. Wir kannten uns und begannen doch ganz von vorne. Andreas blieb an meiner Seite, um mich aufzufangen. Er war bereit zuzuhören und Lösungen für unsere, speziell auch meine Probleme zu finden. Andreas, die Triebfeder der letzten Jahre, der Mann, der mir den Weg in meinen Beruf wieder ermöglicht hatte, der mein Geheimnis und meine Liebe war … Warum hatte ich ihn nur nie früher gefragt, was er empfand; warum musste ich damals fast fünfzig Jahre alt werden, um zu verstehen, dass es vorher kaum einen faszinierenderen und herzlicheren Mann gegeben hatte? Warum hatte ich so lang gewartet, um ihn zu heiraten? Wir hatten viel Zeit verschenkt …

»Eine Frage habe ich noch«, sagte Reza. »Warum haben Sie nicht den Namen ihres Mannes angenommen, Herr von Schwindt?“

Diese Frage hatten uns viele unserer Freunde gestellt. Bisher hatte ich keine Antwort darauf geben können, doch es lag auf der Hand. Ich wollte nicht von meiner eigenen Feigheit, mich meiner Herkunft zu stellen, erniedrigen lassen. Den Namen von Schwindt trug ich zeitlebens. Ich war an alle Konsequenzen, die er mit sich brachte, gebunden.

»Nennen Sie es Familienehre, Sturheit eines alten Mannes, vielleicht Dummheit, aber ich war nie feige genug, mich hinter einem anderen Namen zu verstecken.«

Reza lächelte und schwieg.

Andreas kam wieder ins Zimmer. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Offenbar grübelte er noch immer über den seltsamen Schusswinkel, vielleicht hatte er auch noch einmal versucht mit meinem Vater zu sprechen. Ich wusste es nicht. In seinem Gesicht arbeitete es. Mühsam schien er die unlösbaren Gedanken abzustreifen. »Ich verstehe es einfach nicht«, murmelte er.

Ich trat zum Sofa, nahm unsere Mäntel und hielt ihm den seinen hin. »Komm, Andreas.«

Er sah mich fragend an, ließ sich aber helfen. Als er sich zu mir umwandte, lächelte ich. In seinen Augen lag so viel Wärme. Sachte streichelte ich über seine Wange. Er schmiegte sein Gesicht in meine Handfläche. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme geschlossen und geküsst, aber in die Verlegenheit wollte ich Reza nicht stürzen.

»Lass uns nach Hause fahren.« Ich zog den Autoschlüssel aus der Tasche und gab ihn Andreas. »Ich habe dir viel zu erzählen.«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.09.2015

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Widmung:
Fur Juliane und Madison: Vielen Dank für eure Hilfe und Unterstützung

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