Blutberge
Das erste Morgengrau kroch über die gewaltigen Felsformationen der Eisenberge. Noch war es nichts weiter als ein Streifen etwas weniger dichter Finsternis. An diesem Ort konnte bei mondlosen Nächten die Dunkelheit erstickend und greifbar sein, wie im Inneren eines Felsdoms.
Raureif überzog die Steine und eine feine Eisschicht machte den Fels rutschig.
Luca erhob sich von seinem Lager, zog seine Decken enger um seinen Leib und strich sich einige Strähnen seines langen, schwarzen Haars aus dem Gesicht. In seinem unruhigen Schlaf hatte er sich oft hin und her gewälzt. Er wurde das Gefühl nicht los sich, selbst beobachtet zu haben und eher wach gewesen zu sein. Die Kälte setzte ihm zu, zog von dem übereisten Boden in seine Glieder und kroch in seine Seele. Dunstwölkchen kondensierten vor seinen spröden Lippen.
Vermutlich wäre die Situation erträglicher gewesen, hätten sie Holz für ein Feuer gehabt. Aber wo in einem Hochgebirge fand man Äste?
Er rieb sich die Schultern um wenigstens die schmerzenden Gelenke etwas zu erwärmen und geschmeidiger zu machen.
Sein Zopf verhakte sich unter den Decken in seinem Gürtel und der Dolchscheide.
Für Sekunden überlegte er, ob er die schützenden Decken öffnen und die eisige Luft an seinen Leib lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen, wenigstens für den Moment. Unter seinem Hemd regte sich sein Vertrauter, der sich ebenfalls vor der Kälte zu schützen versuchte. Luca strich dem Drachling sanft über den Rücken und die Schwingen, zumindest vermutete er, dass es Rücken und Schwingen war, so wie sich Tambren gelegt hatte.
Die Nachtwache – der Hauptmann, Orpheu - sah gähnend zu ihm und lächelte spöttisch über den Anblick eines Magiers, der dank seines Familiaris den Anschein einer Frau kurz vor der Niederkunft machte, sagte aber nichts.
Die Männer des fünfzigköpfigen Söldnerheeres waren es gewohnt, dass der junge Magier wenig schlief und während ihrer Rast ruhelos umherwanderte, als quäle ihn eine unausgesprochene Last.
Dieser innere Unfriede rührte von den Erinnerungen an die unsäglichen Massaker her, die unbekannte Soldaten in den letzten Dörfern angerichtet hatten, die sie – wohl nur kurz zeitversetzt - durchquert hatten.
Kein einziger von Orpheus Männern konnte den Anblick der Orte verdrängen.
Gepfählte Männer und Frauen, zerstückelte Kinderleichen, Kadaver von Elfen, Zwergen, Menschen und Tieren, gehäutet, zerrissen und geschändet. Meere von Blut hatten jedes Leben aus den Bergdörfern fortgespült. Hier, in dieser unfruchtbaren Gegend wohnten nur ein paar Bergleute, Schmiede und Steinmetze. Es waren Männer und Frauen, die niemandem etwas getan hatten und deren Person in keiner Weise von den Handelskriegen zwischen dem Kaiserreich Sarina und den kargen Nordlanden berührt wurde. Der Weg über den Pass lag fern ab aller großen Straßen. Nachdem der Waffenstillstand ausgerufen worden war, hätte es ohnehin zu keinen Akten von Gewalt kommen dürfen. All das war in jeder Weise gegen das einem Nichtangriffsabkommen, das genau vorschrieb alle Arten von Kampfhandlungen zu unterlassen so lange in Valvermont – der einzigen unparteiischen und freien Handelsstadt – die Verhandlungen zwischen den Gesandten des Kaiserhofes und den Drachenprinzen der Nordlande stattfanden.
Mehr als den anderen setzte Luca das Wissen und diese Erinnerung zu. Der junge Mann war zu sensibel und empfindsam, um darunter nicht zu leiden, zumal er sich sein ganzes Leben lang einen Teil seine kindliche Naivität bewahrt hatte und Gewalt verabscheute. Vermutlich war das seine größte und stärkste Veranlagung, der Pazifismus. Während seiner neunzehn Jahre Zugehörigkeit der grauen Pentakel, die durchweg Kriegsmagier und Nekromanten ausbildeten, war es weder seinem Ordensgroßmeister Ihad, noch seinem Mentor Cyprian gelungen in ihm Hass und Brutalität zu wecken. Aus eigenem Antrieb heraus hätte Luca sich nie dieser Art der Magie verschrieben. Damals träumte er davon, ein Maler, ein Sänger oder Tänzer zu werden. Das Talent für die feingeistigen Künste lag in ihm. Sein Geschick, seine außergewöhnliche Stimme, sein Rhythmus und sein Gefühl für Schönheit in allen Dingen, die ihn umgaben, prägten bereits seine Kindheit. Zu dem, was er nun war fühlte er sich weder berufen noch geschaffen. Dennoch weckte die Zeit im Orden seinen Trotz und das tiefe Verlangen so viel und so schnell zu lernen, wie es ihm nur möglich war, um die Zauberhöfe, die gewaltigen, grauen Mauern, die ihn seine Jugend hindurch eingesperrt hielten, hinter sich zu lassen. Und eben dieses Feuer bewahrte ihn davor, auch zu einem Schlächter zu werden, wie so viele seiner Ordensbrüder. In all den Kriegen hatte er für das Kaiserreich, Orpheu und Ihad gekämpft und es gab wenig, was seiner Macht widerstand, aber er hatte sich geschworen nie ein Leben zu nehmen.
Luca zog die Schultern hoch und rieb sich die Oberarme mit klammen Fingern. Langsam gewöhnte er sich an die Kälte. Er fror von innen heraus. Die tiefe Erschöpfung, das allgegenwärtige Bild von Tot und Zerstörung, seine eigene, beharrlich wachsende Gleichgültigkeit, die er erfolglos bekämpfte, ließen ihn erkalten. Er nahm eine seiner Decken von dem Felsboden auf und schlang sie sich um den Leib.
Aus den Schatten lösten sich Falter, zierliche, schwarze Schmetterlinge, deren Flügel anders waren als die der üblichen nachtaktiven Falterarten. Sie wirkten ätherisch und zart, unnatürlich in ihrem Äußeren. Einige davon ließ sich in Lucas Haar und auf seinen Schultern nieder. Die leise Berührung bemerkte der junge Mann gar nicht wirklich.
In dieser kalten Einöde waren sie ein fremder Anblick. Aber sie gehörten zu Luca.
Auf diesem Wege band er Zauber, die er vorbereitet hatte, um sie nur noch aufsteigen zu lassen, in eine eigene Form.
In den Jahren, die er unter den Söldnern verbracht hatte, brachte ihm diese Magie diverse Spottnamen ein, war das in den Augen der Krieger doch sinnloser Firlefanz. Dennoch beschwerte sich kein einziger von ihnen, wenn die Zauber sie unterstützten und beschützten.
Lächelnd nahm er einen von Ihnen auf seine Fingerspitzen und blies sanft seinen Atem gegen die Flügel. Der Falter stieg auf und zerbarst in winzige Splitter, die in der Luft verglühten.
Mit Hilfe dieses kleinen Dienstzaubers fühlte sich Luca wenigstens andeutungsweise, als sei er sauber und gebadet, nicht schon seit Wochen auf der Reise.
Langsam sah er sich um. Die Männer lagen in ihre Decken gewickelt und schliefen, viele von ihnen sehr unruhig und ein paar gar nicht. Jeder einzelne von ihnen schien darauf zu warten, dass das Signal zum Aufbruch gegeben wurde und sie endlich weiter ziehen konnten, um diese Männer zu finden, die eine Blutspur durch die Eisenberge zogen.
Eigentlich waren sie nur noch wenige Tagesritte – vielleicht einen Zehntag - von Valvermont und seinen wunderschönen Feldern und Wäldern, dem warmen Frühlingswind und dem Luxus von gutem Essen, Wein, weichen Betten und einem Bad entfernt, aber zuvor mussten sie diese Schlächter finden und gefangen nehmen – wenn Orpheus Männer überhaupt der Gerechtigkeit eine Chance lassen wollten und sie nicht gleich hinrichteten.
Luca ging ein paar Schritte weit, an der Wache vorbei und sah kurz zurück.
„Wo wollt ihr hin, Lysander?“ fragte ihn der Söldnerhauptmann ohne ihn anzusehen oder auch nur eine Sekunde lang die unbequeme Position zu verlassen, in der er dasaß.
Luca warf ihm einen Blick zu. „Ich muss ein wenig allein sein, Orpheu“, antwortete er ihm leise.
„Seid ihr das nicht auch so?“ Der schwarze Elf sah nun doch zu ihm auf. Luca antwortete ihm darauf nicht. Langsam drehte sich um und verließ das Lager.
Er spürte die Blicke des Elfs im Rücken.
Orpheu hatte leider Recht. Obgleich sie eine kleine Söldnerarmee ausgesuchter Kämpfer waren, blieb jeder von ihnen doch allein. Selbst im Kampf.
Luca senkte den Blick und ging weiter. Er sehnte die Abgeschiedenheit herbei, die ihm hier so sehr fehlte, denn die bloße Gegenwart der anderen Söldner störte ihn. In den wenigen Stunden, die er geschlafen hatte, verfolgten ihn die Bilder des Krieges, vergangener Erlebnisse und Gefühle, die so bodenlos waren, sanft und hoffnungslos, verloren und finster wie die Nacht selbst. So schlichen sich nun andere Erinnerungen in das seine Gedanken, die schön waren, ihn aber quälten.
Wie so oft, seit er ihm zum ersten Mal begegnet war, sah er die jadegrünen, wilden Augen und das silberweiße Haar, das ein zauberhaftes Gesicht umrahmte.
Jedes Mal, wenn er an den jungen, namenlosen Elfen dachte, wurde er sich seiner eigenen Einsamkeit bewusst. Er hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen, kurz, keine zehn Minuten. Aber diese Zeit reichte aus, dass er sein Herz für immer verloren hatte.
Ein paar Hundert Meter vom Lager entfernt blieb er stehen und setzte sich auf den Boden. Die Decke glitt von seinen Schultern, und er öffnete sein Haar. Obwohl er nicht lange geschlafen hatte, war es zerzaust und Strähnen herausgezogen.
Nach einer Weile umschlang er die Knie mit den Armen. Sein Blick richtete sich in die Morgendämmerung. Seine offenen Haare wehten um seine schmale Gestalt und verfingen sich in dem verwitterten, moosigen Gestein.
„Luca?“
Der junge Magier sah zu Boden. Eine kleine Drachenechse saß neben ihm, blau geschuppt und goldäugig. Sie hatte ihre Flügel an den Leib gedrückt und spielte mit der Quaste an ihrer Schwanzspitze.
„Was denn, Tambren?“ Er löste die Hände von seinen Knien und nahm den gerade mal katzengroßen Drachen in seine Arme. Vertraut schmiegte Tam sich an ihn und kroch unter das Hemd seines Herren. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit war der kleine Drache nicht annähernd so spröde und aggressiv. Im Gegenteil suchte er eher Lucas Nähe und seine Wärme. Behutsam begann Luca seinen Vertrauten unter dem schmalen, winzigen Unterkiefer zu kraulen. Tambren schnurrte wie ein Kätzchen.
Erst nach ein paar Minuten, die er reglos gelegen und einfach nur die Zuneigung seines Meisters genossen hatte, antwortete er auf Lucas Frage.
„Du warst fort, als ich aufwachte. Denkst Du wieder an ihn?“ Tambren sah ihn aus großen, dunkel gesprenkelten Augen an.
Luca nickte matt. „Ja, natürlich.“
„Was wirst du tun, wenn dir der Elf nicht wieder begegnet? Willst du dich dann umbringen, oder wirst du einfach nur genauso wahnsinnig wie alle anderen Seraphin, die ihren Partner nicht finden?“
Der Sarkasmus in Tams Stimme war nur Ausdruck seiner Betroffenheit. Ihm gefiel es gar nicht, dass sein Herr sich seit Langem in stillen Grübeleien erging. Das war Luca nur zu gut bewusst. Dem Drachen fiel es nicht schwer die Gedanken und Gefühle Lucas zu lesen. Beide teilten mehr als Worte. Es war nicht so, dass Luca sich Tambren als Vertrauten auserwählt hatte. Ein beiderseitiges Erkennen und tiefe Freundschaft führte sie zueinander.
Seit recht langer Zeit schon drehten sich die Gedanken des Magiers nicht mehr um die Aufgaben, die ihm in Orpheus kleiner Streitmacht oblagen.
Tambren zeigte sich darüber immer besorgter. Tatsächlich stimmte es, dass Lucas Gedanken oft bei dem jungen Elf verweilten, dem er vor einer Weile in den Tiefen des Labyrinthes von Valvermont begegnet war.
Wenn man es als Schicksal bezeichnen wollte, so traf diese Bezeichnung wahrscheinlich immer noch am genauesten zu. Seraphin wie er liebten nur einmal in ihrem Leben. Ihr Partner konnte ihnen begegnen oder sie blieben ewig einsam, gleich mit wem sie das Lager teilen mochten. Sich langsam entwickelnde Gefühle gab es bei dieser Rasse nicht.
Luca, der bislang nur unschuldige Gefühle und gefühllose Geschlechtsakte kannte, traf diese Erkenntnis bei ihrem ersten Aufeinandertreffen unvorbereitet hart.
Seither drehten sich seine Gedanken einzig um diesen Moment der Begegnung, der so schnell verging wie er kam.
Ihm war damals die Möglichkeit nicht vergönnt mit dem Elf auch nur ein Wort zu wechseln.
Die Situation und der Ort, sprachen dagegen.
Das Labyrinth der freien Handelsstadt war das dunkle, gammelnde Herz Valvermonts, beherrscht von Lucas Mentor und Liebhaber. Ausgerechnet im Hause Justins, schlimmer noch in der Begleitung des Elfenvampirs trat ihm der Mann gegenüber, den der Magier als seinen Partner erkannte.
Sehnsucht, Liebe, Angst vor Justin und kurze, heftige Wut über die verpasste Chance kochten in Luca hoch.
„Luca?“
Tam sah ihn an.
Der erschrockene Blick des Magiers traf die goldenen Augen des Drachlings.
„Verzeih mein Kleiner. Verwirren wollte ich dich nicht.“
„Ich glaube eher du bist verwirrt, mein Lieber“, knurrte Tam und hob strafend eine geschuppte Braue. Der Anblick regte in Luca Mitgefühl und gleichzeitig leichten Spott über die sehr menschlichen Gestiken mit denen Tam sich auszurücken pflegte.
„Nein, ich werde sicher nicht verrückt werden“, lächelte er dann. „Was so verrückt ist, wie ich, muss sich gar nicht mehr die Mühe machen.“
Für einen Moment hatte Luca seinem Freund und Vertrauten den Wind aus den Segeln genommen. Fassungslos starrte ihn Tam an. Allerdings hielt dieses schöne Schweigen nur Sekunden an. „Klar bist du verrückt. Aber das weiß ja jeder, du blöder Kerl. Allerdings schaffst du es auch noch den Grad an Wahnsinn zu erreichen, um sogar mich zu verwirren.“
Luca hob eine Braue. Erwidern wollte er nichts. Tam selbst merkte, dass seine aufgekratzten Worte sinnlos waren. Sie trafen nicht zu. Luca hatte sich unumstößlich verliebt und das zehrte viel seiner Konzentration auf.
Er seufzte tief und ließ seinen Kopf schwer auf Lucas Finger sinken.
„Entschuldige.“
„Verlier darüber keine Worte, kleiner Freund“, bat Luca mit einem leisen Lächeln auf den Lippen.
„Wir reisen weiter Valvermont entgegen, und damit auch Deiner Entscheidung, Luca“, wies ihn Tam leise darauf hin. Als der Magier allerdings schwieg und eher in die Ferne sah, wurde Tambren lauter und seine Stimme nahm an Schärfe zu.
„Du musst Dich entscheiden. Willst Du deine Arbeit bei Orpheu im Auftrag des Ordens beenden und nach dem Elf suchen? Das bedeutet, dass du dich deinem Großmeister zu stellen hast, wenn du nicht mehr Söldner bist. Und Justin natürlich auch.“
Nachdenklich nickte der Magier. Er konnte sich die beiden Szenarien bestens ausmahlen. Ein zorniger Ihad, der ihn entweder degradieren und dazu verdammen würde im Orden selbst Schüler zu unterrichten, oder ihn ganz verstieß und seiner Kräfte beraubte. Luca erinnerte sich zu gut wie schwach ein ausgebrannter Magier war, wie leicht zu töten. Aber das beängstigte ihn weniger. Justin hatte ihn seinerseits in der Bardenkunst unterrichtet und wenn Luca nicht mehr als Magier zu zaubern im Stande sein sollte, so doch als Barde, Zaubersänger und Zaubertänzer. Allerdings schauderte er bei dem Gedanken an Justin schon jetzt. Lange Jahre Vertrautheit und Nähe, Freundschaft und Lust hatten ein enges und festes Band zwischen ihnen geknüpft. Aber Justin liebte ihn mit jeder Faser seines Herzens. Außerhalb der Ordenshöfe gab es nur den Herren des Labyrinthes und sein Haus. Luca konnte ihn nicht so einfach von sich stoßen zumal der Elfenvampir ihn immer und in allen Lebenslagen begleitet und unterstützt, in ihm die Liebe zu Musik und Tanz geweckt und ihn darin unterrichtet hatte.
„Von Justin kannst Du kaum Zustimmung für Deine Gefühle erwarten, Luca.“
Der Magier nickte. „Ich weiß, aber ich werde mich auf die Suche nach diesem Elf machen. Die Entscheidung stand allerdings nie wirklich zur Diskussion, Tam. Ich werde meinen Weg bald alleine gehen...“
„Mich wirst Du nicht los, mein Freund“, wiedersprach der Drachling. In seiner Stimme schwang wage Angst vor dem Moment einer Trennung. Weniger schwebte ihm der Abschied in Form eines Adieu vor, sondern viel mehr wenn Großmeister Ihad Luca verstoßen sollte. Damit würde der junge Mann alle Kräfte als Magier verlieren und die Verbindung des Vertrauten zu seinem Meister hatte nur darin Bestand.
Langsam erhob sich Luca, der alle Gefühle und Gedanken seines geschuppten Freundes mitbekommen hatte.
„Gleich was geschehen wird, Tammy, wir werden immer die gleiche Seele teilen.“
Darauf konnte Tambren ihm nichts mehr entgegnen. Still verkroch er sich in Lucas Hemd. Der Magier ging mit gemessenen Schritten zum Lager zurück. Die Morgensonne verfärbte seine bleichen Wangen rotgolden und ließ seine grünen Augen unnatürlich, fast gierig, strahlen. Luca wusste dass er wie ein hungriger Vampir aussah. Entschlossenheit gerann an ihm zu etwas verbissen Krankhaftem und die Meisten von Orpheus Männern gingen ihm in solchen Momenten lieber aus dem Weg.
Das Lager befand sich im Aufbruch. Männer beluden Pferde, sattelten ihre Reittiere auf und rüsteten sich. Sicher war es noch nicht in den Bergen. Jederzeit rechneten sie mit Angriffen. Luca konnte die Bedrohung auch noch immer fast körperlich wie eine eisige Hand in seinem Nacken fühlen.
Er hatte Orpheu gewarnt und ihn beschworen wachsam zu bleiben, was der schwarze Söldnerführer auch sorgsam beherzigte. Luca kannte ihn schon recht lang und sie vertrauten einander. Natürlich war es nicht die Art des Vertrauens zweier enger Freunde, sondern das von Waffenbrüdern. Sie konnten aufeinander zählen, denn sie kannten ihre Fähigkeiten bestens. Ein Grund weshalb Orpheus Wahl immer wieder auf Luca fiel, wenn er sich einen Magier aussuchte.
In seiner matten, zerbeulten Rüstung machte Orpheu einen genauso erschöpften Eindruck wie das gesamte kleine Söldnerheer. Sie alle hassten die ständigen Entbehrungen und das Wissen, dass ihr Leben dem Tode näher stand als das anderer Geschöpfe.
Er sattelte gerade seine Stute und belud sie mit all den leichten Dingen, die er den ohnehin schon zu wenigen Packpferden nicht auch noch zumuten wollte, als Luca zu ihm trat.
„Nun, habt ihr euch wieder etwas gefangen, alter Freund?“
„Ich werde in Valvermont Dein Heer verlassen, Orpheu.“
Der Söldner hielt mitten in der Bewegung inne, sah dann seinen Magier an. Fast schon zornig, so erschien es Luca, musterte ihn der Elf.
Unbeeindruckt hob Luca das Zaumzeug auf und half Orpheu.
„Was soll das heißen?“, fragte der Elf lauernd.
„Ich will Zeit um meinen eigenen Weg zu gehen, Orpheu“, entgegnete Luca leise. „Ewig Krieg zu spielen ist nicht mein Lebensweg und sicher nicht mein Ziel.“
In seiner Stimme schwang ein stolzer und entschlossener Unterton mit.
Die Mimik Orpheus verriet dem Magier deutliche Wut. Die Kiefer mahlten und die Muskeln spannten sich unter der schwarzen Haut.
„Denkt ihr ernstlich, dass das ein Spiel ist, Lysander?“
Die Frage, sowie die Modulation seiner Stimme, die Schärfe in jedem Wort, ließen nicht offen, was er in der Sekunde dachte und der Söldner konnte kaum verbergen, wie sehr er momentan Lucas Einstellung verachtete.
„Was ich zu den Kriegen und denen die sie schüren denke, mein lieber Orpheu, ist nicht relevant...“
„Offensichtlich habe ich mich in euch und eurem Wesen in den vergangenen Jahren täuschen lassen, Lysander“, unterbrach der Hauptmann Luca hart. Er sprach nicht laut, aber die Kälte in seinen Worten jagten Luca eisige Schauer über den Rücken. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte Orpheu direkt anzusprechen. Das Gesagte würde ihn noch weiter aus der Gemeinschaft dieser Krieger ausschließen.
„Es bedarf keiner weiteren Worte mehr, Lysander. In Valvermont werde ich um einen eurer Ordensbrüder bitten.“
Über Lucas Züge huschte ein mildes, bedauerndes Lächeln. Er hob den Kopf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Als er sich bedacht langsam umdrehte spürte er schmerzhaft die glühenden Blicke des Hauptmannes in seinem Rücken. Orpheu wollte er nicht auch noch die Genugtuung einer erzwungenen Debatte geben, bei dem jedes Wort des Magiers ein weiterer Spatenstich für sein Grab war.
Ruhig trat Luca aus dem diszipliniert eiligen Kreis der Söldner heraus und lehnte sich gegen einen losen, recht gewaltigen Gesteinsbrocken. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete er das kleine Heer, ohne ihre Handlungen jedoch zu erfassen. Gleich wie kalt er nach außen wirken mochte, so krampfte sich doch sein Herz schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken den einzigen freundlichen Mann, seinen vielleicht einzigen Freund hier, verletzt und vor den Kopf gestoßen zu haben.
Am liebsten hätte er noch einmal mit Orpheu gesprochen, den Versuch gemacht ihm alles zu erklären, aber er zählte nicht zu den Männern, die mit ihrem Hauptmann bei einem vertraulichen Becher Wein oder Bier persönliche Sorgen austauschten.
Sollte der Elf doch von ihm denken was er wollte. Irgendwann würde es vielleicht eine Zeit geben, die für Erklärungen besser geschaffen war als diese jetzt.
Tam grollte leicht in seinem Hemd und peitschte mit seiner Schwanzspitze unangebracht hart gegen Lucas Bauchdecke.
Der junge Mann wusste, dass sein Drache eher für den friedvolleren Weg war und ihm diese Situation mit Orpheu nicht gefiel.
„Bitte nicht“, flüsterte Luca. „Sprich nicht aus, was du denkst. Ich weiß es ohnehin und mir steht jetzt nicht der Sinn nach Diskussionen.“
„Außer dir hat bis eben keiner auch nur ein Wort gesagt.“, gab Tambren spitz zurück und bohrte seine spitze kleine Schnauze durch die Schnürung des Hemdes. Eines der Lederbänder drückte ihm scheinbar unangenehm gegen den langen dünnen Hals. Der Drachling biss es durch, worauf hin Lucas Hemd weiter aufklaffte und Tam selbst fast den Halt verloren hätte, wenn ihn der Magier nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte.
„Danke“, murmelte der Drache widerwillig.
Luca setzte ihn auf dem Felsen ab und ignorierte ihn.
Seine Finger malten Symbole in die leere Luft, während er fast ohne darüber nachzudenken uralte Worte in einer längst vergangenen Sprache murmelte.
Wie so viele Zauber hatte er auch diesen abgewandelt und ihn in seine eigene Sprache transferiert um ihn leichter nutzbar zu machen. Das Volk der Seraphin und ihre Geschichte waren ein von Magie durchwoben und in ihren Worten schlief ungeheure Macht.
Wie einfach es doch für ihn war, aus den Schatten Materie zu gewinnen und die feuchte Kälte zusammen mit den Resten der Nacht zu einer nebulösen grauen Pferdegestalt zusammen zu zwingen.
Der Zauber sah eigentlich vor Zugriff auf die Ebene der Untoten und der Dunkelheit zu nehmen, aber er ging einen Schritt weiter. Viel einfacher war es doch die momentanen Gegebenheiten zu nutzen. Die klamme Kälte der Berge und die feuchte Morgenluft zusammen mit den Schatten die in den zerklüfteten Felsen hingen, erschienen ihm näher als eine andere Ebene.
Das Geisterpferd gewann immer mehr an Stofflichkeit und zugleich bannte Luca einen Teil seiner Lebenskraft in das Geschöpf.
Dieses Ritual der Erschaffung nutzte er sehr oft, wenn er sich von den anderen distanzieren wollte.
Tam flatterte unbeholfen von seinem unfreiwilligen Sitzplatz auf und testete die Stabilität der Kreatur. Langsam ließ er sich auf dem Rücken des Schattentieres nieder, das reglos da stand.
Er sank kurz in der Nackenmähne ein, arbeitete sich dann aber wieder hoch.
„Weich wie Federn, Luca“, versicherte er.
Der Magier nickte nur leicht, sammelte seine wenige Habe, Schlafrolle und Sattel mit den Satteltaschen auf und warf es dem Geisterpferd über den Rücken.
Mit einem leisen Aufschrei rettete sich der Drachling auf den Nackenkamm des Pferdes, umschlang dann aber das Sattelhorn mit seinem Schwanz und ließ sich auf der rechten Flanke herab, um Luca, der die Riemen festzurrte, böse anzusehen. Luca beachtete ihn nicht.
Wortlos zäumte er das unwirkliche Geschöpf auf und schwang sich dann gewohnt kraftvoll in den Sattel.
Ein weiteres Mal brachte sich Tambren gerade so in Sicherheit, verkroch sich dann aber zischend und Zähne klappernd in Lucas Schoß, um wenige Minuten später, noch vor Aufbruch der Gruppe, einzuschlafen.
Luca folgte in geringem Abstand von zwei Pferdelängen dem Tross als Schlusslicht. Einerseits genoss er die einsame Stille am Ende der Gruppe, aber andererseits oblag es nun ihm die Wacht über die Männer zu halten.
Seine Sinne waren geschärft und offen für jeden noch so geringen Hauch einer Gefahr. Allerdings konnte er sich nicht nur auf Augen und Ohren verlassen, sondern musste mehrere Zauber weben, die ihn vor allen Arten magischer Ausspähung, Angriffen und Wesen warnten, beziehungsweise die anderes Leben - insbesondere solches mit feindlichen Absichten - erfassen sollten.
Am Rande seines Bewusstseins spürte Luca immer wieder einige kleine Dinge, die ihn nervös machten. Allerdings konnte er – gleich wie viel Mühe er sich gab – sie nicht lokalisieren.
Den Morgen hindurch verbrachte er dicht bei der Gruppe, blieb aber oftmals ein Stück zurück, um die Umgegend gründlich zu beobachten.
Sie ritten auf einem Felspfad dem Pass entgegen. Rechts neben Luca fiel die Klamm um zwanzig und mehr Fuß in die Tiefe ab und links türmte sich eine zerfurchte Felswand auf.
Die Pferde vor ihm hatten einige Mühe auf dem teilweise sehr rutschigen Untergrund mit ihren beschlagenen Hufen Halt zu finden. Noch konnten Reiter und Pferde gefahrlos vorwärts kommen, aber eine Regennacht hätte fatale Folgen gehabt. Das alte, zerklüftete Gestein bröckelte manchmal. Stürme und Unwetter hatten es zu einem nicht ungefährlichen Weg gemacht.
Die anfänglich Kälte, seine Erschöpfung, der Streit mit Orpheu und seine persönlichen Sorgen machten ihm nach einigen Stunden die Konzentration sehr schwer und zogen seine Aufmerksamkeit in eine völlig falsche Richtung. Er spürte, dass ihn das geringste Geräusch nervös machte und er sich immer wieder anspannte, sobald auch nur das Geringste am Rande seiner Aufmerksamkeit kratzte. Überreaktionen dieser Art konnte er sich nicht erlauben. Das beeinträchtigte die Sicherheit der Gruppe.
Immer wieder rief er sich zur Ordnung. Aber letztlich brauchte er eine Pause und die Ruhe zu meditieren, um wieder zu Kräften und zu neuer Konzentration zu kommen.
Er schloss kurz die Lider und massierte seinen Nasenrücken. Schon seit einer Weile schmerzte die Sonne in seinen Augen und brannte sich mit wirren Bildern imaginärer Gefahren in seinen Verstand.
Für wenige Augenblicke konnte er so sogar klarer sehen, hinter geschlossenen Lidern die Gefahren wesentlich besser lokalisieren; die ganzen winzigen Lebewesen der Berge, die Vögel hoch über ihm und den unsichtbaren Verfolger, der sich hinter ihm auf dem Pfad lautlos wie ein Berglöwe bewegte.
Luca lächelte in sich hinein. Wenn er sie verfolgen wollte, so sollte er das ruhig noch eine Weile tun. Gefährlich erschien er dem Magier weniger. Einfach nur ein Mann auf dem ein schwacher Unsichtbarkeitszauber lag. Wenn sich Luca genauer auf ihn konzentrierte, konnte er auch keinerlei weiteren magischen Schwingungen von ihm wahrnehmen. Vermutlich nutzte er einen Trank oder magische Gegenstände um seine Gestalt zu verbergen.
Was also bewog einen einzelnen Mann einer Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Söldner zu folgen? Eine Falle?
Der Magier konnte sich die Frage anhand der landschaftlichen Gegebenheit der Berge recht einfach beantworten. Wenn der Mann sie in eine Falle treiben wollte, so hätte das ein feindlicher Söldnertrupp von langer Hand und mit einiger Vorbereitung angehen müssen, sollte heißen sie hätten Orpheus Heer schon länger in ihrem Fokus haben müssen. Aber er folgte ihnen erst seit kurzer Zeit. Außerdem bot sich in dieser Gegend so nah an den Pässen auf den schmalen Bergpfaden keine Möglichkeit für einen Hinterhalt. Höhlen gab es hier keine und die Felswände waren schlicht zu steil und zu glatt um darauf herumzuklettern, wenn man nicht unbedingt ein Affe oder eine Bergziege war. Im Umkehrschluss war es also recht unwahrscheinlich, dass sie an einer größeren Gruppe vorüber gezogen waren, ohne sie bemerkt zu haben. Wahrscheinlich war er ein einzelner Wachposten, der nun ihren Weg verfolgte und mit ziemlicher Sicherheit versuchen würde, an ihnen vorbei zu seinen eigenen Leuten zu kommen.
Wenn der Gedankengang stimmte, boten sich Orpheu und Luca schöne Möglichkeiten ihrerseits ihren Beobachter zu bespitzeln.
Vielleicht, wenn sie rasteten, würde diese Person versuchen am Lager vorbei zu kommen. Dennoch warnte Luca Orpheu vorsichtshalber mit einem geflüsterten Zauber. Trügerische Sicherheit hatte schon mancher Armee den Todesstoß versetzt.
Aber zumindest sollte sein Beobachter den Eindruck eines ermüdeten Heereszuges suggeriert bekommen.
Luca gähnte hinter vorgehaltener Hand. Die Müdigkeit musste er nicht einmal spielen. Zurzeit fühlte er sich mehr als erschöpft und schwindelig. Der Aufbruch ohne ein Frühstück war zwar in letzter Zeit normal, schon weil die Männer mit ihren Vorräten haushalten mussten, aber Hunger, gepaart mit Rückenschmerzen durch die Stunden auf dem Rücken eines Pferdes, beziehungsweise der Nächte, die sie in Etappen auf hartem, steinigen Boden verbrachten, froren und wechselweise Wachen übernahmen, zehrten an jedem einzelnen von ihnen. In den vergangenen Jahren hatte Luca sich als einer der genügsamsten Esser dieser Gruppe heraus gestellt und als der, der zäher war als Orpheu. Aber wenn selbst er eine verzerrte Wahrnehmung hatte, wollte er nicht genau wissen, wie es seinen Kameraden ging.
Eine Rast allerdings war erst am frühen Nachmittag möglich, nachdem die Sonne bereits den Zenit überschritten hatte. Ein etwas breiteres Felsplateau bot allen Mann Platz um abzusteigen, ihren Tieren eine Pause zu gönnen und selbst etwas von der spärlichen Nahrung zu sich zu nehmen.
Schales Wasser und getrocknetes, zähes und versalzenes Fleisch mit trockenem Brot lockte keinen von ihnen ernsthaft. Dennoch schlangen die Meisten herunter, was Orpheu ihnen zuteilen ließ.
Einige von ihnen stiegen ab und ließen sich zu Boden sinken, kümmerten sich nicht einmal um ihre Pferde, sondern schliefen dort ein, wo sie saßen.
Luca sehnte sich selbst nach Schlaf. Als er Tam hoch nahm und sich aus seinem Sattel schwang, zitterten ihm die Knie und eine Welle von Übelkeit und Schwindel ließen ihn taumeln. Nein, gut ging es ihm wirklich nicht, aber vergleichsweise blendend gegenüber denen, die in den letzten Kämpfen Verletzungen davon getragen hatten. Bei gar manchem schwärten eitrige Wunden.
Manchmal baten sie Luca um seine Hilfe. Justins Wissen über Kräuter und Heilung war nicht spurlos an dem damaligen Knaben vorüber gegangen. Aber die wenigen Tinkturen und Salben, die er bei sich gehabt hatte, waren aufgebraucht und er konnte die Männer nur mit Magie versorgen, allerdings schwächte ihn diese Art des Zauberns selbst sehr, so sehr, dass Orpheu ihm dies untersagt hatte. Luca kehrte seine nekromantischen Zauber um und gab Lebenskraft, die seine eigene war anstatt sie zu rauben.
Auch das hatte ihm viel von seiner Stabilität geraubt. Im Augenblick fühlte er sich nicht wie ein gesunder, junger Mann, sondern eher wie ein dreihundertjähriges Wrack.
„Du solltest dich ausruhen“, warnte ihn Tambren.
Auch dieses Mal überhörte ihn Luca geflissentlich. Er musste schon einige Sekunden dazu aufwenden sich wieder zu fangen, aber nicht so lange als dass er die Mahnung seines Drachlings überhört hätte. Im Moment wollte er einfach nicht mit ihm sprechen.
Tam seufzte leise. „Du hörst nie auf mich.“
Lucas schlechtes Gewissen meldete sich sofort wieder. „Tut mir Leid, mein Kleiner“, flüsterte er und küsste den schuppigen Drachenkopf.
Die Goldaugen des Drachen verdrehten sich, um Luca im Blick zu behalten.
“Ich muss mit Orpheu reden. Unser Verfolger ist immer noch in der Nähe.“
„Ich weiß.“, entgegnete Tambren. „Momentan kann ich ihn sehn. Angst hat er. Der Trupp hier verunsichert ihn ziemlich, Luca.“
Der Magier lächelte. „Danke für die Information, kleiner Freund. Kannst Du vielleicht näher an ihn heran kommen und versuchen klarere Eindrücke von ihm zu sammeln?“ Er räusperte sich. „Es wäre schon sehr peinlich, wenn ich das ganze Heer verrückt machen würde und nur ein verängstigter Dörfler, der dem Massaker entkommen ist, würde uns hinterher laufen.“
Der Drachling nickte, sprang aus Lucas Armen hoch auf seine Schulter und reckte sich dort, wobei er es nicht unterlassen konnte seine Schwanzspitze in einem eleganten Schwung um Lucas Hals zu schlingen und ihm dabei beiläufig mit der Quaste einen Nasenstüber zu geben.
„Das musste sein, oder?“, fragte Luca gereizt.
Tam hob eine Braue und schwieg dazu.
Dann hüpfte er in den Sattel und stieß sich unelegant ab.
Luca sah ihm lächelnd nach. Er liebte den kleinen Drachen sehr. Allein zuzusehen, wenn er seine kleinen Flügelchen ausbreitete und versuchte seinen dicken Wanst mit einigen schnellen Schlägen der Gravitation zu entreißen, mutete fast schon lächerlich an. Aber das was Luca an Nahrung verweigerte, nahm Tambren im Dreifachen zu sich. So wurde der Drachling immer runder und Luca sah seine Kleider an sich flattern wie Lumpen an einer Vogelscheuche.
Pass auf dich auf, Tammy, lass dich nicht entdecken, mein kleiner Freund, warnte Luca ihn noch einmal wortlos.
Das einzige was ihm antwortete war ein geistiges Zunge herausstrecken seines kleinen Drachen.
Mit leichter Sorge im Herzen und immer noch wackligen Knien ging er durch das Lager zu Orpheu hinüber.
Der Hauptmann hatte seine Stute abgesattelt und rieb ihr Fell mit einer rauen Wolldecke ab. Er hatte Luca mit sehr großer Sicherheit bemerkt, sprach ihn aber weder an, noch wendete er sich ihm zu.
„Ein einzelner Mann, wenige Meter hinter dem Lager und er hat Angst, Orpheu.“, berichtete Luca knapp.
„Bedeutet er Gefahr?“ fragte Orpheu. Seine Stimme klang gereizt, stellte der Magier beiläufig fest. Aber das interessierte Luca wenig.
„Jemand mit Angst im Herzen ist immer gefährlich, Orpheu. Aber das muss ich dir wohl kaum erklären.“ Luca lehnte sich mit dem Rücken an eine Felswand. Die Kälte des Steins machte ihm bewusst, dass die trügerische Sonne hier nicht die Kraft hatte zu wärmen.
Orpheu zögerte, nickte dann aber und fuhr mit seiner Arbeit fort. Seine braune Stute schnaubte leise. Auch sie war müde und sehnte sich nach dem heimatlichen Stall und einem vollen Hafersack. Ihr Fell hatte allen Glanz verloren und der Sattel rieb ihre Haut immer weiter auf. Orpheu hatte schon mehrfach das Pferd ausgewechselt. Seine Stute trug manchmal nur leichtes Gepäck, mal das Kochgeschirr oder Feldverpflegung.
Offenbar aber kannte das Tier diesen Weg durch die Berge zu gut. Sie wusste, dass es nicht mehr weit nach Hause war. Die letzten Tage würde sie auch noch treu ihren Herren tragen.
Orpheu streichelte liebevoll ihren Hals und schmiegte seine Wange in ihre Mähne.
Ross und Reiter waren eine Einheit. Luca wusste, dass Orpheu immer diese Stute mit sich nahm. In allen Schlachten trug sie ihn geduldig.
Die Freundschaft zwischen Elf und Tier war intensiv, bis auf die telepatische Verbindung vermutlich genauso stark wie die zwischen ihm und Tambren.
Er lächelte still in sich hinein. Wenn er ehrlich war mochte und bewunderte er Orpheu sehr. Respekt vor seiner Person, aber besonders vor seiner Persönlichkeit wahrte Luca immer.
Dennoch stritten sie oft über bestimmte Methoden und einigten sich immer auf die weiseste Lösung.
Es tat ihm fast leid diesen Mann verlassen zu müssen, denn in sich fand er einige freundschaftliche Gefühle für Orpheu.
„Gibst du mir ein oder zwei deiner Männer mit, wenn sich unser Verfolger in sein eigenes Lager verabschiedet?“ fragte Luca leise.
Orpheu sah ihn nun endlich an. „Wollt ihr wirklich selbst mitgehen, Lysander?“
Der Magier nickte. „Zum einen ist es von Vorteil wenn deine Männer unerkannt bleiben, und zum anderen kann ich dich auch mental zu Hilfe rufen, wenn wir in eine Falle geraten sollten.“
Orpheu klopfte seiner Stute sanft auf den Rücken. Das Pferd drehte den Kopf und stupste seinen Herren an. Ihr Schweif peitschte einmal durch die Luft.
„Was macht euch so sicher, dass er ein Beobachtungsposten ist?“ Der Hauptmann wendete sich Luca zu und sah ihn aus schmalen, schwarzen Mandelaugen an.
„Ein Posten wäre das logischste nach seinem Verhalten zu urteilen. Er unternimmt nichts außer uns zu folgen, Orpheu“, entgegnete Luca.
„Was nehmt ihr an ist hier? Ein feindliches Heerlager?“
Luca hob die Schultern. „Entweder das, oder es sind Rebellen. Vielleicht auch einfach nur ein verängstigter Trupp der Dörfler aus den umliegenden Ortschaften, durch die wir kamen. Ich weiß es nicht.“
Orpheu löste sich von seinem Tier und schritt durch das Lager. Er erwartete dass Luca ihm folgte. Der Magier stieß sich auch von der Wand ab und schloss zu ihm auf.
„Warum fangt ihr ihn nicht ein, Magier? Ihr seid doch begabt darin wenig Schaden anzurichten.“
Luca ignorierte die Spitze gegen sein pazifistisches Wesen. „Kaum, Orpheu. Wenn du denkst es ist klug aus einem verängstigten Mann Antworten zu pressen, wirst du nur eine Mauer des Schweigens antreffen.“
Nachdenklich nickte der Elf. „Wahrscheinlich habt ihr recht.“, murmelte er. „Und was, wenn er nur weiter hinter uns her läuft?“
Luca wiegte den Kopf. „Im Moment sind seine Chancen an unserem Heer vorbei zu kommen sehr gering. Wenn wir unser Nachtlager aufschlagen hat er eine Möglichkeit, oder wenn wir nicht mehr im Bereich dessen sind, was er als durch uns gefährdetes Gebiet ansieht.“
Orpheu nickte. „Wir werden auf der anderen Seite des Passes unser Nachtlager aufschlagen. So schlecht wie hier die Wege sind, werden wir sicher noch den ganzen Nachmittag zum Überschreiten des Gebirges brauchen.“
Er deutete den immer steiler ansteigenden Pfad hinauf.
„Was wenn sie uns hinter dem Pass erwarten? Es ist fast wie ein Tor. Wir können nur hintereinander und einzeln hindurch.“
Luca senkte den Blick, während er über die Beine eines Söldners stieg, der sich einfach nur auf dem nackten Boden ausgestreckt hatte und eingeschlafen war.
„Du hast zwar recht, dass sich diese Stelle für einen Hinterhalt eignen würde, aber von wie langer Hand müsste das geplant werden? Dann müssten unsere Gegner mehr sein als versprengte Truppen aus den Nordlanden und sie müssten mächtige Magier bei sich haben. Unser Verfolger lässt eher auf einem ziemlich dilettantischen Haufen schließen.“
„Das zeugt wieder von eurem grenzenlosen Hochmut, Lysander!“, zischte Orpheu wütend. „Ihr glaubt auch, alle Magier dieser Welt sind unfähig im Vergleich zu euch.“
Luca spürte dass Orpheu mit seiner Anschuldigung Recht hatte. Oft klang er unglaublich überheblich. Diese Selbstüberschätzung konnte nur daher kommen, dass er selbst noch jung für einen Meistermagier war; noch keine dreißig Jahre alt, aber von hohem Ordensrang, auf einer Stufe mit den Großmeistern anderer Orden.
Seine Auffassungsgabe war höher als die einfacher Menschen und weitaus schneller als die der Elfen, deren endloses Leben der Hauptgrund für ihr langsames Lernen war.
Im Alter von neun Jahren hatte der Orden ihn als jüngsten Lehrling aufgenommen. Wenig später, lernte er von Justin Musik, Gesang und Tanz, das Spiel mit Zaubern, Melodien und Bewegung, die Energie der Magie aus der Lust und dem Verlangen heraus. Seine Rasse, sein Wesen, all das, was er immer so sorgsam in dem menschlichen Körper, den er als Gefängnis ansah, verbarg, waren der stärkste Antrieb. Die natürliche Magie der Seraphin gab ihm zusätzliche Kraft alles zu erreichen.
Aber der Preis war Einsamkeit, falscher Stolz und verbohrte Eitelkeit.
„Du hast recht, verzeih.“, sagte er leise. Er bedauerte wirklich zutiefst wieder einmal über die Strenge geschlagen zu haben.
„Manchmal glaube ich einen kleinen Jungen vor mir zu haben.“, knurrte Orpheu.
Luca ließ diese Worte klaglos zu. Der Hauptmann war alt, erfahren und weise. Er hatte Recht.
Dann hob Luca den Blick und sah über das Lager.
Die Männer taten ihm leid. Viele lehnten an den Steilwänden und dösten, versuchten ihren Hunger und den bohrenden Durst zu vergessen. Andere versorgten ihre verwundeten Kameraden.
„Bald, in den Blutbergen, werden wir wieder jagen können. Da gibt es reichlich klarer, frischer Quellen.“
Überrascht wendete Orpheu den Blick zu Luca. „Ihr denkt an die anderen?“
Das Gefühl als habe der Elf ihm ein Messer in die Brust gerammt, machte sich in Lucas Herzen breit. „Solch ein Unmensch bin ich auch nicht, Orpheu.“, sagte er leise.
„Das ist wahr.“
Der Hauptmann blieb vor einem seiner Männer stehen. Gähnend blickte der Halbzwerg zu ihm auf und kratzte sich an seinem Bauch. Stechend grüne Augen richteten sich auf Luca. Thorn Rotbart konnte man mit fug und recht als einen der besten, aber auch der missmutigsten Krieger aus Orpheus Heer bezeichnen.
Seine Künste mit Äxten und Hämmern waren berühmt. Das wilde, von roten, verfilzten Haaren umrahmte Gesicht und die vielen Falten, die ihm das Leben und der Krieg in die blassen Züge geschnitten hatten, gaben ihm einen furchtbaren, harten und hasserfüllten Ausdruck. Obwohl er und Luca seit dem ersten Tag zusammen in Orpheus Heer dienten, konnte der Magier nicht zu dem Halbzwerg durchdringen.
„Was, Hauptmann?“, fragte er knapp, ließ aber Luca nicht aus den Augen.
„Wenn Meister Lysander es von dir verlangt, wirst du ihm Waffenhilfe leisten.“
Die Augen verengten sich und wurden zu lauernden Schlitzen. „Ja, Hauptmann.“
Er richtete sich weiter auf und zog ein Bein an den Oberkörper um sich mit dem Ellenbogen darauf abzustützen.
„Um was geht es, Meister?“, fragte er und blickte zu Luca.
Der Magier setzte sich Thorn gegenüber auf den Boden, die Beine untergeschlagen und den Mantel eng um seine Schultern geschlungen. Orpheu blieb ruhig hinter ihm stehen.
„Wir werden von einem einzelnen Mann verfolgt. Er ist schon den ganzen Vormittag hinter uns her. Aber ich denke, er ist keine ernstliche Gefahr. Wenn er sich heute Nacht - oder wann immer - von unserem Tross verabschiedet, will ich ihm dort hin folgen wo er herkommt. Damit wissen wir, mit wem und mit was wir es zu tun haben.“
Thorn schnaubte und spie aus.
„Das können wir auch einfacher haben. Einfangen, foltern und er redet.“
Lucas Blick verdüsterte sich. „Dann sind wir nicht besser als die, gegen die wir kämpfen.“
„Ihr seid ein Träumer, Magier.“ Seine Stimme troff vor Verachtung. „Glaubt ihr, wir unterscheiden uns in irgendeiner Art von allen anderen Soldaten? Wir werden nur von einem anderen Herren besoldet.“
Einige Sekunden schwieg Luca, dann flüsterte er: „Ich weiß, dass du nicht anders bist, Thorn, aber ich unterscheide mich davon. Und auf diesen Unterschied lege ich recht großen Wert. Meine Hände müssen sich nicht blutrot färben.“ Sein Tonfall war kalt.
Thorn lachte humorlos auf. „Mit euch kann man auch keinen Krieg gewinnen. Krieg heißt töten, sonst wird man selbst getötet.“
„Das mag dir so vorkommen, Thorn. Krieg heißt die Macht- und Geldgier einer oder mehrerer Personen zu befriedigen und das über viele schuldige und unschuldige Leben hinweg.“
„Warum seid ihr dann ein Kriegsmagier geworden, Lysander?“ fragte Thorn nun ehrlich verwirrt.
„Weil ich als Kind kaum gefragt wurde, was mir für mein Leben vorschwebt.“, antwortete Luca nun wesentlich weniger zornig. Er atmete tief durch. Der Blick des Zwerges flackerte etwas. Scheinbar dachte er darüber nach, dass Luca nicht als Magier geboren worden war und vielleicht eine für ihn völlig verwirrende und befremdliche Kindheit und Jugend gehabt hatte. Der Mann, den so viele im Lager nicht mochten und schon gar nicht verstanden, hatte sein Schicksal nicht selbst gewählt.
„Ich war zu persönlich“, gestand Thorn. „Vergebt mir, Meister.“
Luca sah ihn still an, zog die Knie an den Leib und umschlang sie mit seinen Armen.
„Kannst du mir versprechen vorerst keine Gewalt einzusetzen, Thorn?“, fragte Luca. In seine Stimme kehrten wieder sein Gleichmut und seine Ruhe ein.
Thorn nickte knapp. „Ich will es so tun, Meister. Also verfügt über mich.“
„Danke“, murmelte Luca und erhob sich.
Reglos blieb er stehen und hörte in sich hinein. Tambrens leises, geistiges Zupfen hätte er fast nicht bemerkt.
„Was habt ihr, Lysander?“ fragte Thorn nun alarmiert.
Doch bevor er sich aus seiner sitzenden Position erheben konnte, winkte Luca rasch ab. „Warte, still...“, bat er ihn.
Thorn verharrte reglos, lauschte nun aber auch. Außer den Gesprächsfetzen und lautem Schnarchen trug der Wind nur noch das Atmen der Tiere mit sich.
Luca schloss die Augen und konzentrierte sich auf Tambrens Geist.
Der Drachling übermittelte ihm den fast körperlich wahrnehmbaren Gestank wilder Angst, Panik die bereit war Dummheiten zu machen. Bruchstückhaft Erinnerungen, Wissen und Imaginationen eines anderen Menschen drangen zu Luca. Wirre Eindrücke einer Höhle, eines recht gewaltigen Felsdoms brachen sich mit Szenen von Folter, Gier und unbändigem Hass, der sich in Blutorgien erging, sowie der panischen Angst vor Entdeckung und einem verwahrlosten Haufen von Kriegern.
Luca hob die Lider.
„Ein Gefangenenlager. Das ist es.“, flüsterte er. „Hier oben gibt es in einer der Höhlen ein Gefangenenlager, und wir sind so nah daran, dass er eine Entdeckung durch uns fürchten muss.“
Thorn stand nun doch auf. „Gegner?“, fragte er leise.
Luca senkte den Kopf und sah zu Thorn herab, der ihm gerade bis zur Brust reichte.
„Gegner haben wir zu erwarten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein Gefangenlager der Stämme aus dem Norden, oder ob es eines der Kaiserlichen ist.“
„Kann eure Flugechse nicht feststellen, wie der Kerl aussieht?“ fragte Thorn, der sich offenbar zusammenreimen konnte, dass Luca seinen Drachling genutzt hatte um den Beobachter auszuspähen.
„Er ist unsichtbar. Gedanken sind oft keiner festen Sprache zugeordnet, sondern eher eine Abfolge von Eindrücken und Bildern. So nehme ich sie auch über Tambren wahr.“
„Sagt eurem Drachenvieh, dass es sich vielleicht noch mal bemühen soll, Eindrücke des Lagers genauer zu definieren, vielleicht auch von denen, die Gefangene, beziehungsweise denen, die Wächter sind.“
Luca ignorierte die Spitze gegen Tam, unterließ es aber auch die volle Wortwahl an seinen Vertrauten weiter zu geben. Ihm stand wenig der Sinn nach einem Hin und Her über ihn als Mittler.
Der kleine Drache gab sich offenbar noch mehr Mühe so viele Informationen zu sammeln wie es ihm nur irgend möglich war.
Bilder von schimmeligen Felswänden wurden deutlicher, flackernder Fackelschein, verzerrte Schattenbilder an den Wänden, pendelnde Ketten und Haken, rostige Gitterstäbe und verkrustete Blutrinnen im Boden.
Das Bild einer Person nahm immer mehr Gestalt an, hervorgezerrt aus den Tiefen einer halb verdrängten Erinnerung, die immer noch mit schwarzen Spinnenfingern versuchte das Szenario zurückzureißen.
Doch dann, für einen schrecklichen Moment, nahm alles klare Formen an.
Es war ein einzelner Mann, nackt bis auf die Hose, die vor Schmutz und Blut starrte. In einer Hand hielt er eine Kette mit einem feinen Haken daran und zog etwas, dass verdächtig an Gedärm erinnerte aus einem Körper heraus, durch eine einzige, kleine, offene Wunde.
Doch das Opfer war nicht tot.
Luca ballte die Fäuste, bis seine Nägel die Handballen aufrissen. Sein Kiefer presste sich mit ungeheuerer Gewalt zusammen und seine Zähne drohten kurz der Spannung nicht stand zu halten. Dann verschloss er seinen Geist. Die Verbindung zu Tambren war da, aber er wollte diese Bilder nicht mehr sehen. Keuchend entspannte er sich. Alles in ihm musste sich verkrampft haben. Selbst sein Herz und sein Magen schienen ihm hart wie Steine.
Langsam kehrte um ihn wieder das Bild des Heerlagers zurück, immer noch durchbrochen von wirren Lichtblitzen, die Überreste seiner Vision waren.
„Was habt ihr gesehen, Lysander?“, fragte Thorn nervös.
„Eine Folterkammer.“, flüsterte Luca. Er spürte, dass er weder seine Mimik noch seine Stimme unter Kontrolle hatte. Alles an ihm schwang mit der Woge an Ekel und Zorn, aber auch hilfloser Fassungslosigkeit.
„Sind es unsere Feinde?“
Thorns kaum verhohlene Vorfreude regte wieder neue Wut in Luca an.
„Ich kann es dir nicht sagen.“, flüsterte er tonlos.
Er hatte erkennen können, dass es sich nicht um einen Mann aus den Nordlanden handelte, sondern um einen Sarriner. Aber er bezweifelte auch, dass dieses Gefangenenlager im Sinne des Kaisers war, auch wenn es sich an den Landesgrenzen befand.
Einmal mehr wünschte er sich nichts von diesen sinnlosen Kriegen wissen zu müssen und wohlbehütet von Prinz Mesalla in seiner Heimatstadt Valvermont zu leben. Doch allein das Wissen, dass Mesalla Valvermont und die Grenzen der Freistadt zwar frei von allen Kriegen hielt, aber mit seinen fünf Magier-Orden andere Reiche unterstütze, gab dem Bild des Friedens einen bösen Riss.
„Wenn es welche von unseren Leuten sind...“, begann Thorn, verstummte aber als Orpheu näher trat.
„Lysander, was habt ihr gesehen?“
Der Magier drehte sich um und ergriff Orpheu am Arm. „Ich muss mit dir reden, Hauptmann.“
Der Blick Orpheus ging durch Luca hindurch. Lange starrte er einen imaginären Punkt, jenseits der Brust des Magiers und der Felsen hinter seinem Rücken an. Beide wusste, dass die Angst, die ihr Verfolger hatte - von seinen eigenen Leuten entdeckt zu werden - nur einen Schluss zuließ. Es waren Renegaten und das Lager hatte nicht die kaiserliche Zustimmung.
„Wisst ihr, wer die Gefangenen sind, Lysander?“
Der Magier schüttelte den Kopf. „Nein.“, sagte er dennoch bekräftigend. „Ich will es auch gar nicht wissen. Solche Methoden sind grausam. Das kann nicht im Sinn des Kaisers liegen.“
Orpheu nickte schwer. „Das sind Wege, die allem wiedersprechen, was mein Herrscher je gelebt hat. Gefangenenlager schön und gut, bis vor kurzem war Kampfhandlungen und der Krieg ist sicher nicht auf lange vorüber, aber das ändert nicht viel daran, dass das einfach nur eine vollkommen kranke Form des Abschlachtens ist. Das sind Tiere.“
Luca atmete tief durch und bestätigte Orpheu.
„Ich weiß nicht, wo der Eingang zu diesen Höhlen ist, wo sich das Lager genau befindet, aber ich bin allemal dagegen, dass ihr euch allein mit Thorn auf die Suche begebt.“, sagte Orpheu.
Luca legte nachdenklich den Kopf in den Nacken und starrte in den wolkenlosen Himmel.
Tam, mein Kleiner, kannst du aus seinem Geist herausfinden, wo der Zugang des Lagers ist? fragte Luca wortlos.
Die Rückantwort erging sich in einem einzelnen Bild.
Felswände ragten an diese Stelle auf, allerdings wuchs auch schon die erste spärliche Form von Vegetation aus den Ritzen der Steine und Moos überwucherte einige Stellen.
Der Magier konnte sich zurzeit keine genaue Vorstellung davon machen, wo dieser Ort war. Es blieb ihm wenig anderes, als Tambren ein weiteres Mal um Hilfe zu bitten.
Suche diesen Ort, Tammy. Bitte, mein Freund.
Der Drachling gehorchte ohne Wiederworte zu geben.
„Lysander?“
Orpheus Stimme drang von weit her an Lucas Ohr. Verwirrt blickte der Magier in die schwarzen Elfenaugen. „Tambren sucht den Zugang. Ich glaube, wir sollten nicht erst warten, bis unser Verfolger die Initiative ergreift.“
Der Hauptmann nickte. „Gut. Dann sollten wir auch wieder aufbrechen. Das lange Lagern macht es zu schwer wieder in den Sattel zu steigen.“
Allein der Gedanke wieder im Sattel sitzen zu müssen, machten ihm das Aufsteigen schwerer. Unwillkürlich schmerzten ihm Rücken und Gesäß. Er hasste es wirklich immer wieder gegen seine Natur zu handeln. Dennoch zog er sich müde in seinen Sattel und ließ das Schattenpferd antraben.
Vor ihm formierte sich das Heer erneut. Die Ausgeruhtesten übernahmen die Spitze und den Schluss, während die Verwundeten in die Mitte genommen wurden.
Mit ihnen setzte sich auch ihr Verfolger wieder in Bewegung. Luca strich ihn aus seinem Kopf. Das was er für einen kurzen Augenblick gesehen hatte, sagte ihm, dass dieser Mann von Grund auf verdorben sein musste. Er wollte im Moment keinen Gedanken daran verschwenden. Anstatt dessen verfing er sich erneut in düsteren Grübeleien über den Orden und Justin. Ihad würde Luca sicher zur Rechenschaft ziehen wollen, wenn er sogar dem Ordensleben den Rücken kehrte. Allerdings würde es nicht schwer sein den Namen Lysander abzulegen und wieder als Luca ein freies Leben zu führen. Nur wer war er außerhalb des Ordens? Ein Nichts. Einen wirklichen Familiennamen besaß er nicht mehr. Luca war alles was ihm gelassen wurde. Sein Heim war das der Armen und Vergessenen, tief verborgen in der Dunkelheit des Labyrinthes.
Er wollte ohnehin nach dem Elf suchen, sich vielleicht für immer von seiner Heimat und seiner Vergangenheit trennen. Allerdings machte Justin ihm große Sorgen. Er würde seinen Freund und Geliebten verraten, auf der Suche nach dem Mann, dem sein Herz wirklich gehörte.
Was wenn er diesen Mann fand, sich ihm aber nicht wirklich nähern konnte? Die Vorstellung dass sie niemals miteinander sprechen würden, oder schlimmer, sie Freundschaft verband – tiefe, brüderliche Freundschaft – aber er dem Elf niemals seine Gefühle sagen und zeigen zu dürfte, erschütterte ihn zutiefst.
Die Scherben seines Daseins machten ihm ein weiteres Mal klar, dass - wenn er sich auf die Suche machte - er alles für eine vollkommen ungewisse Zukunft aufgab.
Justins Güte aber hatte er nun lange genug ausgenutzt, seine Liebe genommen und ihm nur Freundschaft und seinen Körper gegeben. Aber er genoss auch die Wärme und Zärtlichkeit des VampirElf. Er war ihm immer Schutz und Liebhaber gewesen. Justin scheute sich nicht davor Luca so zu nehmen wie er war. Er wusste, dass der Magier ihn nicht liebte und Luca ließ auch nie eine Sekunde Zweifel daran, dass er sich nicht in ihn verlieben konnte. Aber nun hatten sich die Vorzeichen geändert. Das angenehme, vertraute Verhältnis stand unter dem Schatten dessen, was kommen würde. Er fühlte sich wie ein Verräter an seinem treusten Freund.
Wie Justin reagieren würde, konnte Luca sich in mehreren Richtungen ausmalen. Sie kannten einander sehr gut, und so sanft und liebevoll der Vampir sein konnte, so brutal und grausam zeigte er sich oft Luca gegenüber. Zwei Seelen wohnten in Justins Brust und die anstehende Entscheidung würde sicher kein Verständnis zur Folge haben.
Schon mehrfach im Verlauf ihrer gemeinsamen Jahre hatte Luca andere Gefährten gehabt. Justin hatte sie ertragen, akzeptierte sie aber nicht. Er alleine besaß Luca und war es der das Herz des Magiers für sich in Anspruch nahm.
Seine Gedanken umwölkten sich zusehends mit Melancholie und Finsternis.
In seiner Vorstellung Justin ergriff ihn mehrfach und zwang ihn an seiner Seite zu bleiben, war bereit ihn einzusperren und zu zwingen sein Bett zu teilen. Das hatte er schon einmal getan, fast im gleichen Zug wie sein anderer Liebhaber. Luca kannte ihn aber auch vollkommen anders, verträumt, überschwänglich, die Liebe in reinster Form, Gestalt geworden und wunderbar. Normal zog er es vor von diesem Justin zu denken und wenn er über ihn sprach, war es der Heilige, nicht das Monster.
Dieser Mann, verflucht zu ewiger Nacht, war das Herz des Labyrinthes, dunkel und gefangen, krank in Seele und Geist, aber dennoch bereit für alle, die sich ihm anvertrauten, der Engel zu sein, der ihnen Hoffnung gab.
Luca wusste, dass er einen beträchtlichen Teil an Finsternis in Justins Herz gezwungen hatte, aber zugleich war er es auch, der Justins Liebe weckte.
Seine hoffnungslosen, schmerzlichen Gedanken lenkten ihn so sehr ab, dass er Tambren erst bemerkte, als dieser auf seiner Schulter landete. Schmerzhaft machte sich das Gewicht des Drachlings bemerkbar.
„Du hast mich gar nicht wahr genommen!“, zischte Tam. „Wäre ich ein hungriger Greif gewesen, wärest du nun...“
„Erspar’ dir die Ausführungen Tammy. Der Greif hätte sich an meinen spitzen Knochen bestenfalls verschluckt.“
Tambren krabbelte nun langsam über Lucas Schulter hinab und rollte sich im Schoß des Magiers zusammen. Nachdem er sich mehrfach erneut platziert hatte, gähnte er herzhaft und schloss die Augen.
„Ich habe den Eingang gefunden.“, erwähnte er beiläufig und schmatzte danach leicht.
Luca hob eine Braue. „Und, wo ist er?“
„Auf der anderen Seite des Passes, wenn der Berg abfällt, auf der vom Weg abgewandten Seite.“
Tambren machte den Eindruck gerade wegdämmern zu wollen.
„Weiß Orpheu schon davon?“ fragte Luca nach.
„Da du mir nicht zugehört hattest, musste ich ja mit jemand reden. Da war der schwarze Elf der Passende, dachte ich mir so...“
In seiner Stimme schwang wieder beißender Hohn mit.
Luca hielt ihm wortlos die Schnauze zu. Er wollte nicht ständig von Tambren Strafpredigten hören. Nach einigen Sekunden sagte er: „Ich weiß es. Du musst mir nicht ständig klar machen, dass ich nicht mit Leib und Seele bei der Sache bin. Das bin ich nie, zumindest nicht, wenn es um das Töten geht!“
Tam wollte etwas erwidern, aber Luca hielt bei ihm immer noch beide Kiefer aufeinander gepresst.
„Hat Orpheu schon einen Plan?“ fragte der Magier um das Thema wieder umzulenken.
Die Antwort verstand Luca nur mental.
Wenn du meine Schnauze frei gibst, kann ich auch antworten!
„Verzeih mir.“, sagte er leise und nahm die Finger weg.
„Scheinbar die direkte Methode: hineinstürmen - einnehmen - befreien.“ Tam sprach mit ihm ohne Luca den Kopf zuzuwenden. Er wollte den Magier spüre lassen, dass er beleidigt war.
„Völlig sinnloses Gemetzel also.“, brachte Luca es auf den Punkt.
„Willst du ihn von etwas anderem überzeugen?“
„Ich weiß nicht ob ich das kann. Aber ich denke mal, wenn wir einfallen wie ein Heuschreckenschwarm, wird es Konsequenzen haben, die sich Orpheu nicht überlegt hat. Vermutlich werden in dem näheren Umkreis des Eingangs mehr Wachen herumstreunen und damit ist die Gefahr, dass den Gefangenen im Vorfeld etwas passiert recht hoch, genau wie die Tatsache dass unsere Gegner so kämpfen werden, als hätten sie nichts zu verlieren. Das haben sie auch letzten Endes nicht mehr. Wenn uns ihre Gesichter bekannt sind, werden sie nie wieder ein normales Leben führen können.“
„Sag du ihm das, Luca. Er wird vielleicht auf Dich hören.“
Der Magier schwieg nachdenklich, rieb sich dabei ohne es zu merken den schmerzenden Rücken und versuchte sich anders im Sattel zu positionieren. Das Ergebnis waren nur noch größere Schmerzen.
Leider kam er an dem Tross nicht vorüber. Die Männer ritten zu dicht an dem steil abfallenden Grat.
Ihm blieb wieder nur die Methode mit Hilfe von Magie Kontakt zu Orpheu aufzunehmen. Aber der Hauptmann konnte ihm auf diesem Wege nicht antworten.
„Fliegst du bitte vor zu ihm, Tam?“ bat Luca leise.
Der Drachenkopf hob sich und die Goldaugen Tambrens richteten sich auf Luca. Er schien etwas entgegnen zu wollen, aber er beließ es bei einem anklagenden Blick, bevor er sich wieder sehr unelegant in die Lüfte erhob.
Der Disput zwischen Orpheu und Tambren war kurz. Ganz offensichtlich hatte der Hauptmann wirklich Lucas Bedenken durchdacht und er forderte ihn auf mit ihm zu reden, allerdings erst auf der anderen Seite des Passes, wenn sie Platz für ein Lager hatten. Luca nahm das hin, machte sich aber auf dem ganzen Weg ziemliche Gedanken darüber, wie sie ungesehen diese Folterkammer betreten konnten.
Anhand dessen, was Tambren ihm an Bildern übermittelt hatte, konnte Luca wenigstens eine grobe Einschätzung des Geländes geben und dass es wenig bis gar keine Deckung gab, außer man machte sich unsichtbar. Aber Luca konnte kein ganzes Heer mit diesem Zauber belegen.
An sich sah er diese Lösung auch als vollkommen unsinnig an. Der beste Weg war, eine Gruppe besonders guter und geschickter Söldner auszuwählen, die ihn dort hin begleiteten.
Aber das musste er in Ruhe mit Orpheu besprechen.
Die Sonne sank bereits, als sie endlich einen geeigneten Rastplatz fanden. Während sich die Söldner in gewohnter Routine an den Aufbau des Lagers machten, sattelte Luca das Geistertier ab und ließ es mit dem letzten Licht im aufziehenden Abendwind vergehen. Allerdings konzentrierte er sich die ganze Zeit hindurch auf den Mann, der ihnen den ganzen Tag hindurch gefolgt war. Noch immer verbarg er sich in der Nähe. Luca konnte seine Position genau lokalisieren. Dennoch vermied er einen fixierten Blick in die Richtung der Felsengruppe, hinter der er lauerte. Der Magier hatte über Jahre hin gelernt, dass es immer gut war sich unauffällig zu verhalten, besonders in Gegenwart von Feinden.
Still sammelte er seine Sachen vom Boden auf, Sattel, die Taschen, den Rucksack und die Schlafrolle.
Tambren hatte sich dazu entschieden Luca ausnahmsweise mal nicht im Wege zu sein und lief neben ihm auf seinen breiten Hinterpfoten her. „Soll ich dir etwas abnehmen, Luca?“, fragte er und reckte sich so weit, dass er seinem Herren bis zu den Knien reichte. Der Magier lächelte gutmütig und schüttelte den Kopf.
„Nein, mein lieber Freund, diese Belastungen kann ich Dir wohl kaum zumuten.“
Tambren zuckte mit den Schultern. Diese Geste war wieder eine Spiegelung menschlicher Verhaltensweisen. Er hatte rein gar nichts mehr von den kleinen Zauberdrachen.
Langsam ging der Magier weiter, damit Tam, der für einen Schritt Lucas fünf oder sechs kleine Trippelschrittchen machen musste, hinterher kam.
Auf halbem Wege kam ihnen bereits Orpheu entgegen.
Er hatte sein Tier bereits abgeschirrt und versorgt.
„Nun, Magiermeister?“ Er sah Luca auffordernd an, als erwarte er, dass dieser einen Plan präsentiere.
Der junge Mann drückte ihm seinen Rucksack in die Arme und nickte ihm zu. „Danke dass du mir tragen hilfst.“
Über den wütenden, allerdings auch hilflosen Blick des Elf amüsierte sich Luca still. In solchen Situationen wusste Orpheu selten eine schlagfertige Antwort.
„Lass uns erst mal weiter gehen.“, bat Luca.
„Gut.“, stimmte Orpheu zu. „Und habt ihr eine Idee, einen Plan oder sonst etwas Brauchbares?“
Luca zuckte mit den Schultern. „Ein paar Leute nur, maximal ein Dutzend, sollten dabei sein. Und ich kann keine Schlächter gebrauchen, die plötzlich in einen Blutrausch verfallen.“
Er umging einige Männer, die gerade enger zusammen rückten und sich gegenseitig aus ihren Harnischen halfen; steuerte tiefer in den Kreis der Krieger und blieb in ihrem Zentrum stehen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ließ er dort seine Sachen zu Boden und schlug sein Lager auf.
Orpheu ahnte, dass der Magier einfach die Masse suchte um darin unterzutauchen. Allerdings fiel es Luca allgemein schwer unbemerkt zu bleiben. Er war größer als die anderen, insofern sie keine Elfen waren und er trug als einziger keine Rüstung sondern die grauen Ordensroben. Zudem hatte nur er solch langes Haar. Die Meisten vermieden Frisuren, die ihnen in einem Gefecht zum Nachteil gereichten.
Luca ließ sich an der Stelle, die er sich gesucht hatte, nieder und legte den Mantel ab. Vor ihm erhoben sich gerade einige Männer und sammelten sich um sich Verpflegung und Wasser zu holen.
Die Chance nutzte der Magier um unbemerkt seinen Mantel und die Robe über den Kopf zu streifen. Augenblicklich wurde es ihm kalt, nur mit Hemd und Hose bekleidet.
Orpheu beobachtete ihn.
„Was tut ihr da?“
„Wer ist der Auffälligste von uns allen?“, fragte Luca knapp.
Der Frage musste Orpheu nicht antworten. Er nickte nur still.
Dann nahm er seinen Mantel von den Schultern und legte ihn Luca um. „So sieht man euer Haar weniger.“, begründete er sein Tun mit hochgezogener Braue. Luca grinste schief. Orpheu hatte viel eher mitbekommen, dass Luca fror. Aber er nahm die Ausrede seines Hauptmannes gerne hin.
„Ein Dutzend?“, wiederholte Orpheu. „Ich werde dabei sein, Magier, seid euch dessen sicher.“
Luca hatte nichts anderes erwartet. Insgeheim war ihm das auch am liebsten, denn er kannte den beruhigenden Einfluss, den Orpheu auf seine Männer hatte.
„Gut, dann Thorn und noch ein paar andere. Aber sie dürfen keine Rüstungen tragen, die sie versehentlich verraten könnten. Auch keine gewaltigen Waffen, mit denen wir uns gegenseitig behindern. Am Besten wären Bögen, Armbrüste, Kurzschwerter und Dolche.“
Orpheu nickte. „Das hört sich nach einem Angriff an, der schnell und still vonstatten gehen soll.“
„Muss er auch. Wenn eine Wache auf der andern Seite des Passes stand, werden sicher hier noch etliche Posten mehr sein, vielleicht auch schon welche, die uns entdeckt haben. Wahrscheinlich sind die Männer dort in Alarmbereitschaft, aber wenn wir uns friedlich zeigen und uns normal verhalten, wird sie das in einer gewissen Sicherheit wiegen. Das ist unsere Chance unsichtbar mit einer kleinen Gruppe dort einzudringen und das Lager schnell zu übernehmen.“
„Einen solchen Plan hatte ich auch schon im Kopf, Lysander. Schön dass wir uns ausnahmsweise mal einig sind.“
„Wann also sollten wir uns auf den Weg machen?“, fragte der Magier.
„Wenn wir gestärkt und etwas ausgeruhter sind, denke ich. Darin stimmt ihr mir doch zu, oder?“
Luca betrachtete ihn eine Weile nachdenklich, durchdachte dabei den Stand der drei Monde, das Licht, dass sie ihnen auf dem Weg spendeten und die Möglichkeit für sich zuvor die Gegend magisch zu erkunden.
Er nickte leicht. „Bevor die Monde aufgehen, sollte ich die Krieger unsichtbar machen. Dann ist die Sicht unseres Verfolgers weitestgehend eingeschränkt.“
Luca erkannte den Denkfehler, den er gemacht hatte, im gleichen Moment in der er ihn aussprach. Allerdings noch bevor er sich revidieren konnte, unterbrach der Hauptmann ihn.
„Was wenn unser Verfolger so menschlich ist wie ich oder ein Zwerg? Wir können in der Finsternis sehen.“
Luca nickte. „Das ist mir auch gerade erst eingefallen.“, sagte er mit einigem Ärger in der Stimme. „Es wird sich eine Möglichkeit finden unauffällig aus unserem Lager zu verschwinden. Darüber kann ich mir in der nächsten Zeit ja Gedanken machen.“
Orpheu lächelte. „Gut. Wir sammeln uns zum Aufbruch bei euch, Magier. Unsere Bewaffnung wird leicht sein. Was immer uns erwartet, euer Drache wird die Gefahren doch sicher vorher für uns ausspähen, oder?“ Sein Blick glitt zu Tambren, der zusammengerollt auf Lucas Schlafrolle lag und zumindest so tat als würde er dösen. Nun, wo der Elf ihn direkt angesprochen hatte, hob er ein Augenlid und seine goldene Pupille fixierte Orpheus schönes und ebenmäßiges Elfengesicht.
„Lysanders Drache“, erwiderte er spitz. „- will erst nett gebeten werden und nimmt nur Befehle von seinem Meister an, klar?“
Der Elf verzog die Lippen. „So klein und so frech? Ihr habt euren Vertrauten nicht gut im Griff, Magier.“
Luca zog ärgerlich die Brauen zusammen, entspannte sich dann aber. „Ich habe auch meinen Hauptmann nicht gut im Griff, Orpheu. Letztlich bin ich ranghöher als du. Aber ich lasse dir die Freiheiten deine Männer zu führen wie du es willst. Dasselbe gewähre ich auch Tambren. Er ist intelligent und kann tun und lassen, was ihm gefällt.“
Die Augen des Elfes verengten sich zu schwarzen Schlitzen. Er hasste es wenn Luca ihn daran erinnerte. Zumeist fühlte er sich in seinem Rang unumstößlich als Befehlshaber. In manchen Situationen allerdings spielte Luca diese Karte gegen ihn aus.
Er erhob sich nun und verabschiedete sich für den Moment von dem Magier.
Für Lucas Geschmack war der Aufbruch zu schnell und hektisch, Orpheus Miene zu angespannt und die Wut in seinen Augen unübersehbar.
Der junge Mann wollte sich nicht entschuldigen, nicht dafür. Er hatte lediglich die Positionen verdeutlicht, nichts sonst.
„Wir kommen später zu euch, Lysander. Bis dahin solltet ihr eure Kräfte sammeln und etwas zu euch nehmen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging.
„Danke.“, murmelte Tambren und sprang in Lucas Schoss. Die schmalen Finger des Magiers strichen über Kopf, Hals und Rücken des Drachlings und brachten ihn in Sekunden zum Schnurren. Luca genoss die friedfertigen und nahen, gefühlsintensiven Momente zwischen seinem Vertrauten und sich. Dann berührten ihre Seelen sich und wurden oft zu einer einzigen.
Tambren war die zweite Drachenechse, die er zur Seite gestellt bekam. Aber mehr als Goldy, Tambrens Schwester, stand ihm dieser blaue Drachling nah. Das junge Echsenwesen hatte sich eine unglaublich dunkle und schwermütige Seele zu seinem Partner erwählt. Das wussten sie beide, und Luca bewunderte die innere Stärke Tambrens, der ihm immer zur Seite stand und seine gesamten Sorgen und Ängste, alles Leid und den Schmerz mit ihm teilte. Alles was Luca belastete traf auch das kleine Wesen. Dennoch blieb er seinem Freund und Meister treu.
„Ich werde tun worum der Elf gebeten hatte, Luca,“, sagte Tammy leise. „Er hat Recht. Ich kann die Zeit nutzen um für dich zu kundschaften. Ihr solltet nicht einfach in die Arme einer Wache laufen.“
Luca streichelte Tambren weiter. „Danke mein kleiner Freund.“, flüsterte er. „Dieses Mal lasse ich mich nicht ablenken, versprochen.“
Der Drachenkopf hob sich und Tam sah Luca von unten herauf an. Dann sprang er von seinem Schoß herab auf den Stein und huschte zwischen den Männern hindurch in die Felsen. Luca verlor ihn schnell aus dem Blick. Seine Beine waren noch warm von dem kleinen geschuppten Drachenkörper und er spürte noch recht lange das ihm so vertraute und lieb gewordene Gewicht des Drachlings. Dann schloss er die Augen und konzentrierte seine Gedanken auf Tambrens Geist.
Die bodennahe Drachenperspektive verstörte Luca im ersten Moment. Aber er gewöhnte sich sehr schnell an die hoch über ihm aufragenden Personen, die Felsen, die wie kleine Bergmassive aussahen und den noch weiter entfernten Himmel, der sich wie ein schwarzes Leichentuch über sie breitete. Mit Tambrens kurzen Beinchen dauerte der Weg durch das Lager ungewöhnlich lange. Aber schließlich ließ er die Männer, den scharfen Geruch nach Schweiß und Dreck, die Geräusche von Rüstungen und die gemurmelten Gespräche hinter sich. Die samtene Nacht umfing den Drachling und damit Luca. Mit Hilfe der mentalen Fähigkeiten seines Vertrauten entdeckte Luca nun auch ihren Beobachter, der sich zwanzig Meter vom Lager entfernt einen Posten gesucht hatte; noch immer unsichtbar. Aber die Angst war verschwunden. Er schien sich in Sicherheit zu wiegen. Tam umrundete seine Position und betrachtete ihn von hinten. Das was Luca durch die goldenen Drachenaugen wahrnahm, konnte nur ein Mensch sein. Er war nicht sonderlich groß, muskulös, schmutzig und er stank nach altem Fett, Urin, Schweiß und Sperma.
Scheinbar merkte der Mann die Blicke der Drachenechse, denn seine schattenhaft verschwommene Gestalt fuhr herum. Allerdings bemerkte er Tam nicht. Der Drachling kauerte unter einem Felsvorsprung, tief in den Schatten.
Als der Mann nichts Gefährliches entdeckte, drehte er sich, immer noch leicht irritiert zum Lager zurück.
Die Drachenechse huschte aus ihrem Versteck und suchte im nächsten Schatten Schutz und Zuflucht. Zweimal sah sie sich noch um, konzentrierte sich dann aber auf die Gegend und die Gegebenheiten der Berglandschaft.
Das eine oder andere Mal blieb Tambren stehen, lauschte, richtete sich auf und spähte die Felsen hinauf. Das feine Gehör des Drachlings nahm entfernte Atemzüge wahr, allerdings bemerkte noch zuvor Tam den scharfen Menschengeruch, der herabwehte. Anhand der Windrichtung ließ sich leicht feststellen wo eine Wache stand. Luca registrierte es zufrieden. Tam duckte sich tiefer in die Schatten der Überhänge und huschte weiter.
Es verging eine geraume Zeit bevor er zwei weiteren Wachen begegnete. Leider erkannte er diese fast zu spät. Sie standen windabgewandt und sie fielen ihm erst auf, als er ihnen sehr nah war. Aber scheinbar bemerkten die Männer, die nicht weniger widerlich und abstoßend waren als die anderen beiden, den Drachling gar nicht. Dennoch war Tam gezwungen ein Stück weit den Weg zurück zu gehen, um unbemerkt und in einem weiten Bogen um die Männer herum zu kommen.
Weitere endlose Momente wanderte die Echse auf auskühlendem Felsgestein und glitschigem Moos durch wildes unwegsames Gebiet, bis an eine lange, steil abfallende Geröllhalde heran, die am oberen Ende von einem schmalen Pfad gesäumt war und wo weitere Wachen partroulierten. Aber Tam konnte von seinem Versteck zwischen den Steinbrocken auch den Eingang der Höhle und das weite Plateau davor erkennen. Dieser Felsentor war gut geschützt, das musste auch Luca zugeben. Wenn sie unbemerkt bis hier her kamen, mussten sie sich ab da auf Schwierigkeiten einstellen.
Er war sich fast vollkommen sicher, dass er dann seine Magie einsetzen musste, um die Wachen auszuschalten. Aber er konnte leider die Männer vom reinen Beobachten schwer in ihrer Kampfkraft einschätzen. Dafür waren sie zu inaktiv. Luca wollte seinen kleinen Freund nun nicht weiter gefährden. Er rief Tam zu sich zurück.
Dieses Mal war die Drachenechse auch folgsam genug ihr bisheriges Glück nicht herauszufordern. Bis jetzt hatte ihn niemand entdeckt. Er würde den geplanten Überfall gefährden, wenn er sich nun noch weiter vorwagte und entdeckt wurde.
Vorsichtig trat er den Rückweg an und suchte sich einen stillen, unbemerkten Platz von dem aus er sich in die Lüfte erheben und zum Lager zurück fliegen konnte.
Luca erwartete Tambren bereits als dieser zwischen den ganzen schlafenden Männern zu seinem Meister zurück huschte. Er lag selbst ruhig da, ausgestreckt auf seiner Lagerstatt, den Kopf auf dem Unterarm gebettet und unter Decken verborgen. Er fror erbärmlich und sehnte sich Tam herbei. Die innere Hitze des Drachenechse würde ihn ein wenig aufwärmen. Allerdings dachte er zugleich an ein schönes, heißes Bad. Seit Tagen hatte es sich weder baden noch waschen können. Er fühlte sich schmutzig und unwohl. Sein eigener Körpergeruch stieß ihn ab.
Tam schien das weniger zu stören. Er mochte Lucas Geruch offenbar sehr. Nun krabbelte er sofort unter Lucas Decken und schmiegte sich eng an seinen Meister. „Vielen Dank, mein Freund.“, flüsterte Luca ihm in das Ohr und begann ihn zu kraulen. Sanft küsste er den warmen, schuppigen Drachkopf und ließ es zu, dass Tam den Kuss erwiderte, indem er ihm mit seiner rauen Zuge über die Wange fuhr und eine feine, unangenehme Schleimspur auf der Haut des Magiers zurück ließ.
Mit einer Hand tastete Luca nach seiner Tasche und dem Wasserschlauch. Er konnte den brennenden Hunger und vor allem den Durst seines Drachen spüren. Als sich Tam des Trockenfleisches und eines Stückes Käse gewahr wurde, wäre er am liebsten sofort aufgesprungen und hätte sich das Essen gepackt um es herunter zu schlingen, aber er versuchte sich zu gedulden. Mit hungrig hervorquellenden Augen verfolgte er jeden Handgriff Lucas und fraß ihm sofort alles aus den Fingern, was ihm der Magier reichte. Mit der gleichen Gier trank er und kuschelte sich dann noch enger an Luca.
Tam fragte ihn erst im Anschluss ob er nicht auch etwas essen wolle. Der Magier verneinte, nahm aber einen Schluck Wasser. Schuldbewusst rollte sich der Drachling zusammen und verkroch sich tiefer in den Armen seines Meisters. Er konnte Lucas brennenden Hunger spüren, aber er wusste auch, dass die Vorräte immer weiter abnahmen und Luca eher verhungern würde, als anderen etwas wegzuessen.
„Mach Dir keine Gedanken, mein Kleiner. Morgen oder übermorgen werden wir in Gebieten sein, in denen die Männer jagen können. Dann wird es für dich sicher einen Festbraten geben.“
Tam sah ihn an. „Du machst mir Sorgen. Seit zwei Tagen isst du fast nichts mehr. Deine Konzentration wird schwächer und damit auch deine Wahrnehmung und deine Kampfbereitschaft.“
Luca drückte ihm einen sanften Kuss auf den Kopf und schmiegte sich seinerseits um den Drachenleib um die schöne Wärme zu genießen. Im Moment versuchte eine Woge von unbändiger Müdigkeit ihn nieder zu zwingen. Er konnte sich in seinem erschöpften Zustand kaum dagegen wehren.
Schließlich sank er gegen seinen Willen in einen unruhigen, leichten Schlaf.
Ein unsanfter Tritt gegen Lucas Stiefelsohle weckte ihn.
Sofort schrak er hoch und sah schuldbewusst den höhnisch grinsenden Thorn vor sich stehen. Die massige Gestalt deren Gesicht von wirren Haaren und dem verfilzen Bart eingerahmt wurde, starrt auf ihn herab. Er hatte bis auf Dolch und Kurzschwert nichts bei sich. Auch seinen Harnisch und die Arm und Beinschienen hatte er abgelegt. Allerdings hielt er Luca etwas entgegen.
Der Magier konnte erst auf den zweiten Blick die Fellummantelte Feldflasche erkennen.
„Zwergengeist?“ fragte er verwundert, schalt sich aber in der gleichen Sekunde einen Narren, hatte er selbst doch Orpheu und seine Männer aufgefordert zu ihm zu kommen., Und Thorns Alter zeigte seine Findigkeit und seine Weisheit zu deutlich. Ein Trinkgelage bei einem der Männer mit billigem Fusel würde sicher nicht auffällig sein, schon weil es nun wirklich bitter kalt war und Luca leichte Atemwölkchen vor seinen Lippen sah.
Mangels Holz konnten auch keine Feuer entfacht werden. Davon abgesehen so kurz nach Ende eines Krieges, und noch halb im Feindesland wäre es auch eine sträfliche Dummheit gewesen.
„Schnaps wärmt von Innen, Lysander“, begründete Thorn sein Handeln, schob gleichmütig die langen Beine des Magiers zur Seite und ließ ich auf den warmen Decken nieder.
Luca musste grinsen. „Ideen hast Du, muss ich zugeben, mein Freund.“
Thorn entkorkte die Flasche.
„Hey, die saufen!“ rief ein anderer Söldner. „Ohne uns! Thorn gib was davon her!“
Luca sah über die Schulter. Raven, ein weiterer Halbzwerg, kleiner als Thorn und der geschickteste Dieb des Heeres, ein Spieler und Charmeur vor dem Herren, erhob sich, strich sein Wams glatt und winkte seinen menschlichen Freund Jaquand mit sich. Luca wurde bewusst, dass Orpheu eine sehr genaue und gute Auswahl an Kriegern getroffen hatte. Jaquand war groß, fast so groß wie Orpheu und Luca, muskulös und leise. Seine Bolzen trafen immer. Er schwieg über seine Vergangenheit, aber Luca kannte die Geschichten, die über ihn kursierten. Angeblich war hatte er sich in den Diensten Prinz Mesallas in Valvermont als Attentäter verdingt. Luca zweifelte keine Sekunde daran. Aber er hatte Jaquand auch schon in einer Situation erlebt bei dem ein kleines Mädchen zu schaden gekommen war. Der Söldner weigerte sich mit dem Tross weiter zu ziehen. Zuvor wollte er sie bestatten und ihr eine würdiger Ruhestätte geben. Damit hielt er die Krieger zwar auf, aber nachdem Luca sich für ihn eingesetzt hatte, gab Orpheu nach.
Ihm sah sich Luca sehr verbunden, auch wenn er es nie aussprach.
Raven ließ sich auf den Sattel fallen. Das alte Leder ächzte unter seinem massiven Gewicht. Er klopfte Luca auf die Schulter. „Na Schönchen, wollen wir uns etwas aufwärmen?“
Dabei langte er nach Thorns Feldflasche, setzte sie an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Thorn knurrte ihn an und die Unterkieferhauer schoben sich durch den Bart. Luca wurde zum ersten Mal bewusst dass die andere Hälfte von Thorns Eltern wohl orcischer Natur gewesen sein musste.
Tambren arbeitete sich aus Lucas Decken hervor und kuschelte sich schlaftrunken an seinen Herren. „Ist er noch da?“ fragte der Drachling, wobei seine Zunge so schwer schien, als habe er den Zwergengeist allein getrunken.
Luca rieb sich den Nacken und sah sich unauffällig um, während er einen Zauber flüsterte, der die ganze Umgegend auf magische Auren untersuchte.
Hinter einem großen Felsbrocken verborgen leuchtete es, allerdings auch an drei Stellen direkt im Lager, zwischen einigen der schlafenden Männer. Die Wachen saßen alle etwas weiter von den jeweiligen Positionen ihrer Gegner entfernt und unterhielten sich teilweise miteinander.
„Freut euch“, flüsterte er. „Unser unsichtbarer Freund hat Verstärkung bekommen. Drei von diesen stinkenden Schlächtern schleichen hier umher. Strengt eure Nasen an und ihr könnt sie sicher auch wahrnehmen, wenn sie uns zu Nahe kommen.“
Jaquand ließ sich nun im Schneidersitz Luca gegenüber nieder und nahm Raven die Flasche aus der Hand. Ein weiteres Mal drückte Thorn seinen Unmut durch knurren aus. Der große Krieger ließ sich davon so wenig beeindrucken wie Raven zuvor.
Als er das Teufelzeug geschluckt hatte, reichte er die Flasche an Luca weiter. Der Magier nahm sie, betrachtete den von Speichel feuchten Trinkstutzen und überlegte für eine winzige Sekunde, ob er seinen Ekel davor bezwingen konnte. Allein der Geruch des Schnaps sorgte dafür, dass sich Lucas Magen zu einem steinharten Klumpen zusammen zog.
Zudem vertrug er Brände dieser Art gar nicht. Der Alkohol war weniger sein Problem dabei, aber die Tatsache dass er danach für Tage Magenkrämpfe hatte. Auch besorgte ihn der Gedanke dass er seit einer ganzen Zeit nichts mehr gegessen hatte.
„Na kommt, Lysander“, forderte Raven ihn auf. „Ihr seid doch immer der Erste, der steifgefroren vom Pferderücken kippt.“
Luca nutzte die Chance Zeit zu gewinnen, in dem er ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.
„Du schadest meinem Ruf als böser, zaubernder Finsterling“, gab er zurück, grinste aber dabei.
Thorn und Raven brachen in schallendes Gelächter aus, worauf hin der Söldner neben ihnen sich herumdrehte und etwas murmelte, was verdächtig nach „Ruhe!“ klang.
Jaquand legte den Kopf schräg, versuchte mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen und lächelte dann. „Ich kann mir euch so richtig als den Bösen vorstellen, allein, in seiner finsteren Burg, in der es kuschelig warm ist und umgeben von lauter kleinen, lieben und niedlichen Tieren. Aber wegen eures Rufes alle untot.“
In Lucas Vorstellung erschien ein Bild einer dunklen, alten, halbverfallenen Festung, in der er auf einem steinernen Thron saß, an einem gemütlichen Kamin und lauter kleine, leicht verweste weiße Häschen um ihn herum saßen, mümmelten und um vergammeltem Salat bettelten.
Scheinbar schwebte allen etwas in der Art vor, denn jeder lachte.
Luca beruhigte sich als erster wieder, grinste vergnügt und deutete auf Jaquand. „Dann weißt Du ja, auf was ich hinarbeite.“
Raven hob die Hände und warf ein, dass er solch gemütliche Hallen sicher nicht aufsuchen wolle, Luca sich also gar nicht dem Glauben hingeben dürfe, dass er eines Tages zu Besuch käme.
„Darauf lagt auch keiner Wert, der nicht später entweder Arm sein will oder sein Weib vermissen möchte“, warf Thorn den Ball zurück.
Raven sah ihn an, grinste breit und hob die Schultern. „Bevor wir in Valvermont sind, habe ich dir deinen Sold ohnehin schon beim Spiel abgenommen. Und dass du ein schönes Weib daheim hast, kann ich mir kaum denken.“
Thorn schnappte sich die Feldflasche aus Lucas Händen und nahm einen tiefen Schluck. Der Magier war dankbar darum, denn es hatte ihm die Entscheidung abgenommen doch davon trinken zu müssen.
Nachdem Thorn einen Schluck daraus genommen hatte, deutete er auf Raven. „Lass uns um mein Weib spielen. Gewinne ich, behalte ich sie, verliere ich, schenke ich sie Dir!“
Luca sah zu Tam, der sich vorsichtshalber wieder im Schoß seines Herren zusammengerollt hatte und tat als würde er schlafen.
„Die arme Frau tut mir schon jetzt leid“, murmelte der Magier.
„Ich kenne sie“, merkte Jaquand an. „Die hat Haare auf den Zähnen. Ein tolles Weib, feurig, heiß und schön, aber Thorn ist nicht umsonst immer fort von Haus und Hof.“
„Woher weißt du, wie meine Vivianne aussieht?!“ brüllte Thorn plötzlich.
Jaquand bemerkte dass er zu viel gesagt hatte und schien zu überlegen, ob er Thorn beruhigen oder weiter reizen sollte.
„Na ja“, begann er lachend. „Einmal, als Du nicht da warst kam ich vorbei Dich zu sehen. Da war sie allein...“
Thorns Augen funkelten böse. „Und was weiter?“ fragte er lauernd.
Jaquand hob die Schultern. „Sie bot mir Wein, Brot und Bett. Allerdings war sie es, die es mir wärmte!“ Er lachte laut. Raven, der gespannt zugehört hatte grinste auch und feixte.
Thorns Wangen verfärbten sich rot.
„Du dreckiges Schwein hast meine Tochter gehabt?!“
Jaquand und Raven verstummten augenblicklich. Innerlich beschwor Luca alle Götter ein Wunder geschehen zu lassen, dass Thorn wieder unter Kontrolle brachte.
Thorn war kurz davor Jaquand die Flasche Zwergengeist ins Gesicht zu werfen.
Allerdings ging Luca rasch dazwischen, ergriff mit beiden Händen Thorns Arm und drückte ihn sanft nieder. Der Halbzwerg starrte ihn hasserfüllt an und wollte sich losreißen, sah so aus, als würde er Luca am liebsten ebenfalls töten. Der Blick Thorns verfing sich in dem Lucas. Die ruhige, sanfte Aura des Magiers, seine Ausstrahlung, setzte er nun gezielt ein Thorn zu beruhigen. Er spürte wie sich etwas in den Gefühlen Thorns änderte, wie er dem machtvollen Zauber, den Luca wie ein Aroma um sich trug erlag und nachgab. Die Barriere aus Zorn und Wut brach ein.
Luca atmete erleichtert auf und ließ Thorn los.
Als er seine anderen beiden Gefährten ansah, erschrak er leicht. Scheinbar hatten sie zu deutlich diese Woge seiner gesamten Persönlichkeit mitbekommen. Auch sie starrten ihn nur still an.
Raven fing sich als erster wieder. „Was war das für eine Magie, Lysander?“
„Gar keine“, antwortete der Magier leise. „Ich kann es nicht erklären.“
Raven nickte nachdenklich. „Schönchen, ihr seid wie ein Weib, verführerisch und mächtig. Das ist gar nicht gut in einem Heer.“
Luca schluckte hart und senkte den Kopf.
Er sah zur Seite. „Thorn, Jaque, wenn ihr eure Streitigkeiten später austragen wolltet, wäre es mir lieb.“
Langsam erhob sich Thorn. „Das können wir auch jetzt...“ Er sah zu Luca. „Vor dem Lager. Meister, Raven, ihr seid unsere Sekundanten!“ Seine Stimme klang hart und entschlossen. Das einzige was das Bild etwas störte war sein Zwinkern. Erst jetzt begriff Luca dass das ganze Theater war.
In dem Moment wehte der unangenehme Geruch getrockneten Blutes zu ihnen herüber. Jaquands Blick glitt zu Luca hinüber; wissend.
Sie erhoben sich still. Fast wie ein Trauerzug gingen sie durch das Lager, mit gemessenen Schritten. Einige neugierige Blicke folgten ihnen, aber alle blieben liegen und genossen die Möglichkeit ihre müden Glieder auszustrecken.
Luca sah sich still um. Die schimmernden Schatten der Beobachter gingen noch immer durch die Reihen schlafender Männer und sondierten scheinbar für sich, inwieweit sie Gefahr bedeuten mussten.
Tambren saß in Lucas Arm.
“Sind wir ungestört?” fragte Raven leise.
Luca nickte. „Der nächste von ihnen ist etwa da, wo wir zuvor gesessen haben.“
„Gut. Könnt ihr die Illusion eines Kampfes erschaffen, Schönchen?“
Der Zwerg sah sich unbehaglich um. „Wir wollen die Aufmerksamkeit von den Kerlen auf diesem Kampf haben.“
Vorsichtig schüttelte Luca den Kopf. „Illusionsmagie beherrsche ich nicht.“
Raven ächzte. „So ein Mist!“ fluchte er leise.
Der Drachling sah ihn an. „Aber ich kann es ihren Geistern vorgaukeln. Dazu müssen sie nur nah genug beieinander stehen.“
Nun atmete Raven auf. „Damit ist unser Plan doch nicht so unsinnig gewesen. Aber ich dachte wirklich ihr würdet diese Art der Zauber beherrschen.“
Luca schüttelte nur leicht den Kopf. „Ich muss dich enttäuschen, Raven. Ich beherrsche nicht alle Schulen der Zauberei.“
„Deswegen ergänzen sich Lysander und ich“, warf Tam ein.
Raven streichelte im Laufen dem Drachling über den Kopf. „Danke Dir kleiner Freund.“
Zufrieden gluckste die Drachenechse und schmiegte sich wieder in Lucas Arme.
„Das bedeutet allerdings auch, dass ich hier bleiben muss um die Kerle weiter unter meinem Einfluss zu halten.“
„Dann sorge dafür, dass sie den Wachen im passenden Moment auffallen, damit sie festgenommen werden können. „, flüsterte Luca. „Am besten, wenn wir unsere Gegner in der Höhle überwältigt haben.“
„Warum holen wir uns die Kerle nicht jetzt?“
Raven sah fragend zu Luca hoch.
„Wenn uns einer davon entkommt, schafft er es vielleicht andere Wachposten zu alarmieren. Dann können wir uns auch in einen offenen Kampf begeben. Allerdings wissen wir nicht, was uns wirklich erwartet.“
Die Erklärung missfiel Raven sichtlich, aber er nahm sie hin.
Luca sah ihn aus den Augenwinkeln an. Für den Moment bedurfte es keiner weiteren Worte.
Außerhalb des Lagers suchten sich Thorn und Jaquand einen passenden Platz aus, um ihren Kampf auszutragen. Luca sah sich unauffällig um und gewahrte zwei der vier Männer als schimmernde Schatten in der Finsternis. Sie standen ohne Deckung, wenige Fuß entfernt. Einer von ihnen war groß, viel großer als ein einfacher Mensch, fettleibig und Luca konnte ihn riechen. Behutsam ließ er Tambren zu Boden und verkündete, dass der Kampf kein Duell bis zum Tode sein dürfe sondern nur bis zum ersten Blut.
Als Thorn und Jaquand ihre Waffen zogen, blitzte reine Mordgier in den Augen des Halbzwerges auf. Für einen Moment war Luca sich sicher, dass Thorn es ernst meinte und Jaquand am liebsten gevierteilt hätte.
Mit einem fast tierhaften Aufschrei warf sich Thorn in den Kampf und ließ Jaquand gerade noch Zeit genug die Klinge zur Abwehr hochzureißen. Mit der Gewalt, die Thorn einsetzte, trieb er den menschlichen Söldner mit einem Hieb zurück. Der Mann konnte sich nur taumelnd fangen, nutzte aber den Rückschwung aus, um einmal um seine Achse zu wirbeln und einen eigenen Angriff von unten herauf zu führen. Wütender als zuvor schrie nun Thorn auf, parierte den Schlag in letzter Sekunde und lenkte die Klinge ab, gleichzeitig zog er mit der Rückhand seinen Doch nach und stach nach seinem Gegner. Aber Jaquand hatte sich gut genug im Griff um geschickt zurückzufedern und unter dem Dolch hinweg nach Thorn zu treten. Der Vorteil seiner langen Beine machte sich bemerkbar. Allerdings scheiterte der Plan an der Masse und Standfestigkeit des Halbzwerges, der sicher mehr als das Dreifache des sehnigen Jaquands wog.
„Sag’ mal, da ist aber nicht wirklich etwas zwischen den beiden vorgefallen, oder Raven?“ erkundigte sich Luca sehr leise und mit tiefer Sorge in der Stimme.
Sein Mitsekundant sah aus den Augenwinkel zu dem Magier, wiegte den Kopf und entgegnete: „Doch, aber das ist einige Jahre her. Vivianne ist indes siebenfache Mutter und mit Jaque verheiratet.“
Luca hob überrascht die Brauen. „Oh“, war allerdings das einzige, was ihm als sinnvolle Entgegnung einfiel.
Er sah sich noch einmal kurz um und gewahrte einige Söldner, die dem Schauspiel fasziniert folgten. Allerdings auch dem dritten ihrer Gegner.
Tam, mein Freund, wo ist der vierte von Ihnen? fragte Luca wortlos.
Er konnte nicht riskieren, dass Jaquand und Thorn all ihre Kraftreserven in einem Schaukampf aufgaben. Außerdem würde bald der größte der Monde aufgehen. Wollte er bis dahin den Wechsel zwischen Realität und Illusion zusammen mit Tammy vollzogen haben, mussten sie sich beeilen.
Der Drachling huschte unter einem Felsen hindurch an den Rand des Lagers.
Luca sah durch seine Augen den vierten Mann. Er war die Kräfte des Drachlings wesentlich zu weit entfernt. Innerlich verfluchte Luca das Desinteresse dieses Mannes an dem Kampf. Nun musste er sich etwas einfallen lassen, um ihn hier her zu treiben.
Aber außer einem Wunder schien nichts das Interesse dieses Postens umzulenken. Er schien wohl grob zu überschlagen wie groß das Heer Orpheus war, denn seinen Bewegungen nach zählte er.
Und nun? fragte Tam ihn.
Luca dachte fieberhaft alle seine Optionen durch und verwarf jede einzelne Idee gleich wieder.
Der Zufall in Gestalt Orpheus, der sich erhob und nun ebenfalls zu dem Kampfplatz hinüber schritt, kam ihnen zu Hilfe.
Scheinbar erregte der schwarze Hauptmann das Interesse des vierten Mannes. Er folgte Orpheu.
Nun haben wir unsere Chance, merkte Tam an. Luca reagierte sofort und webte seinen Zauber. Gleichzeitig erschuf Tambren von den Männern Abbilder, die sich in der Wahrnehmung eines jeden Beobachters manifestierten. Beide Zauber griffen so effektiv ineinander, dass es keinerlei Verzerrung der Wirklichkeit für die Beobachter und einige der Söldner gab.
Thorn, Jaquand, Raven, Orpheu und Luca aber wurden zu gestaltlosen Schemen, die einander zwar noch erkennen konnten, aber nun unsichtbar für jeden zufälligen Beobachter erschienen.
Schwiegervater und Schwiegersohn ließen die Waffen sinken. Schweiß rann über ihre Gesichter in die Krägen ihrer Hemden und die Brust beider Männer hob und senkte sich schnell. Ihre Gesichter glühten noch von der Anstrengung und ihre Leiber strahlte die Hitze des Kampfes aus.
Sie traten aus dem Kreis heraus, betrachteten ihre Abbilder, die weiter in verbissener Wut aufeinander einschlugen und versuchten binnen einer Minute wieder halbwegs zu Atem zu kommen.
Orpheu nickte ihnen zu und machte eine Handbewegung sich nun zu entfernen.
Eilig setzte Luca sich an ihre Spitze.
Der vermeintliche Kampflärm blieb hinter ihnen zurück und gliederte sich in die Geräusche des Windes, der Nachtvögel und der kleinen Tiere, die sich zwischen den Felsen bewegten.
Die Wachen zu umgehen stellte kein Problem dar, bis auf die Männer, die auf dem Steilweg patrouillierten.
Sie zu umgehen war schlicht unmöglich, stellte Luca fest. Zwei von ihnen standen recht weit vorne auf dem Weg und versperrten ihn. Zwei weitere flankierten den Eingang der Höhle und Luca vermutete weitere Männer außerhalb ihrer Sichtweite.
„Irgendwelche Ideen?“ fragte Raven seine Gefährten.
Jaquand hob die Schultern. „Die beiden vorne sind kein Problem. Die würde Thorn mit zwei seiner Dolche lautlos schaffen. die Beiden am Höhlentor kann ich mit dem hier erledigen.“ Er ließ aus seinem Ärmel eine winzige Armbrust heraus schnellen, eine klassische Attentäterwaffe. „Aber es müsste gleichzeitig gesehen und keinem darf ein Laut entfahren, wenn ihr versteht was ich meine.“
„Und wie willst Du so schnell nachladen?“ erkundigte sich Luca. „Nein. Außerdem sind wir sichtbar, wenn wir einen Angriff starten.“
„Oh“, murmelte Jaquand überrascht. „Das wusste ich nicht.“
Darauf entgegnete Luca besser nichts. Dennoch warf er ein: „Ich kann euch ungesehen hinüber zu dem Plateau bringen. Wenn wir Pech haben, fallen uns diese Wachen vom Eingang allerdings drinnen in den Rücken.“
Thorn knurrte leise.
„Dann würde ich sagen trennen wir uns an dem Punkt. Ihr lasst mir die Wachposten hier draußen und geht ohne mich weiter. Ich alleine würde dann sichtbar.“
Orpheu wollte etwas dagegen sagen, aber Luca schnitt ihm mit einer schnellen Handbewegung das Wort ab. „Er hat recht. Wenn er uns den Rücken frei hält, müssen wir uns nur noch um das sorgen, was vor uns liegt.“
Nach einigen Sekunden Überlegens nickte Orpheu wiederwillig.
„Meinetwegen, Lysander.“
Luca nickte. „Dann kommt Nähe zu mir“
Nähe zu einem Magier war scheinbar fast eine unüberwindlicher Barriere für Thorn und Orpheu als alles sonst. Sehr zögernd drängten sich die Männer um den Zauberer. Luca hatte das Gefühl als würde er körperliche Übelkeit in ihnen auslösen und es schmerzte ihn das zu sehen.
Raven hingegen hatte keine Probleme damit. Vertraut schlang er einen Arm um Lucas Taille und ließ es sich auch nicht nehmen ihn sehr genau zu befühlen. In der Sekunde hätte Luca selbst am liebsten etwas gesagt. Aber dann legte sich die große und schwere Hand Jaquands auf seine Schulter und drückte vertraut zu. Der Magier fühlte etwas wie Erleichterung, denn diese beiden Männer vertrauten ihm und seiner Zauberei blind.
Nun blieb ihm nichts anderes mehr als seinen Zauber zu formulieren und in letzter Sekunde, damit sie nicht zu lange mit ihm in Kontakt kamen, nach Thorn und Orpheu zu greifen, um sie mit sich zu nehmen.
Er hörte deutlich wie Luft an dem Ort nachfloss, von dem sie entmaterialisierten und einen Herzschlag später die Verdrängung von Luft auf dem Plateau. Begünstigend für sie allerdings war der ständige leichte Wind, der sich im Höhleneingang fing und immer leicht heulte. Dennoch schrak eine Wache hoch. Er hatte sie gehört. Die kleinen, tieflegenden Schweinsaugen des Mannes bohrten sich in die Dunkelheit des Gebirges.
Luca hatte das Gefühl die Augen der Wache auf sich zu spüren. Unheimlich. Eisige Schauer rannen ihm über den Rücken. Dennoch stand er reglos da, mit angehaltenem Atem um nur keinen Laut zu verursachen.
In der Sekunde wanderten die ersten silbrigen Mondstrahlen über den Gebirgskamm und tauchten das Plateau in unnatürlich farbloses Licht. Der Wachposten sah offenbar nichts, was ihn allerdings nicht zu beruhigen schien, denn er löste sich von seinem Platz und schritt in die Richtung aus der er das Geräusch gehört hatte.
„Was ist?“ fragte sein Gefährte nun auch alarmiert. Obgleich er in dieselbe Richtung spähte wie sein Schweinsäugiger Freund, sah auch er nichts außer dem irrealen Licht und dem grauen Stein. Aber er spannte einen Bolzen in seine Armbrust.
Keiner von Orpheus Kriegern regte sich. Sie drängten sich dicht aneinander.
Der Posten ging an ihnen vorüber, so dich, das er Lucas Schulter fast berührte.
„Ich weiß nicht. Da war etwas“, murmelte der Mann. Er sah den Geröllhang hinab und blickte zu seinen Gefährten auf dem Weg.
Er zögerte. Aber schließlich trat er den Rückweg an und nahm seinen Platz am Höhleneingang wieder ein.
Sein Freund entspannte sich sichtlich.
„Das alles ist langsam etwas zu viel, oder?“ fragte er.
Der Mann mit den Schweinsaugen nickte nur still. Luca konnte ihm genau ansehen, dass sein Misstrauen nicht besänftigt war.
Er löste sich als erster von seinem Platz. Orpheu und die anderen drei folgten ihm. Bevor er den Hohleneingang, der einzig von dem Mondlicht des langsam aufsteigenden silbernen Mondriesen erhellt wurde betrat, zögerte er noch einen Herzschlag lang.
Der Gestank, der aus dem Inneren des Berges drang verschlug ihm schon hier draußen fast den Atem.
Verwesung, Schweiß, Blut, Kot und Urin mischten sich in Dämpfe von Alkohol und Erbrochenem und etwas dass er gar nicht einzuordnen vermochte, allerdings auch dem Geruch brennenden Holzes und gebratenen Fleisches.
Thorn hatte sich hinter dem Eingang von ihnen getrennt.
Nun wanderten sie schweigend durch einen schmalen, kaminartigen Schacht weiter hinab. Wenn ihnen einer Ihrer Gegner hier entgegen kam, würden sie kaum ausweichen können.
Aber sie erreichten das Ende des Ganges ohne auf eine Person zu treffen.
Ein Felsdom, der unendlich weit nach unten abzufallen schien, öffnete sich vor ihnen. Galerien säumten den Kessel, über den sich lächerlich kleine, labil aussehende Brücken spannten.
Einzelne Wachen gingen Patrouille, aber die beiden Männer waren noch zu weit entfernt, um den Gefährten gefährlich zu werden. Außerdem machten die Männer nicht den Eindruck sonderlich aufmerksam zu sein. Sie redeten miteinander, achteten kaum auf ihre Umwelt und gestikulierten wild umher. Luca betrachtete sich die Balustrade aus rostigem Eisen. Sie war kaum mehr als eine moralische Unterstützung, sich von dem Abgrund fern zu halten. Absturzsicher sah sie nicht aus.
Der Weg, die Galerie selbst, viel sanft ab. Luca überlegte, ob sie sich in Serpentinen hinab wand. Treppen sah er keine. Allerdings konnte er auch kaum das andere Ende des Kessels erkennen.
„Zwergenarbeit“, murmelte Raven nachdenklich. „Aber hier leben keine mehr. Dafür ist der Komplex zu vergammelt.“
„Ja, wie der Kadaver eines Madenzerfressenen Rindes“, fügte Jaquand unbehaglich hinzu. „Hier riecht es nach Tot!“
„Es ist wie eine gewaltige Gruft“, gestand auch Orpheu. „Furchtbar!“
Seine Stimme klang tonlos und der leise Hauch erwachender Panik war nicht zu überhören.
Luca verstand sie alle bestens. Er selbst hatte das Gefühl in einem Grab gefangen zu sein.
„Wir vier sind eindeutig zu wenig um den Männern hier zu trotzen“, murmelte Raven leise.
„Es ist eher die Frage, mit wie vielen Soldaten wir es hier zu tun haben“, erwiderte Luca.
„Wir sollten lieber zurückgehen und in Valvermont Bericht erstatten, vielleicht einen Boten nach Sarina senden und es dem Kaiser melden. Es ist ja seine Sache etwas dagegen zu tun“, sagte Raven.
Strafend sah Luca ihn an. Insgeheim verstand er den Halbzwerg. Er wusste selbst dass er, sollte es zu einem Kampf kommen, keine Chance haben würde, aber etwas zog ihn, trieb ihn tiefer in die Höhlen hinab.
„Geht, wenn es euch beliebt“, sagte er, bedauerte auch sofort seinen scharfen Tonfall, als Raven zusammen zuckte.
Orpheu schloss die Augen. Seine Kiefer mahlten wieder. Er überlegte. Nach Sekunden, in denen die beiden Wachen näher an die Freunde herangekommen waren, sagte er leise: „Wer Lysander und mir folgen will, soll das tun, ansonsten geht zurück zu Thorn und sammelt die Männer. Wartet nicht auf uns sondern zieht nach Valvermont weiter.“
Verblüfft sah Luca den Elf an.
Raven blickte ebenfalls aus großen Augen zu seinem Hauptmann.
„Jaquand, geh zurück zu Thorn. Du bist Vater. Ich habe nichts zu verlieren wenn ich mitgehe“, sagte er leise.
Der Söldner zögerte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. „Entweder alle oder keiner!“
In der gleichen Sekunde zog er zwei Stilette aus seinem Gürtel unterhalb der Schwertscheide und schritt an Luca vorbei den beiden Wachen entgegen.
Seine lautlose Art bestätigte Luca darin, dass der menschliche Söldner ein Assassine war.
Er hatte beiden Soldaten mit vollkommener Zielsicherheit die feinen Stilette zwischen ihren Brauen gerammt. Die Männer begriffen ihren Tot nicht, sahen ihn nicht und spürten offenbar nichts. Lautlos glitten die Leichen zu Boden.
Im gleichen Moment fiel die Unsichtbarkeit von dem Assassinen ab.
Jaquand reinigte seine Waffen an den Kleidern der Toten, verbarg sie wieder und schleifte die Leichen in den Schacht.
Raven half ihm dabei.
Die Zeit nutzte Luca um sich nach oben und unten zu orientieren. Nun wo Jaquand sichtbar war konnte er den Zauber fallen lassen und sich auf andere Dinge konzentrieren.
Ein schwarzer Schmetterling stieg aus seinen Haaren auf und zerfaserte, als Luca einen Zauber aktivierte, um besser sehen zu können.
Der Felsdom fiel gar nicht so weit unter ihnen ab - vielleicht nur zwanzig Meter - aber graue Dunstschwaden vernebelten ihm immer noch die Sicht auf den Boden. Weitere Schwarze Schmetterlinge erhoben sich von dem Magier. Dank der verstärkten Zauberkraft, gelang es ihm endlich die Sichtbehinderung zu durchdringen.
Unten erkannte er eine bizarre Konstruktion aus Eisen und Stein; Ketten, ein rostiges Räderwerk und ein Richtblock. Es war eine Pendelkonstruktion, die wie ein Fallbeil über dem Steinaltar hing. Er schloss die Lider. Ihm war bewusst, dass das ein Pendelbeil war, das seine Opfer zerteilte. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Er hob den Blick. Jetzt bemerkte er die aufsteigernden Sitzreihen rund um die Richtstätte. Es war wie in einem Theater.
„Was habt ihr, Zauberer?“ fragte Orpheu besorgt.
Luca wendete sich ihm zu. „Das ist die gewaltigste Folterkammer, die ich je gesehen habe.“
Seine Stimme zitterte leicht. Der Elf nickte nur schwach.
Sie schritten schnell aus. Die Galerien machten sie in ihren endlosen, gedehnten Windungen wahnsinnig. Graue, schimmlige Wände, blakende Fackeln, und der Gestank, steigerte bei ihnen allen Ekel und Zorn. Vor allem gab es keine Gänge die Abzweigten, keine Alkoven, nur diesen einen Weg hinab.
Gerade als Luca seiner Verzweiflung Luft machen wollte, drangen gellende, vielstimmig Angstschreie aus dem Kessel hinauf. Es waren die Stimmen von Männern, Frauen und Kindern.
Luca war mit einem Schritt an der Balustrade und sah hinab. Sie hatten gerade erst ein Drittel des Weges hinter sich gebracht, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, schon seit Stunden zu laufen.
Seine Gefährten folgten seinen Blicken, allerdings wusste er, dass nur noch Orpheus Sicht bis in den Kessel hinein reichte.
Wenn sich die Dunstschwaden kurz lichteten, gaben sie den Blick auf eine Gruppe von vielleicht zehn Personen frei. Sie wurden mit Peitschen in die Richtstätte getrieben. Wachen und Folterknechte waren allesamt nur mit ledernen Lendenschurzen bekleidet. Sie schienen Luca das furchtbarste Menschenpack zu sein, was er je gesehen hatte. Viele von ihnen waren fette, amöbenartige Geschöpfe, fast Formlos in ihrer unsäglichen Masse. Sie hatten haarlose Schädel, die von Fett- und Schweiß glänzten. Bei einigen schien das Gewebe die Leibesfülle kaum zu halten. Adern lagen deutlich sichtbar und schimmerten durch die kränklich gelbe Haut. Wunden und Narben zierten ihre Leiber.
Aber schlimmer als das war die Gruppe schmutziger, nackter, unterernährter Personen. Es waren zwei Frauen dabei, die ihre Kinder – kleine Kinder – eng an sich pressten. Man hatte ihnen Haken in die Haut getrieben und die an Ketten fest gemacht. Eines der Kinder, ein Mädchen wohl, schrie besonders laut. Sie ließ sich nicht beruhigen, so sehr ihre Mutter sie beschwor still zu sein.
Orpheu fuhr entsetzt zurück, als einer der Folterknechte das Kind aus den Armen der Frau riss und dem Mädchen mehrfach heftig in den Leib trat. Einige Sekunden röchelte das Kind noch, dann blieb es reglos liegen.
Die Mutter der Kleinen krümmte sich in tiefer Qual zusammen und begann lautlos zu schluchzen. Nun schlug einer der Männer um sich. Er befreite sich aus dem griff seiner Bewacher. Die Haken rissen aus seinem Fleisch. Scheinbar nahm er den Schmerz nicht wahr. Zornerfüllt stürzte er sich auf den Mann, der das Kind getötet hatte. Der blanke Hass verliehen ihm übermenschliche Kräfte. Luca blieb das Herz fast stehen. Der Mann dort unten, der die Ketten, die ihn eben noch gehalten hatten, nutzte um damit seinen Peiniger zu erwürgen, war der Elf, von dem Luca fast besessen war.
Ein andere Folterknecht zog ihm mehrfach eine Dornenpeitsche über den Rücken, aber davon schien der Elf nichts wahr zu nehmen, nicht einmal als ihm das rostige Eisen Fleischstücke aus dem Körper riss.
Etwas in Luca zerbrach in dieser Sekunde endgültig. Seine Seele akzeptierte plötzlich den Gedanken töten zu wollen, um das Morden zu beenden. Seine Lider schlossen sich. Schwarze Schmetterlinge stoben hinauf und bildeten eine dichte wolke finsterer Magie. Er ballte die Fäuste und einen Herzschlag später stand er unter seinen Gegnern. Ein einziges Wort kam ihm über die Lippen. Die Wände schienen Tot auszuatmen. Für einen winzigen Herzschlag blieb alles reglos. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Dann füllte sich der gesamte Kessel mit einer eisigen Welle uralter Zauberei. Der Tot selbst breitete sein Leichentuch aus.
Inmitten der Todesmagie stand Luca als lebendes Epizentrum. Die gepeinigten Gefangenen befanden sich unter seinem Schutz, aber die Knechte lagen reglos zu seinen Füßen. Luca bebte noch immer vor Zorn. Sein Blick glitt durch den Kessel. Die magische Explosion musste aufgefallen sein. Sicher waren ihre Gegner nun gewarnt. Luca aber war im Moment sogar bereits dieses ganze Felsmassiv einstürzen zu lassen, wenn er damit etwas erreichen konnte.
Entsetzt schrie einer der Gefangenen auf und brachte zwischen sich und Luca einigen Abstand.
Irritiert sah der Magier zu ihm. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass seine Hilfe auch falsch ausgelegt werden konnte. Die meisten von ihnen kauerten einfach nur da, als erwarteten sie, dass er auch sie töten würde. Der Magier senkte den Blick. Sie hatten Angst vor ihm. Luca konnte ihnen nicht klar machen, dass er sie nur schützen wollte.
Er wendete den Kopf und sah zu dem Elf. Verwundert registrierte Luca, dass der junge Mann noch bei Bewusstsein war. Er hätte eher angenommen, dass ihm die Schmerzen die Sinne raubten.
Zusammengekrümmt lag er da, die Zähne zusammengebissen und das blutige Haar über der zerfetzten Haut verteilt. Aber der Trotz und der unbändige Zorn in den Augen des Elfs waren ungebrochen. Grüne Jadeaugen fixierten Luca, als wolle er ihn angreifen, sobald er eine falsche Bewegung machte.
Der Magier erwiderte seinen Blick ruhig.
Dann kniete er neben ihm nieder.
Sein Herz krampfte sich erneut zusammen als er die Wunden sah.
Mit letzten Kraftreserven ergriff der Elf Lucas Hemd, krallte seine Finger tief in den Stoff und die Haut, als wolle er das Herz des Magiers herausreißen.
Seine Augen flammten von ungestilltem Zorn.
Luca legte seine warmen Finger sanft über die des Elfs. „Erinnerst Du dich nicht mehr?“ fragte er leise.
Die Antwort blieb ihm verwehrt. Hinter sich hörte er einen lauten Aufschrei und Metall scharrte als Schwerter aus den Scheiden gezogen wurden.
Luca fuhr herum. Am Rande bemerkte er, dass sein Hemd zeriss. Dann sah er sich einer Masse bewaffneter Krieger gegenüber, die ihm entgegen strömten.
Für einen winzigen Moment setzte sein Herz aus, nur um danach wesentlich heftiger weiter zu hämmern.
Er senkte die Lider und begann erneut einen Zauber zu weben. Die Übermacht konnte ihn - angesichts der letzten Jahre - in keiner Weise einschüchtern. Im Gegenteil fand er eher tiefe Ruhe in sich, obgleich seine Gegner beängstigend schnell näher kamen, ihre Äxte, Schwerter, Peitschen und Kriegskeulen bereit, seinen Leib zu zerschmettern. Schmetterlinge sammelten sich um seine Körper. Ihre kleinen Beinchen berührten seine Arme und Schultern. Es wurden immer mehr, die ihn umschwirrten. Luca sammelte alle Kräfte, um seine Magie auszumaximieren. Vielleicht blieb ihm nur die Möglichkeit für einen einzigen Angriff, allerdings bezweifelte er, dass Orpheu ihn allein lassen würde. Genauso erwartete er die Hilfe von Raven, Jaquand und Thorn.
Noch bevor er die letzten Worte seines Zaubers gewebt hatte und die Zauberschmetterlinge von ihm aufgestoben waren, um seinen Feinden entgegen zu fliegen, erbebte neben ihm der Boden unter einer gewaltigen Erschütterung. Luca musste nicht den Blick zu Orpheu wenden, um zu wissen, dass sein Hauptmann die theatralisch letzte Sekunde genutzt hatte um seinen beeindruckenden Auftritt zu geben. Gleichzeitig mit dem Auftreffen des Zaubers, einer Wolke tiefen, magischen Schlafes, sprang auch Thorn über die Brüstung und schlug nicht weniger hart, aber dennoch wesentlich weniger tief im Felsboden des Kessels auf.
Beide Männer vertrauten offenbar auf den Eindruck, den ihr gewagter Sprung hinterließ, im gleichen Maße allerdings auch auf ihr furchteinflößendes Aussehen.
Während Lucas Schlafzauber die erste Phalanx der Soldaten und Kerkerwachen zum Stocken brachte, sie mitten im Sprung oder Schritt entschlummern ließ und sie ihren heranstürmenden Gefährten zu gefährlichen Stolperfallen wurden, sorgte der Anblick Orpheus in seiner natürlichen, von den Göttern gegebenen Gestalt, für eine hilfreiche Atempause, die den drei Söldnern einen sehr großen Vorteil brachte.
Thorn zog seine Schwerter und sprang an seinem Hauptmann vorbei in den direkten Nahkampf. Er stach binnen einer Sekunde von den gestrauchelten Menschen zwei direkt und einen mit der Rückhand nieder, rammte aus dem Lauf heraus einem weiteren Mann, der am Boden lag seinen Schwertknauf ins Gesicht und wirbelte herum um sich den kampfbereiten Soldaten zuzuwenden.
Sofort stürzte sich ein schwerfälliges Wesen, schlecht gepanzert, aber ein Berg aus Muskeln und Fett, auf Thorn und schwang seine Axt nach ihm. Für einen Sekundenbruchteil sah es so aus, als träfe er den Halbzwerg zumindest noch an der Schulter. In dem Augenblick machte Thorn einen Ausfallschritt, schlug einem anderen Angreifer die Breitseite seiner Klinge gegen die Schläfe und rammte in der Rückwärtsbewegung einem Soldaten, der auf dem Boden lag, seine zweite Klinge in den Leib. Sein Gegner nutzte die Situation und die fehlende Abwehr Thorns sofort. Er schwang seine Axt erneut und dieses Mal von unten herauf, um den Halbzwerg zu treffen.
Ganz offensichtlich rechnete Thorn damit, allerdings verschätzte er sich in seinen Chancen. Die tumbe Masse Fleisch und Knochen bewegte sich kaum anmutig, aber durch den Schwung seiner Waffe getragen schnell und kontrolliert.
Wenige Meter neben ihm brüllte eine der Wachen auf, getroffen von einem winzigen Bolzen einer nicht weniger kleinen Armbrust. Zeitgleich schlug der Gegner Thorns zu. Allerdings fehlte ihm plötzlich jedwede Waffe und sein Schwung riss ihn nun unkontrolliert um seine Achse. Er taumelte in groteskem Gebaren und starrte verwirrt auf seine leeren Hände. Thorn vergeudete keine Zeit Luca einen Dank zuzurufen, sondern rammte dem massigen Giganten seine beiden Schwerter in Brust und Bauch.
Ein weiterer Armbrustbolzen traf mit genauster Präzision sein Ziel zwischen den Augen eines bärtigen Wächters, der schwer gepanzert war. Einen Herzschlag später sprang Orpheu in die Masse nachströmender Gegner. Lederschwingen und Drachenschweif setzte er gnadenlos ein, fegte Männer von den Füßen und richtete verheerenden Schaden an wohin er trat. Sein Gewicht reichte um einem unvorsichtigen Mann Brustplatte und Kettenhemd zusammen mit seinen Rippen in die Lungen zu treiben. Der Vorteil des Hauptmannes waren seine natürliche Panzerung durch die schwarzen Schuppen, die Reichweite seiner Flügel und des Schwanzes, aber auch seiner Masse, die ihn bei dem Sprung von der Serpentine fast einen Fuß tief in den Boden getrieben hatte und den Stein unter sich einfach zu Staub zermalen hatte.
Luca beschwor Wind herauf, der den giftigen Dunst aus dem Kessel vertrieben, damit Jaquand freie Sicht erhielt und seine tödlichen Schüsse ansetzen konnte.
Zuletzt gesellte sich Raven zu Orpheu und Thorn, bereit, sich der wenigen übrig geblieben Wachen anzunehmen.
Gleichgültig wie gut diese Männer ausgerüstet waren, gegen Orpheus kampferprobte Krieger waren sie keine ernst zu nehmenden Gegner.
Luca ließ die Hände sinken. Glücklicherweise änderte Orpheu seine Taktik, nur noch zu verletzen, nicht mehr zu töten. Seien Männer schlossen sich dem Beispiel ihres Hauptmannes an. Das beruhigte Luca etwas. Er hasste es allein schon, sie darin zu unterstützen. Für den Augenblick brauchten sie seine Hilfe nicht mehr. Er blickte hinab zu dem Elf, zuckte aber im gleichen Moment zusammen. Der junge Mann hatte offenbar alle Kräfte in sich gesammelt und sich trotz der offenen – schwer blutenden - Wunden auf seinem Rücken auf Knie und Hände hoch gestemmt.
Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und Hass. Er starrte an Luca vorbei zu einem undefinierbaren Punkt an der jenseitigen Wand, irgendwo auf Höhe der Serpentinen.
Seine Zähne knirschten aufeinander, die Kiefermuskeln spannten sich und ein feiner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Schweiß bedeckte seine bleichen Wangen und die flackernden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er bebte am ganzen Leib, keuchte vor Anstrengung, aber noch immer war er bei Sinnen.
Luca ergriff seine Schultern und stützte ihn behutsam, doch der Junge ignorierte ihn. Ganz leise, am Rande des noch Hörbaren, wisperte der Elf: „Luca... sieh doch...!“
Seine Stimme erstarb in dem hilflosen Versuch nach Luft zu ringen und die matte Ohnmacht erneut zurückzuschlagen.
Nun folgte der Magier der Aufforderung des Jungen.
Für einen winzigen Moment sah er eine Person nah eines Alkovens in der Serpentinenwand. Der Mann war weit entfernt, aber klar zu erkennen. Sein Gesicht – so er es detailliert wahrnehmen konnte - kam Luca vage bekannt vor.
Er war nicht jung und nicht alt, seine Züge ebenmäßig und streng, aber schön. Ein fein gestutzter Kinn- und Oberlippenbart gaben seinem Gesicht einen seltsam fremden, erhabenen Ausdruck und trotz der weiten Entfernung spürte Luca den überheblichen Blick auf sich ruhen, der diesem Menschenmann zu eigen war.
Etwas in Gebaren und Gestalt ließen Luca erschauern. Es schien ihm fast als blicke er tief in die Seele des Magiers, mehr noch, als berühre er seine Gedanken. Schlimmer als das spürte er die Anwesenheit eines fremden, unsäglich bizarren und kalten Bewusstseins, was sich in seine Seele zwang und darin zu lesen schien.
Der Elf in Lucas Armen zuckte zusammen, alle Muskeln spannten sich und die geistige Verbindung, die der Fremde zu dem Magier aufbaute, eher die geistige Vergewaltigung, riss ab.
Entsetzt wendete sich Luca dem bemitleidenswerten Mann zu, den er immer noch zu stützen versuchte, fuhr aber erneut zusammen. Sensibilisiert und angespannt wie er war, nahm ihn der Anblick nur noch mehr mit. Doch während Luca vollkommen hilflos zusehen musste, wie sich der Junge unter den grausamen Schmerzen wand, immer wieder verkrampfte, beruhigte sich auch sein Verstand wieder. Plötzlich zuckte der Elf zusammen, formte mit seinem Mund stumme Worte und verdrehte die Augen. In der Sekunde dehnten sich seine Glieder und seine Haut verfärbte sich zu einem matten Schwarz. Völlig unspektakulär schien der Beginn der Transformation. Luca allerdings begriff noch bevor sich die schwarzen Schwingen ihren Weg brachen, dass der Junge in seinen Armen ein Seraphin war, ein schwarzer Engel, so wie er selbst.
Noch vor Ende der Verwandlung ergriff endlich die gnädige Bewusstlosigkeit den Jungen und führte seine schmerzgepeinigten Sinne weit fort.
Luca blieb zurück, fassungslos, erstarrt in Faszination, Schrecken und tiefer Angst.
Ihm wurde jetzt auch erst klar, dass der vermeintliche Elf, vermutlich ein Halbblut wie Luca selbst eines war, seinen Namen genannt hatte; nicht Lysander, nicht den Ordensnamen, seinen wirklichen, wohl gehüteten.
Ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken. Es erschreckte ihn, zugleich aber glaubte er in dem Jungen etwas zu erkennen, weit zurück liegende Erinnerungen, verschüttet unter all dem Leid und Schmerz, dem er sich aussetzte.
Die ersten Sekunden fiel es Luca sehr schwer seine Gedanken zu ordnen und Ruhe zu bewahren. Sein Verstand weigerte sich das Bild und die Situation zu akzeptieren. Der Junge ein Seraph; schon allein dieses Wissen erschütterte den Magier zutiefst. Er wusste nur zu gut um das Ansehen ihrer Rasse bei allen anderen Völkern. Die schwarzen Engel galten als Unglücksboten und Verdammte. Aber vielleicht waren es mehr die Geschichten, die man sich erzählte und darüber hinaus auch die unglaublich starke Affinität zur Magie. Und hier waren sie umgeben von mehr oder weniger abergläubischen Männern, die bereit waren ihre Angst mit Gewalttaten auszumerzen.
Wäre Luca die Möglichkeit der Illusionszauberei offen gewesen, so hätte er ohne zu zögern alle Macht darauf verwendet, dem Jungen seine elfische Gestalt zurückzugeben. Aber diese Schule der Magie war ihm verwehrt. Hilflos blickte er auf, um sich zu versichern, wie viele Personen diese Verwandlung mit angesehen hatten.
Ganz leise wisperte im gleichen Moment eine böse Stimme, dass das Schicksal eines Seraphin der Wahnsinn war, weil seine Gefühle unerfüllte Wünsche bleiben würden. Und nun sah er sich einem anderen Mann seiner Rasse gegenüber, dem, den er liebte und begehrte. Sein Mut sank beständig. Aber ließ ihm Thorn gar nicht den Moment des Schreckens und der stummen Trauer. Er hatte gesehen was aus dem Elfenjungen geworden war und quittierte es mit tiefem Entsetzen. Seine abergläubische Seele war entsetzt und fasziniert zugleich.
„Bei allen Göttern!“, keuchte er, wobei er dabei gar nicht mehr auf die noch existenten Wachen achtete, die nun ihre Chance in der Flucht sahen.
Raven fluchte leise und wollte zur Verfolgung ansetzen, aber Orpheu rief ihn zurück.
„Wir kennen den Berg nicht. In den Höhlen sind sie uns in ihrem Wissen um Längen voraus.“ Er schüttelte den Kopf. „Magier?“, er wendete sich Luca zu. Bei dem Anblick des schwarzen Engels hob er nur eine Braue und schüttelte leicht den Kopf. Luca konnte die Regung so wenig wie die Mimik nicht deuten. Angst aber sah er nicht in den schwarzen Augen seines Hauptmannes.
Zögernd kam Orpheu näher. „Könnt ihr meine Männer hier her lotsen? Euer Drache muss den Weg kennen.“
Luca schluckte und nickte dann. In einer irrationalen Bewegung zog er den Jungen enger, schützend, an sich.
Sein Blick glitt über die Gesichter seiner Gefährten. In den Augen Thorns fand er Angst und Abscheu, bei Orpheu nichts deutbares, aber bei Raven unbändige Neugier. Der Zwerg war Spieler mit Leib und Seele. Offenbar sah er die Situation als ein Spiel mit dem Schicksal an, was er nicht einfach verlieren wollte.
Dann suchte er nach den Gefangenen und den Söldnern. Die wenigen überlebenden Wachen lagen bewusstlos in ihrem Blut oder kämpften mit der Ohnmacht. Was ihm mehr Sorge bereitete waren die gepeinigten Halbmenschen, die sich eng in eine Ecke drängten, wie verängstigtes Vieh zitterten und bei der geringsten Bewegung zusammen zuckten. Von ihnen war momentan weder Dank noch Hilfe oder gar klarer, logischer Verstand zu erwarten. Luca sah ihnen an, dass sie viele Monate, Jahre vielleicht, brauchen würden, um das, was sie hier gesehen und erlebt hatten zu verarbeiten. Und die Verwandlung hatte nicht sehr zu einer positiven Entwicklung beigetragen. Er atmete innerlich auf. Aber allein das Wissen, dass die anderen Seraphin fürchteten, zwang ihn seine wirkliche Natur immer in dem menschlichen Körper zu verbergen.
Ein weiteres Gefängnis für ihn.
Er sah auf den Jungen herab und strich ihm sanft über das Haar zugleich rief er Tambren zu sich.
Binnen kürzester Zeit hatten Orpheus Männer den Kessel und die auftreffenden Gänge und anliegenden Höhlen gesichert. Den routinierten Söldnern fiel es in keiner Weise schwer die Gefangenen, den es weitestgehend gut ging, mit in ihrer Struktur zu integrieren. Auch die Ausstattung mit Waffen bereitete keine weiteren Sorgen, da den gefangenen und getöteten Wachen alles abgenommen wurde.
Orpheu und Luca hatten sich nur kurz die Zeit genommen miteinander durchzusprechen, wie sie weiter vorgehen wollten. Für beide war die Sicherung des Territoriums in erster Linie das wichtigste. Zusammen mit den Halbmenschen bildete das Heer eine Mannesstärke von zweihundert Kriegern und das Aufspüren der Soldaten und Wachmänner bereitete ihnen wenig Mühe.
Luca zog es seinerseits eher vor so weit wie möglich für all die Verwundeten zu sorgen, sich ein Bild darüber zu machen wie schwer die Grade der Grausamkeiten waren und so schnell es ging ein Lazarett einzurichten.
Allerdings trug er Orpheu auf, sich nach Nahrung, frischem Wasser und Heilmitteln umzusehen. Der Hauptmann gab den Auftrag an all seine Leute weiter. Dann erst wurde es ruhiger um Luca. Wenige Gefangene, ein paar Frauen und Männer, hatten sich bereit erklärt Luca zu helfen. Allein das Wissen derer, die bei dem Angriff Orpheus Spähtrupp auf dieses Gefangenenlager dabei waren, die leise Weitergabe der Nachricht, dass ein Seraphin unter ihnen war, drückte die Hilfsbereitschaft und die Stimmung auf ein Minimum. Die wenigstens Gesichter, die Misstrauisch zu dem Magier blickten drückten anderes als Ablehnung, Stumpfsinn oder Angst aus.
Luca hatte mit nichts anderem gerechnet. Dankbarkeit würde keinem von Orpheus Heer zuteilwerden.
Er drehte sich um seine Achse und tastete mit den Augen den Kessel, die abzweigenden Gänge und den Richtblock ab.
Hier sammelten sich derzeit zirka eintausend Männer, Frauen und Kinder. Bei einigen Rassen war er sich nicht sicher, woher sie stammten. Alle, oder zumindest die Meisten, trugen eine Stumme Anklage in ihrem Blick. Dieser Ort war die Hölle für sie. Jeder von ihnen musste die Grausamkeiten spüren, die hier stattgefunden hatten.
Jaquand, einer der wenigen Männer, die zu seiner Sicherheit hier geblieben war, sah von einem der Ränge zu Luca und winkte den Magier zu sich. Er hatte den Seraphin nah bei sich liegen, zugedeckt und für den Moment sicher vor den Blicken der Personen im Kessel.
Auch Tambren saß neben dem Jungen. Luca wusste, dass der kleine Drache seinen Geist mit voller Absicht vor den Gedanken um sich schützte. Die Seelen der Elfen, Zwerge, Halbdrachen, Orcs und Gnome hier, hatten schweren Schaden genommen und die Dunkelheit in denen sie irrten, übertrug sich fast körperlich spürbar auf die ganze Höhle. Der teils beginnende Wahnsinn hing wie giftiger Nebel über ihnen, zwischen ihnen, und er ergriff ihre Herzen und ihren Verstand.
„Was ist?“, fragte Luca, als er mit wenigen Sprüngen die Stufen der Ränge erklommen hatte und neben Jaquand ankam.
„Was werdet ihr nun tun, Meister Lysander?“, fragte der junge Mann unbehaglich und ließ seinen Blick über die Köpfe schweifen.
Luca betrachtete das Klingenpendel. Er verfolgte die Aufhängung bis hinauf zu Kettenzug und Zahnrädern.
Dann nickte er. Über seine Lippen huschte ein Lächeln.
Er sah wieder hinab zu den Personen, die kauerten, vor sich hin starrten oder von ihm etwas zu erwarten schienen.
„Hört mir alle zu!“, rief er. Seine Stimme verhallte in dem großen Raum, dennoch war er weithin zu hören. Alle würden ihn nicht verstehen, dessen war er sich bewusst. Er wiederholte seine Worte auch in der Sprache der Elfen und Drachen. „Vielen von euch ist es hier sehr schlecht ergangen, Sehr viele von euch haben ihre Freunde und Familien verloren. Allen von euch wurde Gewalt angetan, seelische wie körperliche. Einigen geht es gut genug, dass sie dennoch mit Verpflegung, frischen Kleidern und Waffen diesen Ort verlassen können. Wer das will, soll es tun. Es wird sicher noch einige Tage dauern, bis ihr aufbrechen könnt, aber hindern wird euch niemand. Dennoch sind hier so viele schwer verletzte, dass ich an euer Gewissen appellieren will uns hier zu helfen, die - denen es schlecht geht, die weder reise- noch Transportfähig sind – zu versorgen. Auch müssen hier alle Vorräte gefunden und aufgeteilt werden, zuvor aber katalogisiert. Auch reicht die Kraft unseres Heereskochs nicht aus so viele hungrige Personen allein zu versorgen. Deshalb bitte ich euch alle uns zu helfen. Damit leistet ihr euren Gefährten, Freunden und Familien ebenfalls Hilfe.“
Er machte eine Pause und sah sich um. Er wollte wissen, wie seine Worte wirkten. Tatsächlich richtete sich die Aufmerksamkeit der Meisten auf ihn. Er wiederholte sich außerhalb der Allgemeinsprache noch zwei Mal in anderen Volkssprachen. Es war nichts, was man als Erfolg bezeichnen konnte. Dennoch spürte er die Aufmerksamkeit vieler Personen auf sich. Unwillkürlich straffte er sich etwas und in seine Stimme wob sich fast unmerklich mehr Wärme und Mitgefühl. Er war kein Führer, aber der Wunsch zu helfen und zu schützen beseelte ihn mehr denn je.
„Gibt es unter euch Heilkundige, vielleicht sogar Priester?“ fragte er hoffnungsvoll. Leider meldete sich nicht ein Einziger.
„Das kann es nicht geben“, flüsterte Jaquand ärgerlich.
Luca vermied es ihn anzusehen. Der Kontakt zu den anderen war da. würde er sie jetzt aus den Augen lassen wäre es nicht anders, als würde er ihnen signalisieren wollen, dass sie ihn nicht interessieren.
„Meine Heilkünste sind begrenzt“, gab Luca zu. „Helfen kann ich, aber ich brauche auch Hilfe von euch...“
Seine Worte waren noch nicht verklungen, als sich eine verhärmte Orc-Frau meldete.
Lucas Augen leuchteten.
„Ich bin Hebamme“, rief sie. Mühsam stützte sie sich auf einer müde aussehenden Halbelfe ab, arbeite sich langsam in die Höhe und humpelte nicht weniger schwerfällig durch die sitzenden und liegenden Massen.
Ihr folgte eine blasse Elfenfrau mit weißem Haar. Sie holte schnell zu der Orc-Dame auf und stützte sie.
Luca lächelte nun. Sein Herz schlug schneller. Er sah dass seine Worte zu einigen von ihnen durchdrangen. Mehr und mehr Frauen, aber auch einige, wenige, Männer erhoben sich und sammelten sich nun an dem Rang vor Luca. Als die stumme Prozession, denn nichts anderes war es, vorüber war, zählte Luca fast drei dutzend Elfen, Orcs, Zwerge und Trolle verschiedenster Rassen.
Unter ihnen waren einfache Leute aus dem Kaiserreich, Gebirgstrolle aus den Eisen- und Blutbergen, Elfen aus dem stolzen, befremdlichen Rouijin, dem Reich unter dem Kaiserreich, dessen ehrenvolles Leben so gerühmt wurde und viele Männer und Frauen aus dem Norden.
„Der Wunsch zu helfen“, bemerkte die weißhaarige Elfe, „macht uns zu Freunden.“
Luca hörte an ihrem Dialekt, dass sie aus dem verfeindeten Eisland im Norden kam.
Obgleich man ihr böse mitgespielt hatte, ihr edles Gesicht verstümmelt hatte und sie nichts trug, was ihre Nacktheit noch verdecken konnte, sprach der reine Stolz aus ihr, und obgleich Luca zwei Meter über ihr Stand, glaubte er in dem Moment zu ihr aufsehen zu müssen.
Jaquand begann an seinem Wams zu nesteln und streifte es ab. Dann zog er sein Hemd über den Kopf und sprang mit einem geschmeidigen Satz zu ihr hinab. An ihrer Seite wirkte er verloren und winzig, fast einen Kopf kleiner als sie.
In einer eleganten Bewegung verneigte er sich vor ihr. Darin lag weder Spot noch Hohn. Luca wusste um die sensible Art seines Kampfgefährten.
Offenbar sah auch sie darin keinen Affront. Im Gegenteil lächelte sie dankbar.
„Ehrenwerte Dame, darf ich euch mein Hemd geben?“, bot er es ihr an.
Sie neigte leicht den Kopf. Der Bogen ihres Nackens und das milde silbrige Schimmern ihrer Haut verriet ihre Herkunft noch deutlicher.
„Seid bedankt, mein junger Galan“, erwiderte sie und zog sich das Hemd über den Kopf. Ihre langen, schlanken Beine blieben frei.
„Darf ich euch zu mir hinauf bitten?“, fragte Luca.
Jaquand geleitete die Frauen und Männer hinauf.
Der Magier war ein wenig unsicher, wie sie auf den schwer verletzten Seraphin reagieren würden, aber er vertraute darauf, dass keiner von ihnen den tiefen Aberglauben hegte, der in dem einfachen Volk lebte.
Er sollte Recht behalten. Die Orc-Dame, die Hebamme, kniete sich sofort neben ihm nieder und hob die Decken an.
„Eigentlich müsste er tot sein. Das war Magie, mit dem ihr ihm schon geholfen habt, nicht wahr, Zauberer?“, fragte sie leise.
„Ja“, antwortete er nicht weniger verhalten. „Im Übrigen ist mein Name Lysander.“
Sie lächelte schief und entblößte zwei abgebrochene Unterkieferhauer. „Linnette“, erwiderter sie schlicht.
Im Moment konnte Luca sich nicht lang in Beobachtungen ergehen. Dennoch erkannte er die ehemalige Schönheit, die im Sanftmut der Frau lag, in ihren großen, warmen und klugen Rehaugen und dem fülligen, weichen Gesicht.
„Vielen-vielen Dank“, flüsterte er. Diese Worte meinte er von ganzem Herzen.
„Wenn ihr nicht diesen Hauch von Hoffnung um euch tragen würdet, Lysander,“, begann die Elfe, „hättet ihr auch keine Hilfe erhalten. Aber der friedvolle Gedanke und die Hoffnung auf das Leben ist tief in euch verwurzelt. Ihr meint, was ihr sagt. Und ihr seid Hoffnung ohne Vorurteile.“
Tambren, der bislang still an der Seite des Seraphin gesessen hatte, japste plötzlich nach Luft und starrte die Elfe an. Gleichzeitig bekam Luca ein Bild dessen, was der Drachling von ihr wahrgenommen hatte.
Das Bild der Dame verschwamm zu einer gewaltigen Gestalt in weiße Gewänder und mattes Eisen gekleidet, in den Händen ein Schwert, hoch wie ein Mann, die Klinge geflammt und verkratzt, aber stolz und hoch aufgerichtet auf einem eisüberzogenen Gräberfeld. Persönlichkeit und Macht, Alter und Weisheit, bestürmten Lucas Bewusstsein.
Diese Frau war die Verkörperung einer Königin und eines Gottes.
„Aki Valstroem“, flüsterte er fast im gleichen Moment. „Ihr seid Aki Valstroem?“
Sie lächelte milde. „Schweigt, junger Narr“, tadelte sie ihn. Luca hob verwirrt die Brauen und schluckte alles herunter, was ihm nun an Fragen auf der Zunge lag. Er schwor sich, später mit ihr reden zu wollen.
Dann raffte er sein letztes bisschen Konzentration auf die langsam unruhig werdenden Männer und Frauen unter ihm zusammen.
„Wir brauchen auch fähige Zimmerleute, die dieses Monstrum dort abbauen“, er deutete auf das Todespendel. „Dieser Ort wird nie wieder dazu dienen. Es hat nur noch den Sinn eingeschmolzen zu werden!“
Ein Elf erhob sich, Riss mit erstaunlicher Energie die Faust hoch und schrie: „Das Beil soll unsere Peiniger richten!“
In seine Worte stimmten viele andere mit ein.
Zorn und Angst schlugen um zu Gewalt und unsäglich tiefem Hass.
Luca wusste genau, dass ihm nun nur noch wenig Zeit blieb, bevor die einstmaligen Gefangenen zu einem gedankenlosen Mob wurden, der alles vernichtete, was sich ihm in den Weg stellte. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er sie beruhigen konnte. Zu sagen, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeugte, mochte vielleicht stimmen, aber die Worte würden sie nicht einmal wahrnehmen.
„Das wird es nicht“, sagte Luca fest, mit entschlossener Stimme.
Schreie und aufgeregtes Murmeln drohte Luca zu übertönen.
Er hob beide Arme. „Hört mich an!“, rief er nun laut genug, dass seine Stimme ihr volles Volumen erreichte und tragend durch den Kessel hallte. „Diese Männer wollten euch glauben machen, dass der Kaiser ein Monster ist, ein Wahnsinniger, der andere Völker verachtet und vernichtet sehen will. Wollt ihr ihm dieses Wissen verwehren, und uns allen hier das Wissen um den Mann verheimlichen, der das Lager in das hier - diesen Schlachthof - verwandelt hat?!“
Der Zorn war ungebrochen in den Augen der Anderen, aber zumindest hörten sie ihm wieder zu.
Luca schüttelte den Kopf. „Die, die Orpheus Heer sammelt müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Und diese sollte von dem Kaiser ausgesprochen werden.“ Bevor die Stimmen wieder anhoben, sprach er weiter. „Vielleicht gibt es noch weitere Lager, die Halbmenschen vernichten sollen. Aber das erfahren wir nur, wenn die Gefangenen am Leben bleiben und sie die Aussicht auf eine faire Verhandlung haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es weitere der Lager gibt und auch dass der eine oder andere von euch dadurch betroffen ist, weil er oder sie bereits dorthin Freunde, Verwandte und Bekannte verloren hat, ohne zu wissen, dass diese Vernichtungslager existieren.“
Er konnte spüren, dass seine Worte endlich Erfolg zeigten und der Zorn sich beruhigte. Eine betroffene Stille kehrte ein, nur durchbrochen von gelegentlich gemurmelten Worten.
Luca atmete innerlich auf.
„Helft mir, dann kann auch ich euch helfen. Nicht jeder wird seine persönliche Rache erhalten, aber die Ungewissheit über verschollene, geliebte Wesen, die einst das Licht selbst für euch waren, lastet sicher schwerer auf euch als jeder Gedanke an vollkommen ungerichtete Rache.“
Schweigen schlug ihm entgegen.
Ein alter Zwerg erhob sich schwerfällig und hob eine Hand zu Luca. „Du hast einfach reden, Mensch!“, rief er zornig. Tränen sammelten sich in seinen matten, müden Augen.
„Was Verlust ist, weißt du gar nicht. Und was schmerz und Entbehrung ist auch nicht!“
Luca senkte den Blick. „Darin muss ich euch in allen Punkten wiedersprechen. Aber im Gegensatz zu euch, Herr Zwerg, nehme ich den Schmerz zusammen und bilde daraus den Wunsch es selbst anders zu machen und nicht das zu tun, was man mir einst antat.“
Der Mann sah ihn verärgert an. „Was ist dir schon schlimmes geschehen?!“
Luca schüttelte nur leicht den Kopf. Erinnerungen stoben auf ihn ein, Dinge die er verdrängt hatte, vieles, was er über die Jahre schöngeredet hatte. Aber er wollte davon nicht sprechen müssen. Das war vorüber und verbannt in seine Vergangenheit.
Wie konnte er ihm und all den anderen allein sagen, dass er eigentlich gar kein Mensch war?
Tambrens Schuppen klapperten leise, abwehrend.
„Wir werden das Pendel einschmelzen, aber daraus werden wir Waffen machen, Mensch!“, donnerte der Zwerg.
Müde lächelte Luca. „Sind das die Waffen der Rache, getränkt mit dem Blut eurer Lieben?“, er wartete keine Antwort ab. „Das ist sinnloser Pathos. Es sind die Waffen, die euch in einen neuen Krieg zwingen und die euch neues Leid zufügen, wieder Personen rauben, die euch nah stehen und letztlich das letzte bisschen Hoffnung im Feuer eures eigenen Wahnsinns verzehren. Am Ende, wenn ihr endlich eure Rache hattet, steht ihr allein da, mit nichts, niemand, der sich nach euch sehnt, der auf euch wartet oder euch braucht. Dann seid ihr ausgebrannt und nutzlos, sogar für euch selbst unbrauchbar. Was sind also eure Ziele? Vernichtung und Hoffnungslosigkeit mit der Sicherheit auf Wahnsinn und Tot, oder die Chance neu anzufangen, zuzusehen wie eure noch ungeborenen Kinder groß werden und selbst Kinder haben?“
Lucas Brust hob und senkte sich schnell. Er hatte sich in verzweifelte Rage geredet. Aber scheinbar hatten seine Worte auch ihr Ziel erreicht. Die Blicke der Meisten zeigten Angst vor dem Szenario, dass er beschrieben hatte.
Leise zupfte Tammy an Lucas Stiefelschnalle. „Die Gefahr ist gebannt“, bestätigte er leise. „Wenn sie dich in den kommenden Tagen kennen lernen und merken, dass du das nicht nur so daher geredet hast, hast du gewonnen.“
‚Danke für deine Unterstützung, kleiner Freund,’ entgegnete Luca wortlos.
‚Du allein bist in der Lage sie zu Unterstützen und ihnen Mut und Hoffnung zu geben, denn du glaubst an das, was du sagst. Du wirst sie erheben können und ihnen Kraft geben.’
Tambren kletterte nun umständlich, und für Luca nicht schmerzfrei an dem Stiefel und der Hose hinauf und rollte sich in den Armen des Magiers zusammen. Unbewusst drückte er den Drachling an sich und kraulte seinen Kiefer.
„Alle die sich in der Verfassung sehen Aufgaben zu übernehmen, melden sich bitte bei Jaquand.“, Luca wies auf den jungen Mann an seiner Seite. „Wir werden einige Tage brauchen, um alles zusammenzutragen, was wir finden. Kleidung wird sofort ausgegeben, sobald sie da ist. Was persönliche Gegenstände einzelner hier betrifft, werden auch diese zusammengetragen und ihren Besitzern wieder übereignet.“
Jaquand pfiff leise. „Meister, so habe ich euch noch nie reden hören. Das war ein anderer Lysander als der stille Magier, den wir alle dachten zu kennen.“
Luca wendete sich nun zu ihm um. Allerdings hatte er nicht vor auf die Worte einzugehen. „Dir muss ich danken, mein Freund.“
Fragend sah der Söldner den Magier an. Luca antwortete ihm nicht. Er war sich sicher, dass Jaquand schon auf den richtigen Gedanken kommen würde. Lächelnd trat Luca an ihm vorüber zu den freiwilligen Helfern.
„Primär werde ich euch erst heilen, damit ihr belastbar seid“, erklärte er. „Wir sind gerade achtundzwanzig, Verletzte und Kranke gibt es aber vielfach mehr.“
Er sah zu dem Bewusstlosen Seraph. „Und ihn muss ich vom Rest separieren. Sein Anblick würde ihre Grundfesten erneut ins Wanken bringen. Das kann ich nicht riskieren.“
„Warum haben sie einen Seraphin einfangen?“, fragte ein Eistroll leise. Seine langen, strähnigen Haare klebten von Schweiß, Körperfett, Eiter und getrocknetem Blut in seiner hohen Stirn und sein weißer Bart hatte schwarze, leicht gekräuselte Enden. Vermutlich hatte jemand versucht in Brand zu setzen, es aber nicht geschafft. Trolle wie er besaßen eine Unzahl von Hornplatten, die sich unter ihrer Haut befanden und sie schützten. Obgleich er mitgenommen aussah, ging es ihm noch gut.
Luca sah ihn einige Sekunden nachdenklich an. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise, verschwieg aber wohlweißlich dass der schwarze Engel zuvor ein Elf war. Nicht jeder musste erfahren, dass bei allzu großem körperlichem Schmerz und im Tod ein Seraphin seine wahre Natur offenbarte.
„Ihr seid ein Magier“, stellte eine verwahrloste Zwergin fest. „Woher nehmt ihr das Wissen über Heilung?!“
Luca sah sie direkt an. Sie hatte ein grobes Gesicht und rote, verfilzte Locken, die sicher nur noch eine Schere oder ein Messer in den Griff bekommen konnte. Ihre Lippen waren aufgesprungen und die Knochen stachen durch das schmutze Hemd, dass einst einmal prächtig bestickt war. Ausgerissene Ohrlöcher bewiesen, dass sie Ohrringe getragen haben musste.
„Ich bin ein Nekromant“, antwortete Luca. „Die Lebenskraft raubenden Zauber kann ich umkehren und Energie aus mir in andere fließen lassen...“
„Das habt ihr hier bei ihm schon getan“, stellte Linnette fest und deutete auf den Seraphin.
Luca nickte zur Bestätigung. „Aber mein Freund Justin hat mich auch gelehrt Kräuter und Tinkturen zu mischen, Heiltechniken, alles Mögliche. Im Moment hoffe ich nur, dass wir genug finden, was den Leuten hier hilft. Das einzige was mir bliebe, wenn wir hier nichts fänden wäre, um Hilfe in Valvermont zu bitten. Aber ich habe einige gesehen, die wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, schon den morgigen Tag nicht erleben werden.“
Linnette murmelte eine Zustimmung.
„Was, wenn wir den schlimmsten Fällen erst mal reine Lebenskraft gäben?“, schlug der Troll vor. So könnten wir vielleicht auch die Wachen strafen, in dem sie denen, die sie so verletzt haben, das wieder geben, was sie ihnen genommen haben.“
Luca dachte einen Moment über den Vorschlag nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich bin nur bereit meine eigene Kraft zu geben. Alles andere wäre Raub.“
„Dickkopf!“, knurrte Tambren in seinem Arm.
„Es verstößt gegen seine Prinzipien.“, warf Aki ein. „Er ist nicht geschaffen um anderen etwas zu nehmen. Das solltest Du am besten wissen, kleiner Drache.“
Die Goldaugen Tambrens richteten sich auf sie. „Ihr setzt viele Erwartungen in ihn?“, fragte er die Elfe.
Aki lächelte wissend, schwieg aber.
Die rothaarige Zwergin meldete sich wieder zu Wort. Das Misstrauen in ihrem Blick hatte sich noch immer nicht gänzlich gelegt, aber offensichtlich begann auch sie Luca ihr Vertrauen zu schenken. „Was aber, wenn wir einige starke und noch recht gesunde Männer fragen und sie uns von sich aus ihre Kraft spenden?“
Luca knirschte leicht mit den Zähnen. Es wiedersprach wirklich in allen Punkten seiner Ansicht von guten Taten. Aber er sah auch seine eigenen Energien recht schnell schwinden, wenn er versuchen wollte, die im Sterben liegenden am Leben zu halten.
„Ihr könnt euch nicht einfach weigern“, beschwor ihn der Eistroll.
Linnette nickte wieder. „Viele werden mit Leib und Seele alles geben, wenn nur einige andere überleben. Ihr rettet damit Familien, die sonst auseinandergerissen werden.“
In Lucas Hals bildete sich ein harter Knoten, der ihm fast die Luft abschnürte. Er brach wirklich alle Regeln, die er sich im Lauf seines Lebens geschaffen und auferlegt hatte. Aber heute schien der Tag des Umbruchs in jeder Weise zu sein. Mit einem schwerfälligen, widerstrebenden Nicken stimmte er zu. Es kostete ihn viel Überwindung und er glaubte im Anschluss wirklich einen Grad überschritten zu haben, der seinem Lebensweg eine neue Richtung gab.
Die Zwergin lächelte breit. Ihr fehlten einige Zähne.
„Gute Entscheidung, Meister Lysander.“
Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von etwa vier Fuß auf und sah ihn von unten her an. „Ich bin Ria, ein Medicus von Gismonda, ehemals die Begleitung einer Handelskarawane aus Sarina.“
Luca konnte nur ein mattes Lächeln zur Antwort geben. Er fühlte sich elend.
„Lasst uns erst mal ihn hier fort bringen“, merkte Linnette an und wies wieder auf den schönen Seraph. Der Troll winkte einen männlichen, sehr stattlichen und edel aussehenden Orc herbei. „Helft mir, Selim“, forderte er ihn auf. Der Mann mit den dunklen Locken und dem eleganten Bart hob abwertend eine Braue. Dann aber trat er zu dem wesentlich größeren Eistroll und ließ, wie zur Lockerung, seine Armgelenke einmal Kreisen. Dann spannte sich seine bronzene Haut über ungeheuren Muskeln. Aus dem Augenwinkel bemerkte Luca die Intarsien in den Unterkieferhauern des Mannes und die Tätowierungen im Nacken und auf dem Rücken. Er musste ein Adeliger, oder zumindest ein sehr reicher Händler aus dem Süden Sarinas sein.
Wortlos nahm er die Füße des Seraphs und hob sie an, während der Troll, dessen Name Luca immer noch nicht kannte, behutsam unter den Armen zu griff. Ria eilte herbei, um die gewaltigen Schwingen hoch zu drücken und nickte dann.
„Wohin?“, fragte der Troll leise.
Luca überlegte nicht lange. Orpheu hatte ihm einen Raum zugewiesen. „Den Flur hindurch und der fünfte Eingang rechts“, koordinierte er die drei.
Ohne ein weiteres Wort brachten die beiden Männer und Ria Lucas Liebe fort.
Am liebsten wäre der Magier ihnen sofort nachgeeilt und hatte sich ausschließlich um diesen jungen Mann gekümmert, aber das konnte er im Moment nicht verantworten. Er sah Aki und Linnette an, dann die anderen, ihm immer noch unbekannten Frauen und Männer.
Sie warteten alle auf seine Anweisungen.
„Die, denen es halbwegs gut geht, werden in den großen Schlafsälen dort drüben untergebracht.“
Er deutete in einen anderen Gang hinein. „Die Lagerstätten können wir ohne weiteres so nutzen wie sie sind.“
Einige Sekunden verstrichen, in denen er sich wieder umsah. „Alle, die Krankheiten haben, ansteckend sind, fiebern oder Wundbrand haben, müssen separiert werden, aber auch gründlich gereinigt. Sie brauchen als erste frische Kleidung, saubere Decken und Medizin. Brüche, Schnitte und alles, was verbunden werden muss und nicht in der Lage ist zu gehen, sollte erst mal hier im Kessel bleiben. Für Schienen brauchen wir Holz. Sucht euch also Leute, die in der Lage sind euch zu helfen, euch zur Hand gehen und euch unterstützen können. Das können auch Kinder sein. Sie müssen Holz, Metall und Stoffe suchen. Wir brauchen auch solche, die die Stoffe im kochenden Wasser auswaschen und die Bilden, mit denen wir Arbeiten auskochen. Andere sollen Stroh sammeln und Decken, damit wir auch hier ein Lazarett einrichten können. Und noch eines. Ich verlange von euch, dass ihr selbst sauber seid und euch frische Kleider nehmt. Ihr könnt sonst Wunden infizieren …“
Eine schwarzhaarige Elfe machte eine knappe Handbewegung, die Luca verstummen ließ. „Haben wir freie Hand in allem?“, fragte sie scharf.
„Wenn ihr in der Lage seid zu heilen, oder ähnliches Vorwissen besitzt, dann schon“, entgegnete Luca nicht weniger scharf. Ihre schwarzen Augen funkelten zornig und hochmütig. Luca erwiderte den Blick ruhig, entschlossen. Ihm fiel es nicht schwer Stand zu halten.
Nach Sekunden spannte sie sich. „Seht euch vor, dass ihr nicht eine Grenze überschreitet, Magus!“, zischte sie wütend. „Ihr habt einer hohen Dame aus Rouijin Respekt zu zollen!“
Luca unterbrach nun den Blickkontakt doch. Er sah an ihr vorüber, wies auf den Kessel, wendete sich dann ihr wieder zu und sagte leise, bestimmt: „So lang die Eisenberge nicht zu dem Königreich Rouijin gehören, müsst ihr euch meinen Respekt erarbeiten, junge Dame. Ihr habt eure Chance dazu, indem ihr Gutes tut, anstatt euren Atem mit Diskussionen zu verschwenden. Dort warten unzählige Männer, Frauen und Kinder aller Rassen auf Nahrung, Hilfe und Zuspruch. Diese armen Geschöpfe brauchen Mut und Kraft um die Kraft zu finden auch leben zu wollen. Denn, sollte es euch entgangen sein, sie haben zu einem großen Teil alles verloren, was sie geliebt haben, und zusätzlich noch ihre Würde und ihren Besitz.“
Sie schnappte hilflos nach Luft, brachte aber nicht ein Wort hervor. Ihre Wut kochte nur noch heißer. Allerdings zog Luca es vor dieses Gespräch abzubrechen.
„Linnette, meine Liebe“, begann er, „würdet ihr euch um die Einteilung der Kranken und Verletzten kümmern, das am besten zusammen mit diesem jungen Hitzkopf?“
Er hoffte innerlich, dass die gutherzige Art der Orc-Dame einen beruhigenden Einfluss auf die Elfe haben würde.
Linnette sah das Mädchen an, dem Luca mit seinen Worten noch mehr Stoff für ihre flammende Wut geliefert hatte.
„Kommt mein liebes Kind“, winkte sie die junge Frau zu sich. „Bitte helft mir gleich.“
Das Mädchen reagierte stolz und überheblich, genau wie Luca erwartet hatte. Mit erhobenem Kopf und ohne den Magier eines Blickes zu würdigen schritt sie an ihm vorüber zu Linnette und stützte sie etwas. Er hörte sie noch sagen, dass er sein Versprechen Linnette zu heilen nicht gehalten hatte. Aber scheinbar fand die Orc-Dame eine Möglichkeit das Gespräch sehr schnell auf ein anderes Thema zu lenken.
„Das war Absicht, oder?“, fragte eine zierliche Halbelfe, das zweite Wesen, was außer Ria zu Luca aufblicken musste.
Er deutete ein Nicken an. „Sie kann über mich denken was sie will, so lang sie ihren Überschuss an Wut in Kraft für andere umsetzt. Linnette zu heilen wäre in dem Fall unklug gewesen. So richtet das Mädchen ihre Kräfte in die Richtung, in der ich sie haben will. Sie soll helfen, sie muss den Wunsch dazu haben, und den entwickelt sie nur, wenn sie meint, dass sie besser und gerechter handelt als ich. Damit vergisst sie ihren Ehrendünkel wenigstens.“
Die Frau nickte anerkennend. „Ziemlich weise und trickreich für einen noch so jungen Mann.“ Sie strich sich eine rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und straffte sich leicht. Unter ihrem Leinengewand spannten sich die Muskeln einer Kriegerin. Auch ihre muskulösen Hände verrieten, dass sie viel gekämpft und hart gearbeitet hatte. „Mein Name ist Nea“, sagte sie. „Ich bin eine Geweihte, also noch ohne Magie, aber ausgebildet in allen Arten körperlicher Arbeit und der Kräuterkunde.“ Sie machte eine Bewegung zu dem Platz, an dem die schwarzhaarige und schwarzäugige Elfe gerade noch gestanden hatte. „Von ihr sagt man, dass sie eine Adelige aus Rouijin ist. Ich glaube es nicht. Das ist unmöglich. Da unten war ich einige Jahre. Das Adelspack macht da keinen Finger krumm. Und egal wie hochnäsig sie sein will, so ist sie im besten Fall ein Bastard, der auch nur arbeiten musste.“
„Woher wisst ihr das, Nea?“, fragte Luca nun nach.
„Sie hat das Tattoo einer niederen Kaste auf dem Arm“, erwiderte die Halbelfe gelassen. Sie zog den Ärmel ihres Gewandes hoch und entblößte ihren Unterarm. Auf der Innenseite hatte man ihr ein für Luca unlesbares Schriftzeichen eintätowiert und darüber einen stilisierten Vogel mit Schweif. „Ich war eine Dienerin in einem der Clans-Verbände dort unten“, setzte sie erklärend hinzu. „Sie auch. Allerdings gehörte ich zu einer anderen Familie als sie.“
Luca nickte unbehaglich. Ihm ging durch den Kopf, dass diese beiden Frauen mit ziemlicher Sicherheit nicht miteinander auskommen würden.
Tambren schein ähnlicher Ansicht zu sein. Der Drachling sprang nun auf Lucas Schulter hinauf und rollte sich um den Nacken seines Meisters, sodass sein langer Schwanz auf der anderen Seite herabfiel.
Luca sah nun die anderen Freiwilligen an. „Nun ist es an der Zeit erst euch zu stärken, damit ihr den Anderen helfen könnt.“
Lang schon hatte Luca alles Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht ob es Tag oder Nacht war, nur, dass er zu Tode erschöpft war und seine Gedanken immer wieder in Dunkelheit und wirren Wachträumen zu versinken drohten.
Wie gewohnt hatte Tambren ihm schon mehrfach seine Besorgnis ausgesprochen und er den Drachling ignoriert. Aber nun war der Punkt erreicht, an dem sich auch für Luca Realität mit Einbildung vermischte. Die Kräuterpaste, die er behutsam über eine Eiter schwärende Wunde strich, nahm für den Bruchteil einer Sekunde die Farbe frischen Blutes an, sodass Luca erschrocken die Hände zurück zog und mehrere Herzschläge lang die Lider schließen musste. Ihm war schwindelig. Das alles war viel Arbeit, unfassbar viel Arbeit.
Mit Hilfe Rias und einiger erstaunlich gesunder junger Männer und Frauen, die durchaus freiwillig bereit waren ihre Lebensenergie zum Teil zu opfern, hatte er schon zu Anfang vielen Personen helfen können. Dabei ermahnte er allerdings auch jeden eindringlich im Anschluss zu ruhen, viel zu essen und viel zu trinken, denn die Kraft würde sich nicht wirklich schnell wieder herstellen.
Dem Rat folgte er selbst nur bedingt. Orpheu hatte ihm zwischendurch mehrfach Tee gebracht und einen Apfel, den Luca zu einem Teil mit außergewöhnlicher Gier verschlang, bis er dann die hungrigen Augen eines kleinen Mädchens sah und ihr die restliche Hälfte überließ.
„Du musst essen und schlafen, Luca“, ermahnte ihn Tambren erneut. In der Stimme des Drachlings schwang einige Resignation mit.
Der Magier bedeckte den Rücken des Gnoms mit einem feuchten, vom auskochen noch warmen, Tuch und erhob sich dann unsicher vom Boden. Sein Gleichgewichtssinn setzte für einen Moment aus und er taumelte leicht, fand aber wieder Stand. Schwindelig fühlte er sich dennoch. Das Bild des Kessels kippte und bebte immer wieder leicht. Seine Knie zitterten mit jedem Herzschlag stärker. Aber insgeheim verspürte er einen leisen Anflug von Freude. Der Anblick hatte sich vollständig verändert. Das Pendel hing nicht mehr an seinem Platz, dafür spannten sich Seile an der Holkonstruktion und darüber hingen Tücher wie ein Baldachin, der die Verwundeten vor herabfallenden Steinchen und Sand schützte. Auch hatte man den Richtblock einer anderen Bestimmung zugeführt. Er diente nun als eine art wuchtiger Schreibtisch. Zwei Männer standen dort und katalogisierten alles, was man ihnen vorlegte. Der Koch hatte sich am Rande des Kessels einen Platz gesucht und tat sein Bestes zusammen mit seinen freiwilligen Helfern allen Hunger zu stillen. Die Söldner wechselten sich alle paar Stunden in ihren Wachen ab und die siebenundzwanzig Männer du Frauen, die Luca halfen, hatten sich ihrerseits viel Unterstützung angeworben. Friedvoll und ruhig war es nun hier.
„Du hast Grund auf dich stolz zu sein, Luca“, gab Tambren leise zu. „Aber lass dir das nicht zu Kopf steigen.“
Lächelnd strich der Magier über den Kopf seines kleinen Vertrauten. „Jetzt will ich endlich nach meinem schönen Freund sehen“, flüsterte er.
„Ja, halbtot nutzt du ihm auch nichts“, neckte ihn Tambren.
„Und danach ein Bad ...“ Luca schloss die Augen. Er hatte von Orpheu gehört, dass es hier einen nutzbaren Baderaum gab, endlich eine Möglichkeit allen Dreck und alle Krankheit von seinem Leib zu spülen. Luca hatte die verschmutzten Körper gewaschen, die eitrigen Wunden und die von Fäkalien verdreckten Lager gereinigt. Nichts davon schien ihn zu stören, aber er fühlte sich momentan einfach nur unsauber.
Langsam schritt er durch das Lazarett und ließ die Geräusche und Gerüche hinter sich. Alles fiel von ihm ab wie eine Last der er sich jetzt erst bewusst wurde.
Der ihm zugewiesene Raum war unbeleuchtet, als er ihn betrat und die reglos daliegende Person erahnte er eher, als dass er ihn sah. Seine Augen mussten sich erst an das fehlende Licht gewöhnen. Lautlos trat er an das Lager und kniete sich neben den jungen Mann. Er schlief nun tief. Linnette hatte ihm die Wunden verbunden und ihn gut versorgt. Aber Luca nahm sich vor seinen schönen Freund zu reinigen und ihn noch einmal neu zu verbinden, dieses Mal mit magischer Unterstützung.
Jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass der Junge seinen Namen genannt hatte, seinen Geburtsnamen.
Woher kannte er Luca?
Der kleine Drache reckte seinen Kopf so weit in Lucas Gesichtsfeld, dass der Magier ihn einfach ansehen musste.
„Anstatt dir sinnlos dein übermüdetes Hirn darüber zu zermartern, frag ihn, wenn er wach ist“, knurrte Tam.
Luca schlug den Blick nieder und lächelte matt. „Nicht falsch“, gab er zu.
Der Junge vor ihm regte sich, murmelte etwas, versuchte sich auf den Rücken zu drehen und gab es schließlich auf, denn die angelegten Schwingen machten ihm dieses Vorhaben vollkommen unmöglich.
„Er träumt.“, stellte Tambren fest, neigte den Kopf hinab und hob erstaunt die Brauenwülste. „Ganz offenbar aber nichts Schlechtes.“
Luca streichelte dem Drachen liebevoll mit der linken Hand über Kopf und Hals, streckte die rechte nach dem Haar des Jungen aus, zögerte aber einen Moment, bevor er seine Finger in dem dichten, noch immer silberweißen Haaren versenkte und seinen Hinterkopf zu kraulen begann.
Tambrens Schuppen begannen leise - exstatisch – zu klappern und seiner Kehle entrang sich ein wohliges Grollen. Auch der junge Mann regte sich wieder leise auf dem Strohlager, schob sich merklich zu Lucas warmem Körper und legte ungeschickt eine Hand auf das Knie des Magiers.
Das Gefühl diesen jungen Mann zu kennen brannte heißer denn je in Lucas Seele. Er war gerade dabei sich eine einfache Erklärung zu dem Wissen über seinen Namen zu Recht zu legen. Vielleicht hatte sich Justin ja Verraten und es ihm gesagt. Aber dieses Gefühl, als die Hand sein Bein berührte, der Anblick dieser langen, schlanken Finger, weckten einen winzigen Teil einer Erinnerung, die nicht da sein sollte. Dieser Junge, für Luca damals ein Mann, denn der Magier war damals ein Kind, hatte ihm den Armschmuck umgelegt, den er sogar jetzt unter seinem Gewand trug. Das, durch seine Haut, warme Metall fühlte sich für ihn plötzlich lebendig an, als wäre es eine Berührung einer Hand, die sich sanft um seinen Arm legte. Verwirrt hielt er inne und sah einige Sekunden still seinen Ärmel an. Dann löste er die Finger von Tam und dem Jungen, um den Stoff hochzuschieben und das breite, verzierte Armband zu betrachten. Von seiner Art war es eindeutig filigran wie eine elfische Schmiedearbeit. Smaragde, eingefasst in das feine Rankwerk von Silberfäden, feinen Blättern und Verästelungen. Zu diesem Schmuckstück hatte er immer eine sehr intensive Beziehung gehegt. Er trug es fast immer, und selbst ein Ihad oder ein Cyprian konnten ihm dieses Armband nie auf lang entreißen. Justin hatte es hundertfach bewundert, die schöne Arbeit immer als eine der schönsten Zierden an Luca geliebt und Kyle zerstörte es einmal fast in einem Anfall seiner Wut. Aber so unglaublich Zäh wie Luca, war ach diese Arbeit dauerhaft und eine letzte Erinnerung an die Person, die er war, bevor er an Cyprians Seite die Tore des Ordens durchschritt und sie danach über lange Zeit für ihn ins Schloss fielen und sich nicht wieder öffneten.
‚Er hatte es für mich gefertigt’, dachte Luca. ‚Es entstand zu meinem ersten Geburtstag, damals als meine Mutter noch lebte, und er war ein Teil meiner einstmaligen Welt … Tam, weißt du was das bedeutet? Vielleicht weiß er auch, was alles passiert ist. So vieles von meiner Erinnerung liegt unter Ihads Bann verborgen! Und ich kann ihn nicht abschütteln!’
Der Drachling kuschelte seinen Kopf in Lucas Halsbeuge und lächelte zufrieden. ‚Das wäre vielleicht die Befreiung für deinen Geist. Ich kann auch nicht weiter sehen als das, was dir bewusst ist. Aber es wäre schön zu wissen, wie die ganzen Fragmente deiner Vergangenheit zusammen passen, ab welchem Zeitpunkt du wirklich mit Justin in Kontakt kamst, warum dein Vater dich an Ihad und Cyprian verkaufte und wie das Haus deines Vaters unterging. Das alles hast du ja nicht mehr bewusst vor Augen.’
Luca atmete tief durch und nickte. ‚In einem Punkt bin ich mir sicher, mein kleiner Freund. Dieser Junge muss meine Mutter gekannt haben, und er weiß, dass auch ich ein Seraphin bin. Vielleicht kann er mir wirklich all das erzählen, wovon ich nichts mehr weiß. Vielleicht weiß er auch, was mit meiner kleinen Schwester passiert ist, wie mein Vater und meine Stiefmutter starben, all das, wovon ich nur weiß, was Cyprian und Justin mir sagten.’ Etwas zögernder, aber dennoch sehnsüchtig, gestattete er sich den hoffnungsvollen Wunsch, den einzigen, der mehr als alles andere auf seiner Seele brannte in stumme Worte zu fassen. ‚Und vielleicht hat er mich damals auch geliebt, so wie ich ihn nun liebe.’
‚Vielleicht hast du ihn schon damals geliebt’, gab Tam zu bedenken. ‚Aber das erfährst du nur, wenn du ihn fragst.’
Luca nickte. Seine Seele fasste neue Hoffnung.
‚Geh endlich baden, du eitler Kerl’, drängte Tambren ihn nun. ‚Du wirst später ausgeruht wieder gebraucht, und das ist etwas, wofür ich weder hellsichtiges Fähigkeiten haben muss, noch prägkognitive.’
Behutsam hob Luca die Hand des Jungen von seinem Knie und bettete sie auf das Stroh. Unruhig rückte der Seraph seiner Körperwärme nach.
„Ich bin sehr bald wieder bei Dir, mein wunderschöner Freund“, flüsterte Luca, strich ihm mit einer Hand über das Haar und deckte den schlafenden Jungen gründlich zu.
Tatsächlich hatte Luca heißes Wasser aus dem, was Orpheu großspurig Baderaum nannte und sich genaugenommen als mit fließendem Wasser gefülltes Felsenloch herausstellte, mitgebracht und den Seraph gereinigt. Alle Verbände hatte er getauscht und noch viele Stunden darauf aufgewendet, ihn immer wieder mit kleinen Teilen seiner Lebenskraft zu versorgen, bis die aus dem Fleisch gerissenen Stellen Stück um Stück zu verschorften, nun nur noch unangenehm ziehenden Verletzungen wurden. Zwischendurch schlief er immer wieder kurz ein, erwachte aber von dem schmerzhaften Ziehen in seinem Rücken, weil er im Schneidersitz auf dem Boden kauerte und nicht einmal eine Wand zum Abstützen hinter sich hatte. Nach einigen Stunden rollte er sich dicht neben dem Jungen in seinen Mantel ein, drückte seinen Drachen an sich und schlief schon tief und fest, bevor sich Tambren noch richtig in seinen Armen ausgerichtet hatte.
Wie lange er im Anschluss geschlafen hatte, konnte er nicht sagen. Aber als er erwachte, lag er zusammengerollt wie ein Neugeborenes auf der Seite, unter einer schwarzen Schwinge verborgen und wohlig warm geschützt vor der Kälte, die leicht über seine Wange strich. Tambren schreckte nun auch hoch und kroch recht wenig behände aus Lucas Armen hinaus, um sich in einer Ecke erleichtern zu wollen.
Der Magier reckte gähnend seine verkrampften Glieder. Er hatte das Gefühl, dass er sich keine Sekunde in dieser Nacht – war es denn Nacht gewesen? – gerührt hatte.
Dann rollte er sich vorsichtig mit dem Rücken zu dem Jungen, sah hinüber zu dem Eingang der Höhle, der verborgen hinter einem Tuch lag und registrierte, dass jemand ihnen etwas zu Essen hier abgestellt hatte.
Tams Fokus verschob sich mit dieser Entdeckung auch sofort. Er ergriff ein Stück Hartkäse, schmiegte seine Wange dagegen und murmelte: „Komm her mein Schatz und lass Dich verführen.“
Luca lachte leise. „Du bist auch nichts außer Magen, oder?“
Tambren streckte ihm die Zunge heraus und biss dann herzhaft in den Käse.
„Wie lang haben wir geschlafen?“, murmelte Luca, arbeitete sich behutsam unter der Schwinge hervor und streckte dann ein weiteres Mal seine müden, schmerzenden Gelenke.
„Lang genug um das Frühstück zu verpassen“, entgegnete Tambren schmatzend.
Luca hob eine Braue und trat zu seinen Satteltaschen um sich ein intaktes Hemd heraus zu suchen und eine Hose, die nicht aussah, als hätte er sie in einem Meer aus Blut gewaschen.
„Was hättest Du eigentlich gemacht, wenn der Kleine“, er deutete mit einer Kopfbewegung auf den riesenhaften Seraph, „in der Nacht aufgewacht wäre und einen nackten Mann neben sich gefunden hätte, Luca?“, fragte Tambren beiläufig und verging sich an dem einzigen Stück Schinken, was auf dem Holzbrett zu finden war.
Luca zog seine Hosen an und schnürte sie an seiner Leiste zusammen. „Das wäre auf seine Reaktion angekommen. Bei hellem entsetzen, hätte ich mich auch mit einem unbequemen Hemd abfinden müssen. Wenn es ihm egal gewesen wäre,“, er zuckte mit den Schultern, nahm sein Hemd und zog es über den Kopf. „Und wenn es ihm gefallen hätte, würde mir vermutlich nun mein Rücken weniger weh tun“, sagte er lächelnd. Er strich sich sein langes Haar aus dem Kragen und kämmte es gründlich, nur um es wie einen knielangen Mantel um sich fallen zu lassen.
Etwas in Luca hellte seine Stimmung auf. Er war zum ersten Mal seit vielen Monaten gut gelaunt und fröhlich.
„Na, wie sehe ich aus?“, fragte er lachend und breitete dabei die Arme aus, sodass sein Haar über Brust und Rücken fiel. Dann legte er die Hände über der Brust zusammen, kniete sich nieder und neigte den Kopf leicht zur Seite.
Tammy warf einen Blick über die Schulter und musterte ihn einige Sekunden kritisch. „Wuschlig, wie ein Wischmob mit Storchenbeinen.“
Luca verzog die Lippen. Er konnte die wirklichen Gedanken seines geschuppten Freundes lesen. Tambrens wirkliche Meinung dazu war eine andere. Er fand Luca schön, besonders in dieser etwas schutzlos weiblichen Pose, wo niemand zu sagen vermochte, ob er Mann oder Frau, Mensch oder Elf war. Der Drachling hasste es, wenn sich der Magier so, oder gar nackt, den Blicken der Männer aussetzte, die ihn begehrten.
Schon mehrfach endete das damit, dass Luca gegen seinen Willen genommen wurde. Er reizte damit Cyprian, der den jungen Mann ohnehin besitzen wollte und in Justin sprach Luca die dunkle Seite an, seine Sehnsucht nach einem Mann, den der Vampir ganz und gar kontrollieren und vereinnahmen konnte.
„Du bist zu weibisch, Luca!“ sagte Tam ärgerlich. Er stopfte sich gerade wieder etwas Käse in den Rachen, als er von Luca hochgenommen und liebevoll gedrückt wurde.
„Ich liebe dich, mein kleiner Freund“, flüsterte Luca. Er gab dem Drachling einen sanften Kuss auf den Kopf und streichelte sanft seinen langen Drachenhals.
Tammy wollte sich im ersten Moment wieder aus den Armen seines Meisters befreien, ließ dann aber den Käse fallen und schmiegte sich eng an Luca. „Ich liebe dich auch“, gestand er leise. Luca brauchte diese Worte nicht, denn er wusste es ja, aber allein dass der Drache diese Worte über die Lippen brachte, die Überwindung seiner eigenen Sturheit, bedeutete einen weiteren Schritt auf die vollkommene Untrennbarkeit der Beiden zu.
Der Magier kniete sich nieder und nahm etwas von dem Käse auf, fütterte Tambren damit und aß selbst ein wenig davon. Aber wie so oft reizten ihn mehr die Getränke als die feste Nahrung. Der Tee – Luca glaubte Kamille und Brennnessel herauszuschmecken – war zwar kalt und hinterließ ein schales, pelziges Gefühl auf der Zunge, war aber um Längen besser als das mit Essig versetzte Wasser in seine Lederschlauch.
Er gestattete sich aber nur einen Becher. Den Rest stellte er neben die Lagerstatt seines schönen Freundes.
„Ruh’ dich aus“, flüsterte er, in dem festen Wissen, dass der Junge davon kaum etwas gehört haben konnte.
Er trat wieder an sein Gepäck heran, das in üblicher Weise ordentlich verstaut da lag, und suchte sich seine Robe heraus.
Der graue Leinenüberwurf war so fadenscheinig, dass man im Gegenlicht Lucas Körper hindurch sah. Das häufige Waschen und der Einsatz in diversen Kriegen, hatten die Stoff zerschlissen. Luca legte ihn wieder zusammen und verstaute ihn in der Tasche.
„Dieses Mal musst Du auf meiner Schulter sitzen bleiben, mein Kleiner“, sagte er zu Tammy. „Ich bezweifele, dass ich diesen Mantel je wieder tragen werde.“
Der letzte Satz galt eher seiner eigenen inneren Unruhe und dem Widerstreben gegenüber dem Orden.
Er trat an den Ausgang der kleinen Höhle, verharrte und sah über die Schulter. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick zu dem Jungen, verließ er den Raum.
Der Anblick im Kessel hatte sich erneut ein wenig verändert. Schweine, Schafe, Kühe, Hühner und Ziegen liefen frei zwischen den Kranken und Verletzten herum. Ein völlig überforderter Zwerg saß mit zornesrotem Gesicht auf dem Richtblock, den Federkiel in einer Hand und eine hölzerne Kladde mit aufgespanntem Pergament in der anderen. „Kann einer das elende Viehzeug wieder zusammen treiben?!“, brüllte er über alle Kopf hinweg und gestikulierte gleichzeitig in diverse Richtungen, in die die Tiere ausgebrochen waren. Luca registrierte am Rande, dass ein Lämmchen an ihm vorbei lief und einen Moment später ein kleines Mädchen mit einem Metalltopf und einem Holzlöffel hinter dem Tier her rannte, um es noch weiter von dem Zwerg fort zu treiben. Vermutlich wollte die Kleine helfen, machte es aber nicht besser. Der unangenehme Geruch nach Tier-Urin und -Kot erfüllte den Kessel.
Luca erkannte das Kind auch wieder. Es war das Mädchen, dem er den halben Apfel gegeben hatte.
Im ersten Moment wollte er die Kleine am Arm ergreifen, um ihr zu sagen, dass sie die Tiere nicht zwischen all den Kranken herumtreiben solle, unterließ es dann aber doch. Seinen steigenden Ärger musste er nicht an dem unschuldigen Kind auslassen.
Genaugenommen konnte Luca kaum fassen, was er da sah. Allerdings fand er in der Masse an Halbmenschen und Menschen auch keinen Orpheu, oder irgendeinen ranghöheren Söldner. Raven trieb sich am Rand des Kessels herum und spielte mit einigen Männern Karten. Entnervt durchschritt Luca den Kessel bis zu dem Richtblock. In der Zeit suchte er mit seinen Blicken nach den ihm unterstellten Heilern und Medikussen. Ria konnte er entdecken. Auch sie hatte zornesrote Wangen und hielt sich weit entfernt von dem Zwerg hier vorne auf. Jedes Mal wenn eines der Tiere einem ihrer Schützlinge auch nur nahe kam, scheuchte sie das es mit Schreien und Tritten zur Seite. Ein Ziegenbock allerdings, ein noch sehr junger, wollte so einfach nicht aufgeben. Scheinbar fand er die Kräuter, die sie bei einem der Verletzten aufgelegt hatte interessant und schmackhaft. Ihn schien auch wenig zu stören, dass sein Futter alkoholisiert war. Er kam immer wieder und Ria scheuchte ihn ständig davon. Letztlich reichte es der Ziege so sehr wie Ria. Er nahm Anlauf und fand sich einen Herzschlag später in der ungünstigen Lage auf dem Rücken niedergezwungen zu sein, während die Zwergin halb auf ihm hockte und seine Hörner fest in beiden Händen hielt.
Aber sie war nicht die Einzige, die ihren stillen, beharrlichen Kampf mit dem Weidenvieh austrug. Linette erging es kaum besser, nur dass sie es mit zwei Schafen zu tun hatte und Selim vergaß ebenfalls für eine Weile seinen Anstand und seinen Rang, als er einige Hühner einfing und sie in eine Decke stopfte, um sie dann dem Zwerg kommentarlos hinzuwerfen. Scheinbar gingen dabei nur einige in der Panik gelegte Eier zu Bruch, dann als die Decke durch das zappelnde Federvieh aufging, stoben die Vögel in einer Masse herumfliegender Federn erneut in alle Richtungen und ein beleidigter und etwas derangierter Hahn stolzierte mit leichter Schräglage über die Stufen des Richtblockes, nur um anschließend bei einem verfehlten Auftritt als Kugel gackernder Federn abzustürzen.
„Herr Zwerg!“, Lucas Wut hielt sich nur noch gering in Grenzen. „Seht zu, dass ihr euer Viehzeug in einer anderen Höhle zählt, hier ist ein Lazarett! Es reicht schon, dass Hunderte unterschiedlicher Waren hier herein du hinaus getragen werden. Dann müsst ihr nicht auch noch Unruhe und Schmutz durch die Tiere hier herein bringen!“
„Magier, ihr seid mir in nichts Weisungsbefugt!“
Er wendete Luca den Hinterkopf zu, als er ein Paar Anweisungen brüllte, die jeder seiner Helfer geflissentlich ignorierte. Luca stützte einen Ellenbogen auf den Richtblock, ließ seine Blicke schweifen und entdeckte einige Sekunden später den Koch. Er stieß einen kurzen, scharfen Pfiff auf seinen Fingern aus und winkte, als er die gesamte Aufmerksamkeit der Personen hier hatte, den Troll zu sich.
„Mano, komm her und kümmere Dich um den hier und das zukünftige Essen!“ forderte er den großen, gemütlichen Mann auf. Aber scheinbar hatte auch seine Geduld schon schwer gelitten, denn sein ohnehin schon furchteinflößendes Gesicht mit dem ausladenden Bart und den Unterkieferfängen, den unzähligen Narben und dem einen, funkelnden Auge, was ihm geblieben war, umwölkte sich zusehends, als er zu dem Richtblock schritt.
Der Zwerg schenkte nun auch Luca seine herablassende Aufmerksamkeit. „Das kann mich nicht einschüchtern, Magier. Ihr habt hier gar nichts zu sagen. Ihr seid nicht der Hauptmann...“, begann er, wurde aber von einem leisen, drohenden Grollen in Lucas Tonfall sofort erstickt. „Nein, ich bin nicht der Hauptmann, aber der Befehlshaber, Zwerg, und wenn ihr nicht eure Stimme mir gegenüber senkt, könnte ich versuchen, ob eure magische Resistenz so legendär ist, wie man es eurem Volk nachsagt, verstanden?!“
Von Lucas Worten ließ sich der Mann nicht beeindrucken, aber spätestens Mano, der offensichtlich auf den geringsten Befehl Lucas hörte, schüchterte ihn doch gehörig ein.
„Mitkommen!“ donnerte ihn der Höhlentroll an. Sofort sprang der Zwerg von seinem Sitzplatz herab und nickte hastig. „Wie ihr wünscht, murmelte er und blickte hinauf. Mano reichte er gerade bis zum Oberschenkel. Allen das reichte schon aus, um ihn zur Räson zu bringen.
„Meister, ich nehme ihn mit. mir fehlt ohnehin noch Fleisch für die Suppe.“
Der Zwergen-Händler zuckte entsetzt zusammen. Mano ließ absichtlich offen, ob er Hühner- oder Zwergen-Brühe machen wollte. Als die beiden Männer zu der notdürftig zusammengestellten Lagerküche aufbrachen, musste Luca sich das Lachen wirklich verkneifen. Tam, der bis eben so getan hatte, als würde er schlafen, hob ein Augenlid und grinste. „An dem Kerl würde sich jeder Magen außer dem eines Trolls verrenken.“
Luca nickte ernst und sah sich erneut um. Die Schwerverletzten hatten sich ausgedünnt. Er wollte es vermeiden, aber scheinbar hatten etliche die letzten Stunden nicht überlebt.
„Das sind immer noch zu viele, Tammy. Keiner von uns ist in der Lage das alles hier in den Griff zu bekommen. Ich brauche einen mächtigen Heiler hier, einen Mann wie Justin. Wir verlieren zudem noch alle Glaubwürdigkeit, wenn wir nicht bald etwas gegen die Todesfälle erreichen können. Der Frieden hier ist labil und brüchig. Das kann nicht mehr sehr lange gut gehen.“
Der Drache legte seinen Kiefer flach auf Lucas Schulter und seufzte leise. „Du kannst sie aber nicht retten. Wenn du Hilfe willst, musst du Orpheu bitten, dass du zu Justin kannst um ihn zu holen.“
Luca atmete tief durch, oder versuchte es zumindest. Der Stein, der die ganzen vergangenen Wochen auf seinem Herzen lastete, gewann erneut Substanz. „Dann muss es wohl sein“, seufzte er.
Mit einer schwerfälligen Bewegung wendete er sich um und sah sich Thorn gegenüber. In all dem ganzen, sonoren Hintergrundlärm hatte er die Schritte des Halbzwergs völlig überhört. Er konnte den Schrecken nicht ganz von seinem Gesicht verbannen. Aber Thorn ignorierte es.
„Kommt mit, Lysander und eilt euch!“
Vielleicht sollte der Tonfall nach einem schroffen Befehl klingen, sackte aber in etwas grotesk fahles, für Luca nur mit unbeschreiblichem Entsetzen gepaartes, ab, das sich kaum noch fassen ließ.
Nun spürte auch er von einem Punkt tief in sich furchtbare Kälte aufsteigen. Justin verdrängte er sofort wieder. Wenn Thorn so tief erschüttert werden konnte, musste es etwas sein, das Luca lieber nicht sehen wollte.
Wortlos nickte er. Und es fiel ihm noch schwerer als zuvor einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Die Höhle, in die Thorn ihn führte war ein unterirdisches Gewölbe, eine Kaverne, die – obwohl nah an der Ursprungsquelle des Flusses Anthys - schon hier eine starke Strömung und eine beachtliche Breite hatte, erleuchtet von den Fackeln und Laternen vieler Söldner aus Orpheus Heer. Luca ahnte - nein er wusste - bereits zuvor, was ihn dort unten erwartet. Der Gestank nach Fäulnis und Verwesung verschlug ihm bereits lange bevor sie diesen Ort erreichten, den Atem. Das bisschen Tee und Käse, dass er im Magen hatte, konnte er kaum bei sich behalten. Es kostete ihn einige Überwindung und noch mehr Kraft, diesen Anblick zu ertragen. Das hier war eine Art Beinhaus, wenn man dafür überhaupt eine noch so zivile Beschreibung wählen wollte. An sich ließ es sich nur so zusammenfassen, dass hier unzählbar viele Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen lagen. Teils hatte der Fluss sie wohl fort getragen, andere bis auf die Knochen Blank gespült, wieder andere lagen als zur Unkenntlichkeit aufgeblähte Bälger im Wasser. Gleich wie, so hatten doch die Leichen dazu geführt, dass der unterirdische Fluss über die Ufer getreten war und sich einerseits staute, andererseits aber nun auch einen vielleicht einhundert Ellen messenden See gebildet hatte, der beharrlich stieg. Abfluss musste er immer noch haben, denn die Strömung war stark, aber das Wasser war das, mit dem Mano kochte, mit dem Luca und die ganzen Heiler Wunden versorgten.
Allein das Wissen sorgte bei Luca für einen tiefen Schock. Das erklärte auch das Aussehen der Wächter hier. Sie alle hatten etwas von Ghulen, schwammigen Leichenfressern. Und er war sich nun sehr sicher, dass sie sich über die Monate hin mit diesem Wasser von innen heraus vergiftet hatten.
Die Tatsache, dass die Leichen hier allerdings auch Verwundungen und Entstellungen trugen, entsetzliche Todesmasken in ihrer Mimik trugen, die darauf schließen lassen konnten, dass jemand sie im noch lebendigen zustand verstümmelt hatte, sie so zu Tode gequält, oder sie nah an den Rand dessen getrieben hatte und sie dann hier her gebracht wurden, um endgültig wie ein Waidwundes Tier zu verenden, ließ in Luca etwas zerbrechen. Darunter befanden sich Leichen von Kindern, denen jemand haken durch den Leib gebohrt und aneinander gekettet hatte, Körper, denen die Haut fehlte, wie sie schlicht von kochendem Wasser herabgebrüht worden war und Leiber denen diverse Knochen fehlten.
Luca klammerte sich an dem feucht schimmligen Fels fest, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Er hörte wie Orpheu sich von dem Bild abwendete und zu ihm hinüber schritt. „Was befehlt ihr, Lysander?“ fragte er. Seine Stimme bröckelte deutlich. Zum ersten Mal schien er erleichtert zu sein, keine Entscheidung fällen zu müssen.
„Das darf nicht nach oben dringen“, flüsterte Luca und zwang bei jedem Wort seinen Ekel und das Gefühl sich übergeben zu müssen, erneut nieder. Er hob die Lider und fühlte, wie seine Augen sich mit Tränen gefüllt hatten. Empfinden konnte er zu Zeit noch gar nichts. Das würde kommen, denn hier war das Grab tausender unerfüllter Träume und Wünsche. Momentan schob er es eher auf den immer erfolgloseren Kampf gegen sein Grauen und seinen Ekel.
„Die Leichen müssen hier aus dem Wasser. Sie vergiften es. Damit vergiften wir unsere Schützlinge und...“
Luca wurde es schwindelig und schwarz vor Augen. Im nächsten Moment fuhr er herum und übergab sich würgend, bis nur noch Galle hervor kam.
Orpheu stützte ihn, als der Magier sich zitternd aufrichtete und sofort drohte wieder auf die Knie herab zu sinken.
“Geht es, Lysander?“, fragte er führsorglich.
Der Magier deutete ein Nicken an, was ihn wieder schwindeln ließ. Er verfluchte sich für seinen gedankenlosen Automatismus in seinen Bewegungen. Allerdings war er im Moment auch dankbar, dass Tambren seine Gedanken vor ihm verbarg. Die Intensität dessen, was er an Emotionen auffing, würde Lucas Verstand zur Zeit nicht aushalten können. Dessen war sich der Magier nur zu sicher.
Orpheu nickte. „Verbrennen, oder?“
„Ja, ich denke die einzige Methode, die nur geringe Gefahren birgt.“
In Lucas Schädel baute sich ein gewaltiger Druck auf. Er spürte, wie sich in wenigen Augenblicken brennende, bohrende Kopfschmerzen bildeten.
„Aber wer soll das machen?“, fragte der Hauptmann besorgt nach. „Keiner meiner Männer könnte es.“
In Lucas Schläfen pochte jedes Wort Orpheus mit der Gewalt eines Paukenschlages.
„Nein,“, antwortete er mühsam. „das wird nicht eure Aufgabe sein, sondern die unserer Gefangenen. Sie sollen sehen, was sie getan haben. Sie sollen unter dem Ergebnis leiden!“ Tiefer Zorn bohrte sich nun seinen Weg und machte sich in der Schärfe seiner Worte und dem grellen Schmerz in seinem Kopf deutlich bemerkbar. „Deine Männer müssen sie überwachen, aber sie werden es tun. Sie sollen die Leichen aus dem Fluss bergen und ihnen die letzte Ruhe geben!“
„So viel wie dabei vonnöten wären können wir nicht unter Kontrolle halten.“, warf Orpheu ein.
„Mein Fluch wird sie unter Kontrolle halten, sogar ganz ohne Ketten und Waffen.“
Die Worte stieß er hervor als wolle er schon jetzt seine Ankündigung in die Tat umsetzen. „Sie werden nichts tun, sondern brav allen Anweisungen folgen!“
Luca schlug mit der Faust gegen die schmierige Felswand. Er brauchte den Schmerz um die tiefe seiner Wut in sich zu ersticken.
Dann sah er zu Orpheu. „Bitte lass nach anderen Möglichkeiten suchen unverseuchtes Wasser zu bekommen. Näher an der Quelle vielleicht.“
Der Hauptmann nickte. „Ich habe schon einige Männer los geschickt.“
„Gut.“, flüsterte Luca, sah sich aber erneut um. „Ihnen gegenüber ist es unfair. Sie haben sicher Freunde und Gefährten dort oben gehabt. Aber davon werden diese sicher nichts mehr erfahren. So wenig wie wir jemals erfahren werden, wer sie waren.“
„Aber es ist die weiseste Entscheidung, die ihr fällen konntet, Lysander.“, erwiderte Orpheu.
Luca hob kraftlos die Schultern und nahm einen weiteren Stich in seinem Schädel hin. Der Drachling schwieg verbissen. Normal hätte er sich schon mehrfach über eine solche Behandlung beschwert, aber dieses Mal traf ihn das Bild hier offenbar selbst viel zu sehr.
Luca nahm ihn von seiner Schulter in die Arme und sah in seinen großen Augen. „Du musst nicht hier bleiben, mein Kleiner“, flüsterte Luca. „Dich trifft das hier noch stärker als mich. Flieg zurück zu unserem gefiederten Freund.“
„Ich bleibe bei dir!“, beharrte der Drache dennoch stur. „Hier lasse ich dich nicht allein.“
Luca drückte ihn sanft an sich.
Ein unmenschlicher Aufschrei ließ Luca auffahren, zeitgleich wurde einer der Söldner am Arm von einem Bolzen getroffen.
Der Mann wurde durch die Wucht des Geschosses herumgerissen und taumelte. Es gelang ihm das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Das war sein Tot. Ein zweiter Bolzen traf ihn in der Kehle. Ohne ein Geräusch kippte er zur Seite und blieb liegen.
Ohne einen weiteren kostbaren Moment zu verschwenden rief Orpheu seine Männer zum Rückzug. Hier, in dieser unübersichtlichen Höhle mit all den Leichen, die ihren Gegnern gute Deckung boten, konnten sie nicht gewinnen.
Noch während die Söldner sich rasch sammelten, ergingen Salven von Pfeilen und Bolzen über sie. Luca konnte von seiner Position lediglich für einen minderen Schutz seiner Gefährten sorgen. Die Nachhut der Krieger ging rückwärts, um nun ihrerseits dabei eine Salve nach der anderen gegen ihre schier unsichtbaren Feinde abzugeben und ihnen jede Chance zu nehmen noch einen weiteren Mann zu treffen. Jeder, der den Schutz des Felsentunnels erreicht hatte, gab nun sein Bestes, die Anderen zu unterstützen. Da sich die meisten von Orpheus Männern dicht an Luca vorüber drängten, konnte der junge Magier wenig zaubern. In seinen Worten und Gestiken dürfte er sich für einen erfolgreichen Zauber nicht stören lassen, aber allein die Entdeckung des Beinhauses hatte ihn schwer getroffen und machte ihm jeden Anlauf, sich auf den Kampf zu konzentrieren, schwer. Aber er bekam aber auf diesem Weg die Chance zu beobachten. Ihm fiel auf, dass die Salven ihrer Gegner nicht von dem jenseitigen Ufer kamen sondern aus der Masse der toten Körper heraus. Also waren einige der Toten gar nicht tot. Es gab eine Chance diese Männer aufzuscheuchen. Die Dunkelheit in der Höhle sorgte dafür, dass sich ihre Augen an das wenige Licht von Fackeln gewöhnt hatten, aber sie vermutlich automatisch erblindeten, wenn sie grellem Sonnenfeuer ausgesetzt waren.
Würde Luca über den Drachling seinen Gefährten eine Warnung zukommen lassen, wären sie vor der Helligkeit sicher und könnten im Anschluss einfach nur noch ihre Gegner einfangen.
Er sah zu Tammy, der sich auf seinem Arm reckte, um etwas besser sehen zu können. Der kleine Drache hatte im gleichen Moment den Gedanken seines Herren erfasst, in dem Luca ihn formuliert hatte und gab ihn an Orpheu weiter, der seine Männer fast schon automatisch informierte. Dieses System hatte sich im Lauf der letzten Jahre immer wieder bewährt.
„Wir geben noch drei Salven ab, Lysander“, flüsterte Orpheu. „Seid ihr dann mit eurem Zauber soweit?“
Luca nickte. Er würde die Sekunden für Vorbereitung und Maximierung des Zaubers brauchen. Ihm fehlte leider immer noch einige Konzentration. Dennoch versuchte er sich nun mehr denn je zu sammeln und alle Kräfte zusammenzurufen, die in ihm schlummerten.
Die letzt hinzugestoßenen Männer Orpheus duckten sich in den Schutz der Felsen und niederen, natürlichen Wälle.
Der Hauptmann nickte Luca zu und der Magier schloss die Lider. Hinter seiner Stirn formulierten sich die Worte des Zaubers bereits zu der Kanalisierung der Energie, bogen sie in eine neue, starke Form und zwangen sie zu etwas Gleißendem, dass sich aus Lucas Seele herausbahnte. Der junge Mann spürte dass der Zauber eine andere Form annehmen, als er ihm gestatten wollte. Alle Bemühungen ihn zurück zu zwingen scheiterten kläglich. Bevor er allerdings dieses machtvolle Brennen in sich verlor, was eindeutig gewaltiger als alles Sonnenfeuer dieser Welt war, gab er nach und ließ die Magie selbst die Form wählen.
Fast hilflos, wie ein unbeteiligter Beobachter, musste er zusehen wie sich grelle Energie aus ihm herauszwang. Es war weder schmerzhaft noch schlecht, aber er fühlte seine Kraft weichen. Stumm breitete er die Arme aus und ließ sich von dem Lichtsturm mitreißen.
Fr einen winzigen Moment spürte er eine gewaltige, verborgene Energie, die sich seit seiner Kindheit nicht mehr gezeigt hatte, anders als all das, was er über die letzten Jahrzehnte gelernt hatte und fremder, aber ihm dennoch warm und vertraut. Er begriff für einen winzigen Moment seine Bestimmung und Natur, nur um den Gedanken so schnell wieder zu verlieren, wie er gekommen war.
Das einzige, was ihm auf ewig in Erinnerung bleiben sollte war das tiefe Gefühl von Frieden, unendlichen Glücks und der vollkommenen Freiheit.
Durch seine geschlossenen Lider sah er ein solch helles Gleißen, dass es Sonne auf frischem Schnee noch übertraf. Er selbst glaubte fast sein Augenlicht zu verlieren. Aber zugleich schützte es ihn und die Männer um seine Person.
Aber dann war es vorüber. Die Woge der Kraft, die ihn mit sich gerissen hatte, ebbte ab und ließ ihn in kalter, feuchter Finsternis zurück, leerer und verzweifelter als zuvor. Und es gab keine gnädige Ohnmacht grenzenloser Erschöpfung, die ihn in ihre dunklen Arme schloss.
Ausgebrannt von dem gewaltigen Zauber taumelte Luca und fühlte wie starke Hände ihn auffingen, bevor er zu Boden sank. Schwindel und tosende Kopfschmerzen erwachten in ihm, als er mit dem Metall von Orpheus Rüstung in Kontakt kam. Seine Haut und sein Nackenhaar elektrisierten merklich. Er fuhr zusammen.
„Lysander!“, rief Orpheu alarmiert und wollte nachgreifen um seinem Kampfgefährten zu helfen. Luca zwang sich die Lider zu öffnen und wehrte sofort ab. „Lass!“, bat er ihn. Im Gleichen Moment glaubte er der Boden unter seinen Füßen würde beginnen zu bocken. Keuchend tastete er nach der Wand, zumindest dorthin, wo er sie vermutete und griff ins Leere. blutige Kreise und graues Flirren tanzten und flackerten vor seinen Augen. Es dauerte mehrere Sekunden bis sich sein Blick wieder so weit klärte, dass die Bilder zu seinen Gefährten und einer Höhle gerannen. Dann wurde ihm auch das Gewicht seines Freundes Tambren bewusst, der sich hilfesuchend wie ein Kind an ihn klammerte. Dem Drachling ging es deutlich schlecht und er brauchte Lucas Nähe und Wärme dringender denn je.
Wo immer er noch Kraftreserven fand, brachte er sie auf und zog seine gesammelte Energie für Tam zusammen um ihn fester an sich zu drücken und ihn in seinen Armen zu wärmen.
Die Schuppen des Drachlings klapperten leise vor Erschöpfung und binnen Sekunden dämmerte er weg in fiebrigen Schlaf.
Luca wusste dass er seinem Freund zu viel zugemutet hatte.
Er warf einen kurzen Blick in die Höhle hinein.
Dieses Mal war er nicht darauf vorbereitet gewesen was ihn erwartete. Die Gegner, die noch bei Bewusstsein waren saßen in einer Pose vollständiger Verwirrung und Hilflosigkeit inmitten ihrer Waffen. Einer von ihnen, ein scheußliches Exemplar Mensch mit ungesunder, gelber Haut, hielt seine Armbrust in den Händen ohne zu wissen, was er hatte, ließ sie achtlos fallen und schaute an sich herab. Dann wendete er den Kopf und fing hilflos an zu weinen. Luca glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Alle ehemaligen Wächter und Kerkermeister hatten entweder ihren Verstand verloren, oder das, was sich aus seiner Seele herausgebahnt hatte, musste jeden bösen Gedanken verbrannt haben, denn diese Männer waren nichts weiter als hilflose und naive Kinder, die sich vor den Kriegern Orpheus versteckten und zu weinen begannen, oder sich an den Händen nehmen und wegführen ließen. Sie schienen sogar das zu fürchten in dem sie bislang gelebt hatten. Im Moment wollte Luca darüber nicht genauer nachdenken müssen.
„Unheimlich!“, wisperte Orpheu tonlos und sah zu Luca. „Die Macht, die sich in euch verbirgt, ist furchtbarer als alle Schwerter dieser Welt, Lysander.“
Der Magier schwieg betroffen. War es so schrecklich, was sich in ihm befand? Für den Moment verschob er nur zu gerne den Zeitpunkt einer Diskussion mit Orpheu. „Die Brunnen“, lenkte Luca willentlich ab, „von denen wir Wasser beziehen kommen aus dieser Quelle, Orpheu. Bitte sorge dafür dass wir bald wieder reines Wasser haben. Eine Seuche können wir uns zu all den anderen Problemen, die wir im Moment haben, nicht auch noch leisten.“
Fassungslos starrte der Hauptmann Luca an, rang scheinbar nach einer Antwort, bekam aber keine Chance mehr dazu, denn der Magier wendete ihm den Rücken zu und ging ohne ein weiteres Wort.
Stunden um Stunden ließ sich Orpheu nicht im Kessel blicken, sodass sogar Luca zu befürchten begann, dass dem Hauptmann und seinen Kriegern etwas passiert sei. Irgendwann hielt er die innere Unruhe nicht mehr aus und suchte Orpheus Unterkunft auf, nur um festzustellen, dass der schwarze Halbelf nicht da war. Besorgt sah er sich in dem Gang um, ging alle Räume ab, traf aber nur auf den einen oder anderen Söldner, die keine Auskünfte für Luca hatten.
Schließlich hoffte er auf etwas Unterstützung von Tambren. Allerdings hatte er den kleinen Drachen zu seinem schwarz gefiederten Schützling gebracht und dort behutsam in seine Kleider und seinen Mantel gebettet. Luca war der Auffassung, dass Tam dringend Ruhe und Frieden um sich brauchte. Der einzige Ort, der das Gefühl hier ausstrahlte, war die niedrige, enge Höhle, in der Luca sich einquartiert hatte.
Als er den schmutzigen Vorhang zur Seite schob, fand er Aki Valstroem neben dem jungen Mann sitzen, der auf seinem Lager schlief. Langsam wendete sie Luca ihren Kopf zu und lächelte. In diesem Ausdruck befand sich nichts bedrohliches, aber dennoch führ dem Magier eisiger Schrecken durch den Leib. Fast automatisch glitt sein Blick zu dem Seraph. Aber er atmete tief und ruhig. Für Sekunden wurde es Luca schwindelig. Beständige Sorge, Erschöpfung und die ständige Nutzung extrem mächtiger Magie laugten seinen Körper und Geist aus. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Lider. „Verzeiht“, murmelte er, wurde aber von ihrer klaren, stolzen Stimme unterbrochen.
„Es gibt nichts, wofür ihr euch entschuldigen müsstet, Luca-Seraphin Veraldis.“
Der junge Magier wusste, dass es keinen Grund zur Sorge geben sollte. Sie musste seinen Geburtsnamen kennen. Dennoch erschütterte ihn dieses Wissen. Die Geheimnisse um seine Natur und seine Herkunft hielt er sorgsam geschützt und bewahrte dieses Wissen wie einen Schatz. Von ihr hatte er nichts Schlimmes zu erwarten, dessen war er sich sicher.
Er versuchte sich zu fassen. Ein leises Beben konnte er trotz allem nicht aus seiner Stimme verbannen. „Welches Geschöpf konnte euch fangen und unter seiner Macht halten, hohe Dame?“ fragte er leise. In seinen Worten schwang alles Gefühl und seine ganze Fassungslosigkeit über ihr hier sein mit. Diese Frau, Aki Valstroem, war die Verkörperung einer Göttin. Niemand sollte in der Lage sein, einen Avatar wie sie, zu knechten.
„Mein armer, junger Freund“, sagte sie bedauernd. „So lange ich unter euresgleichen wandele, bin ich – auch wenn ich der Tod bin – so sterblich wie ihr und nicht weniger angreifbar.“
Luca spürte, dass sie einer klaren Antwort auswich. Er sah in ihren großen, dunklen Mandelaugen die Unendlichkeit und den Frieden selbst, aber auch eine geringe Unsicherheit. Er konnte nur raten was sie zweifeln lies. Das Wissen um den Namen und die Natur dessen, der den Tod bannte, konnte in den falschen Händen gewaltigen Schaden anrichten. Aber gegenüber Aki sah er sich als lächerlich geringen Wurm ohne jede Macht. Sie war eine Göttin und er nutzte schwach und unfähig die Kräfte richtig zu kanalisieren, einige Magie, die ihre Streiften und manipulierten.
Sie machte eine Handbewegung, die ihn aufforderte sich an ihre Seite zu setzen.
Luca kam dem nach, auch wenn er sich im Schatten ihrer Macht unwohl fühlte. Ein kleiner Nekromant neben der Göttin des Todes barg eine unsägliche Lächerlichkeit in sich.
„Luca, Du bist nicht der schwache Mann, der du zu sein glaubst. Dein Weg wird sich noch oft mit dem meinen Kreuzen, als Gefährten und als Feinde. Glaube mir, mein Freund. Dein Schicksal ist mit dem meinen und dem der Dreizehn verbunden.“
Sie sagte es so leicht hin, als wolle sie ihn zu einem Tee bitten. Sein Blick strich über ihr Gesicht und zu ihren dunklen Sternenaugen. „Meine Aufgabe ist nicht zu töten.“, sagte er fest. „Ich will beschützen können, nichts sonst.“
Sie lachte leise. „Du bist dir deiner Aufgabe wohl bewusst, junger Freund.“
Sie strich sich ihr silberweißes Haar aus der Stirn. Wie unglaublich menschlich sie doch bei dieser Geste wirkte. Dabei spürte Luca die gewaltige Aura körperlich. Wieder elektrisierte alles an ihm. Aber es waren keine übermächtigen Kräfte, die sich in ihm ballten, sondern ihre schiere Gegenwart.
Sie betrachtete Luca Profil, der seinen Blick auf den Seraphin gerichtet hielt, sie aber immer noch aus dem Augenwinkel wahrnahm. Er spürte ihr Wohlwollen wie ein sanftes Streicheln seiner Seele. Es gab Tausende Fragen, die er Aki stellen wollte. Aber im Augenblick saß er lieber still neben ihr. Der richtige Zeitpunkt um nach dem Warum und Wie zu forschen war noch nicht gekommen. Er wusste allerdings auch, dass sie mit dem Wenigen, was sie ihm gesagt hatte, recht behalten sollte. Schweigend saßen sie nebeneinander und hingen – jeder seinen eigenen – Gedanken nach.
Luca hatte Tambren in seine Arme genommen, hielt seinen kleinen Freund eng an sich gedrückt und wärmte ihn, so gut er konnte. Aki hatte ihm, bevor sie ging, eine Decke über die Schultern gelegt. Er quittierte es mit dankbarem Lächeln. Über die Zeit, die sie stumm nebeneinander gesessen hatten, beruhigte sich Lucas Sorge um Orpheu merklich. Aki ließ ihn auf ihre Art wissen, dass dem Hauptmann nichts zugestoßen war.
Der Magier bemerkte die immer größere Müdigkeit in sich und sehnte sich danach in milden Schlaf hinüber dämmern zu können. Die leichte Regung des Seraphs auf Lucas Lager weckte ihn gerade, bevor die Schläfrigkeit seine Augen zufallen ließ. Sofort richtete sich der junge Magier auf, konnte aber selbst kaum gegen seine Erschöpfung ankämpfen. Was für einen jämmerlichen Anblick er wohl abgeben würde, wenn der Seraphin endlich die Augen aufschlug.
Er schalt sich für diese Gedanken einen Narren.
Der Junge wurde unruhiger und regte sich, wollte aus seinen Träumen aufwachen. Luca streckte aus einem Impuls heraus die Hand aus und strich ihm sanft über die Schulter, neigte sich dann behutsam über ihn und Umfing ihn behutsam, so gut es der schlummernde Drachling zuließ. Sofort drängte sich der junge Mann an Luca, schmiegte sich in seinen Arm, völlig ungeachtet des kleinen Drachen, den er halb unter sich begrub. Tam erwachte und versuchte sich mit Ellenbogen und Zähnen Luft und Platz zu verschaffen.
Luca Hatte einen Arm gelöst und versuchte seinem kleinen Freund zu helfen. Allerdings schien der Seraph es nicht unbequem auf Tammys dickem Bauch zu finden. Er kuschelte seine Wange gegen die empfindliche und weiche Haut. Sofort ächzte der Drachling unter dem Gewicht auf. Schmerz zeichnete sich auf seiner Mimik ab. „Er ist zu schwer!“, keuchte Tammy atemlos. Seine kleinen Kiefer mahlten aufeinander.
Luca ließ nun den Seraph endgültig los und befreite eilig seinen Gefährten. Er setzte Tambren auf seinem Oberschenkel ab und betrachtete ihn besorgt. Der Drachling rang nach Atem, schaffte es aber nicht seine Lungen richtig zu füllen.
Vorsichtig massierte der Magier Rücken und Brust seines Vertrauten, bis er wieder tiefer Luft hohlen konnte.
„Geht es wieder, Tam?“, fragte er leise.
„Wolltest...“, Tam brach ab und setzte Sekunden später erneut an. „Wolltest Du mich umbringen?“, keuchte er schwach, mit leichten Pausen dazwischen, um seine Lungen erneut zu füllen.
„Es tut mir so leid“, flüsterte Luca schuldbewusst. „Das war mein Fehler.“
Gerade versuchte Tambren erneut anzusetzen, drehte dann aber den kleinen Drachenkopf nach hinten. Luca folgte seinem Blick und sah in die jadegrünen Augen des Seraphs, der immer noch erschöpft schien, was aber an der mangelnden Nahrung und dem fehlenden Wasser lag. Er blinzelte kurz, doch einen Herzschlag später sanken seine Lider erneut herab.
Luca sah sich nach dem Tee um, den er hier im Raum zurückgelassen hatte. Natürlich hatte der Seraph den Holzbecher mit seinen Schwingen umgeworfen. Er lag am anderen Ende des Raumes, gegen eine Wand gerollt. Die Kanne aber stand noch. Tammy sprang von Lucas Bein herab und holte beides heran. Dankbar nickte ihm Luca zu. „Vielen Dank, mein Kleiner“, flüsterte er. Dann spülte er den Staub und Sand mit einem Schluck des Tees aus dem Gefäß, goss es aus und füllte es erneut. Vorsichtig rüttelte er den Seraph an der Schulter, drehte ihn so, dass er ihm den Becher an die Lippen setzen konnte, verschüttete aber die Hälfte in dem Stroh und über Kinn und Lippen des Jungen. Ein weiteres Mal schlug der Seraph die Augen auf, flackernd und erschöpft. Aber er fuhr sich mit der Zungenspitze über die feuchten Lippen und versuchte den Tee aufzunehmen. Offenbar war sein Körper so entkräftet und ausgezehrt, dass er nicht in der Lage war, sich richtig wach zu halten oder gar aufzurichten.
Die gewaltigen Schwingen hinderten Luca auch daran, ihn auf den Rücken drehen zu können. Er reichte Tam den Becher und setzte sich auf seine Knie, um den Jungen vom Boden aufzuhelfen. „Wenn du die Kraft hast dich abzustützen, dann mach das, oder halte dich an mir fest...“
Luca hatte nicht damit gerechnet, dass er, als er den Jungen unter den Armen gegriffen hatte, sich wirklich an dem Magier festklammern würde. Benommen und ungeschickt krallte der Seraph seine Finger in Lucas Nackenmuskeln, aber das mit einer solch erstaunlich verzweifelten Kraft, dass der junge Magier vor Schmerzen aufstöhnte.
Vermutlich wollte der Seraphin etwas sagen, aber seiner trockenen Kehle entrang sich nur ein unartikuliertes Krächzen. Dann sank er kraftlos gegen Lucas Brust. Übermäßig muskulös war der Magier leider nie gewesen. Hilflos sank er zur Seite und stieß mit dem Kopf gegen die Steinwand. Beißender Schmerz breitete sich in seinen Schläfen aus und er sah für einige Herzschläge nur grelle Lichtblitze vor seinen Augen. Der Junge stöhnte rau, half nun aber seinerseits aus allen ihm nur möglichen Leibeskräften mit, sich wieder aufzurichten. Innerlich wünschte sich Luca dass nun keiner seiner Gefährten herein kam. Einen unmöglicheren Anblick als diesen jetzt konnte er kaum mehr abgeben.
Das Schicksal hatte ausnahmsweise ein Einsehen mit ihm und er blieb mit Tam, dem Seraph und seiner eigenen verdammten Ungeschicklichkeit allein.
„Versuchen wir es noch einmal, gemeinsam?“, fragte Luca den Seraph nun leise.
Der Junge war nur zu einem müden Nicken im Stande. Aber als Luca ihn erneut unter den Achseln ergriff und ihn hoch zerrte – anders konnte man es kaum noch nennen, so wie er dabei keuchte und schwitzte – stemmte sich sein schwarzhäutiger Gefährte selbst unter Mühen und starker Anstrengung in eine sitzende Position.
Danach sank Luca erschöpft, aber glücklich lächelnd auf die Knie.
Tambren applaudierte spöttisch, verkniff sich aber jeden Kommentar gegen Luca, der seine Gedankengänge ohnehin las, schon allein aus Sorge um seinen Seelenfrieden, zumindest in der nächsten Zeit. Er hob den Becher wieder an und reichte ihn seinem Herren.
Luca nahm das Gefäß aus Tammys Händen und setzte mit der nächsten Bewegung den Drachling wieder auf seinen Schoß.
Die Augen des Seraphs sogen das Bild ganz offenbar in sich auf. Er verfolgte jede Regung, jeden flachen, immer noch schnellen Atemzug Lucas und musterte Tambren, der argwöhnisch die goldenen Augen zusammenkniff.
Der Magier betrachtete des Seraph ebenfalls. Er überlegte allerdings nicht lang. Ohne Hilfe würde der Junge kaum trinken können. Behutsam ergriff Luca unter den schmutzigen langen Haaren den schlanken Nacken des jungen Mannes und setzte ihm den Becher an die spröden Lippen.
Gierig trank der Seraph, verschluckte sich natürlich und begann qualvoll zu Husten. Dabei sank er zusammengekrümmt an Lucas Brust. Ein eigentümlicher Duft stieg von ihm auf. Auch das Gefühl der Haut kam Luca so vertraut vor, so gut und angenehm. Der Anblick dieses schlanken, sehnigen jungen Körpers, sein Schweiß, der die schwarze Haut wie Tautropfen bedeckte, die Neigung des Nackens und die großen, aber nie genutzten Schwingen, waren ihm wohl bekannt. Sein Verstand wollte die ganze Zeit den Namen diese Jungen enthüllen, aber etwas zwang ihn immer wieder in die Tiefen des Vergessens zurück.
„Aycolén ist sein Name“, half ihm Tambren leise. Er hatte den Geist des Jungen erforscht. „Ayco hast Du ihn genannt, Luca. Ihr kennt euch...“
Zu mehr Worten kam er nicht, denn die Hand des Seraphin schloss sich behutsam um die schmale, lange Drachenschnauze.
Luca ließ den Namen in sich nachhallen. Und für einen Moment brach eine Woge von Erinnerungen, Bildern seiner Kindheit über ihn herein. Aycolén. Dieser Name war wie ein Zauberwort was einen Bann zu brechen versuchte.
Er sah den Jungen in seiner Elfengestalt, wie er eine Mauer hinaufkletterte, halt suchend in den Fugen zwischen den gelben Bruchsteinen. Dann saß er im strahlenden Sonnenlicht auf einer Wiese laut lachend und die Augen fast ein reines Grün, weil sich ihre Pupille erweitert hatte wie bei einer Katze. Silbernes Haar flutete um seinen schlanken Leib.
Dann umfing ihn Finsternis und er lag zusammengekauert da, den Rücken blutig geschlagen, aber lauernd auf seine Chance sich zu rächen.
Luca erinnerte sich an ihn. Die Begegnung im Labyrinth war nicht ihre erste, ganz sicher nicht. Er erkannte den Geruch der Haut und der Haare wieder, weil er diesen Duft seine ganze Kindheit hindurch um sich hatte. Ayco hielt ihn in seinen Armen, beschützte ihn, gab ihm Freundschaft, Wärme und Liebe. Er wusste aus irgendeinem Grund einfach, dass dieser junge Mann, den er optisch an Jahren überholt hatte, einst sein erster Geliebter war, sein einziger Gefährte, den er verloren hatte.
„Ayco“, wisperte er sanft.
Der Hustenanfall reizte den trockenen Hals des Jungen nur noch stärker. Aber Luca und half ihm, sich wieder aufzusetzen und reichte ihm nun den Tee in wenigen, leichten Schlucken, immer dann, wenn sich der Seraph weit genug unter Kontrolle hatte, um die Flüssigkeit auch zu schlucken, anstatt sie wieder von sich zu geben.
Nach zwei Bechern, die Ayco mit immer mehr Sicherheit, aber auch Gier getrunken hatte, hielt Luca den jungen Mann zurück.
Vorwurfsvoll sah er den Magier an. Luca erwiderte den Blick, lächelte aber sanft schüttelte bestimmt den Kopf. „Willst du dich übergeben?“, fragte er leise. Die Augen des Seraphin verengten sich. Noch immer konnte er nicht antworten. Aber Luca störte das im Moment weniger. So sehr er sich darüber freute dass Aycolén erwacht war, so wenig hätte er jetzt auf mögliche Fragen sinnvolle Antworten geben können. Der Magier fühlte sich hilflos, denn seine Erinnerungen waren ein Durcheinander von winzigen Splittern die keinen Zusammenhang bildeten. Er konnte sich vieles denken, nicht aber sicher sagen, ob es so war. Schließlich war er es, der –wie zuvor schon bei Aki – unsagbar viele Fragen hatte. Vermutlich aber verlangte Aycolén Antworten. Luca hatte keine einzige für ihn, nur eine Gewissheit gab es in diesem Verwirrspiel. Seine Gefühle zu dem Seraphin.
Zudem musste der junge Mann sich immer mehr eingestehen, dass es ihm selbst sehr schlecht ging. Er war sich sehr sicher darüber, dass er derzeit keinen einzigen Zauber wirken konnte. Aber er konnte den Seraph nicht einfach allein lassen. Der junge Mann brauchte seine Hilfe, seine Aufmerksamkeit und Nähe.
„Ich bringe Dir etwas zu essen, mein Freund“, flüsterte er, während er sich bereits erhob. Aycolén ergriff seinen Ärmel und zog ihn wieder zu sich. In seinem Blick lag Angst. Er schüttelte stumm den Kopf.
Der Magier lächelte, ergriff die Finger des Seraphs und hielt sie in seinen. „Aber essen musst Du. Dein Körper würde gar keine Chance haben sich ganz zu erholen.“
Der Junge schloss die Augen.
Tambren, der immer noch Aycoléns Geist fokussierte, übermittelte Luca die Gefühle des Jungen; eine tief sitzende Furcht, Verlustangst.
Sanft strich Luca dem Jungen über die Wange. „Beruhige Dich, mein Schöner. Dieses Mal trennt uns niemand mehr“, lächelte er. „Und du wirst mich kaum verlieren, wenn ich den Versuch mache, dir etwas von Manos Suppe zu holen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Hartkäse, versteinertes Brot und Trockenfleisch haben möchtest. Das steht noch hier.“
Der Drachling jubelte laut auf, als er das hörte. „Darf ich, Luca?“, bettelte er und zog den Magier an einer Haarsträhne. „Bitte...“
Luca strich ihm mit der anderen Hand über den Kopf. „Wenn du zu dick wirst, lieber Freund, werde ich Dich nicht mehr in meinem Hemd umher tragen!“, mahnte er ihn scherzhaft. Auch Aycolén musste nun lachen, allerdings begann er wieder rau und hart zu husten.
Sofort umfing Luca ihn und drückte ihn an sich. Stumm, verzweifelt begann er seine letzten Kraftreserven zu sammeln um heilende Lebensenergie in den ausgezehrten und schwachen Körper fließen zu lassen. Hinter seinen Schläfen spürte er wieder dieses Pochen, was eine Ohnmacht ankündigte.
‚Sei vorsichtig, Luca’, mahnte auch Tambren ihn wortlos. Der junge Mann lächelte matt. Seine Fingerspitzen lagen auf Aycoléns Hals. Er fühlte wie Wärme aus ihm in den Körper des Seraphs glitt. Mit der Kälte, die Luca Stück um Stück eroberte, kam auch die Dunkelheit, die ihn nun endlich, nach so langer Zeit in ihre traumlosen Arme schlang.
Der Magier erwachte von dem ihm bekannten, wütenden Ton in der Stimme Orpheus. Er wollte gar nicht hören was der Hauptmann zu sagen hatte. Viel lieber wollte er weiter schlafen und alles außerhalb der angenehmen Wärme seiner Decken von sich schieben.
„Verdammt, Lysander!“, donnerte Orpheu ihn an. „Erwacht endlich!“ Er versetzte Luca einen Tritt gegen den Unterschenkel.
„Oh, du elender...“ Luca biss sich auf die Zunge bevor er Orpheu an den Kopf warf, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er wollte nur schlafen. Nach der langen Zeit der Entbehrungen ruhen. Dann fiel ihm Aycolén wieder ein und wie schlecht es dem jungen Mann gegangen war. Sofort fuhr er hoch und bereute es gleich wieder. Greller Schmerz explodierte hinter seinen Augen und entflammte seinen ganzen Schädel. Für Sekunden wurde es ihm schwindelig und schlecht. Jemand, ganz sicher nicht er selbst, hatte die kleine Felsenkammer mit allen nur möglichen Beleuchtungsarten ausgestattet. Blakende Fackeln, Öllampen und Kerzen standen hier, genau wie ein Räucherbecken, in dem etwas schwarz Verkohltes lag und verdächtig nach verbrannten Kräutern stank, deren Würzigkeit einfach dem schlichten Sauerstoffmangel in den ihm zur Verfügung gestellten Kämmerchen zum Opfer gefallen waren. Das rote Flackern und die Hitze weckten in Luca starke Erinnerungen an Cyprians Unterricht in Alchemie, verborgen in den tiefen Kellern unter dem Orden, und Justins Kräuterkammer, in der es immer nach verschiedenen getrockneten Pflanzen und Wurzeln, aber auch nach Alkohol und toten, halbverwesten Blumen roch. Er mochte die Erinnerungen daran zu gerne. Das waren die schönsten und friedfertigsten Zeiten zusammen mit seinen beiden Liebhabern. Sie gingen - jeder für sich - ganz in ihrer Obsession des Kräuter und Elixiere Mischens auf und ihre Worte, wenn sie ihn lehrten, waren voller Feuer für das Handwerk. Luca lächelte still in sich hinein und schob die Erinnerungen von sich, zurück in das still verborgene Schmuckkästchen schöner Erlebnisse, die er wie etwas besonders Kostbares immer in seinem Herzen mit sich trug.
Das Drängen Orpheus, aber auch die irrsinnige Hitze, die er erst jetzt wirklich als ein Brennen auf seiner Haut wahrnahm, Halfen ihm dabei. Das gesamte offene Feuer hatte dafür gesorgt, dass sich die kalten Steinwände in einen Backofen verwandelten und sie speicherte. Es fiel ihm schwer richtig zu atmen. Die Luft fühlte sich an, als wäre sie zähflüssig und quäle sich nur widerstrebend durch seinen Hals um die Lungen zu füllen. Jeden seiner Herzschläge fühlte er in seinem ganzen Körper. Nun verengten sich seine Augen und er versuchte das gleißende Licht aus seinem Kopf zu verbannen. „Schön euch auch mal wach anzutreffen, Lysander!“, zischte der Hauptmann wütend.
„Was ist denn geschehen“, murmelte Luca undeutlich, rieb sich die Schläfen und vergrub sich schon wieder halb unter langem Haar und Decken. „Und wo ist Aycolén?“ fragte er. Der Körper des Seraphs lag nicht mehr neben ihm. Tambren kroch zu Luca unter die Decken.
„Ich habe gesagt, dass es zu früh ist, um ihn zu wecken, Orpheu!“
Die Stimme kam Luca schmerzhaft bekannt vor – Justin! Lucas Kopfschmerzen nahmen ein ihm bislang noch unbekanntes Ausmaß an. Zugleich schlangen sich schlanke Arme um den Oberkörper des Magiers. Doch die Stimme des elfischen Vampirs drang von dem Eingang der Höhle her.
„Keine Sorge, er hat dir nichts getan, Luca“, flüsterte eine lange vergessene Stimme in Lucas Ohr. Der Magier begann sich bei dem Klang der Worte und dem Wissen, dass es Aycolén war, der ihn hielt, leicht zu entspannen. Sein Herzschlag beruhigte sich zusehends.
„Ich brauche ihn, Priester!“, donnerte Orpheu außer sich vor Zorn. „Was soll ich machen, warten, bis ihr beide ihn wieder ganz gesund gepflegt habt?! Gerade habe ich vollkommen andere Sorgen!“
„Schrei nicht so, Hauptmann“, bat Luca erschöpft, streichelte unter der Decke seinen Drachling und drückte den kleinen Kerl sanft. Vorsichtig öffnete er wieder die Augen und sah Orpheu neben sich stehen. In dem Licht der Lampen wirkte er wie ein scharf umrissener Schatten, dennoch vollkommen konturlos und schwarz, im Gegensatz zu ihm irisierte die bläulich schimmernde, fast transparente Alabasterhaut Justins. Er leuchtete aus sich heraus, umgeben von einer flammenden Aura kupferroter Locken, die seinen Oberkörper einwoben. Wenn ein Mann der Inbegriff vollkommener Perfektion war, dann er. Ein schönerer Elf wurde auf ganz Äos nicht geboren. Luca kannte den Ruhm von Justins Zauber und seiner wundervollen Gestalt. Er, die verfluchte Legende unter den Barden und Priestern, war vermutlich wirklich das schönste Wesen, was je über diesen Boden wandelte. Aber außer ihm, Luca, kannte niemand die rachsüchtige Finsternis in Justin.
Und der Elf starrte aus seinen dunkelblauen Mandelaugen an Luca vorüber zu Aycolén, der seinen Besitzanspruch auf Luca mehr als deutlich machte, indem er seine Arme von hinten um den Magier geschlungen hatte. Behutsam legte Luca seine Finger über Aycoléns Hände. Der Seraph hatte offensichtlich wieder die Gestalt eines Elfen angenommen. Seine Haut war so weiß wie zuvor.
Der Magier richtete sich auf und sah nun wieder zu Orpheu zurück. „Was ist passiert“, forderte er ihn ruhiger auf zu erzählen.
Unsicher sah Orpheu zu Justin, der nun näher heran trat und neben dem schwarzen Halbelf stehen blieb.
Der Hauptmann ließ sich nun vor Luca auf dem Boden nieder. Er wirkte erschöpft und abgespannt. In seinen Augen waren Äderchen geplatzt und verliehen ihm ein noch müderes Aussehen.
„In einigen Höhlen sammeln sich welche der Wachen. Unsere Späher und euer Drache haben mir berichtet, dass es mindestens hundertfünfzig Mann sind. Ausgehungerte Kerle, halb wahnsinnig. Lysander, gegen sie haben wir mit all unseren momentanen Problemen keine Chance.“
Seine Stimme zitterte.
„Welche weiteren Probleme?“, fragte der Magier angespannt. Er hatte das Gefühl, dass die Wachen sein kleineres Problem sein würden.
„Cholera“, antwortete Orpheu knapp.
Luca spürte, wie sich eine Hand um sein Herz schloss und zudrückte. „Wie viele Opfer sind es bis jetzt?“, fragte er gepresst und fixierte dabei Orpheus Blick.
„Zwanzig Tote“, erwiderte der Hauptmann. Er versuchte auf irgendeinem Weg den Augen Lucas zu entkommen. Aber der Magier hielt ihn gebannt. Dann schob er sanft Aycoléns Arme von sich und erhob sich. „Wie lange war ich ohne Bewusstsein, Aycolén?“ fragte er den jungen Mann sanft, wendete sich ihm dabei zu und betrachtete den silberhaarigen Elf.
„Wenn mein Zeitgefühl stimmt, fünf Tage und Nächte“, entgegnete er ruhig. Luca registrierte, dass es ihm offenbar wieder gut ging. Er schien erholt und entspannt im Gegensatz zu Orpheu.
„Ich habe die Seuche eindämmen können, Liebster“, sagte Justin. Seine Stimme war sanfte Musik, aber der Magier hörte einen Unterton heraus, der schneidend kalt war. Luca erstarrte dabei und ballte die Fäuste. „Danke, Justin“, flüsterte er angespannt.
Tam, der nun zu seinen Füßen saß, zuckte zusammen. Luca nahm sich den Moment Zeit, um Aycolén die Hand zu reichen und ihm auf die Füße zu helfen. Der junge Mann trug Hemd und Hose von ihm, war aber barfuss. Er war in einer Augenhöhe mit Luca. Die Art wie er Luca betrachtete, sprach deutlicher denn je davon, dass er den jungen Magier genauso für sich beanspruchte wie Justin. Luca lächelte sanft, unterbrach den Blickkontakt aber, hob Tam vom Boden auf und nahm ihn in die Arme. Er sah über die Schulter. „Sind wir in einer Falle, Orpheu?“
„Wenn uns nicht bald etwas Gutes einfällt um hier heraus zu kommen und alle Leute inklusive der Gefangenen lebend von diesem verdammten Berg zu führen, sehe ich eher schwarz.“
Aycolén schob sich an Luca vorbei. „Ich kenne mich hier aus.“, sagte er leise. „Bevor ich zu einem Gefangenen wurde, hatte mich Prinz Mesalla hier her entsandt, Gregorius auszuspionieren und in seinem Trupp von Wahnsinnigen und Schlächtern zu Arbeiten. Ich sollte Informationen sammeln und herausfinden, wer Gregorius befehligt...“
„Wer ist Gregorius?“, unterbrach Orpheu ihn. „Der, der dieses Lager geführt hatte?“
Aycolén nickte. Er wurde bei der Erwähnung dieses Mannes eine Nuance bleicher und in seinen Augen flammte kalter Hass auf. Gleichsam umspielten Justins Mundwinkel ein geheimnisvolles Lächeln, was offenbar Orpheu und Aycolén entging.
Luca schluckte jeden Kommentar hinunter. ‚Tam’, fragte er seinen kleinen Drachling wortlos. ‚Wer hat Justin hier her geholt?’
Die Ohrspitzen Tams zuckten nervös. ‚Ich war das’, gab er kleinlaut zu. ‚Als du dein Bewusstsein verlorst, musste ein weiterer mächtiger Priester hier her kommen...’
‚Ich mache Dir keine Vorwürfe’, beruhigte Luca ihn. ‚Im Moment müssen wir zusammenarbeiten, gleich was passiert, und er ist durchaus eine sehr große Hilfe. Genau wie Aycoléns Wissen über die Tiefen dieser Höhlen und vielleicht das wissen um die jeweiligen Einzelpersonen, die wir vielleicht auf unsere Seite ziehen können.’
‚Was schwebt dir vor, Luca?’
Der Magier senkte den Blick. Er versuchte auszuloten, wie viel seiner Kräfte er wieder zurück erlangt hatte. Seine Magie würde er nicht vollkommen einsetzen können. Das war ihm bereits klar gewesen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so wenig war, was ihm Momentan zur Verfügung stand. Also musste er sich auf seinen Verstand verlassen.
Gerade wollte Aycolén dazu ansetzen mehr zu erzählen, aber Luca hob eine Hand. „Warte“, bat er ihn sanft. „Es würde wenig Sinn machen, wenn Du alles zweifach erzählen müsstest.“
Er sah zu Orpheu. „Bitte rufe Thorn und Jaquand dazu, auch Linette und die weißhaarige Elfendame und den Eistroll.“
Der Hauptmann zog die Brauen zusammen. „Wieso?“
Erneuter Ärger verzog seine edlen Gesichtzüge.
„Weil ich alles Potential, von dem ich weiß, dass wir es haben, gesammelt wissen will“, antwortete Luca gereizt.
Orpheu wollte ebenfalls auffahren, biss sich dann aber auf die Lippe und fuhr auf dem Absatz herum.
Justin sah Orpheu nach, wendete sich dann aber an Luca. „Was geht Dir durch den Kopf?“, fragte er leise.
Der Magier kniete nieder und löschte etliche der Öllampen. „Was glaubst du, alter Freund?“, fragte er, ohne aufzusehen.
Justins Blick brannte unangenehm auf Lucas Haut. „Ich bin sicher“, begann der Elf zögernd, „dass du es mir gleich sagst.“
Langsam richtete sich Luca wieder auf und sah zu Justin, der marginal kleiner war als der Magier. Sein Blick glitt zu Ayco, der mit einiger Wut im Blick die beiden Männer betrachtete. Luca schenkte ihm ein sanftes Lächeln.
„Aycoléns Wissen über die Gegebenheiten, die Höhlensysteme und die Männer, dein Einfluss auf einfache Menschen, dann die Unterstützung Orpheus und seiner beiden besten Männer, die Heiler, die uns unterstützen können und die Kräfte eines Avatars, sollten ausreichen etwas zu erreichen.“
„Willst du sie mit Worten überzeugen?“ Zweifel sprachen aus Justins Stimme.
Luca nickte. „In einem Kampf stünden unsere Chancen schlecht, würden wir es auch nur versuchen.“
Beiden Elfen war der Schrecken anzusehen. „Aber das sind Monster, Luca, Schlächter“, insistierte Aycolén. In seiner Stimme schwang tiefe Angst mit. „Ich kenne sie. Von ihnen kannst du keine Hilfe erwarten. Sie würden dich in der gleichen Sekunde verraten, in denen sie dir ihre Hilfe zusichern.“
„Sind sie alle so, Ayco?“, fragte Luca leise.
Der Elf überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. „Das nicht, aber wer sagt dir, dass die, die noch nicht völlig entmenschlicht sind, auch unter denen sind, die uns eingekesselt haben?“
„Keiner, Ayco“, gab Luca zu.
Justin trat nun zu dem Magier, ergriff ihn an den Schultern und schüttelt ihn unsanft.
„Komm endlich zu dir du junger Narr. Du kannst nicht die ganze Welt retten und beschützen! Wir haben Aki Valstroem hier. Sie könnte unsere Gegner mit einem Lidschlag vernichten.“
Luca streifte die Hände des Elfs ab und funkelte ihn warnend an. Unglaublicher Zorn stieg in ihm auf. So leichtfertig spielte Justin normal nicht mit dem Leben.
„Bist du fertig, Justin?“, zischte er.
Der Vampir verzog spöttisch die Lippen.
„Du vergeudest dein Mitleid. Diese Männer sind Nichts, Luca, nicht schützenswertes Leben...“
Stumm schloss Luca die Augen. Er erinnerte sich an das, was sich aus ihm befreit hatte und die gewaltige Wirkung.
Machte es einen Unterschied, ob sich ihre Persönlichkeit änderte oder sie starben? Für einen winzigen Moment stellte Luca auch sich selbst in Frage. Er versuchte Ayco und Justin zu verstehen. Der Junge wurde von Rache und Angst getrieben. Das was man ihm angetan hatte, konnte Luca nicht im Geringsten erfassen und er konnte den tiefen Hass verstehen, aber Justin, der Verbrecher aller Art im Labyrinth aufnahm, begriff er nicht.
Schließlich war er es, der Luca Nachsicht und beständige Hoffnung auf das Gute gelehrt hatte. Vielleicht sprach nur die unsägliche Wut und Eifersucht aus ihm, denn er sah nur zu deutlich, dass Luca sich von ihm entfernte und Abstand zwischen sie brachte.
„Ich will verhandeln, Justin.“
„Was hast du anzubieten?“ fragte der Vampir.
„Nahrung, Wasser, Schutz“, entgegnete Luca leise.
„Wenn die Leute im Kessel davon erfahren, wenden sie sich gegen dich“, gab Ayco, der nun hinter Luca getreten war, zu bedenken.
„Damit hat er recht“, bestätigte Tambren ernst.
Luca nickte. „Aber wenn wir sie auf unsere Seite ziehen, können sie uns ihre eigenen Leute vom Hals halten.“
„Ah, du großmütiger Retter züchtest dir also dein eigenes Schlachtvieh heran?“, fragte Justin zynisch.
„Nein verdammt“, flüsterte Luca. In ihm brodelte die Wut heiß, versengend. „Ich will nur all die Leute sicher von diesem verfluchten Berg bringen.“
„Dann sei bereit Opfer zu bringen, Luca“ sagte Justin kalt.
„Wir haben eine geringe Chance wenn Renard unter ihnen ist“, beruhigte Ayco Luca etwas.
„Renard?“, fragte Luca leise. „Wer ist er?“
„Er war einer der Untergebenen Gregories, aber kein Schlächter.“
Luca sah Ayco in die Augen. „Ich bete darum, dass er dabei ist.“
Behutsam legte der Elf seine Hand auf Lucas Unterarm und drückte ihn sanft. „Ich habe auch eine Möglichkeit nach ihm zu suchen, ohne dass ich selbst spioniere.“
Über seine Lippen huschte ein geheimnisvolles Lächeln.
„Vertraust Du mir?“
Ohne zu zögern nickte Luca. In den hellen Augen des Jungen erwachte ein Funke von Vorfreude über das Lüften seines Geheimnissees; allerdings schien er es jetzt noch nicht lüften zu wollen und Lucas Rückerinnerung reichte nicht, ihm auf die Schliche zu kommen.
Er senkte theatralisch die Lider, breitete die Arme aus und konzentrierte sich.
Justin hob misstrauisch eine Braue. Nun wich endgültig alle Freundlichkeit gegenüber dem jungen Elf höhnischer Herablassung.
„Was soll das werden? Ein Ritual?“, fragte er leise.
Ayco ignorierte ihn. Scheinbar konzentrierte er sich tatsächlich auf etwas. Luca schloss die Augen und konzentrierte sich auf Tambren, der ebenfalls den Elf beobachtete. Aber mehr als Luca mit seinen Augen, konnte der Drachling sehen. Ein Mädchen stand vor Ayco, zierlich, klein. Ein Elfenkind in einem einfachen hellgrauen Leinenkleidchen. Was aber Luca umso mehr verwirrte war, dass dieses Geschöpf die jüngere Ausgabe Aycoléns zu sein schien.
Der Vampir schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Was soll das?“, fragte er boshaft. „Du nutzt einen Geist für deine Zaubertricks?“
Luca öffnete die Augen und sah strafend zu Justin. Auch der Blick des jungen Elf traf den Vampir.
„So kannst du leicht den Wünschen unseres Stadtprinzen Mesalla nachkommen, Aycolén. Einen Geist an sich zu binden ist grausam!“, die großen Mandelaugen Justins hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.
Aus einem Impuls heraus trat Luca zwischen die beiden Männer und legte beiden die Hand auf die Brust. „Hört auf!“, beschwor er beide, bevor Aycolén noch einen Kommentar abgeben konnte. Der Magier glaubte zu wissen, wer das Mädchen war, ebenso dass sie aus freien Stücken bei Aycolén blieb. „Sie ist seine Schwester. Und ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass wir ihre Hilfe haben.“
Aycos Miene verdüsterte sich kurz, entspannte sich aber auch schnell wieder.
‚Diese Stimmung zwischen dem unbeherrschten Justin und dem naiven Aycolén wird eine Katastrophe auslösen, Luca’, beschwor Tambren seinen Herren.
„Bitte, lasst uns das hier überstehen“, bat Luca verzweifelt. „Lasst uns klären, warum es dieses Lager gibt und weshalb jemand Halbmenschen töten lässt. Und lasst mich verstehen, wer die Macht besitzt Aki Valstroem gefangen zu nehmen, soll heißen, lasst mich begreifen, wer und was Gregorius ist. Gesehen habe ich ihn. Aber hinter der Maske eines einfachen Menschenmannes muss sich ein unglaublich machtvolles und böses Wesen verbergen.“
Justin wollte etwas entgegnen, verkniff sich aber jeden Gegenkommentar und beschloss, nur zu nicken.
Luca musterte nun Aycolén, der dem Magier einen vertrauten, liebevollen Blick zuwarf.
„Danke“, flüsterte Luca erleichtert.
Der Platz in Lucas Kammer war begrenzt. Es blieb ihm nichts anderes als alles, was auf irgendeine Weise störte, fort zu räumen. Auch ließ er die Meisten Öllampen löschen, die den Raum immer noch in einen Backofen verwandelten und ganz nebenbei zu ziemlichen Schmerzen hinter seinen Lidern führten. Ayco nahm den Vorhang aus der Aufhängung, sodass weniger unangenehme Luft nachströmen konnte, und Justin sammelte die decken des Lagers auf.
Luca sah sich in der winzigen Höhle um. „Zu schade, dass wir gerade mal bessere Abstellräume zur Verfügung haben“, murmelte er Geistesabwesend.
„Vorratskammern wohl eher“, verbesserte ihn Justin.
Der Magier warf ihm einen strafenden Blick zu.
Vorsichtshalber mischte sich Tambren nicht ein, allerdings fehlte Ayco diese sensible Weisheit noch.
„Die wirklich großen Räume der Hauptleute und Gregories liegen weiter oben und mehr südöstlich. Aber davon sind wir abgeschnitten.“
Beide Männer wendeten sich Aycolén zu und ihre Blicke sprachen im Moment Bände. Demotivation konnten sie als allerletztes gebrauchen.
Zu einer weiteren Runde sinnloser Streitereien kamen sie allerdings nicht mehr, worum Luca dankbar war.
Orpheu trat durch den Eingang und blieb kurz stehen. Hinter ihm stand der für diese Höhle wesentlich zu große Eistroll und natürlich Aki. Auch Luca bezweifelte langsam ernstlich, dass das Fassungsvermögen der Kammer ausreichen würde. Aber wenn dieser Ort einen Seraphin mit einer Flügelspannweite von zehn Metern – natürlich im an den Leib gezogenen Zustand – zu fassen im Stande war, würde er auch jetzt seinen Zweck erfüllen müssen.
Aycolén musterte die Personen, die sich – einer nach dem anderen – in den Raum schoben und an der Wand Aufstellung nahmen, sehr intensiv. Langsam schritt er schräg hinter den Magier.
„Luca“, flüsterte er. „Meine Schwester Lea ist noch nicht wieder hier.“
Dieser nickte unmerklich. „Nicht gut, aber im Moment noch nicht schlimm.“
Auch Justin bezog nun Posten seitlich hinter Luca. „Beeindruckend“, sagte er leise. Sein Blick ruhte auf der weißhaarigen Elfendame, die in ihrem einfachen Leinenkleid immer noch wie eine Königin wirkte. Allerdings erwiderte sie seinen Blick. In ihren Augen erwachte ein leises Funkeln und leiser Spott verzog ihre Mundwinkel.
Sie neigte ihr Haupt leicht vor Justin. Diese Geste erwiderte er. Aycolén zog Luca leicht am Ärmel. „Was ist das...?“, fragte er leise und deutete einen Blick zwischen Aki und Justin an. „Ich habe plötzlich das Gefühl, dass sich dieser Raum mit Kräften füllt, denen wir gar nicht gewachsen sind.“
‚Tam, bitte kläre Ayco ein wenig über Aki und Justin auf’, bat Luca ihn. ‚Nur sollte es nicht jeder Anwesende mitbekommen.’
Mit einem behänden Satz sprang der Drachling aus Lucas Armen und landete wie eine fette Katze in Aycos helfend ausgestreckte Hände. Der junge Elf nahm den kleinen Kerl hoch und betrachtete ihn.
Offensichtlich kam Tambren Lucas Bitte in typischer Drachenweise nach; wenig zartfühlend. Ayco keuchte leise und Luca musste den Elfern nicht ansehen, um ein klares Bild seines erschreckten Gesichtes vor Augen zu haben.
‚Danke, Tam’ beschwerte er sich lautlos.
Thorn trat nun auch ein. In seiner Begleitung traten Linnette und Jaquand ein.
Luca atmete tief durch. Nun hatten sich ziemlich alle von ihm gewünschten Personen an einem Ort versammelt. Bis auf Raven, der ebenfalls hinein spähte.
„Hallo Schönchen“, begrüßte er Luca. „Seit wann lädst du mich vom Spaß aus?“
Luca betrachtete ihn nachdenklich.
Die Zusammenstellung der Personen hier brachte ihn auf einen weiteren Gedanken.
„Ayco, kannst Du aus Deiner Erinnerung heraus dieses Höhlenlabyrinth aufzeichnen?“
Der Elf nickte.
„In meiner Tasche sind Kohlestücke, ein Buch und etwas zusammengerolltes Pergament“, wies er ihn an.
Die Augen Lucas leuchteten. Vielleicht funktionierten seine Ideen. Wenn ja, musste vielleicht gar kein Blut fließen.
„Komm herein Raven und suche Dir noch einen freien Platz. Viel davon haben wir leider nicht“, sagte Luca.
Der Zwerg sah sich der Gesellschaft kurz um, stellte scheinbar fest, dass er in jedem Falle hochsehen musste und zog es vor, sich auf dem Boden, sehr dicht vor Luca nieder zu lassen.
Thorn, der sich so weit es ging von Aycolén entfernt hielt, zog es vor für eine mögliche Flucht lieber stehen zu bleiben. Allerdings taten es Linnette und der Eistroll Raven gleich. Sie ließen sich nieder. Die Gründe des riesigen Mannes war einfach zu erklären. Nach oben bot die Höhle schlicht drei Ellen Platz, aber wie Mano war er fast vier Ellen hoch. Linnette wirkte dafür umso abgespannter und blass. Die langen Haare hingen stumpf und strähnig über ihren Rücken, lediglich von einem zu einem Kopftuch zweckentfremdenden Schleier gehalten. Im Moment fühlte Luca sich wirklich schlecht. Er als einziger schien ausgeruht zu sein, wenn man seinen momentanen Zustand so nennen wollte.
„Wir sind vollzählig“, merkte Raven fröhlich an.
„Nein, nicht vollzählig, sondern eher einer zuviel“, knurrte Thorn leicht verärgert und warf dem schwarzhaarigen Halbzwerg einen vernichtenden Blick zu.
Raven ignorierte ihn. „Einige sagen, wir sind eingekesselt. Gibt es dann bald wieder so einen tollen Kampf wie den das letzte Mal?“
Luca hob eine Braue. „Mit unzähligen Gefangenen, Kranken und verletzten können wir keinen Kampf gewinnen, Raven, schon gar nicht auf einem Terrain was wir nicht kennen. Das letzte Mal hatten wir die Überraschung auf unserer Seite. Dieses Mal können nur sie uns überraschen.“
Raven seufzte. „Die sanfte Methode?“, fragte er leise. In seiner Stimme schwang ein leiser, missmutiger Unterton mit.
„Ja, die sanfte Methode“, bestätigte Justin. Seine Stimme troff vor Hohn. „Lysander wählt immer den sanften Weg.“
Orpheu starrte Justin an. Seine Augen brannten vor Wut. Er hatte keine Lust den Streit weiter mitzuverfolgen. „Meister Justin, ihr übertretet eure Befugnisse hier. Ich hätte im Moment gute Lust, euch von dem Rath auszuschließen.“
Justin betrachtete ihn geringschätzig, riss sich dann aber zusammen und rang sich zu einer Entschuldigung durch.
„Linnette“, wendete sich Luca an die Hebamme, „welche der Leute sind transportfähig und so weit genesen, dass sie die Höhlen verlassen können?“
Die Orc-Dame legte den Kopf schräg, tauschte einen Blick mit Aki und zählte geistig durch. „Schätzungsweise zweihundertundfünfzig Männer, Frauen und Kinder, oder?“
Sie suchte Bestätigung in Aki, die nur knapp nickte.
„Aber einen langen Marsch würden sie nicht durchhalten“, merkte Linnette an.
Aycolén hatte sich neben Luca auf den Boden gesetzt und hob kurz den Blick von seinem Pergament. „Night’s End ist drei Tagesmärsche von hier in den Blutbergen. Dort findet ihr sicher Unterschlupf.“
Danach konzentrierte sich der junge Mann wieder auf seine Skizze.
Luca nickte. „Meint ihr, Linnette, dass ihr den Weg mit den Leuten bis dort hin schaffen könntet?“
Sie hob die Schultern. „Wenn wir angegriffen werden, sind wir Schutzlos.“
„Orpheu, wahrscheinlich streifen noch reichlich von unseren Gegnern – unsichtbar, oder gut getarnt – in den Bergen umher, Kannst du ihnen einige deiner Männer zum Schutz geben?“ er deutete auf Thorn. „Dabei habe ich besonders an Thorn und Jaquand gedacht.“
Der Halbzwerg sah misstrauisch zu Luca und dann zu Aycolén, von dem er nur zu gut wusste, dass er ein Seraphin war, für ihn immer noch ein Unglücksbote. Einerseits wollte er am liebsten sofort zustimmen, aber nur dann, wenn er genau wusste, dass der junge Mann nicht mit ihm kommen sollte.
Der Hauptmann nickte widerstrebend. „Sicherlich kann ich welche entbehren. Aber warum gerade Jaquand und Thorn?“
Luca deutete auf Thorn. „Weil er sich in der Gegend um Night’s End bestens auskennt. Thorns Hof ist nicht weit weg. Er kennt alle Schlupfwinkel und bekommt sicher auf bitte alle gewünschte Hilfe in der Umgegend, die er braucht.“
Dann sah er Jaquand an. „Und du bist der beste Bogenschütze des Heeres. Deine Talente mit Waffen und deine guten Augen werden dem Tross bessere Dienste leisten als uns hier unten in dieser beständigen Finsternis, außerdem lebt er ebenfalls in den Blutbergen.“
Der junge Mann nickte. „Wenn ihr und Meister Lysander uns den Befehl gebt, Hauptmann, sammeln wir uns eine eigene Gruppe an Kriegern zusammen. Die Männer und Frauen, die kampffähig und erfahren an Waffen sind, nehmen wir mit auf unseren Weg. Ausrüsten müssen wir sie noch entsprechend, aber wir haben ja einiges an Kriegswerkzeug gefunden.“
„Was hast du mit den anderen vor, die nicht laufen können? und was mit den gefangenen Wachen?“ fragte Raven.
Luca lächelte und sah von dem Zwerg zu seinem rotgelockten Freund. „Das hat mir auch sehr lange Zeit Kopfschmerzen bereitet. Aber dafür habe ich eine Lösung, nicht wahr, Justin?“
Der Elf sah ihn aus den Augenwinkeln an. Seine Lider senkten sich leicht. „Wie konnte Justin binnen weniger Stunden von Valvermont bis hier her gelangen?“ wendete sich Luca an die anderen Anwesenden.
Scheinbar interessierte Aycolén die Antwort auch, denn der junge Mann hob den Kopf und sah zu Luca hinauf.
„Mag sein, dass ich den Weg durch die Schatten zu
nehmen in der Lage bin, Lysander, aber ich kann niemand mit mir nehmen.“ In seinen Worten schwang brennende Wut auf seinen Geliebten mit.
„Deine Hilfe brauche ich besonders“, sagte Luca leise, eindringlich.
Offenbar half der bittende, sanfte Ton in seiner Stimme Justin über die den verletzten Stolz hinweg. Wesentlich milder gestimmt nickte er. „Wen soll ich informieren?“
Luca wollte es eigentlich nicht, aber er kam nicht umhin die Hilfe des Ordens in Anspruch zu nehmen. „Cyprian und Ihad. Ich brauche ihre stärksten Magier, die Massen-Teleportationen beherrschen.“
Justin, gleichsam aber auch Aycolén stießen fassungslose Laute aus. „Das meinst du nicht ernst!“, brachte der junge Elf fassungslos hervor. Scheinbar kannte er Lucas Probleme mit seinem Ordensherren und dessen Stellvertreter nur zu gut. Es versetzte Aycolén allerdings so sehr in Angst, dass sein Blick, der Luca traf, glasiger wurde und sich in einem wirren Nichts verlor. Sanft legte der Magier ihm die Hand auf die Schulter und streichelte ihm viel mehr unbewusst, den Nacken.
„Wenn du ihre Hilfe in Anspruch nimmst, verpflichtest du dich dem Orden gegenüber immer wieder aufs Neue und dieses Mal werden dich die beiden Kerle nicht wieder gehen lassen!“, mahnte Justin ihn.
Auch Tambren, der die ganze Zeit nur still zugehört hatte gefiel die Idee nicht. Natürlich würden die beiden Magier allein schon binnen kürzester Zeit die Höhle leeren können. Aber er kannte Ihad zu gut. Und es war nicht gut, wenn sich Luca ihm gegenüber auf irgendeine Art noch weiter verpflichtete.
Diese Gefühle und Befürchtungen ließ er seinen Freund auch deutlich spüren.
Über Lucas Lippen huschte ein Lächeln. „Was sich hier aufhält, rechnet mit einem nicht einsatzfähigen und unkoordinierten Haufen. Ihad und Cyprian sollen die Gefangenen fort schaffen, aber nicht mit Umweg über Valvermont sondern direkt nach Sarina. Die Kranken und Verletzten...“
„Sind mein Problem, Lysander“, merkte Justin an. „Das Labyrinth ist unermesslich groß, und gegen alle Annahmen haben wir alles, um sie wieder gesunden zu lassen.“
Dankbar nickte Luca. „Kümmerst Du Dich darum?“, fragte er leise. Der Vampir senkte bestätigend die Lider.
Der Magier wendete sich an Aki und den Eistroll. „Kann ich auf euch beide hier zählen?“ fragte er.
Aki nickte. „Was habt ihr vor, wenn alle anderen aus dieser Höhle heraus sind?“
Luca sah ihr direkt in die Augen. „Sie in eine Falle locken und zur Aufgabe zwingen. Unblutig aber. Und euch, hohe Dame, bitte ich inständig, sprecht vor dem Kaiser. Er wird euch anhören. Ihr entscheidet damit über mehr als das Schicksal eurer Peiniger. Ihr könnt damit diesen endlosen Handelskrieg zwischen den Nordlanden und Sarina beenden.“
Scheinbar hatte sie damit gerechnet, dass er ihr ein solches Anliegen offerierte, aber nicht so unverblümt und direkt.
„Gebt mir eine kurze Bedenkzeit, Lysander“, sagte sie leise.
Orpheu und seine Männer bedrängten Luca nun mit fragenden Blicken, aber der Magier schüttelte leicht den Kopf.
Dann deutete Raven mit dem Finger auf sie und versuchte mit übertriebenen Gestiken aus Luca herauszupressen, wer sie wirklich war.
Tam schüttelte nur den Kopf. Dazu fiel auch dem Drachling keine Lösung mehr ein. ‚Raven ist eine gesellschaftliche Katastrophe!’
Aycolén, der bis eben in seiner Starre gefangen zu sein schien, zuckte unter einem Frösteln zusammen und fuhr auf. „Luca, nicht die beiden!“, flehte er. „Du DARFST sie nicht hier her holen!“
Die furchtbare Angst in seiner Stimme brach seine Worte und dennoch war er laut und deutlich zu verstehen. Schweigen empfing ihn nun. Viel weniger auf seine panische Furcht vor dem Großmeister und seinem Stellvertreter als die Tatsache, dass Aycolén Lucas wirklichen Namen verwendet hatte, schockierte die meisten Anwesenden.
Im ersten Moment glaubte sogar Tambren nicht, was er da gehört hatte. Luca bekam ein sehr befremdliches Bild eines Drachlings impliziert, der völlig sprachlos über Sekunden versuchte seine Gedanken in eine klare Reihenfolge zu zwingen. Dann blickte der blaue Drache zu Luca. Sein Kiefer klappte auf und entblößte eine Reihe feiner, gelber Zähnchen. Aber er war außer Stande zu reden. Sein Geist erschien Luca als Wirrwarr von Beschuldigungen, Angst, aber auch möglichen Begründungen, warum Aycolén diesen Fehler gemacht haben konnte. Tams Resümee konnte Luca allerdings nicht abwarten.
Orpheu hatte den Blick gehoben, neugierig und fast selbst entsetzt, eine Regung, die Luca nicht nachvollziehen konnte. Raven lächelte still vor sich hin. Es war eine spitzbübische, wissende Mimik. Er wusste, was eine solche Information wert sein konnte, auch wenn Luca ihm vertraute, so konnte er sich nie sicher sein, bei welchem Weib und in welchem Bett der Halbzwerg sein Wissen im Rausch preis gab. Hingegen dazu glich Thorns Blick eher etwas drohendem. Dieses Wissen würde er ab jetzt wie ein Schild vor sich hertragen. Magier waren in seinen Augen nie gut. Magie und Aberglaube ergaben zusammen ein verwirrendes Bild von Personen, die sich mit den bösen Göttern und den Dämonen auf der Welt einließen. Luca kannte seine Ansichten besser als der Mischling es auch nur ahnte. Oft hatte er seinen weinseligen Reden von fern gelauscht und alles Wissen über die paradoxe Denkweise des einstmaligen Schauspielers in sich aufgenommen. Seine Uneinschätzbarkeit und seine Gemütswechsel konnte er nur so unter Kontrolle halten.
Allerdings würde Thorn dieses Wissen nun für sich nutzen. Und zusammen mit den Verbindungen seines Schwiegersohnes Jaquand, würde nicht lange die Identität Lucas verborgen bleiben. Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick. Luca wusste, dass Jaquand, gleich ob er wirklich einst ein Attentäter war, oder nur ein sehr geschickter Trickser, mit sehr großer Sicherheit Zugriff auf ein gewaltiges Netz an Informanten in Valvermont hatte. Sie beide stammten aus dieser Stadt und spätestens binnen eines Zehntages würde ihm die passenden Indizien zugespielt werden.
Der Eistroll fing nun Lucas Blicke ein. „Namen sind Macht, Magus“, sagte er leise. Seine Stimme war nichts als ein tiefes Grollen. Stumm nickte Luca. Seine Kehle wurde von diesen Worten zugeschnürt. An seinen Namen band sich viel. Weit mehr als seine Zaubergaben. Er trug die Last seiner Familie und seiner Rasse auf den Schultern. Wenn Mesalla diese Informationen zugetragen wurden, brachte er sogar den Orden in Gefahr.
Unsicher ergriff Aycolén Lucas Hand. „Das wollte ich nicht“, flüsterte er heiser. Tränen schnürten ihm die Kehle zu.
Offenbar hatte der Junge mit Abweisung oder Kälte gerechnet, aber Luca wendete sich ihm ganz zu und kniete neben ihm nieder. Sanft nahm er ihn in seine Arme und hielt ihn liebevoll an sich gedrückt. Im ersten Moment versteifte sich der Elf in seinem Arm, entspannte sich aber nach einigen Sekunden und atmete tief durch.
„Aycolén, du junger Narr!“, zischte Justin wütend und rammte seine Faust mit solcher Gewalt in die Wand, dass Steinstaub und Ruß herabregneten, aber zugleich seine feinen Knochen zu knirschen begannen. Blut rann zwischen seinen schlanken Fingern hindurch.
Der junge Mann hatte sich in Lucas Armen herum gedreht und starrte nun fassungslos Justin an. Dieser Ausbruch des sonst so ruhigen, eher spitzzüngigen Mannes erschreckte allerdings jeden, außer Luca. Der Magier kannte Justin selten anders.
Linnette, die sich bis zu diesem Moment ruhig verhalten hatte, winkte ab. „Was ist schon ein Name. Der Mann dahinter ist wichtig!“, sagte sie nüchtern. Sei rüttelte am Arm des Eistrolls, der sie im ersten Moment eher befremdlich betrachtete. „Ist doch so, Sjorn, oder nicht?“
„Bitte, Luca, du weißt nicht alles über den Orden bei dem du bist. Wenn du dich Ihad noch weiter auslieferst, begünstigst Du seine Pläne. Bitte, hole ihn nicht hier her!“
Die Qual in Aycos Worten weckten in Luca alte Ängste, die er vor langen Jahren verborgen zu haben glaubte. Er kannte Ihads unberechenbare Art, aber welche Pläne sollte der Großmeister mit einem einfachen Wander- und Kriegsmagier wie ihm haben?
„Sollen wir euch allein lassen?“ fragte Orpheu nun in Lucas Gedanken hinein. Der junge Mann hob den Blick und schüttelte den Kopf.
„Deine Angst vor ihnen, scheint gewaltig zu sein, Aycolén“, flüsterte er. „Willst du nicht mit den Heilern nach Night’s End ziehen? Dort bist du sicher vor ihnen.“
Vehement schüttelte der Elf den Kopf. Die Angst in seinen Augen schien ihn übermannen zu wollen, aber er kämpfte sie nieder. In seinem Blick flackerte deutlich hysterische Panik, als er Luca sehr leise zuflüsterte: „Ich bleibe an deiner Seite. Nach allem was ich getan habe um dich wieder zu bekommen werde ich nicht mehr weg gehen! Die Gefahr dich wieder zu verlieren ist zu hoch.“
Er umklammerte den Magier nun mit unglaublicher Gewalt. Einen Herzschlag lang musste Luca nach Luft ringen. Seine Lungen füllten sich allerdings nur mit rauchgeschwängerter Luft und dem Geruch nach verbranntem Öl und flüssigem Wachs.
Luca beschlich das Gefühl, dass die Verlustangst Aycos alles andere bei weitem überstieg. Im ersten Moment erschreckte ihn die leise aufflackernde Gier, der gewaltige Besitzanspruch, den der Elf auf ihn erhob, aber zugleich wusste er auch, dass es gut so war und er selbst es nicht anders wollte.
Luca sah auf. Justins Mimik gefror zu einer Maske. Der Vampir starrte auf die beiden Männer herab. Seine Kiefer mahlte unablässig. Der Magier brauchte Tambrens Fähigkeiten nicht, um das Verhalten als blanken Hass zu interpretieren. Für alle anderen - das war Luca genauso klar - konnte die momentane Situation, die so privat und exhibitionistisch war, nicht angenehm sein. Sie erfuhren über ihn mehr als er je bereit war von sich Preis zu geben.
Im Augenblick fühlte er sich entblößt und nackt vor den uneinschätzbaren Blicken seiner Gefährten.
Thorns plötzliches Herumwirbeln, hinaus aus der Höhle, ein leiser Aufschrei und anschließendes Zetern, lenkten die Blicke von ihm ab. Dankbar schloss Luca die Augen. Was immer die Aufmerksamkeit des Halbzwerges erregt hatte, hatte ihm nun geholfen.
Jaquand trat zum Eingang und spähte hinaus. Luca löste sanft Aycos Klammergriff und erhob sich, streckte dem Elf aber seine Hand hin, um ihm ebenfalls aufzuhelfen.
Der Junge ergriff sie und ließ sich auf die Füße ziehen.
Der Hauptmann trat nun näher und hob die Skizze vom Boden auf. Er betrachtete das Pergament einige Zeit nachdenklich und deutete auf ein Oval, was über ein kleines Labyrinth an Fluren mit dem Kessel verbunden war. „Ich nehme an“, lenkte er die Aufmerksamkeit wieder um, „dass sich dort die meisten Wachen aufhalten. Die anderen Kammern bieten im seltensten Fall Platz für mehr als vielleicht zehn Mann.“
Die Blicke Aller Anwesenden richteten sich nun wieder auf Orpheu.
Der schwarze Elf kniete auf dem Boden nieder und breitete die von Ayco gezeichnete Karte aus. „Schaut mal alle her!“ rief er. „Auch Du, Jaquand... Thorn?!“
Der junge Mann löste sich grinsend vom Höhleneingang und schüttelte leicht den Kopf. „Immer dieses Heilerpack“, stichelte er.
Linnette betrachtete ihn mit gehobener Braue, schwieg aber.
Sjorn langte mit seinen schlanken, schier endlosen Armen hach hinten und riss Jaquand fast von den Füßen, als er ihn zu der Gruppe zwang.
„Aufpassen Menschlein!“ mahnte er ihn grollend. Hinter vorgehaltener Hand, absichtlich schlecht verborgen, gestattete sich Aki ein belustigtes schmunzeln.
Gerade in dem Moment stieß Thorn Ria, die in einer Tour Flüche in einem Dialekt ausstieß, die jedem Gassenjungen Konkurrenz gemacht hätten, in die Höhle. Die Zwergin fing sich, bevor sie eine Öllampe umstieß, fuhr herum und drohte mit geballter Faust und ihrem Kräutermesser. „Wag’ dich das noch einmal, verfluchter Bastard, und ich ramme Dir mein Messer in deine hässliche Visage!“
Als wäre Ria nicht schon genug gewesen, zerrte er noch zwei weitere Mädchen hinter sich her. Die - nicht ganz so - edle Dame aus Rouijin, deren Name Luca bis jetzt nicht kannte, und die Geweihte Nea.
„Neugieriges Weiberpack!“, grollte Thorn verärgert. „Meiner war das auch nie beizubringen!“
Sein Blick traf Jaquand. „Deshalb hab’ ich dich ja am Hals!“
Sein Schwiegersohn leckte sich genüsslich über die Lippen. Spott funkelte in seinen Augen. Er liebte es, seinen Schwiegervater bis auf das Blut zu reizen. „Ich wusste ja nicht, dass es nicht dein Weib sondern deine Tochter ist und sie so schnell von mir trächtig wird. Aber genossen habe ich sie von Anfang an.“
Das Gesicht des Mischlings verfärbte sich in einen Tonfall der nah an seinem Bart lag.
Raven fuhr herum und funkelte Thorn und Jaquand an. „Haltet die Klappe!“, donnerte er seine Freunde an. „Könnt ihr diesen blöden Streit nicht mal auskämpfen, wenn uns das Wasser nicht bis zum Hals steht?!“
Jaquand blinzelte ihn an und nickte dann ernst. „Tut mir Leid.“ Er sah auch zu Luca und Orpheu. Dieser treue Hundeblick, mit dem er immer wieder Erfolg bei den beiden Heeresführern hatte, prallte an Raven ab. Beruhigend legte Luca die Hand auf die Schulter des schwarzhaarigen Halbzwerges. „Lass es gut sein, mein alter Freund.“
Dann sah er zu den drei Frauen.
„Wie viel habt ihr mitbekommen?“ Er hob Tambren auf seine Schulter. „Lügen wäre unsinnig. Er kann eure Gedanken lesen, wenn ich ihn darum bitte.“
Wohlweißlich verschwieg Luca, dass Tambren jederzeit die Gedanken aller Lebewesen um sich herum auffangen konnte, aber zumeist seinen Geist verschloss, um nicht unnötig viel Last auf sich zu laden.
Die Elfe senkte den Blick und schwieg, während Nea die Kiefer fest aufeinander presste und die Hände zu Fäusten ballte. Neben der riesenhaften Dame aus Rouijin sah sie fast wie ein Kind aus, begünstigt durch ihr nicht bis zu den fesseln reichenden Hemdkleides, um dass sie sich lediglich ihre Heilertasche geschnallt hatte und dem ewigen Trotz in ihren Augen.
Ria verschränkte die Arme vor der Brust. „Kione, Nea und ich haben eigentlich nach euch gesucht und wollten wissen, ob es euch besser geht, Luca!“
Der Magier brauchte nicht viel mehr zu wissen. Die Frauen hatten also schon eine ganze Weile gelauscht. Der Hinweis Rias auf seinen Geburtsnamen reichte dazu aus.
„Und bevor ihr fragt, ich will lieber hier in dieser Höhle Kämpfen, als weggeschickt zu werden. Kione und Nea sehen das auch nicht anders, oder?!“
Offenbar hatte sich die Zwergin zur Rednerin der drei Frauen aufgeschwungen. Kione, die Elfendame, hob nun endlich die Lider. Ihre großen Mandelaugen strichen über die Gestalt Justins, der etwas außerhalb des Kreises um Orpheu und Aycolén stand. Der Blick war voller Zärtlichkeit und Faszination für den schönen Vampir. Luca wusste, was sie empfand. Dieser Anziehung konnte sich kein sensibles Lebewesen entziehen, dabei legte es Justin nicht einmal darauf an, seinen Charme und seine Verführungskünste einzusetzen. Er selbst war diesem schönen Mann einst erlegen.
Nea rammte ihre Faust in die offene Hand. „Gebt mir Waffen und ich kämpfe so gut wie jeder eurer Männer, Orpheu!“ sie machte eine ausladende Geste. „Ich war als Kriegerin schon immer gut!“
Das Feuer in ihren Augen sprach von einer absoluten Obsession im Kampf. Ihre schlanke Gestalt, die geschickten Bewegungen und die Geschwindigkeit unterstrichen ihre Worte mit Leichtigkeit. Das was ihr an Kraft Rias fehlte, machte sie an Tempo wieder wett.
„Nur wollen wir es nicht auf einen Kampf ankommen lassen, Nea“, sagte Luca ruhig. „Vielleicht sind eure Fähigkeiten nicht nur geübte Heiler zu sein, sondern auch Kriegerinnen, bei dem Tross nach Night’s End wesentlich wichtiger.“
Er tauschte einen Blick mit Orpheu, der das scheinbar auch so sah. Die Augen des Elfs glitten zu Kione. „Sie kann hier bleiben, aber die beiden Mädchen werden bewaffnet. Ihr beiden zieht mit Jaquand und Thorn nach Night’s End!“ Er machte eine Handbewegung zu Sjorn. „Ihr auch.“
Der Troll legte seinen Kopf zur Seite und musterte erwartungsvoll den Hauptmann. Scheinbar interessierte ihn die Begründung des Elfs.
„Eure Kenntnisse in den Eisenbergen sind wichtig. Ihr kennt die Verstecke und Höhlensysteme besser als meine Männer.“
„Aber ich stamme aus dem Norden“, sprach der Troll dagegen. „Vermutet ihr keinen Verrat?“
Wieder tauschten Orpheu und Luca Blicke. Der Magier antwortete anstelle des Hauptmannes. Seine Augen glitten zu Aki Valstroem, um sein Wissen über ihre Identität zu verdeutlichen. „Ich glaube daran, dass keiner mutwillig diesen labilen Frieden gefährdet, so lange es sein Ansinnen ist, Leben zu retten anstatt sie zu vernichten. Das wäre sicher auch nicht im Sinne eurer Herrscherin, der ihr doch ein treuer Diener sei, nicht wahr Sjorn?“
Luca wollte keine Drohung in seinen Worten durchklingen lassen, aber er wollte dem Troll auch klar darlegen, dass er und Aki einer Meinung über diesen Krieg zwischen dem freien Norden und dem Handelsreich waren. Er dürfte in keiner Weise begünstigt werden und weiter gehen. Dabei schwang allerdings in Luca auch die Angst um Valvermont mit, dass als Freistadt eingekesselt zwischen den kämpfenden Reichen zwischen den Grenzen lag.
Aycolén, der sich wieder etwas gefangen hatte, richtete sich nun plötzlich gerade auf und lauschte angespannt. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich auf den jungen Mann.
‚Tam, was hört oder sieht er?’, fragte Luca seinen kleinen Freund nun lautlos.
Der Drachling vermittelte Luca ein Bild aus seiner Perspektive, die leicht versetzt zu der des Magiers war. Beide Sichtweisen legten sich übereinander und ergaben ein leicht verzogenes Doppelbild. Aber der junge Mann konnte nun das Elfenkind sehen, das kleine Mädchen, was er schon einmal über Tam wahrgenommen hatte. ‚Seine Schwester ist wieder da’, stellte der Magier überflüssiger Weise fest.
Allerdings entdeckte er zeitgleich mit dem Drachling auch eine weitere unsichtbare Person. Durch die Augen Tambrens sah er mehr als das Schimmern des Zaubers.
Luca spürte die Blicke nun auch fast körperlich. Die Augen des Mannes lagen tief in ihren Höhlen, glühten aber in einem besonderen, intelligenten Feuer, dass Luca sofort gefangen nahm. Der Mann war ein Magier, gleichsam seines Ranges. Seine langen, weißblonden Haare hingen in sein hageres, bärtiges Gesicht und über seinen Brauen fand sich ein Symbol, was seine Zugehörigkeit zu den Gildenmagiern offenbarte. Dieses Ornament war eine Mischung aus den Symbolen der Zauberschulen, denen er angehörte.
Luca wusste, dass sie einander ansahen und der fremde Magier ihn herausforderte. Langsam schob sich der junge Mann aus der Gruppe seiner Gefährten, die langsam unruhig wurden. „Was seht ihr, Lysander?“ fragte nun Orpheu, wobei er bewusst den Ordensnamen nutzte. Luca schwieg. Er wollte die Reaktion seines Konterparts abwarten.
Mit einer leichten Bewegung seiner Finger, die über seine Gestalt strichen, sanft wie fallender Schnee, materialisierte der Fremde. Noch bevor Thorn oder Jaquand ihre Waffen ziehen konnte, hob Orpheu die Hand. „Lasst das Lysander machen.“
Der rotbärtige Halbzwerg blinzelte verärgert, spürte dann aber die kräftige Hand seines Kampfgefährten Raven auf dem Unterarm. „Hab vertrauen in ihn. Bisher hat er uns nie enttäuscht.“ Absichtlich ließ der gutmütige Krieger offen, ob er Orpheu oder Luca meinte. Thorn atmete schwer durch, hielt aber seine Wut in Zaum.
Luca blieb einen Schritt vor dem Magier stehen.
Der Blick des wesentlich kleineren, schlanken Mannes strich über die Gestalt Lucas und blieb schließlich an den grünen Augen hängen.
Was immer er erwartet hatte, Luca erfüllte nicht das Bild dessen. Leise Überheblichkeit schlich sich in die hellblauen Augen.
Hinter sich vernahm Luca leise Schritte nackter Füße. Ayco trat an seine Seite. Der Elf hatte nichts mehr von dem verunsicherten Jungen, der er noch vor kurzer Zeit war. Stolz, voll und ganz Lucas Partner, sah er auf den Mann herab. Sie kannten sich, dessen war sich Luca sehr sicher. Inwieweit sie einander vertrauten oder sympathisierten, wagte der junge Mann lieber nicht einzuschätzen. Die Reaktion Aycoléns war eher bekräftigend, aber er konnte nicht sagen, ob dies im Sinne von Schutz für sich galt oder um dem Mann die Kraft zu geben, seine Aufgabe wahrzunehmen.
„Ich bin hier als Unterhändler für Renard.“
Die Stimme des Magiers klang rau und brüchig. Scheinbar hatte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Sein Atem regte in Luca leichte Übelkeit an.
„Raven, würdest Du bitte Wasser für unseren Gast holen?“ fragte Luca ohne den Blick von seinem Gegenüber zu nehmen. Überrascht musterte ihn der fremde Magier. Als der Zwerg sich an ihnen vorbeischob, unterbrach Luca den Blickkontakt und wies in seine bereits stark überfüllte Unterkunft. Der Fremde zögerte einige Herzschläge und musterte Luca. Der Blick des Gildenmagiers glitt dorthin wo das Geistermädchen stand. Auch Luca konnte sie Dank Tambren noch immer sehen. Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Wenn ihr ein Mann von Ehre seid, so wie ich“, sagte Luca mit leiser, beruhigender Stimme, „wisst ihr, dass euch bei mir nichts geschehen wird.“
Aycolén blieb neben dem Eingang stehen. Er beobachtete stumm, bemerkte Luca aus dem Augenwinkel.
Der Gildenmagier sah sich kurz um, erkannte aber offenbar keinen der Anwesenden als einstmalige Gefangene. Schließlich wendete er sich wieder Luca zu. „Man nennt mich Henrik von den zwei Brücken. Ich bin Renard de Tremeris Adjutant und Magier. Er will mit euch verhandeln.“
Luca sagten die Namen vage etwas. Von Renard de Tremeris wusste er nur, dass er ein aus Valvermont stammender Adeliger war, der seine Bekanntheit als Ritter im Kaiserreich errang. Deshalb regte sich in ihm umso mehr Unverständnis, wie ein ehrenhafter Mann wie Renard diesem Schlachten in dem Lager zustimmen konnte. Allerdings ergab sich für den jungen Mann daraus auch die Frage, ob Renard auf eigenen Wunsch hier her gekommen war, oder ob sich dahinter andere Gründe verbargen.
Henrik von den zwei Brücken war eine Berühmtheit unter den Magiern der Gilde Valvermonts. Er trug Gerüchten nach weit mehr Magie in sich als die Gilde je erlaubte zu lernen und zu lehren. Er machte bereits vor vielen Jahren, als er noch ein Kind war, von sich reden und musste, wenn Luca nicht völlig falsch lag, mindestens siebzig Jahre alt sein, aber Henrik, trotz der Entbehrungen, des Hungerns und der beständigen Lichtlosigkeit, sah bestenfalls nach einem Mann in der Mitte seines Lebens aus.
Über Lucas Lippen huschte ein Lächeln. Von seinen wahren Gefühlen und der leichten Aufregung und Nervosität einem solch berühmten Mann gegenüber zu stehen ließ er sich nichts anmerken.
Orpheu rollte eilig die von Aycolén skizzierte Karte des Höhlensystems zusammen und steckte sie in sein Hemd. Henrik verfolgte scheinbar die Bewegung aus dem Augenwinkel. Dann glitt sein Blick zu Ayco hinüber. „Ich bin froh darüber, dass du noch lebst, mein Junge“, sagte er leise. Auf seine spröden Lippen stahl sich ein leichtes Lächeln.
Der junge Elf neigte leicht den Kopf und betrachtete unter gesenkten Lidern den Gildenmagier. „Sie wissen, dass ich Prinz Mesalla entsandt wurde um die Vorgänge hier dem Kaiser mitzuteilen und mit euch zusammengearbeitet habe. Ich habe Dir Lea geschickt weil ich die Hoffnung hatte, dass ihr nicht nur bereit seid zu verhandeln, sondern auch Einfluss auf die anderen nehmen könnt.“
Henrik lachte hart auf und begann krampfhaft zu husten. Luca konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, dem Mann zu helfen. Er konnte den Grund nicht in Worte fassen, aber er hegte eine starke Sympathie für den Mann. Vielleicht, so beruhigte er sich selbst, beeindruckten ihn noch heute die Geschichten, die er einst über ihn gehört hatte.
Leider reizte sich der Hals des Mannes immer stärker durch das Husten. Luca sah zum Eingang der Höhle. „Raven, wo bleibt er? Geht er das Wasser an der Quelle holen?!“ fragte er ärgerlich. Er konnte nun nicht mehr weiter seine Natur zügeln. Vorsichtig nahm er den Mann an der Schulter richtete ihn auf, legte ihm die Hand auf die Kehle und ließ einen geringen Teil seiner Lebenskraft in ihn fließen.
Beinah sofort linderte es den Hustenreiz und überrascht, aber auch zugleich stark entkräftet sah Henrik zu Luca auf. Vorsichtshalber schwieg er, aber ein Funke von tiefer Dankbarkeit und einem leisen Erkennen trat in seine hellen Augen.
Tambren kletterte an Lucas Arm herunter und schwang sich behände auf die Schulter Henriks. Im ersten Moment hob Henrik eine Braue und sah erneut in Lucas Augen. Die Frage des Warum darin formulierte sich durch Tambren verstärkt. Lucas mildes Lächeln nahmen ihm aber offensichtlich alle Zweifel.
Wortlos projizierte Henrik Luca seine Gedanken und Eindrücke, seine Erlebnisse und den Grund, weshalb er nur zu bereitwillig Lea hier her gefolgt war.
„Orpheu“, Luca sah seinen Hauptmann nicht an. „Die Wächter und Soldaten hier teilen sich in zwei Schichten ein. Einige waren dem Kommandanten direkt unterstellt und dienten scheinbar einer einzigen Sache, ihn zu schützen. Die andere Gruppierung waren die Kerkermeister, Henker, Wachen und Folterknechte. Sie unterstanden ebenfalls dem Kommandanten hatten aber andere Weisungsbefugte. Die Gruppe zu der Renard de Tremeris gehörte, war eigentlich eine Einheit der kaisertreuen Ritter, die vor Gregorius dieses Lager als Gefangenenlager führten. Der Ritter muss aber schnell eingesehen haben, dass er, wenn er sich gegen den neuen Lagerkommandanten stellt, seine Männer schnell einbüßt...“
Raven kam etwas atemlos in die Höhle.
„Hier das Wasser“, keuchte er und reichte es an Henrik weiter.
Luca wollte lieber nicht wissen, woher er den Krug und den Becher geholt hatte. Der Gildenmagier nahm das Wasser mit dankbarem Lächeln an und trank in kleinen Schlucken. Luca hatte das Gefühl, dass der Magier seine Gedanken nicht völlig öffnete. Scheinbar war da noch mehr, und Henrik nutzte die Zeit um sich darüber klar zu werden, ob er Luca davon erzählen sollte.
Thorn gab einen abfälligen Laut von sich und winkte ab. „Das ist doch alles Unsinn! Das, was der Drache aus seinen Gedanken liest muss nicht wahr sein!“
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen Felswand und senkte die Lider. Ria stimmte ihm mit einem leisen Nicken zu.
„Lysander, ihr seid zu gutgläubig“, merkte Thorn an, der sich dadurch bestätigt fühlte.
Ein Blick Akis, der Beide traf, brachte ihn zum Schweigen.
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ihr irrt euch, Thorn“, sagte sie schlicht.
Ayco nickte. „Renard ist ein ehrenhafter Mann. Er würde nur nie etwas tun, was auf seine Untergebenen zurück fiele. Ich habe selbst einige Zeit direkt für Gregorius gearbeitet und konnte Renard währenddessen kennen lernen.“
Henrik wendete sich nun Aycolén zu und betrachtete den jungen Elf nachdenklich. Luca bekam dank Tambren klar mit, worüber der Gildenmagier grübelte.
Gregorius, der Name aus dem Munde des Elfs war Auslöser für eine Erinnerung.
Leider konnte Luca nicht klar erkennen was Erlebnis und was Henrik Interpretation war. Durch seine persönlichen Eindrücke und Gedanken verzerrte sich das Bild zu einem Gemisch aus klaren Darstellungen und Gefühlen.
Gregorius, vermutlich so wie Henrik ihn gesehen hatte, düster, bedrohlich und unberechenbar, der sich oftmals hinter seinem jungen Bediensteten, Ayco, her stahl und ihn seinerseits bespitzelte. Aber er nutzte ganz bewusst nicht die Dienste seiner ihm untergebenen Männer, sondern bat Henrik um seine Tränke der Unsichtbarkeit, seine Fähigkeiten, die Sinne anderer Personen zu schärfen und leichter Gifte, die alle noch so tief verborgene Wahrheit aus einer Person heraus zwangen. Henriks Eindruck eines von dem Elf fast schon besessenen Mannes überwog das Bild klar.
Luca nahm sich nun vor, in jedem Fall noch einmal allein mit dem Magier zu reden. Er gewann durch Henrik ein anderes Bild des Kommandanten. Ayco schien ihn zu verabscheuen und zu fürchten, war aber Gregorius’ Charme erlegen. Henrik hatte sich davon nicht beeinflussen lassen. Im Gegenteil stachelte es sein Misstrauen dem Kommandanten gegenüber wohl eher noch an.
Allerdings war er sich nun auch vollkommen sicher, dass seitens Henriks keine Gefahr bestand. Luca warf Orpheu einen Blick zu. Der Hauptmann nickte.
„Meister Henrik, wir stimmen in jedem Fall einem Treffen mit Ritter de Tremeris zu.“
Luca überließ die restliche Planung des Aufbruchs und des Lagerabbaus Orpheu, der sich in seiner Position wieder bestätigt fand. Auch seine Männer schienen erleichtert, dass sich der Magier wieder aus den Geschäften eines Heerführers heraus hielt. Er – für seinen Teil – brauchte Zeit um mit einzelnen Personen zu sprechen. Aki, und Sjorn, genau wie Aycolén, Henrik und Justin.
Letzter blieb ohnehin mit dem Elf und Luca in der kleinen Höhle zurück. Nachdenklich betrachtete er die schön längst wieder geschlossenen Fingerknöchel, mit denen er versucht hatte, ein Loch in die Wand zu schlagen.
„Mein Fehler von vorhin tut mir leid, Luca“, begann Ayco unsicher. Er schien wieder in die Rolle des verstörten Knaben zurückgedrängt worden zu sein, was allerdings nicht zuletzt an der Anwesenheit Justins lag. Die düstere Stimmung des Vampirs legte sich unangenehm und bedrückend auf das Gemüt der beiden anderen Männer. Luca saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem nackten Boden. Wo ihm zuvor zu warm gewesen war, fror er nun umso stärker wieder.
Tambren saß in seinem Schoß und hatte sich zum Schlafen zusammen gerollt. Die Arbeit sich durch die Gedanken eines anderen zu arbeiten und dann auch zu projizieren, strengte den kleinen Drachling stark an, zumal er auch keine Sehnsucht zu verspüren schien, sich auf den zweischneidigen Geist des Vampirs zu konzentrieren.
„Ist nicht schlimm, Ayco“, beruhigte Luca ihn lächelnd und streckte ihm eine Hand entgegen. Die andere hielt er unter Tammys Kiefer und kraulte den Drachling liebevoll.
Der junge Mann trat zu ihm, nahm seine Finger und zuckte zusammen, als Justin einen Fluch ausstieß. Er blickte über die Schulter zu Justin. Der Vampirelf fixierte ihn mit blanker Wut in den Augen. „Weißt du Irrer eigentlich, was du Luca angetan hast?!“, fragte er lauernd.
Der junge Mann schien im ersten Moment zusammenzuzucken, straffte seinen Körper dann aber und zog seine Finger aus denen Lucas zurück. Er wollte scheinbar stehen bleiben. Luca konnte sich denken weshalb. So war der Vampir gezwungen, zu Ayco aufzusehen. Es war eine ganz einfache Sache der Körpersprache, die der junge Mann sich zunutze machte.
„Ich weiß es, verdammt!“, stieß Ayco hervor. „Aber es ist nicht deine Sache mir zu vergeben sondern Lucas. Wenn es für ihn gut ist, sollte es das auch für dich so sein.“
Justin federte auf die Füße und war in einer einzigen gleitenden Bewegung bei dem Elf, riss ihn mit einer Hand in die Luft und drückte ihm mit seinen langen, schmalen Fingern die Luft ab.
Luca konnte gar nicht so schnell auf die Beine kommen, wie Justin gegen Ayco handelte. Er zog die Lippen hoch und entblößte weiße, messerscharfe Fangzähne, so lang wie ein kleiner Finger.
„Du kannst ihn damit zerstören!“, zischte er. „Du nimmst ihm damit seine Macht und tötest ihn vielleicht. Luca Veraldis war kein unbekannter Name in Valvermont. Er ist nur durch Mesalla und mich in Sicherheit. Wenn du Narr seinen Namen herausposaunst, kannst du ihn genauso gut selbst umbringen!“
Luca sah dass Ayco hilflos nach Luft rang und versuchte sich aus dem Griff des Vampirs zu befreien, aber keine Chance hatte. Die Unbeherrschtheit Justins kannte keine Grenzen. In Luca wuchs unsägliche Wut. Er zwang Justins Arm herab, mit dem er Ayco hoch hielt.
„Lass ihn los!“ rief er entsetzt. „Du bringst ihn um!“
Justin hatte Ayco zwar zu Boden gelassen, umklammerte seine Kehle noch immer. Lucas Blick traf den unnachgiebigen Justins. Der Vampir brannte von seinem eigenen Hass und seiner Gier nach Luca förmlich. Der Magier sah in den dunkelblauen Augen alle geballten Gefühle seines Liebhabers, die zwischen Verletzung, Angst, Schmerz, Verlust und grenzenloser Liebe lagen. Seine Hilflosigkeit gegenüber dem eigentlich körperlich wesentlich schwächeren Aycolén, der aber all das sein eigenen nennen konnte, was Justin von Luca verwehrt worden war, bahnte sich in reiner Gewalt ihren Weg.
Mit der einen freien Hand stieß er Luca zu Boden und schlug im gleichen Augenblick Aycolén nieder.
Der Magier kannte diese Ausbrüche Justins nur zu gut. Und nicht nur er. Tambren, der sonst nicht feige war, tat das, was ihm Luca mehrfach eingeschärft hatte. Er versteckte sich. Aber der Magier konnte das hilflose Schluchzen und die Angst seines Freundes deutlich hören und spüren.
Er federte wieder auf die Füße, nur um von einer Ohrfeige erneut niedergestreckt zu werden. Lucas Lippe blutete, doch das registrierte er im ersten Moment nicht. Erst als er den salzigen Geschmack auf seiner Zunge wahrnahm. Beinah beiläufig trat er Luca in den Bauch. Lichtblitze explodierten hinter den geschlossenen Lidern Lucas. Alle Luft schien sich aus seinen Lungen zu pressen und er spürte, wie er sich hilflos zusammenkrümmte. Alles an ihm war nur noch hilflose Agonie.
Am Rande seines Bewusstseins hörte er Ayco schreien. Er wusste nicht ob es Wut oder Schmerz war. Selbst als er die Lider krampfhaft hob und versuchte unter den blutigen Schleiern etwas zu erkennen, konnte er nicht genau sagen, ob der junge Elf versucht hatte Justin anzugreifen oder der Vampir ihn nur einfach mit seinen bloßen Händen versuchte umzubringen.
Lucas Finger ballten sich zu Fäusten und seine Nägel bohrten sich in seine Handballen, bis sie die Haut durchbrachen und Blut über seine Fesselgelenke rann.
„Hör’ auf!“
Lucas Stimme war nicht mehr als ein atemloses Flüstern. Justin schien ihn aber gehört zu haben, denn er ließ von Aycolén ab. Der junge Elf sank in den Staub, verkrampfte sich, seine rechte Hand an die Brust gepresst.
Er hob den Kopf und Luca sah, wie sich sein Blick in den Rücken Justins bohrte. Fassungslosigkeit, Unglauben und tiefe Wut verzerrten das schöne Elfengesicht zu einer Maske. Blut lief über seine Lippe und Tränen tiefer Verzweiflung röteten seine weiße Haut.
„Lass Luca in Ruhe du Monster!“
Justin ignoriert ihn. Im Gegenteil sah er noch einmal über die Schulter, bevor er sich vor Luca nieder ließ und ihn unsanft in eine sitzende Position zerrte. Wortlos hielt Luca ihm seine blutigen Hände hin.
„Nein!“, schrie Ayco entsetzt. Er Zwang sich auf die Füße hoch und taumelte die wenigen Schritte zu Justin. Doch der Vampir hatte sich vollkommen gefangen. Er saß Luca gegenüber und hielt seine blutigen Hände in den seinen. Dann hob er sie zu seinen Lippen. Luca spürte die seidige Kühle, die sein einstmaliger Liebhaber ausstrahlte. Das war nicht mehr das Monster Justin, sondern der Unsterbliche, das Gute, was der Vampir sein konnte. Das Leben. Sanft küsste er die Verletzungen, nahm mit seiner Zungenspitze einige Tropfen des Blutes auf und heilte die leichten Wunden, füllte Lucas Körper mit warmer Energie an, mit Kraft und Liebe.
Der Angriff Aycos blieb aus. Nicht weniger fassungslos als zuvor beobachtete er den jetzt wieder so liebevollen Mann. Luca sah zu dem Elf auf.
Von seinen Verwundungen war nichts mehr zu sehen. Der ganze Raum füllte sich mit sanft schimmernder, goldner Luft, dem Hauch des Lebens, geschaffen aus der Seele des Vampir, der ein wenig von Lucas Blut getrunken hatte und dieses Geschenk für sich umsetzte.
Ohne auch nur etwas davon zu bemerken, veränderten sich auch Aycos Wunden und heilten.
Sanft umarmte Luca Justin und schenkte ihm einen einzigen Kuss auf die hohe, edle Stirn des Elfenvampirs.
Justin zog sich zurück und erwiderte das Lächeln, gefangen in einer Trance aus seinen Gefühlen. Dann sank er still in den Armen des Magiers zusammen und schlief ein.
Lucas Blick hielt dabei den Aycoléns gefangen. Der Unglaube, die Eifersucht, aber auch vollkommene Verwirrung schlugen dem Magier entgegen. Still, wahrscheinlich von dem, was er gerade erlebt hatte völlig überfordert, kniete sich Aycolén neben Luca. Er hielt gebührenden Abstand zu Justin.
„Was war das?“, fragte er leise.
Luca atmete tief durch. Dann senkte er die Lider und betrachtete Justin.
„Er ist der Avatar des Lebens, Ayco.“
Justin lag zusammengerollt wie ein Kind neben Luca, eine Hand unter dem Kopf und die andere in Lucas verschränkt. Er hatte sich in Lucas Decken eingeschlungen und lag nun friedlich da. Ayco traute dem Frieden allerdings nicht, so weit wie er Abstand zu dem Vampir hielt. Er hatte Luca dennoch geholfen den schlanken Mann vorsichtig auf etwas Stroh und Lucas Bettrolle zu legen. Danach aber wich er wieder zurück. Sogar Tambren hatte sich vorgenommen nicht mehr in die Nähe des Vampirs zu kommen. Bisher kannte der kleine Kerl die gerichteten Gewalttätigkeiten gegenüber Luca. Aber an einem anderen Mann hatte sich Justin nie zuvor vergriffen. Diese Sorge ließ er Luca auch spüren.
‚In seiner Eifersucht könnte er Aycolén wirklich töten, Luca. Sei vorsichtig gegenüber dem Verrückten!’, warnte er seinen Herren.
‚Ich werde vorsichtig sein’, versprach Luca wortlos. ‚Aycolén ist der Mann, den ich will. Ich ertrage es schon jetzt kaum, ihn die meiste Zeit wesentlich nüchterner und neutraler zu behandeln, als ich es will. Aber wenn ich in der Gegenwart Justins meinen Gefühlen Ausdruck gebe, rufe ich eine Katastrophe hervor. Das will ich auch nicht.’
„War das wirklich Justin?“, fragte er leise, als Luca ihm lächelnd in die Augen sah. Der Magier wurde ernst, senkte den Kopf und betrachtete den Vampir, der in seinem Schlaf immer wieder Lucas Namen flüsterte und auf eigentümliche Art lächelte.
„Ja, das ist auch ein Aspekt seiner Persönlichkeit, Ayco.“
Sanft strich er Justin über die Wange und löste behutsam seine Finger aus denen des Priesters.
Für einen winzigen Moment wurde der Elfenvampir unruhig, rollte sich dann aber noch enger in die Wolldecken ein und sog den Duft Lucas in sich ein. Lautlos erhob sich der junge Magier und trat zu Ayco, der mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand lehnte.
Stumm schloss er den Elf in seine Arme und genoss die Wärme des so lebendigen Körpers. Endlich konnte er das tun, wonach er sich in den vergangenen Tagen so sehr gesehnt hatte. Und dieses Gefühl war etwas Besonderes. Lange hatte er schon keinen lebendigen Körper mehr so gehalten und noch viel länger nicht mehr gefühlt, wie diese Umarmung erwidert wurde. Er spürte den Herzschlag Aycos unter dem dünnen Stoff des Hemdes, das ruhige Heben und Senken seiner Brust bei jedem Atemzug und sog den Duft des seidigen Silberhaares in sich auf. Das Aroma seiner blassen weichen Haut umfing Luca und weckte den Windhauch einer alten, verborgenen Erinnerung an ihre gemeinsamen Tage in seiner Kindheit. Plötzlich fühlte sich der Magier wieder wie ein Kind, glücklich und geborgen in den Armen seines geliebten Freundes, der Himmel und Erde, Leben und Lachen war.
Liebevolle Finger, die Luca so vertraut waren, strichen durch sein Haar und tasteten über Nacken und Schultern.
Tam kletterte nun endgültig auf den Boden zurück und suchte sich in Lucas Tasche ein lausiges Plätzchen. ‚Lasst euch in eurer Wiedersehensfreude von mir nicht stören’, stichelte er.
‚Danke, kleiner Freund’, entgegnete Luca.
„Du bist so groß geworden, Luca“, bemerkte Ayco leise, erstaunt. Sein Atem streifte Lucas Wange und Ohr. Der warme Luftzug, der seine sensible Haut so liebevoll streichelte, versetzte den jungen Mann in einen Zustand leiser, sehnsüchtiger Erregung. Er seufzte leise und schloss die Lider. „Es ist so lange her“, flüsterte er und zog Ayco noch enger an sich. Er fühlte den muskulösen, geschmeidigen Leib des Elfs, der sich seinerseits, und vorsätzlich lasziv, an ihn drängte. Sanft strichen seine Finger über Lucas Wirbel hinab zu seiner Taille, verharrten dort einige Zeit und spielten versonnen mit dem Saum seiner Hose. Behutsam lehnte Luca seine Stirn gegen die Aycoléns, hob die Lider und versank sofort in den großen, jadegrünen Katzenaugen.
„Ich liebe dich“, flüsterte der Magier zärtlich.
In den Augen des Elfs erwachte ein sehnsüchtiger und hoffnungsvoller Funke. Seine Lippen öffneten sich leicht und er schloss wortlos die Augen. Eine andere Einladung hätte es nicht mehr bedurft. Die Finger Lucas legten sich sanft unter Aycos Kinn, während er ihm mit der anderen Hand über die Wange strich. Sein Atem strich über die Haut des Elfs, der leicht erschauerte. Dann berührten seine Lippen die des jungen Mannes und streichelten sie behutsam.
Luca spürte Aycos Atem, der schneller wurde, sah die geschlossenen Lider des Elfs flackern und strich mit seiner Zungenspitze sanft über die weiche, rosige Haut, nahm den leichten Geschmack von süßem Tee und Honigbrot wahr, genauso das Aroma von salzigem Schweiß und dem Blut, nachdem Justin ihn geschlagen hatte. Er hatte völlig die Vorlieben des Elfs vergessen, gestand er sich ein. Süße Dinge waren seine Obsession, daran konnte sich Luca plötzlich wieder erinnern. In dem Moment berührte heißer Atem und die feine, feuchte Zungenspitze Aycoléns seine. Luca schob jeden weiteren Gedanken von sich und intensivierte den Kuss zu einem lasziven Spiel. Seine Hitze und Kunstfertigkeit darin erregte Aycolén, der im Gegensatz zu Luca scheinbar nicht annähernd so viele gute Liebhaber gehabt hatte. Luca sah und fühlte, dass sein Kuss allein ausreichte den Elf vor ungestillter Sehnsucht fast verbrennen zu lassen. Und es gefiel ihm, dass seine Fähigkeiten in dieser Hinsicht scheinbar auch ihn zu verzaubern vermochten. Er lockte den Elf bis an eine Grenze von der es fast schon kein Zurück mehr gab, reizte ihn absichtlich und spürte zum ersten Mal seit langem selbst den tiefen Wunsch dieses erotische Spiel bis zu Ende zu treiben.
Zusätzlich zu der Nähe und Hitze ihrer Körper, den intensiven Bewegungen, die sie durch ihre Kleider zu deutlich fühlen konnten, war auch das Wissen etwas Verbotenes zu tun, direkt in der Nähe des schlafenden Vampirs ein zusätzlicher Gedanke, der sie beide zu erregen vermochte.
Ohne ihre Lippen voneinander zu lösen, vollendeten sie ihren stummen, intensiven und leidenschaftlichen Tanz, ohne sich wirklich vereinigt zu haben.
Vollkommen außer Atem und verschwitzt, aber glücklich, löste Luca seine Lippen von denen Aycos. Der Elf rang selbst nach Luft, lachte aber glücklich und schmiegte erschöpft seinen Kopf an Lucas Schulter. Keiner von ihnen sprach. Sie genossen die Hitze, ihre glühenden Körper und das Feuer, was ihre Lippen noch brennen ließ, aber mehr als das ihre Liebe zueinander.
„Ich wusste nicht, dass Du dich so verbessert hast“, lächelte Ayco und zog sich eine saubere Hose an. Dennoch klang leise Eifersucht durch. Der Magier saß noch immer still im Wasser. Sein Blick strich über Aycos Körper. Luca genoss den Anblick des schönen Elf. Mit einiger Verzögerung nickte er leicht. „Ich hatte etliche guter Lehrmeister, Ayco. Aber ich habe keinen von ihnen geliebt.“ Luca betrachtete seine Knie, die er mit den Händen umschlungen hielt. „Wenn du es so willst, habe ich meinen Körper als Preis für ein recht angenehmes Leben verschenkt.“
Ayco trat zu ihm und kniete neben dem Becken der Badehöhle nieder. „Gibt es nun noch andere neben mir?“, fragte er leise, Angst schwang in seiner Stimme mit. Luca erwiderte den Blick des Elfs und schüttelte den Kopf. „Nein. Aber das konntest du dir denken, oder?“
Ayco schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich hatte schon Angst“, begann er. Als er Luca ansah, verfing sich sein Blick in dem des Magiers und er verstummte. Wortlos löste Luca seine Hand und strich mit seinen feuchten Fingern über Lippen und Wangen des Elfs. Er wusste, dass seine Gefühle sichtbarer denn je waren.
Der junge Mann starrte Luca lange an, bevor er den Blick senkte und lächelte. „Ich habe dreizehn Jahre nach dir gesucht, alles getan, um dich zu finden. Nichts kann mich jetzt von deiner Seite trennen. Du gehörst zu mir und ich zu dir.“
Er schmiegte seine Wange in die Hand Lucas. „Was du vorhin sagtest, dass du mich liebst, das war Belohnung und Glück für mich, dass all dieses Leid, was es einst gab und die Trennungen, das Siegel auf unserer Erinnerung und diese vielen Tausend Tode, die wir zusammen haben sterben müssen, nicht umsonst waren, Luca.“
Der Magier erhob sich aus dem Becken und setzte sich an den Rand. „Ayco, ich wollte alles aufgeben, um nach dir zu suchen. Etwas in mir hat dich wiedererkannt und mir gesagt, dass wir ein Paar sind und zusammengehören. Glaubst du ernsthaft, dass ich dich je wieder gehen lasse?“
Still fiel ihm der Elf um den Hals und schmiegte sich an Lucas nassen Leib.
„Aber was ist mit Justin? Das wollte ich dich vorhin schon fragen.“
Luca seufzte tief. „Er ist mein Mentor. Seine Liebe ist verheerend und seine Seele gespalten. Du kennst ihn sicher so wie alle ihn kennen und verehren. Der liebevolle, sanfte, schöne Mann, der Heiler, der Barde. Das ist eine Seelenhälfte, die, die mich aufnahm, beschützte, liebte, die mich mit Geduld und intensiver Freundschaft und Liebe zu seinem Gefährten machte. Aber die andere Seite von ihm ist gewalttätig und unberechenbar. Wenn seine Gefühle ungezügelt sind, überhand nehmen, oder er sich von mir verraten fühlt, übernimmt das Monster in ihm, der Vampir, die Oberhand und zwingt diesen lieben, sanften Freund zurück. Ich weiß, dass seine Seele darunter leidet. Er wird im Anschluss immer von Gewissensbissen geplagt. Aber er kann den Vampir in sich oft nicht zügeln. Und das schlimmste daran ist, er war vorher nicht so. S’ielle, seine Vertraute und Dienerin, diese schwarze Elfe in seinem Palast“, erklärte er Ayco. „erzählte mir einmal davon. Ich bin der Auslöser dafür. Das sagte sie nicht direkt, aber es ist ganz offensichtlich so. Er kann sich meiner nie sicher sein, weil ich nie aufgehört habe nach meinem mir vorbestimmten Partner zu suchen und das macht ihn rasend.“
Ayco hatte ihm zugehört ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Er hatte sich lediglich aufgesetzt und hing wie gebannt an den Lippen des Magiers. Die Worte minderten ganz offensichtlich nicht die Angst vor Justin, aber Verständnis glomm in seinen Augen. Vorsichtig strich ihm Luca über den Nacken, fischte aber mit der anderen Hand nach seinem Hemd.
„Mir wird langsam kalt“, sagte er leise.
Aycos Blicke hafteten an dem Körper Lucas, der sich den Seidenstoff über die noch immer feuchte Haut streifte. Nur zu gut wusste der Magier, welche Wirkung dieser Anblick auf Justin hatte. Mit Aycolén verhielt es sich nicht anders. Der junge Elf strich wortlos über Lucas Brust. Seine Haut schimmerte durch das Tuch, das sich an seinen Leib schmiegte und nichts zu verhüllen in der Lage war. Luca bemerkte mit einem Schmunzeln, wie schwer es Ayco fiel, ihm wieder in die Augen zu sehen.
Er streifte sich seine Hosen über und schnürte sie zusammen. Dann löste er sein Haar, das er in einen Zopf zusammengeflochten hatte.
Ayco seufzte leise. Sein Blick verschleierte sich leicht. „Die letzten Jahre hätte ich dich nur zu gerne beobachtet wie aus dem Jungen ein Mann wird. Nun bist du optisch der ältere, aber nichts desto trotz hast du immer einen noch viel stärkeren Zauber, den du auf mich ausübst.“
Wehmut und Trauer schwang in Aycos Stimme mit. Der Magier legte den Kopf schräg und lächelte sanft. Sein Haarmantel umschloss seine Gestalt warm und angenehm. Er reichte Ayco seine Hand und wartete bis der Elf sie ergriff.
„Du weißt noch alles“, flüsterte Luca. „Ich habe das Siegel nie brechen können. Aber meine Erinnerungen an Dich sind da, verschleiert, aber greifbar. Bitte, hilf mir mich wieder zu erinnern, Ayco.“
Der Elf verschränkte seine Finger in Lucas. „Das werde ich.“
Justin lag noch immer auf dem Lager und schlief. Er hatte von dem Intermezzo zwischen Aycolén und Luca nichts mitbekommen. Der Elf rollte sich von Ayco und Luca weg, als sie eintraten und murmelte etwas in seinen Träumen. Lautlos stellte Luca eine abgedeckte Schüssel neben ihm ab und einen Krug süßen Tees.
„Er kann richtig essen und trinken?“, fragte Ayco verwundert. Luca nickte leicht. „Ja. Blut nimmt er nur alle paar Monde zu sich. Zumeist natürlich mein Blut. Aber er ist kein Vampir im klassischen Sinne, da er nie gebissen wurde. Damals, als er noch ein sehr junger Priester war“, erzählte Luca leise „musste er in einer stürmischen Nacht in einem Landhaus nächtigen. Es lag in der Nähe von Maiden Haven. Irgendwo in dem kurzen Landstück zwischen der Küstenstadt und Valvermont. Das war noch weit bevor Valvermont zu einer Freistadt gemacht wurde, weit vor Prinz Mesalla, als das alles noch kaiserliches Protektorat war.“
Luca sah Ayco an, dass der Junge gerade versuchte eine grobe Zeitspanne einzuschätzen. Sein Blick umwölkte sich immer mehr, bis er nervös an der Unterlippe nagte und schließlich zu Luca blickte. Er sah dem Magier zu, wie er Tee in zwei Becher goss, nahm dann einen davon auf und erneut sah Luca, dass er sich etwas dahinter versteckte. Er nippte an dem kalten Tee und verzog angeekelt die Lippen.
„Das war vor siebenhundert Jahren“, erklärte Luca mit einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen.
Ayco stellte den Becher neben sich und zog sich eine Decke heran, die er sich um die Schultern schlang. Luca lächelte, löschte die meisten der Kerzen und Lampen, bis die allein in einer kleinen, warmen Enklave rotgoldenen, flackernden Lichtes zurück blieben und eine eigenartige, mystische Stimmung aufzog. Die Schatten an den Felswänden wurden für Luca zu dunklen Gewitterwolken, die sich zusammenzogen und über den Wäldern ballten. Er kannte die Geschichte um Justins Fluch sehr gut. Besser als jeder andere. Damals, als der Vampir ihm das Geheimnis seines Fluches erzählt hatte, glaubte Luca, schon dabei gewesen zu sein.
Er legte seinen Arm um Ayco und zog den Elf an sich. Ruhig schmiegte sich der junge Mann gegen Lucas Brust und flüsterte: „Erzähl weiter, bitte.“
Luca warf ihm einen langen, nachdenklichen Blick zu und begann seinen Nacken zu kraulen. „Die Familie Bertrand bewohnte das Anwesen damals. Eine ebenfalls verdammte Familie“, erklärte Luca leise. „Der alte Hausherr, Hugo Bertrand, hatte in dieser unseligen Nacht seine Familie um sich gesammelt. Jemand hatte ihm zugetragen dass seine beiden jüngsten Kinder einander liebten und seine Tochter von seinem Sohn ein Kind erwartete. Im Kreise seiner anderen Nachkommen und seiner jungen, frisch angetrauten Frau, wollte er beraten, was mit den beiden für ihn nun ausgestoßenen Kindern tun wolle. Es ging ihm wohl auch um ein recht großes Erbe, das Land, das Haus und den nicht ganz unbekannten Bertrand-Schatz. Leider kam an diesem Abend Justin dort an, bereits vom Gewitter überrascht und erschöpft von seiner Wanderschaft. Bertrand gab ihm Obdach. Unser hier schlafender Freund konnte nicht ahnen, zu was für einem schlechten Zeitpunkt er dort nächtigte. Er erfuhr erst von dem Streit, als Bertrands Frau zu ihm kam und ihn um das Leben ihres Mannes anflehte.“
Luca nahm nun ebenfalls einen Schluck Tee, legte die Stirn in falten und murmelte: „Hat Mano versehentlich seine Füße darin gewaschen?“
Ayco knuffte ihn ungeduldig in die Seite. „Erzähl’ weiter!“, forderte er ihn auf.
Luca nickte. „Justin sah sich den Mann an. Er fand leicht heraus, dass man versuchte ihn zu vergiften, konnte auch die Wirkung des Giftes verzögern, aber ein Heilmittel dagegen hatte er genauso wenig wie ein effektives Gegenmittel.“
Die Stimme des Magiers verlor sich, wie seine Gedanken, in der Erinnerung, die nicht seine war.
„Er begann auf eigene Faust nach einer Möglichkeit zu suchen, dem Mann zu helfen. Dabei geriet er immer tiefer in den Strudel der Ereignisse. Das junge Paar war seit jener Nacht auch verschwunden. Sie galten als flüchtig. Die restliche Familie beschloss sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen. Aber Justin wollte wissen, ob die beiden in ihrer Wut ihren Vater versucht hatten zu vergiften. Die vergeblichen Heilungsversuche und die Suche nach dem flüchtigen Paar, von dem er sich ein Gegengift, oder zumindest einen Hinweis auf die Art des Giftes erhoffte, hielten ihn weit über einen Zehntag dort. Er fand sich in seinem Bemühen aber allein. Immer wieder drängte ihn die junge Frau Bertrands nach einer Lösung und sein übrigen Kinder und Kindeskinder taten ihr Bestes, ebenfalls dafür zu sorgen, dass er in die Ecke gedrängt wurde. Mit einigen magischen Nachforschungen und der Verführung eines Dieners, der ihm schließlich half die beiden Flüchtigen zu finden, kam er einer ganz anderen Wahrheit auf die Spur. Das junge Paar war tot, die Leichen im nahen Moor ertränkt. Außer dem Mörder hatten die Tat wohl auch Bertrand und der Diener gesehen. Dem Personal Angst zu machen, war einfach, Der Mann schwieg, bis Justin es auf seine Weise aus ihm heraus brachte. Der alte Hausherr allerdings hätte geredet. um ihn Mundtot zu machen, vergiftete man ihn.“
Ayco schauderte. „Aber wie kam es zu dem Fluch?“
„Bertrands Frau“, erklärte Luca, „ wollte Justin dazu zwingen ihren Mann am Leben zu halten. Aber der alte Herr starb und ließ sie, die ihn wohl wirklich von Herzen geliebt hatte, jung und verzweifelt zurück. Sie nahm sich in der gleichen Nacht das Leben. Zuvor sprach sie den Fluch über Justin aus. Sie hatte alles verloren, was ihr als Sicher und glücklich vor kam. Für sie war Justin der Unglücksbote, an dem ihre Welt zerbrach, und der ihren Mann auf dem Gewissen hatte.“
„Aber er konnte nichts dafür?“, mutmaßte Aycolén leise.
„Richtig. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort“, schloss Luca seine Erzählung. Der junge Elf überlegte eine ganze Zeit und seine Blicke glitten immer wieder zu Justin hinüber in den Kreis an Dunkelheit. Er schien noch einmal die ganze Geschichte zu durchdenken. Luca ließ ihm die Zeit dazu. Während der Zeit beobachtete er Aycolén. Leise Erinnerungen daran, dass er den Elf als Kind bewundert, zu ihm aufgesehen und seine Fantasie verehrt hatte, erwachten. Nun hatten sich die Seiten verkehrt. Obgleich er wesentlich jünger war, hatte ihn das Alter doch im Vergleich zu Ayco eingeholt und er nahm nun die Position des ruhigeren, gesetzteren Mannes ein. Lucas Wesen war durch lernen und studieren geprägt worden, aber auch durch unzählige Auseinandersetzungen, aus denen er sich herausmanövrieren musste, ohne zu großen Schaden anzurichten, schon weil es oft seine Gefährten und Freunde waren, die ihm diese Probleme bereiteten. Er hatte nicht nur außergewöhnlich viel Magie in sich angesammelt, Wissen und Talente der unterschiedlichsten Arten, sondern auch eine sehr hohe Sensibilität dafür entwickelt wann der richtige Moment war zu reden und wie er die Worte wählen musste. Wenn er nun Aycolén dagegen betrachtete, der einfach in jeder Situation seiner Intuition folgte, ohne die möglichen Folgen abzuwägen, fast noch die gleiche Faszination für Gesichten aufbrachte wie ein Kind und dessen Gemüt leicht erregbar war wie das eines Jungen, so hatte sich der junge seine Natürlichkeit und Frische bewahrt. Luca kam sich gegenüber Ayco wie ein uralter Mann vor. Aber er wusste auch, dass alles andere nicht seinem Wesen entsprach. Er besaß nicht das Feuer und die Leidenschaft die Ayco in sich aufbrachte. Dazu war er zu überlegt und zu sehr im Storm seiner eigenen Kraft. Selbst Justin konnte ihn nur noch zwingen unüberlegt zu handeln, wenn er einem anderen als Luca Gewalt antat.
Justin, auch Luca versuchte mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Der Elf lag immer noch zusammengerollt auf seinem Strohlager. Der rotgoldene Haarmantel lockte sich über seinen Rücken in den Staub. So friedvoll wie dieses Bild und das Gefühl, dass er vermittelte nun war, fand Luca heiße, tiefe Liebe für ihn in sich. Er konnte nicht leugnen, dass er dem Mann nie etwas antun konnte. Dazu standen sie sich zu nah. Luca erinnerte sich daran, nun seit fast neunzehn Jahren sein Vertrauter und Freund zu sein. Diese Freundschaft, aber auch diese Hassliebe Justins, würden wohl nie enden.
Gegenüber dem Vampir erwartete ihn bei Aycolén ein anderes, freies Leben, vielleicht eines, was aller Logik trotzte, aber eines an der Seite des Mannes, den er von ganzem Herzen liebte, und nach dessen verspielter und verträumter Seele er sich sehnte. Es war ihm egal, dass Ayco ihn als seinen Besitz ansah. Er wusste nur zu gut, dass er niemals einen anderen Mann so lieben würde.
Sanft neigte sich Luca über Ayco und riss ihn aus seinen Gedanken. Er strich ihm zärtlich über die Wangen und spielte mit einer Haarsträhne, die über seiner Ohrspitze lag.
„Justin ist so anders gewesen“, murmelte er traurig.
Luca nickte sanft. „Er war ein guter Freund für dich, der dir im Labyrinth immer Unterschlupf gewährte, oder?“
Ayco richtete sich etwas auf und strich sich die langen silbernen Haarsträhnen aus den Augen. gähnend streckte er sich. „Seit ich nicht mehr im Orden bin habe ich ohnehin einiges falsch gemacht, Luca“, gestand er halblaut.
„Das war mir bewusst“, entgegnete Luca. Er versuchte seine Stimme klar ruhig und wertungsfrei zu halten. „Niemand, der ein ehrenwertes Mitglied der hart arbeitenden Gesellschaft Valvermonts ist,“, sein Hohn über der Ehrenwerten Gesellschaft verlieh er mit besonderer Betonung Ausdruck. Luca akzeptierte die Gesellschaft selbst nicht. „hat eine Daseinsberechtigung im Labyrinth, wo nur Aussätzige, Diebe, Mörder und anderes Pack herumlungert, und wird auch kaum auf solch halsbrecherische Abenteuer geschickt von Mesalla.“
Luca, dank seiner Herkunft und Justin selbst ein fester Teil des Labyrinthes, liebte die friedvolle Gesellschaft, die schon gezwungen durch die Außenwelt Hand in Hand arbeitete und ihre Kräfte und Talente zu einer perfekten Einheit miteinander verbanden. Luca hatte Justin nicht umsonst das Liebevolle, dunkle Herz des Labyrinthes genannt. Das, was Prinz Mesalla augenscheinlich draußen erzwungen hatte, funktionierte in den Ruinen der alten Kernstadt Valvermonts, die heute nur noch das Labyrinth genannt wurde.
„Was davon bist Du, Mörder, Dieb, Räuber, Krank?“ Lucas Stimme klang leise und sanft.
Ayco lächelte traurig. „Das, was ich einst bei deinem Großvater lernte, und was mir dein Vater zur Aufgabe machte“, entgegnete er leise. Luca konnte sich dank des Armbandes noch gut daran erinnern. Er hob sein Handgelenk in das Licht der Kerzen.
Ayco nickte. „Mein Gesellenstück trägst du noch. Das habe ich zuvor schon mitbekommen, Luca. Heute bin ich wesentlich besser. Ich könnte aus dir einen König machen, geschmückt wie die schönsten Elfenherrscher und niemand würde es merken, dass du keiner bist.“
Still nickte Luca. Er traute es Ayco wirklich zu. Mit dem Talent und der Fantasie, die dem jungen Mann zueigen waren sollte es leicht sein.
Der junge Mann warf seine silbrigen Haare zurück und lehnte sich an Lucas Schulter. „Ich bin ein Dieb und Fälscher“, sagte er. In seiner Stimme schwang Trauer mit. „Lea hatte es nie gebilligt und meine Eltern wohl auch kaum.“
Luca legte seine Wange gegen Aycos Kopf und umschlang ihn mit beiden Armen. „Vielleicht können wir eines Tages ruhig leben, Du als Goldschmied und Maler, das, was du schon immer wolltest, und ich als Barde, als Sänger und Tänzer.“
Ayco klammerte sich an Luca und nickte heftig. „Ja, das will ich!“
Dann aber hob er vorsichtig den Kopf und Luca löste seine Umarmung. Der Elf setzte sich über Lucas Oberschenkel, ergriff seine Schultern und sah ihn aus brennenden Augen an.
Fragend sah Luca zu ihm auf. Als er etwas sagen wollte, legte Ayco ihm die Finger über die Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Dieselbe furchtbare Angst die er schon während des Rates bei ihm gesehen hatte, grub sich nun wieder in die Züge des jungen Mannes. „Dieser Traum wird sich nie erfüllen, wenn Du Ihad hier her holen lässt!“
Ayco lag zusammengerollt in seinem Schoß, die Wangen gerötet von Tränen. Der junge Mann schlief, schreckte aber bei der geringsten Regung Lucas hoch und umklammerte ihn erneut, jedes Mal etwas fester, weil er fürchtete, den Magier zu verlieren.
Tambren, der den Unterhaltungen sehr genau gelauscht hatte, saß nun wieder neben Luca.
‚Ich wusste nicht dass ihr zusammen im Orden wart’, erklärte Tam. ‚Von Ihads Plänen dich betreffend weiß ich auch nichts Luca, glaubst du mir das?’
Der Magier betrachtete seinen Familiaris einen Herzschlag lang. In seinem Kopf pochte ein unsäglicher Schmerz. Er konnte seine Gedanken kaum ordnen. Natürlich glaubte er Tambren, aber er erinnerte sich nicht mehr an das, was im Orden passiert war. Viel zu lange lastete das Siegel aus der Zeit seiner Initiation auf ihm. Er konnte sich nicht mehr erinnern, dass sie damals gemeinsam in diesen Orden gebracht wurden oder Aycolén mehrfach mit seinen Aktionen gegen Cyprian einen Rauswurf provoziert hatte.
Er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass man ihn damals fast tot geschlagen und Ihad ihn einmal in einem Kampf um ein Haar umgebracht hatte. Der Ordensgroßmeister wollte die Jungen damals trennen, dazu war ihm jedes Mittel recht. Er musste wohl Aycolén mehrfach aus dem Orden geworfen haben. Aycolén, aller Magie, die er gelernt hatte, beraubt, starb damals fast, allein und wieder zurück auf den Straßen Valvermonts. Da war es Lea, das Geistermädchen, die ihm zur Seite Stand und sein Gedächtnis wurde, und Justin nahm sich seiner an und half dem jungen Elf.
Luca verstand, dass Aycos Angst vor Ihad grenzenlos war, aber den Grund dafür konnte er nicht nachvollziehen.
Tambren konnte ihm nicht helfen. Der Drachling war noch gar nicht lange genug an seiner Seite. Scheinbar tat das dem kleinen Kerl eher sogar sehr weh, dass er Luca nicht zur Seite stehen konnte. Auch konnte er selbst nicht an dem Siegel vorbei, dass Ihad damals über Luca ausgesprochen hatte. Die Magie war zu stark und zu alt.
Das selbe Siegel lastete auch noch auf Aycolén. Der Elf hatte es nicht überwinden können. Aber Lea hatte ihm alles wichtige erzählt und ihm geholfen, auch wenn es ihre Erinnerungen waren, ihm eine Grundlage für eine neue Vergangenheit zu geben. Insgeheim war Luca dem Geistermädchen sehr dankbar, aber andererseits konnte er keinen Kontakt zu ihr aufnehmen. Das beschämte ihn mehr als er wollte.
Allerdings nahm er sich nun auch vor mit Orpheu und Justin zu reden. sie mussten sich etwas anderes einfallen lassen, als gerade um Hilfe bei Ihad zu bitten. Selbst Cyprian wäre die definitiv falsche Wahl gewesen. In vielen Punkten gingen die beiden Ordensherren nicht überein, aber Luca war sich seines Einflusses und seiner sexuellen Wirkung auf den Eisdämon nicht sicher genug als das dieser gegenüber seinem feurigen Pendant schwieg und sich überzeugen ließ.
Davon abgesehen hatte Luca dieses Mal auch nicht vor Cyprian seine Gesellschaft und seine Dienste zur Verfügung zu stellen. Das war vorüber, schwor sich der Magier. Aycolén war sein Partner, hatte er ihn doch in den vergangenen Jahren viel zu oft betrogen.
Sein Schädel wollte unter allen Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen gegenüber Aycolén platzen. Die Schmerzen wurden so groß, dass er die Lider schloss. Wenig später fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er hatte noch das Gefühl, am Rande Justin mitzubekommen, der wie ein Geist aufgestanden war, nichts als eine silbrige Erscheinung, die zu ihm trat, sich über ihn neigte und sanft küsste, seine Stirn, seine Lippen, und ihm mit seinen feinen, langen Fangzähnen die Zunge aufriss. Während des Kusses trank er in gierigen Zügen von Luca. Noch während der Magier schwach versuchte abzuwehren, versank der Traum endgültig in Dunkelheit und einer Bewusstlosigkeit gleich schlugen die Wellen absoluter Finsternis über ihm zusammen und ließen ihn in tiefen, erschöpften Schlaf fallen.
Ein schaler Geschmack nach Salz und Metall hatte sich in seinem Mund ausgebreitet und seine Zunge fühlte sich an wie eine geschwollene Qualle, die vollkommen gefühlstaub war.
Er konnte kaum schlucken. Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er, dass der Traum von Justins Abschiedskuss Wirklichkeit gewesen war. ‚Verdammter Vampir’, dachte er, nahm den Kuss aber im ersten Moment hin.
Die Erinnerung und die Erkenntnis deckten sich nach dieser unbequemen Nacht, in sitzender Haltung an einer Steinwand mit nun eingeschlafenen Beinen und einem schmerzenden Nacken aber umso tauberen Rücken noch nicht wirklich. Ganz langsam sickerte in sein Bewusstsein, dass Justin irgendwann im Verlauf der Nacht gegangen war, aber er brauchte sehr lange um zu begreifen, dass er noch gar nicht seinen letzten Auftrag an ihn negiert hatte. Entsetzt fuhr er auf und sah sich in der Kammer um. Auch Ayco zuckte zusammen und richtete sich wesentlich weniger hektisch in eine sitzende Position auf. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und streckte sich. Die Kerzen waren alle niedergebrannt und das einzige Licht, was sie noch hatten, war eine einzelne Öllampe, die allerdings auch schon den eigentlichen Seildocht entflammte.
„Was ist denn los?“, fragte der junge Mann leise.
Luca sah sich im Raum um und blickte dann zu dem Elf herab. „Justin“, brachte er schwerfällig über die Lippen. Oh ja, der verfluchte Vampir hatte ihn gebissen und einiges an Blut geraubt. Er spürte die Verletzungen an seiner Zunge leicht als unangenehmes Stechen. Im Moment konnte er kaum reden. Viel eher hörte er sich an, als betäube Alkohol ihn und mache seine Aussprache undeutlich.
Luca nahm den Teekrug und füllte sich den Becher, zögerte aber bevor er ihn an die Lippen setzte. Er reichte ihn an Ayco weiter, der ihn immer noch leicht verständnislos betrachtete und mit dem Schlaf kämpfte. Etwas zeitversetzt schüttelte der Junge den Kopf. Wortlos stürzte Luca den Becher herab. Augenblicklich wurde es ihm schwindelig und schlecht. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Im Moment half ihm alle Askese wenig. Seinen Körper konnte er nicht kontrollieren. Aber noch während er um seine Fassung kämpfte und den furchtbaren Blutgeschmack versuchte mit dem nicht weniger widerwärtigen Kräutertee zu vertreiben, Schwoll durch die Kühle seine Zunge leicht ab.
„Justin ist weg!“, stieß er immer noch undeutlich hervor, griff sich an die Kehle und verfluchte zum dritten Mal den rothaarigen Elf.
„Darum bin ich nicht böse“, knurrte Ayco und stand ebenfalls auf.
„Solltest du aber“, merkte die leise Stimme Tammys an, der gerade ebenfalls aufstand und seine Glieder streckte. Alle Schuppen knisterten und klapperten leise aufeinander. Der Drachling gähnte herzhaft und entfaltete seine kleinen ledrigen Schwingen vollständig. Bei ihm knackten die Gelenke seiner Flügel leise.
„Was meinst du damit?“, fragte Ayco verständnislos.
„Ich wollte...“, begann Luca, brach aber ab und schluckte hart. „Ich wollte mit ihm und Orpheu reden, eine andere Lösung, als die Hilfe des Ordens in Anspruch zu nehmen, zu finden.“
Seine Stimme gehorchte ihm gar nicht.
Ayco aber verstand. Nachdenklich betrachtete er das leere Lager Justins. „Und er ist schon auf dem Weg in den Orden?“, fragte er vorsichtshalber nach.
Luca nickte.
Die Augen des Elfs weiteten sich. „Ihad“, keuchte er. „Dann ist der Großmeister schon auf dem Weg hier her?!“ seine Stimme überschlug sich vor Angst.
Luca nickte mit Nachdruck. „Geh, geh mit den anderen nach Night’s End. Bitte“, flehte er verzweifelt.
Lucas Angst stand Aycos in keiner nach. Aber seine Sorge war eher die Sicherheit des Elfs. Wenn Ihad dem Jungen damals all das angetan hatte, würde er ihn - ohne mit der Wimper zu zucken – töten.
Im Moment verfluchte er sich diese Anweisung gegeben zu haben. „Komm, wir gehen zu Orpheu und Thorn.“
Er hatte die Schultern des Elfs ergriffen und sah ihm in die Augen. „Bitte...“
Ayco schüttelte stur den Kopf. „Nein“, bekräftigte er. „Ich bleibe.“
Luca senkte die Lider. Er musste Aycos Entscheidung akzeptieren. Es würde sicher kein Zurück mehr geben. Aber einen Ausweg fand der Magier immer. Wortlos schloss der Magier den jungen Mann in seine Arme und hielt ihn fest.
Ayco erwiderte die Umarmung und vergrub sein Gesicht an der Schulter seines Gefährten.
„Was ist eigentlich mit deiner Stimme?“, fragte er leise.
„Justin hat mich gebissen und von mir getrunken“, entgegnete Luca. „Ich dachte es wäre nur ein Traum gewesen, aber das war ein Irrtum. Sein Abschiedskuss war sehr viel intensiver als ich es erwartet hätte.“
„Das war er wohl“, flüsterte Ayco. In seiner Stimme schwang Bitternis mit. „Ich glaube, ich muss Dich von allen Männern fern halten, oder?“, fragte er leise. „Zwei sind sicher meine ewigen Gegner um Dich.“
Luca konnte nichts erwidern. Er wusste, dass Ayco Recht hatte. Cyprian, Kyle und Justin hatten nie aufgehört ihn zu umwerben und notfalls mit Gewalt ihren Besitzanspruch festzusetzen. Bis vor kurzem hatte Luca jeder Antrieb gefehlt das zu unterbinden. Ihm war es immer egal gewesen, mit wem er die Nächte teilte. Allein lag er sehr selten auf einem Lager. Dass drei seiner Liebhaber ihn wirklich liebten, konnte er kaum unterbinden. Aber er wollte jetzt, wo sein Leben endlich seinen Fokus gefunden hatte, nur noch für Aycolén da sein und alles mit ihm erleben und entdecken.
Der Magier drückte den Elf enger an sich.
Die Öllampe flackerte, erlosch dann und tauchte den Raum in Dunkelheit. Lediglich unter den Vorhängen konnte Luca noch leichten roten Fackelschein entdecken.
Der ausgetrocknete Docht glühte noch eine Weile orangerot nach, bevor nur noch ein feiner Rauchfaden davon zeugte.
In der Sekunde brannte sich umso heller und stärker die gewaltige Aura des Ordensgroßmeisters in Lucas Bewusstsein. Er spürte die Erschütterung und das Erwachen seiner Magie. Ihads Erscheinen kündigte sich so allumfassend an, dass selbst der Elf in Lucas Armen zusammenfuhr als habe er einen weiteren personifizierten Gott vor sich gesehen.
Luca senkte den Kopf, umklammerte Ayco noch enger und wartete still ab. Der Woge glühender Magie konnte er ohnehin nicht entgehen. Sein Schädel dröhnte unter dem Ansturm. Weit bevor der Dämonenfürst sich materialisierte, erfüllte seine Persönlichkeit den gesamten Raum und brachte ihn zu bersten. Luca wappnete sich innerlich auf einen Kampf gegen Ihad und seine Niederlage. Aber er hatte nun nichts mehr zu verlieren außer noch einmal eine Ewigkeit ohne seinen Gefährten. Nichts würde ihn nun noch davon abhalten sich gegen Ihad aufzulehnen, wenn er Ayco auch nur anrührte.
Tambren kletterte behände an Lucas Hosenbein hinauf, hangelte sich an seinem Hemdsärmel auf den Arm und schließlich auf die Schulter seines Meisters.
Einen Lidschlag später begann die Luft vor Hitze zu wabern und entflammte sich.
Luca hasste diese theatralischen Auftritte Ihads. Er sah keinen Nutzen darin und der Großmeister musste ihm nicht demonstrieren, wie gewaltig seine Macht war.
In einer Feuerlohe, die langsam nieder sank und die winzigen Staubflocken auf dem Boden und in den Wänden entzündete, stand der gehörnte Dämon. Seine roten Haare fielen glatt und offen über die Schultern und seine nackte Brust, umrahmten dabei ein stolzes, brutales und schönes Gesicht. Der Breite, volle Mund hatte sich zu einem schmalen Strich zusammengepresst und die rotgoldenen Augen ruhten in perfekter Überheblichkeit und tiefem Hass auf dem Paar. Seine nackten, muskulösen Arme verschränkten sich vor der breiten Brust. Er trug lediglich einen bodenlangen Rock aus goldenem Brokat. So, wie er da stand fühlte sich Luca verschüchtert wie ein kleines Kind, das zu einem König aufschauen musste. Dabei war er schon lange nicht mehr der kleine Junge von damals, sondern selbst ein Meister der Magie und er konnte sehr wohl auf einer Höhe Ihads Blick erwidern.
In seinen Armen bebte Ayco. Scheinbar hatte der Elf vergessen, welche Macht Ihad umgab.
Doch auch er drehte sich langsam um und trotze seiner Angst.
‚So betrügst du mich um meine Güte dir gegenüber, Lysander?!’ Ihad vermied es Worte zu benutzen. Seine Stimme traf auf geistiger Ebene viel eher sein Ziel.
Dennoch hatte Luca das Gefühl unter der Aura zusammenbrechen zu müssen. ‚Ich habe dich mehr als alle anderen Schüler geliebt und gefördert, dir alle Gunst erwiesen, der ich fähig war, und du vergisst deine Pflicht mir und deiner Zauberkunst gegenüber und betrügst mich mit dem, der dir den größten Schaden zugefügt hat?!’
Ihad liebte die Theatralik wirklich, mit der er auftrat, stellte Luca nüchtern fest. Die Angst in ihm sank. Aber er kannte die wirkliche, perfide Macht seines Herren. Vorsichtig senkte er den Blick und nahm Ayco fester in den Arm.
„Herr, ich diene dir mit Leib und Seele“, begann er. Glücklicherweise konnte er seine Zunge fast wieder vollständig kontrollieren. „und ich würde mein Leben für dich verpfänden, weil ich weiß, was ich dir schuldig bin...“
‚Lüge nicht, Lysander!’ donnerte Ihad, außer sich vor Zorn. ‚Ich weiß, dass du den Orden verraten und alles hinter dir lassen willst. Aber dein Leben gehört mir!’
Luca senkte die Lider. In ihm kochte die Wut heller als noch an dem Tag zuvor gegenüber Justin.
„Mein Leben gehört nur einem!“, stieß er stolz hervor und suchte dabei den Blick Ihads. „MIR!“
In den ebenmäßigen Zügen des Dämons flackerte kurzer Schrecken auf, dann entflammte sich sein Gemüt endgültig.
‚Bist du des Wahnsinns, Lysander?! Du wagst es so mit mir zu reden?!’
Lucas Augen begannen zu brennen und tränten langsam von dem immer heller werdenden Glühen in den Augen des Dämonen.
Luca kannte diesen Anblick zu gut. Er spürte die rachsüchtige Hitze Ihads in sich, die kurzzeitig bereit war seinen jüngsten Spross von innen heraus auszubrennen und ihn aller Magie zu berauben.
„Ich warte darauf, Herr“, sagte Luca ergeben. „Bitte, bitte erlöse mich von dem Fluch dieses Ordens. Brenne alle Macht aus mir heraus. Aber nimm mir nicht noch einmal Aycolén.“
Der Dämon betrachtete Luca einige Zeit stumm. Seine Wut hatte noch immer nicht ihren höchsten Punkt erreicht, aber Luca spürte auch, dass Ihad dabei war sich eine neue Teufelei auszudenken.
Nun löste sich Aycolén endgültig aus seiner Starre. Scheinbar ging der Elf davon aus, dass Ihad zu seinem finalen Stoß ausholte. Mit ausgebreiteten Armen stellte er sich vor Luca. Die Geste war so rührend wie sinnlos. Wenn Ihad wirklich etwas tun wollte, würde weder die Tatsache, dass vor Luca eine andere Person stand dieses Schicksal abwenden, noch ihn der Anblick auch im Geringsten in seiner alten, boshaften Seele anrühren.
Sanft strich Luca die Arme des jungen Mannes herab und umschlang ihn in einer einzigen warmen Geste, die all seine Liebe und Dankbarkeit ausdrückte.
‚Ich hörte, dass es dich immer noch gibt’, hallte die Stimme Ihads in ihrem Geist nach. Er richtete seine Worte dieses Mal einzig an Aycolén. ‚Du hast es wieder geschafft ihn an dich zu reißen! Darin ist deine Macht über ihn unbestreitbar da. Immer wieder entringst du ihm mir. Aber er gehört mir...’
„Du wirst ihn so wenig bekommen wie Justin!“ unterbrach Ayco ihn zornig. Luca spürte, wie die Angst des Jungen von derselben flammenden Feuerlohe verbrannt wurde, die auch Ihad zu eigen war. Wie ähnlich sich die beiden waren, fiel Luca erst jetzt auf.
Ihads Augen glühten nun in einem irren Weißgold, das die rote Hitze verbarg.
„Schweig!“ brüllte er nun weithin hörbar. Seine Stimme war ein gewaltiger Feuersturm, der den ganzen Höhlenkomplex zum Beben brachte und sie klang als würden Flammen Holz in Sekundenbruchteilen verzehren. Nun zwang sich Lucas Angst wie eine Stahlklammer um sein Herz. Jetzt war Ihad gefährlich. Aber es war die letzte Möglichkeit Ihad seine Bedingungen aufzuzwingen.
„Wenn du ihm etwas zuleide tust, oder uns wieder trennst, werde ich dir nie wieder dienen und ebenso wenig deinen Zwecken entsprechen, dem Schicksal, dass du für mich vorgesehen hast!“ Lucas Stimme klang gefasst und ruhig. Nur Ayco, dessen Leib er eng an sich gezwungen hielt, konnte vermutlich sein Zittern und den rasenden Schlag seines Herzens wahrnehmen, und Tambren die wahnsinnige Angst teilen, die ihn nun beflügelte. Luca wusste, dass er Ihad nur beeindrucken konnte, wenn er alle Angst zurückzwang und sich ihm stellte.
„Du drohst mir?!“ Die Flammenlohe um Ihad gewann an Substanz. Hitze erfüllte den Raum und nahm Tam, Ayco und Luca den Atem. Der Magier hatte das Gefühl, dass die Luft zu flüssiger Lava gerann, die sich schwerfällig durch seinen Hals und seine Lungen zwang.
Einen Zauber anzuwenden, um sie alle zu schützen, hätte schwäche bedeutet. Luca musste das Risiko gegenüber Ihad eingehen, sogar dass sie erstickten.
Um Kraft zu sparen, senkte er seine Stimme, keuchte aber schon sehr. Seine Lider senkten sich und aller Zorn, aber auch aller Hochmut gegenüber dem Großmeister brach sich in seinen Worten ihren Weg. „So groß ist deine Macht nicht mich aus dem Reich der Toten zurückzuzwingen! Du willst mich? Dann gehe auf meine Bedingungen ein!“
Ihad brüllte vor Wut auf. Die Wände, der Stein, reflektierten die Hitze. Als er sein gehörntes Haupt wieder senkte, glomm Schwärze in dem weißen Glühen. „Was willst du?!“
Luca verschränkte seine Finger in die Aycos. „Trenne uns nie wieder voneinander, Ihad. Und gib mich irgendwann frei.“
Der Elf lächelte und drückte Lucas Hand fest. „Im Leben und im Tot wollen wir vereint sein.“, schloss Aycolén Lucas Worte.
Ihad fixierte die beiden Männer. Dann senkte er die Lider. „Habt ihr euch das gut überlegt?“ In seinen Worten schwang eine Mischung aus Hohn und Niedertracht mit, allerdings auch ein Hauch von Wissen über etwas, dass Luca verborgen blieb.
Der Magier hatte das grausame Gefühl einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben.
Aber das eifrige Nicken Aycoléns besiegelte die Worte beider.
In den Augen Ihads flackerte roter Schein auf. „So sei es. Aber du weißt, dass ich, um ihm zu gestatten an deiner Seite zu bleiben, wieder in dem Orden aufnehmen muss, Lysander...“
Mit furchtbarer Gewalt fiel Luca nun auf was sein Denkfehler gewesen war. Selbst wenn er aus dem Orden austreten wollte, konnte er es nicht, weil Aycolén noch dort war und Ihad ihm nicht versprochen hatte, ihn gehen zu lassen.
Die Genugtuung über Lucas Erkenntnis und das Entsetzen darüber, genoss Ihad in vollen Zügen. Luca mochte einen kleinen Sieg errungen haben, aber der Großmeister hatte den Krieg gewonnen.
Der Dämon wendete sich halb von den beiden Männern ab. „Du wirst immer mir gehören, Lysander“, sagte er leise.
Der Magier schloss die Augen und nickte. „Vielleicht“, entgegnete er. In seiner Stimme war weder Freude noch Hoffnung. Aber seinen Stolz ließ er sich nicht brechen. Ihad würde ihn nie unter seine Kontrolle zwingen.
„Im übrigen, mein lieber Aycolén“, wendete der Dämon nun seine Aufmerksamkeit zu dem Elf, der bis eben verständnislos zu Luca gesehen hatte. „Florean war Dein Ordensname. Wenn du mein gelehriger Schüler sein willst, wirst du ihn nutzen!“
Der Elf schluckte hart. Luca vermutete, dass er sich gerade einen ziemlich geharnischten Gegenkommentar verbeißen musste.
„Nun wirst du deine erste Lehrstunde in Magie erhalten.“
Er machte eine geringe Bewegung mit der Hand und entflammte den Vorhang, der die Hohle vom Flur abgrenzte. „Lysander, pack deine Sachen und habe wenigstens den Anstand das Kleid unseres Ordens zu tragen!“
Der Magier presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste.
‚Tu, was er sagt’, beschwor Tambren ihn.
„Hör’ auf den Rat deines Vertrauten, bevor ich auf die Idee kommen könnte, alle Kleider an deinem Leib zu verbrennen und dich zu zwingen den Mantel zu tragen“, spottete Ihad.
Luca hob den Blick und lächelte böse. „Normal macht es mir nichts aus, mit allem Stolz dein Kleid zu tragen, Herr, aber die Kriege haben es schäbig werden lassen.“
Er unterstrich seine Worte mit einer eleganten Geste, mit der er das graue Rohseidengewand hervor holte, dessen beste Tage wirklich schon lang vorüber waren.
„Du willst doch nicht, dass ich deiner Macht darin huldige?“
Ihad nickte barsch. „Du junger Narr hättest die ganze Zeit neue Kleider haben können. Ich liebe es dich darin zu sehen. Bei deiner Initiation warst du der, der mir am meisten Ehre darin gemacht hatte und dabei am stolzesten einher schritt, Lysander.“
Luca erinnerte sich zu genau daran. Und damals erfüllte es ihn mit großem Stolz als gerade fünfzehn Jahre alter Knabe zwischen lauter Männern zu stehen, die zwischen vierzig und achtzig Jahren alt waren. Es war der hochmütigste aber auch schönste Moment in seinem Dasein als Ordensmitglied, der Triumph besser als alle anderen zu sein, jünger noch als alle anderen und die tiefe Zuneigung seiner Meister auf sich ruhen zu fühlen.
„Ich habe deinen Mantel immer mit Stolz getragen, Ihad“, gestand er leise. „Du hast es mich gelehrt.“
„Dann trage ihn mit der gleichen Würde, mit der du ihn auch damals getragen hast.“ In Ihads Stimme schwang eine seltsame Milde mit, die Luca schon lange nicht mehr vernommen hatte. Im Moment fühlte er sich wirklich wieder wie ein Kind.
Er sah zu Aycolén, der in seiner Nähe stand und wieder die Rolle des stillen Beobachters übernommen zu haben schien. In seinem Blick lag leise Missbilligung. Luca tat es nur zu leid, dass er im Moment schwach war und sich nicht auf offene Gegenwehr einließ. Es war eine Niederlage, die Ihad ihm aufzwang. Der junge Mann schloss die Augen und streifte das alte Gewand über Hemd und Hose.
Ihad lachte wohlwollend, las der leichte Stoff sich um Lucas Gestalt legte. Plötzlich veränderte sich die Robe auf seinem Körper. Das Hemd verschwand darunter und der schwere Stoff von brokatenem Samt legte sich über seinen nackten Oberkörper. Fragend sah Luca an sich herab. Er trug das Gewand eines Meisters, nicht mehr die einfache Kleidung der Wanderer. Es war prachtvoll im Schnitt und in der Wahl der Tuche, so edel wie die Kleidung Cyprians und Ihads selbst.
Der junge Mann sah seinen Herren still an.
Dieses Mal fühlte sich Ihad offensichtlich genötigt sich zu erklären.
„Das ist deinen Ordenswürden angemessen, Lysander“, sagte er leise. In seinen goldenen Augen schimmerte wieder sanfter Stolz auf Luca. Tam betrachtete ihn neugierig und nickte zufrieden. Allerdings Aycos Blicken wich Luca aus. Wortlos sammelte er seine Sachen zusammen und legte sie in seiner Tasche zusammen.
Ihad machte eine ungeduldige Handbewegung. „Kommt!“, befahl er.
Luca sah nun doch zu Ayco, der ihn immer noch still musterte. Aus den Augen des Elfs konnte er keinen Gedanken heraus lesen. Still nahm er seine Sachen auf und ließ Tam seinen Platz auf seiner Schulter einnehmen.
Der Drache hatte seinen Schwanz um Lucas Nacken geschlungen und spielte unablässig mit einer Haarsträhne Lucas, die er mit seiner eigenen Schwanzquaste verflocht.
In seiner Anspannung schnatterte er leise, klapperte mit seinen Zähnchen und versuchte krampfhaft seine Gedanken hinter einer Barriere zu verbergen.
Luca konnte dennoch, zumindest auf Ebene seiner Gefühle mit seinem Freund kommunizieren. Der Drachling vermittelte nicht nur Nervosität, sondern auch Sorge. Beide stimmten darin überein, dass Ihad etwas plante.
Dennoch blieb Ayco, Tam und Luca keine andere Wahl, als Ihad zu folgen.
Eigentlich hatte Luca damit gerechnet, dass der Kessel ein Ort wilder Betriebsamkeit sein würde, aber er sah weder einen von Orpheus Männern, noch einen der Verletzten, auch wenn er fast sicher war, dass Justin mit der Woge gewaltiger Lebensenergie nahezu allen Kranken und Verwundeten ihre Gesundheit wieder gegeben hatte. Eine einzige Person erwartete sie hier. Luca kannte auch ihn nur zu gut.
Er hatte sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Seine Gestalt glich in keiner Weise der massigen, muskulösen Ihads. Cyprian war kleiner als der Feuerdämon, schlank, so sehnig wie Aycolén, und genauso schön wie der Elf. Sein silbrig weißes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden und seine gehörnte, hohe Stirn gaben ihm den Anschein einer völlig anderen Natur als der Ihads. Eisblaue Augen fingen jede Bewegung Lucas ein, ersehnten ihn zu sich. Sein erwartungsvolles Lächeln zauberte eine Güte in seine edlen Züge, die ihm eigentlich gar nicht zu Eigen war.
Dass Aycolén bei ihnen war, schein ihn nicht im Mindesten zu schockieren. Luca ahnte auch warum. Justin hatte seinen beiden alten Erzfeinden alles erzählt, auch die Wiedervereinigung von Ayco und Luca, die alte Liebe, die wieder aufgeflammt war. Der Elf musste in der vergangenen Nacht alles nur zu genau mit angehört und gesehen haben, sogar dass sich das Paar geküsst und geliebt hatte.
In Luca erwachte wieder einiges an Zorn auf Justin. Er hatte sie beide nur zu bereitwillig wegen seines gekränkten Stolzes ausgeliefert. Die einzige kranke Genugtuung, die Luca darin fand war die endgültige Trennung von dem Vampir. Nachdem Ihad sich seiner Dienste auf ewig versichert hatte - und für einen Seraphin bedeutete sie Ewigkeit wahrhaftige Unsterblichkeit – würden Justins Chancen, je wieder Lucas Weg zu kreuzen sehr gering sein.
Doch die anfängliche Wut würde, wie immer, abebben und Trauer und Verlust zurück lassen. Dieses Wissen begleitete Luca bei jedem Schritt weiter in den Kessel hinein.
Stumm schritt Ayco neben ihm her, ergriff aber plötzlich Lucas Hand und drückte sie fest. Der Magier betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Die grimmige Entschlossenheit sich auch gegenüber Cyprian durchsetzen zu wollen, ließ Luca leise schaudern. Seine Angst galt Ayco. Der junge Elf begab sich in sehr große Gefahr.
Noch bevor sie das Zentrum des Kessels erreicht hatten, sah Ihad zu ihnen und lächelte böse. „Nun, Florean, jetzt wirst Du lernen was es heißt die Macht dieses Ordens in sich zu tragen.“
Unsicher warf Ayco Luca einen Blick zu. Der Magier glaubte die Worte Ihads verstanden zu haben. Er Würde seine Macht demonstrieren, an was aber wusste er nicht.
Ihad machte eine ausladende Geste.
„All eure Gefährten sind in Sicherheit. Nun werden wir ein Exempel statuieren, das – gleichgültig, auf wessen Kosten das hier ging – in die Geschichte der Magie eingehen wird!“
Seine gewaltige Stimme, die sich zu einem lauten Brüllen gesteigert hatte, hallte in dem zylindrischen Kessel von den Wänden wieder. Unheimlich verzerrt kam es vielfach gebrochen zurück.
Ihad blieb stehen, vielleicht zehn Meter von seinem Stellvertreter entfernt. Er drehte sich einmal im Kreis. „Das alles hier wird Geschichte sein, Lysander. Geschichte deiner Feigheit zu tun, was deine Aufgabe gewesen wäre.“
Luca starrte ihn aus brennenden Augen an. Der Griff Aycos wurde fester. Dann schrak der junge Mann zusammen. Als Luca zu ihm sah, bedeutete ihm der Elf sich umzuschauen. Mit sehr schlechten Gefühlen folgte Luca dieser Aufforderung. In dem Moment zogen sich alle Eingeweide zusammen. Sein Herz hörte für den Bruchteil einer Sekunde auf zu schlagen und hämmerte dann umso heftiger weiter. Es war nur noch ein steinerner Klumpen in seiner Brust, der Tonnen wog.
Überall hörte und sah er die Materialisation von Ordensmagiern. Es waren so viele, dass er sie gar nicht erst zählen wollte. Vermutlich mehr als hundertfünfzig Männer. Aber das allein machte ihm weniger Angst. Sei waren nicht allein. Die einstmaligen Wachen und Folterknechte lagen, taumelten oder Standen in Ketten und magischen Fesseln an zwischen ihnen. Einige der Männer waren gar nicht mehr bei sich, vermutlich auch nicht mehr am Leben, andere wimmerten und flehten um ihr Leben, oder krochen an den Magier hoch, um sie umzustimmen.
Luca überschlug grob die Anzahl der Personen hier und rechnete die mit ein, die sicher noch hier in den Höhlensystemen verborgen waren. Seiner Schätzung nach wären das mehr als eintausend Männer, die Ihad hier umbringen wollte.
Ayco deutete mit aschfahlem Gesicht zu einer kleinen Gruppe Männer, die reglos da standen, mit steinernen Mienen und stolz erhobenen Häuptern. Unter ihnen war Henrik.
„Das Heer, Aki, sie haben nicht einen der Gefangenen bei sich!“, rief der Elf entsetzt. „Sie sind alle noch hier!“
Er versuchte sich nun aus Lucas Griff zu befreien. Aber der Magier hielt ihn eisern fest. „Bleib!“, befahl er. Alles Gefühl war aus ihm gewichen. Er konnte nicht verantworten, dass Ayco diesem Inferno zum Opfer fiel.
Der junge Mann zuckte zusammen und starrte Luca an. Die Kälte des Magiers erschreckte ihn offenbar.
Luca wendete sich zu Ihad um, der die Mimik der beiden Männer voller Gier in sich aufsog.
„Das kannst du nicht machen!“, schrie Luca seinen Herren an. „Sie sind vielleicht Mörder, aber es ist nicht Dein Recht sie abzuurteilen sondern einzig das des Kaisers! Ihnen steht unser Schutz zu, Ihad!“
„Nein“, entgegnete der Dämon schlicht.
Cyprian ergriff nun das Wort. „Da du unfähig bist deiner Aufgabe nachzukommen, Lysander, wird der Orden das für dich erledigen!“
Er warf Luca einen beschwörenden Blick zu. Zugleich vernahm der Magier die Stimme seines Mentors. ‚Ich kann sie nicht beschützen, Luca. Wenn ich mich zu offensichtlich gegen meinen Bruder stelle, wird dich niemand mehr in diesem Orden schützen können. Einigen kannst du helfen. Ich werde Ihads Aufmerksamkeit auf anderes zwingen. Die Art der Hilfe ist deine Aufgabe.’
Luca schloss die Lider und konzentrierte sich auf die stille Magie in sich, die langsam, flackernd erwachte.
Ihad hob seine Hände.
Unheimliche Stille senkte sich über den Kessel und niemand wagte auch nur zu laut zu atmen.
Entsetzt verkroch sich Tam unter den Stoff von Lucas Mantel.
‚Das wird entsetzlich, Luca, beschütze sie!’, flehte der Drachling. ‚So viele sterbende Seelen ertrage ich nicht!’
Der Magier zog wortlos Ayco an sich umklammerte ihn, suchte seinen Blick und bannte ich. „Ayco, vertraust du mir?“, wisperte er.
Der Elf fragte nicht nach sondern nickte leicht. Er umschlang seinerseits Luca fest und klammerte sich an ihn.
Sein Leib bebte vor Angst und Entsetzen. Dann schloss er die Augen und verbarg seinen Kopf in Lucas Halsbeuge.
„Ich verurteile euch im Namen der Gerechtigkeit zum Tode!“, donnerte die Stimme Ihads.
Seine Gestalt wurde von Flammen umzüngelt und die Goldaugen waren reine Weißglut. Luca sah ihm an, dass er es liebte zu vernichten. Dieser Ort hier würde vernichtet werden.
Er konnte nur hoffen, dass seine Kräfte sich entfalteten ohne Schaden anzurichten. Er spürte die gleißende Woge Lichtes, die sich tief in ihm sammelte und immer heller zu brennen begann. Seine Energie, sein Bewusstsein, sein Wesen, betteten sich in diesen einen einzigen Zauber, den er nutzen konnte.
Aber es war noch etwas anderes, seiner eigenen, natürlichen Magie gleich und doch fremd, etwas, dass sich mit ihm verband. Es wuchs mit ihm und verwob sich flammend und wütend in seine Energie. Luca konnte es nicht steuern, wollte es auch nicht mehr. Er ließ es zu, gab sich der Kraft Aycos hin, die sich gleichsam seines Zaubers entfesseln wollte. Stumm umklammerte er den Elf und fokussierte die Kraft in sich. verstärkt, betete sie schnell genug zu sammeln. Plötzlich brach sich ein greller Schmerz seinen Weg. Die gesamte Magie in ihm zeriss seinen menschlichen Körper in glühende Stücke.
Dann ging die Welt um ihn herum in einem Meer aus Flammen, Explosionen, Zaubern und Schmerzensschreien unter.
Ende des ersten Teils
Night's End
Der Duft von Blumen und frischem Brot wehte um ihn und lockte ihn aus seiner Ohnmacht, seinem Schlaf, seine Tot? Luca wusste es nicht. Aber Sonne wärmte seine Haut und langsam vernahm er auch die Laute seiner Umwelt wieder. Ein Hund bellte. Das Echo wurde von den Hauswänden zurückgeworfen, er hörte Geräusche aus einer Waschküche, das Kratzen einer Wurzelbürste auf Stoff und dem Metall eines Waschbrettes. Kinder lachten entfernt und der Wind verfing sich in den Wipfeln der Bäume. Luca seufzte leise und hob die Lider. Noch bevor er etwas wahrnehmen konnte, stürzte sich Tam auf sein Gesicht und nahm ihm kurz die Luft zu atmen. Der Drachling schleckte Lucas gesamtes Gesicht ab und wuschelte glücklich durch seine Haare.
Luca bekam den wuselnden Körper gar nicht schnell genug zu fassen, um ihn endlich von seinem Kopf herunterzuheben. Dazu waren seine Bewegungen immer noch zu schwerfällig und zu schlaftrunken.
Irgendein mitleidiges Wesen hob den Drachling von seinem Gesicht herunter und legte ihn in Lucas Arme. Der Magier lächelte sanft und spürte, wie sich Tambren in seinen Armen zusammenrollte.
Dann überfiel Ayco Luca. Er kniete neben dem Bett und umklammerte seinen Gefährten so heftig, dass Luca erneut nach Luft rang. Ihn störte es offenbar in keiner Weise, dass Lucas Gesicht feucht von Tams Küssen war. Viel mehr erstickte er jeden Ansatz Lucas auch nur ein Wort sagen zu können in seinem intensiven Zungenspiel. Abgeneigt zeigte sich Luca nicht wirklich. Mit einem Arm umschlang er den Nacken des Elfs und intensivierte den Kuss seinerseits noch. Sein Blut begann zu kochen. Keuchend löste er sich. In den Augen Aycos glitzerte Lust, die der Elf ausleben wollte.
Zu gerne wäre Luca dieser stummen Aufforderung nachgekommen, wenn nicht plötzlich jemand von innen an den Türrahmen gepocht hätte.
„Keine Sauereien zwischen zwei Kerlen in meinem Haus, klar?!“, donnerte Thorn.
Der Elf zuckte erschrocken zusammen und verkrampfte sich in Lucas Armen, als erwarte er Schläge. Allerdings beließ Thorn es bei seinen strengen Worten und trat noch einen Schritt tiefer in den kleinen Raum.
Luca barg Ayco sanft in seinen Armen und richtete sich, so weit es ihm möglich war in den Laken auf.
„Verzeih, Thorn“, lächelte er verlegen und trocknete sich das noch immer feuchte Gesicht mit dem Handrücken.
„Das ist mein Haus, Magier. Ihr und euer seltsamer Freund genießt Gastrecht. Das solltet ihr nicht vergessen.“
Die deutliche Drohung entging Luca nicht. Aber Ayco reizte der Tonfall Thorns offenbar bis auf das Blut. Er befreite sich aus Lucas Armen und erhob sich in einer fließenden, eleganten Bewegung vom Bett. „Wenn du etwas gegen meine Rasse und meine Person hast, Rotbart, dann sag’ es offen!“, forderte Ayco ihn wütend auf.
Luca konnte nachvollziehen, dass diese still vor sich hin gärende Stimmung der Beiden gegeneinander, das Zusammensein bis Valvermont unerträglich machen würde. Ayco versuchte dem Ganzen nur etwas Nahrung zu geben, damit Thorn sich nicht immer wieder in seine aggressive, angstgeprägte Abwehrhaltung zurück zog.
Luca seinerseits hatte niemals den Mut aufgebracht, sein Geheimnis zu offenbaren. Allein schon weil die Integrität in diesem Heer wichtig war. Jeder musste sich auf seine Kameraden bedingungslos verlassen können und das Wissen, dass ein Seraph, ein Unglücksbote, an ihrer Seite kämpfte, würde den Zusammenhalt kaum stärken.
Dennoch musste er auch hier einschreiten.
„Thorn, Ayco, bitte hört auf“, sagte er leise. Seine Stimme war noch brüchig und seine Zunge schwer von Justins blutigen Kuss in den Höhlen. „Ein friedvolleres Miteinander wäre wünschenswert.“
Ayco führ herum und starrte Luca aus flammenden Augen an. „Bist Du irre?!“, rief er fassungslos. „Der Kerl hasst uns!“
Insgeheim hoffte Luca, Thorn bezog die Worte Aycos auf ihre Homosexualität, anstatt auf ihre Rasse. Allerdings hielt er Thorn auch nicht für dumm genug diesen Kommentar nicht als Signal aufzufassen, dass es etwas gab, was er nicht wusste. Vorsichtig sah er an Ayco vorüber zu dem Halbzwerg und registrierte sofort das misstrauische Funkeln in den tiefliegenden Augen.
„Ich gewähre euch Gastrecht, Magier. Euren Schoßhund dulde ich, weil ihr eine Persönlichkeit seid, der ich nichts abschlagen würde.“ Er klang absichtlich herablassend und boshaft.
Scheinbar kalkulierte er mit der leichten Reizbarkeit Aycoléns und seiner unbedachten Zunge. Zu Lucas Leidwesen fand sich Thorn prompt bestätigt. Ayco wirbelte herum. „Schoßhund?!“, zischte er. „Ich bin Aycolén Amaro, Goldschmiedemeister des hohen Adels und ein ehemaliger Kriegsmagier aus Lucas Orden! Ihn kannte ich schon, als er noch ein kleines Kind war! Schoßhund...!“, wiederholte er wütend, breitete dann die Arme aus und ballte die Fäuste. „Ich bin niemandes Schoßhündchen!“
Luca saß nun aufgerichtet in dem Bett und beobachtete mit zusammengezogenen Brauen die Situation. Thorn hatte gewonnen, auch wenn Aycolén das nicht begriff, oder zumindest noch nicht. Der Elf wusste nicht, dass Thorn Rotbart einst ein recht bekannter und guter Schauspieler und Barde an den großen Höfen Sarinas und insbesondere am Prinzenhof Mesallas war, zwar abergläubisch bis ins Letzte, aber geschickt, verschlagen und bestens vertraut mit dem höfischen Intrigenspiel und dem Kampf mit Worten. Er hatte, ohne die geringste Anstrengung, Ayco nieder gerungen und ihm Dinge entlockt, die ihm viele nützliche Hinweise lieferten; zukünftige Munition gegen den jungen Mann.
Thorns Augen funkelten listig. Bei seinem wilden, finsteren Aussehen unterschätzte man schnell die Intelligenz des Mannes. Thorn war grob und rau, klug und weise, aber auch boshaft und tödlich. Die Anzahl der möglichen Masken, der er sich bediente ging ins Unermessliche. Luca hatte noch heute Schwierigkeiten unter all den wechselnden Verhaltensweisen die Person auszumachen, die Thorn wirklich war.
„Amaro also?!“, fragte Thorn lauernd. „Dann bist du es also gewesen, der das Unheil über das Haus Veraldis, Deinen ehemaligen Lehrmeister und späteren Partner, dessen Sohn und seine Familie, gebracht hat?!“
„Es reicht, Thorn!“, rief Luca erbost. Allerdings spürte er, dass er den Schrecken nicht ganz aus seiner Stimme verbannen konnte. Der Halbzwerg kratzte sehr an der Identität Lucas, kam seinen Geheimnissen bedrohlich nahe und wusste, jede auffällige Reaktion Aycos oder Lucas, für sich zu nutzen.
Der Elf verstand die stille Warnung in Lucas Worten, denn er ballte lediglich die Fäuste, bis seine Knöchel weiß hervor traten und senkte den Blick.
„War da nicht auch etwas wie eine Hetzjagd auf ein Mitglied der Veraldis? Sie war doch auch ein Unglücksbringer, ein schwarzer Engel, der sich in die schöne und friedliche Welt dieser Menschen eingeschlichen und ihnen vorgemacht hatte, sie sei selbst eine Menschenfrau. War sie auch eine von Deiner Sippe... Vielleicht Deine Schwester?!“ stichelte Thorn bösartig, der genau mitbekam, dass er auf der richtigen Fährte war.
Über Luca schlugen unzählige schlechte Erinnerungen zusammen. Der Mob, der das Anwesen und das Haus stürmte und das Standgericht, sein Vater, der seine Mutter verleugnete, und der vor Prinz Mesalla das erste Mal in Ungnade fiel, die Lynchjustiz der verängstigten Männer und Frauen, und die warmen, starken Arme, die ihn, einen Jungen, der noch nicht in der Lage war menschliche Gestalt anzunehmen, in seinem Versteck hielten und ihn vergessen ließen, was um ihn geschah. Ayco war damals selbst noch ein Kind, fast zumindest. Aber er rettete Lucas Leben, schützte ihn und verschwieg, wie alle anderen auch, seine Existenz, bis das Kind endlich zu einem Menschen werden konnte, seine Erscheinung also kontrollierte, um ihn vor einem neuerlichen Angriff zu bewahren. Schlimmer aber als alle Erinnerung an den Todestag seiner Mutter, war die zweite Hochzeit seines Vaters, wenige Wochen nach dem so schrecklichen Mord. Er ehelichte die Frau, die den Mob anführte. Sie war die Gefährtin und Zofe Lucas Mutter gewesen, eigentlich eine schöne und liebenswerte Menschenfrau, die oft und gerne mit ihm gespielt hatte, als er noch jünger war.
Für einen Moment wurde Luca schlecht. Seine Erinnerungen übermannten ihn mit unsäglicher Gewalt und rangen ihn nieder. Gleichzeitig aber ballte sich unsägliche Wut in Lucas Eingeweiden zusammen und er konnte die tief sitzende Wut auf Thorn kaum noch in Zaum halten.
„Thorn!“, presste Luca zwischen den Zähnen hervor. Allerdings kam diese Warnung in allen Punkten zu spät. Ayco, dessen Erinnerung daran noch immer existent und sehr präsent zu sein schien, konnte sich nicht mehr fassen. Thorn hatte alle Grenzen bei dem jungen Mann überschritten. Und seinerseits musste der Halbzwerg offenbar weiter gedacht haben, denn bevor ihn der Faustschlag des Elfs traf, erbleichte er und starrte aus runden, entsetzten Augen zu Luca. „Luca Veraldis“, murmelte er tonlos und schreckensbleich, bevor ihn der Hieb des Elfs aus dem Gleichgewicht brachte und er nach hinten taumelte, gegen den Türrahmen.
Luca saß still auf der Kante des Bettes und schloss die Schnallen seiner Stiefel.
Seit dem Zwischenfall mit Thorn fiel es ihm sehr schwer auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Halbzwerg kannte nun sein Geheimnis und seine Identität. Damit wusste er, dass Luca ein Seraph war. Allerdings erschien es dem Magier als wesentlich weniger schlimm in Anbetracht der Tatsache, dass Thorn intrigant genug war, auch sein Wissen über Lucas Identität einzusetzen.
Ayco stand am Fenster und starrte hinaus. auch er hatte seinen Fehler sehr schnell erkannt. Von seiner geneigten Position auf dem Bett beobachtete Luca seinen Freund eine Herzschläge lang still, schloss dabei, ohne hinzusehen, seine Schnallen, was dazu führte, dass einige nicht ganz geschlossen waren, erhob sich dann aber und trat hinter Ayco an das Fenster heran. Sein Schweigen verletzte den Elf mehr als alles was Thorn ihm an den Kopf geworfen hatte. Tambren musste Luca das gar nicht übermitteln. Das wusste der Magier auch so bereits. Allerdings rasten in den ersten Momenten seine Gedanken viel zu sehr, als dass er einen vernünftigen Satz hervorbringen konnte.
Auch Thorn war zu verstört, um etwas anderes zu tun, als schleunigst das Zimmer zu verlassen. Seit dem Moment lastete das Schweigen bleiern in der Luft.
Sanft umschlang Luca Ayco in der Taille und wollte ihn an sich ziehen. Der Elf allerdings entwand sich ihm grob und sah über die Schulter zu Luca. Seine Augen schimmerten feucht und die Lider waren leicht entzündet von seinen Tränen.
„Lass mich bitte!“ In seiner Stimme schwang eine leise Drohung mit. Luca sah ihn still an. Der Schmerz, den die Worte in ihm auslösten, zwang er nieder. Ayco wollte er nicht zeigen, was er wirklich dachte und fühlte. Damit hätte er es dem Elf nur noch schwerer gemacht.
„Es ist gut, Ayco. Du musst Dir darüber nicht allzu große Gedanken machen. Thorn wird schweigen. Da bin ich mir sicher.“
Seine letzten Worte waren eine glatte Lüge. Er konnte sich bei Thorn nie sicher sein, was er mit seinem Wissen anfing. Aber Ayco damit zu belasten, wäre Unsinn gewesen.
Die Augen des Elfs flammten kurz auf. „Gut?“, echote er fassungslos. „Der Kerl hasst uns Seraphin und dazu weiß er nun auch noch dass Du Sohn eines Geächteten bist, dessen Name getilgt wurde in den Chroniken Valvermonts!“
„Er ist in den Chroniken, aber nicht in den Köpfen der Menschen getilgt, Ayco. Männer wie meinen Großvater und meinen Vater kann man nicht vergessen. Es war meine eigene Schuld, dass ich in der Stadt geblieben bin, also nur eine Frage der Zeit, wann mein Geheimnis gelüftet werden würde.“
„Aber es ist meine Schuld, weil ich mich nicht beherrschen konnte!“, beharrte Ayco stur.
Luca lächelte. „Dann wasche ich den Namen meines Vaters wieder rein, Ayco. Die Veraldis werden vielleicht eines Tages wieder eine einflussreiche Familie in der Stadt sein. Vielleicht ist dann meine Schwester die Stammhalterin, vorausgesetzt sie lebt noch und ich kann mich wieder frei bewegen, als der, der ich bin, Luca-Seraphin Veraldis.“
Aycos blick verriet Luca, dass er daran zweifelte. Aber er lächelte nun doch und wendete sich ihm zu, umarmte Luca sanft und schmiegte sich an. Liebevoll zog er Ayco enger an sich und genoss die Wärme und den Duft des schlanken, geschmeidigen Elfenkörpers. Ruhe kehrte in Lucas Herz ein. Er schob den Gedanken an Thorn vorerst von sich, zumal der Halbzwerg Luca niemals vor die Tür setzen würde, schon seines Ranges wegen nicht. Davon abgesehen schuldete Thorn ihm einiges.
„Ayco, bitte erzähle mir alles, was in den Höhlen passiert ist. Sage mir, wie wir hier her kamen und wie es allen anderen geht, ob die Gruppe, die mit den Verletzten, aber Transportfähigen voraus ritt gut ankam...“
Der Elf legte Luca die Finger über die Lippen. Sein Blick hatte sich abermals binnen kürzester Zeit geändert, verklärt schon fast. Etwas musste geschehen sein, was der junge Mann noch nicht ganz verinnerlicht oder verkraftet hatte.
Alarmiert wollte Luca schon auffahren, aber Ayco lächelte. „Sht, ruhig, Liebster. Das zu erzählen, braucht Zeit. Lass uns vielleicht etwas spazieren gehen.“
Lucas Verwirrung spiegelte sich ganz offensichtlich in seinen Zügen. Der Elf lachte leise. „Wie ich Dich kenne, willst du sicher baden. Gehen wir doch an den Fluss und genießen dort das Wasser.“
Luca hob eine Braue. Etwas in ihm, eine deutliche Erinnerung, sagte ihm, dass Ayco Wasser hasste. „Bist du dir sicher?“, fragte er leise.
Der Elf grinste, rieb sich die letzten Tränenspuren von den Wangen und nickte. Tam, der bis eben dösend auf dem bett gelegen hatte, bog seinen Schlangenhals durch und schielte zu Luca. „Er hasst Wasser, meinst aber, dass du so rußig bist, das du ein Bad dringend nötig hast.“
„Oh“, murmelte Luca, schob Ayco auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn. „Du bist allerdings auch nicht wirklich sauber.“
Der Elf nickte verlegen.
„Es gibt so verdammt viel zu erzählen, Luca. Aber bevor ich hier noch mehr rede, was Dir schadet, will ich lieber hier weg und nach draußen. Dann können wir auch zu dem alten Anwesen, dem Herrenhaus über Night’s End und hinunter in die Stadt. Da war ich seit fast einhundert Jahren nicht mehr.“
Etwas in Luca, ebenfalls ein winziges Erinnerungsbruchstück verband mit Ayco und Night’s End etwas Trauriges, Böses.“
Unwillkürlich suchte er in diesem Zusammenhang auch die Präsenz von Aycos Schwester Lea. Aber das Geistermädchen war nirgends auszumachen.
„Es gibt viel zu bereden“, sagte er leise, „zumal meine Erinnerung immer neue Fragmente heraufschwemmt, die aber nichts als eine Unzahl winziger Scherben ergeben.“
Der Elf atmete tief durch und deutete ein weiteres Nicken an. „Vieles davon betrifft auch dich, Luca. Sehr viel. Gib mir die Zeit, dir davon zu erzählen.“
Still lag Luca auf dem Rücken im Gras. Seine nackte, feuchte Haut wurde von der warmen Sonne getrocknet. Halme und Blüten strichen darüber und manches Mal fühlte er das eine oder andere Insekt, was über seinem Leib hinweg flog, den sanften Hauch ihrer kleinen, flinken Flügel.
Der Duft von Erde, Gras, Bäumen und Blumen hing in der Luft. Die Erde unter ihm, kühl und klamm von dem nahen Bach, stellte einen angenehmen Kontrast zu dem sommerlichen Tag her.
Der Wasserlauf brach sich an Steinen im Flussbett. Er nahm das Summen von Bienen wahr, das Rauschen der Blätter, wenn der warme Wind durch die Baumkronen strich, die Bachforellen, die nach Fliegen schnappten, aber auch die stolzen, schönen Libellen und das leise Krabbeln auf seinem Körper, wenn eine Ameise oder eine kleine Spinne über ihn hinweg krabbelte.
Auf seiner Brust lag Tambren und schlief friedlich. In seinen Träumen jagte er offenbar Kuchen und süßen Tee, badete darin und ließ es sich schmecken, denn er sabberte teilweise leicht oder schmatzte zufrieden.
Hinter Lucas geschlossenen Lidern flackerte das Sonnenlicht, wenn sich das nahe Blattwerk bewegte und grüne Schatten auf seine bleiche Haut zauberte.
Neben ihm lag Ayco, nicht weniger träge und zufrieden. Die Finger beider Männer hatten sich ineinander verschränkt. Anhand der ruhigen Atemzüge Aycos war sich Luca fast sicher, das der Elf eingeschlafen sein musste.
Diese verführerische Glückseligkeit gab Luca das Gefühl, dass sie sich nicht in der Zeit des Waffenstillstandes sondern in Zeiten des Friedens an einem der schönsten Plätze dieser Welt lebten. Er sehnte sich diese Tage mehr denn je herbei. Vielleicht würden sie hier zusammen leben können, Ayco als Künstler, er als Barde. Der Gedanke eines Kriegsfreien Daseins manifestierte sich immer weiter und gerann zu klaren, schönen Bildern, die fern aller Sorgen waren. Der endlose Streit zwischen dem Süden und dem Norden um Land und Handelsstraßen, der Krieg der Rassen untereinander und der Länder übergreifend, rückte in die Ferne.
Luca lächelte versonnen und öffnete die Lider. Sein Blick strich über das weiche Gras zu Ayco, dessen Wärme er noch leicht spüren konnte. Mit einigem Erstaunen stellte er allerdings fest, dass der junge Mann wach war und ihn scheinbar schon eine ganze Weile betrachtete. Silbrig weiße Harrsträhnen fielen in seine Augen, als er seinen Kopf etwas weiter zu Luca drehte.
Das Sonnenlicht fing sich in dem milden Jade-Ton seiner Augen. sie erschienen um so vieles heller als in den Höhlen. Luca allerdings wusste auch um die Besonderheit dieser Augen. Sie waren wie die einer Katze. Momentan erschienen sie als helle, vollständig grüne Sterne. Harmonie und Frieden fand sich darin wieder, allerdings auch tiefe Gefühle und Glück.
Der Magier lächelte.
Still rückte Ayco näher und bettete seinen Kopf auf Lucas Bauch, hob dann den dicken blauen Drachling von dem Magier herab und nahm ihn in seine Arme. Der Magier konnte nun sehr viel freier Atmen. Die Augen des Elfs fixierten ihn weiterhin.
„Erzählst Du mir nun, was in den Höhlen geschehen ist, Ayco?“, bat ihn Luca, während er seine Finger in den dichten, langen Haaren des Elfs vergrub und seinen Nacken kraulte. Mit der anderen Hand strich er Tammy über den Kopf. Der Drachling schlief noch immer fest. Er schien nicht mitbekommen zu haben, dass er umplatziert worden war.
Der Elf nickte leicht. „Das mache ich. Aber zuvor wollte ich dich etwas fragen.“
Neugierig und auffordernd sah Luca ihn an.
Es dauerte einige Herzschläge, bis Ayco sich gesammelt und seine Worte zurecht gelegt hatte.
„Zwei Dinge, Luca“, begann Ayco. Die Augen des Elfs verengten sich. „Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst?“
„Das Feuer“, entgegnete er. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken. Viele konnten das Massaker kaum überlebt haben.
„Woran genau?“, drang der Elf weiter in ihn.
„Die Verbindung zwischen Dir und mir, und das Anschwellen des Zaubers. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht nur aus mir heraus brannte sondern dass sich die Energie von dir und mir vereinte um einen Zauber zu erschaffen. War das so?“
Ayco nickte leicht. „Das erzähle ich dir aber gleich im Zusammenhang.“
Luca hob fragend eine Braue, wurde aber von Ayco übergangen.
Der Elf senkte die Lider, nagte eine Zeit unschlüssig an seiner Unterlippe und sah schließlich wieder zu Luca auf.
„Wie sicher bist du dir, dass Antoine Veraldis dein Vater war?“
Die Worte kosteten Ayco sichtlich Mühe sie auszusprechen. Luca bog sich nun doch etwas hoch und richtete sich auf die Ellenbogen auf. Ayco erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung, bevor sein Kopf in Lucas Schoß glitt.
Sein Leben lang hatte sich Luca darüber keine Gedanken gemacht. Das eine oder andere Mal hatte er sich zwar gewünscht, dass sein Vater nicht sein Vater war, aber den Gedanken ob des schweren Schicksals der Familie immer wieder von sich geschoben und lieber davon geträumt, dass er in einer glücklichen Familie gelebt hatte, was wirklich eine Lüge gewesen war.
„Langsam beunruhigst Du mich etwas, Ayco“, flüsterte er.
„Kann nicht auch ein anderer Dein Vater gewesen sein?“ bohrte Ayco weiter.
„Darüber habe ich nie nachgedacht. Nach dem, woran ich mich noch erinnere, sehe ich aus wie meine Mutter.“
Aycos Blick hielt nun den Lucas gefangen und der Magier begann sich deutlich unwohl zu fühlen. „Bitte ergehe Dich nicht in Andeutungen, Ayco.“
Langsam erhob sich auch Luca in eine sitzende Position.
Zeitgleich erwachte Tammy in Aycos Armen, blinzelte in das Sonnenlicht und krabbelte in Lucas Schoß, um sich erneut zusammenzurollen. Das Gefühl der warmen Drachenschuppen auf seinem nackten Gemächt war Luca im Moment mehr als unangenehm. Behutsam nahm er Tambren in seine Arme und bettete ihn an seiner Schulter und seiner Brust.
„Du verstehst gleich meine Fragen, wenn ich es Dir erzählt habe, alles, woran ich mich erinnern kann.“
Der Magier sah Ayco still an. Im Moment war er nicht überzeugt genauer erfahren zu wollen, was in den Höhlen passierte.
„Als Ihad seinen Befehl zur Vernichtung gegeben hatte, begann etwas Seltsames. Du hast eine Barriere niedergerissen, die mich bis dahin von allem was ich konnte, abgeschnitten hatte. Deine Magie weckte etwas in mir, meine Fähigkeiten mit Feuer. Erinnerst du dich noch? Als du ein Kind warst, habe ich immer irgendwelche Tricks mit Feuer und Flammen gemacht. Das war etwas, dass ich in den letzten zwanzig Jahren nicht konnte. Die Magie, die mir Ihad damals genommen hatte, war nicht zerstört, sondern versiegelt und mit dem Siegel hast du auch einiges Andere von mir genommen, zum Beispiel das, was meine natürliche Fähigkeit Feuer zu kontrollieren, blockiert hatte. Plötzlich wusste ich wieder, wie das funktionierte. Und dann wob sich dein Zauber in den meinen. Aber gleichzeitig damit, wurdest Du apathischer, als würde diese Magie, die du angewendet hattest, dich verändern. Ich begriff erst, als wir plötzlich mitten unter den von Ihad Verurteilten standen, dass du sie beschützen wolltest. Dein Körper begann sich dabei zu verändern.“
Als Luca einwerfen wollte, dass sich vermutlich das Erbe des schwarzen Engels durchsetzen wollte, hob Ayco die Hand und der Magier behielt seine Selbsterklärung für sich.
„Es war eine Verwandlung, die sehr an die erinnerte, wenn du zu einem Seraph wirst. Aber du wurdest nicht dazu, sondern zu einem Celestial. Deine Haut bleib weiß, und deine Schwingen brachen ebenfalls weiß aus Deinem Körper.“
Lucas Herz setzte kurz aus. Um seine Brust zog sich ein eiserner Ring zusammen und nahm ihm die Luft zu Atmen. Verstört, fast entsetzt, sah er Ayco an. „Ich bin kein Celestial sondern ein Seraphin“, flüsterte er tonlos.
Es erschien ihm sinnlos zu sagen, dass sich Ayco geirrt hatte. Der Elf sagte schlicht, was er beobachtet hatte, nicht mehr und nicht weniger. Luca glaubte ihm auch, allerdings begriff er nicht, wie das sein konnte. Seine Haut war von Geburt an schwarz, wie seine Flügel. In seiner Ahnenlinie, so weit er sie kannte, gab es nur einen Seraphin und Menschen. Aber was wusste er schon über seine Vorfahren? - gar nichts, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Von seiner Mutter kannte er nichts mehr als ihren Namen und die knappe Zeit von drei Jahren, die sie gemeinsam hatten.
„Was passierte dann?“ presste er hervor.
Ayco legte den Kopf schräg. Scheinbar bemerkte er den stummen Kampf in Lucas Seele.
„Soll ich lieber aufhören?“, fragte der Elf zaghaft.
Vehement schüttelte Luca den Kopf. „Nein, bitte rede weiter. Was ist passiert?“
Nachdenklich zog der Elf die Knie an den Leib und umschlang sie mit seinen Armen. „Du hast einen außergewöhnlich großen Schutzkreis erschaffen, durchwoben von Flammen, den selbst die gewaltige Magie Ihads nicht durchbrechen konnte.“ Luca schwieg. In ihm kehrte eine unheimliche Ruhe ein, die alles um ihn zu einem Teil seiner Selbst werden ließ, oder richtiger, als wäre er ein Bestandteil des Lebens um sich herum. Für einen Moment vergaß er sich als Person und wurde Bäume, Erde, Wasser, Licht und Tiere. Lediglich das Symbol, über dem sich sein Magiersiegel als Tätowierung befand, das Zeichen des Gottes, dem er geweiht war, pochte leicht und erinnerte ihn daran, dass er eine eigenständige Person war, nicht Teil eines Kollektivs aus Leben, Bestand und Tod. Allerdings zwang er dieses Gefühl nieder und verschloss den Gedanken tief hinter seinem Bewusstsein.
Aycos Finger lagen auf Lucas Wange. Offenbar musste der Elf mitbekommen haben, dass der Magier kurzzeitig nicht mehr er selbst gewesen war.
„Mir geht es gut“, sagte Luca fast abweisend, was ihm sofort wieder leid tat, denn Ayco zog verletzt seine Hand fort
„Entschuldige“, flüsterte der Magier.
Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Ayco ihn nun. „Das was dann kam...“ er stockte. „Ihad beschwor das Feuer aus den Tiefen der Berge herauf, vernichtete alles. die Ordensmagier, selbst Cyprian, zogen es vor, so schnell es ging fort zu kommen. Einer nach dem Anderen teleportierte weg, um dem Inferno zu entgehen. Die Hitze war so gewaltig, dass die Wände schmolzen und wie Wachs herab troffen. Alles was brennbar war äscherte ein und du nahmst die Magie aus mir und verwendetest sie für deinen Zauber. Die Männer in dem Schutzkreis haben alle überlebt. Du bist lediglich von einem Ort an einen anderen Teleportiert. Es war dieser Ort hier, Night’s End. Als du materialisiertest, wurdest du ohnmächtig. Aber es ist dir gelungen alle Männer mit dir zu nehmen.“
Erleichtert atmete Luca auf. „Das ist das Wichtigste“, lächelte er.
Ayco hob die Schultern. „So sicher bin ich mir da nicht“, sagte er zweifelnd. „Etliche von ihnen flohen in die Wälder und damit aus Ihads Fängen, andere blieben. Sie sind auf Thorns Hof.“
„Was ist mit Renard und Henrik?“, fragte Luca unsicher. „Geht es ihnen gut?“
„Ja“, entgegnete der Elf düster. Er wendete sich ab und sah hinüber zu dem Bach. „Sie sind in Sicherheit. Aber sie sind auch geflohen. Eigentlich war ich mir sicher, ehrenhaftere Männer vor mir zu haben.“
Luca lud seinen schlafenden Drachen auf einen Arm und streckte die Hand nach Ayco aus. Behutsam berührten seine Fingerspitzen das Haar des Elfs. Der junge Mann wendete Luca den Blick wieder zu und lächelte traurig. „So sehr ich meinen Vater verabscheue, aber er hatte mir als Kind andere Ehrenvorstellungen beigebracht.“
Die Lungen des Elfs füllten sich mit der nach Sommerwiese duftenden Luft und hoben den Brustkorb. Dann stieß er die Luft schnell wieder aus. Luca lächelte. „Sie wären dumm, würden sie bleiben, Ayco. Ihre Reise endet unwiderruflich mit ihrer Hinrichtung. So haben sie vielleicht noch eine Chance, ihren einstmaligen Heerführer zu finden und sich rein zu waschen. Ich halte Renard für einen ehrenhaften Ritter, der nichts im Sinn hat, was uns schaden würde. Seine Dankbarkeit wird sich sicher noch zeigen.“
„Hoffentlich“, kommentierte Ayco missmutig.
Tammy regte sich wieder in Lucas Armen. Langsam dämmerte er aus seinem Schlaf in die Wirklichkeit zurück.
„Auch schon wach, Schlafmütze?“, fragte Luca liebevoll und küsste den Kopf des kleinen Drachlings.
Tambren gähnte herzhaft, schmatzte leise und blinzelte seinen Herren an.
„Ich habe von einem herrlichen Rinderbraten geträumt, ganz für mich allein“, erzählte er selig. Bei seinen Worten lief ihm scheinbar schon wieder das Wasser im Maul zusammen. „In der Soße waren Nelken und Wacholderbeeren. Dazu gab es gestampfte Kartoffeln und zum Nachtisch Sauerrahm-Kuchen mit Zucker und Zimt.“
Er seufzte sehnsüchtig und leckte sich über die Lippen, als habe er noch den Geschmack des Essens darauf.
Ayco hingegen lachte laut. „Allein vom Zuhören bekomme ich eine Magenverstimmung.“
„Du machst dich über mich lustig!“, beschwerte sich Tambren beleidigt. Luca nahm ihn hoch und drückte ihn sanft. „Wegen mir hast Du so viel durch gemacht und so lange auf etwas gutes zu essen verzichten müssen. Heute Abend wirst du ein Mahl bekommen, was du dir wünschst.“
Einen Moment später bereute Luca seine überschwänglichen Worte bereits. Tambren definierte sehr genau seine Wünsche, und Luca war sich sicher, dass der kleine Gasthof in Night’s End diesen Essensvorstellungen kaum gerecht werden konnten.
Gedünsteter Fisch in einer Estragon-Weißweinsoße mit gekochtem Spinat konnte man in Valvermont in einem der großen Gasthäuser am Hauptmarkt erhalten, aber sicher nicht in dem Gasthaus zur Heckenrose. Luca hob hilflos die Arme. „Wenn ich etwas nicht kann, dann angeln. Vielleicht ist ja ein Fischhändler in Night’s End, der mir den Fisch verkauft.“
„Du kannst kochen?“, fragte Ayco neugierig.
„Nachdem er fast in Manos Topf geendet wäre, hat ihm der Troll das Kochen beigebracht“, sagte Tambren rasch.
„Irgendwie schaffst du es auch immer, mich bis auf die Knochen zu blamieren oder bloßzustellen“, tadelte Luca ihn.
Ayco rückte näher. „Du hättest also fast ein Vollbad im Kochtopf des Heereskoches genommen?“, erkundigte sich der Elf neugierig.
Luca lachte freudlos auf. „So kann man das nennen.“
Die grünen Elfenaugen leuchteten. „Erzähl schon!“, forderte er Luca auf.
Der Magier legte den Kopf schräg. In seinen Blick schlich sich der Schalk.
„Das war in den ersten Tagen, die ich bei Orpheu verbrachte“, begann er. „Ernst genommen hat mich am Anfang keiner. Unrühmliche Spitznahmen häuften sich, wenn sie dachten, ich würde nicht zuhören. Trollzahnstocher war wohl einer der beliebtesten.“
Die Lippen des Elfs zuckten und seine Mundwinkel bleiben nicht ruhig.
Luca übersah die Reaktion lieber. „Damals war ich auch einfach nur dünn und hätte mein eigenes Schwert kaum vom Boden aufheben können. Heute bin ich nicht mehr ganz so schwach.“
„Aber dürr“, konterte Tambren lachend.
„Unsere Aufgabe war es, einen hohen Adeligen aus dem Kaiserreich von Sarina nach Maiden Haven und von dort aus auf die Insel Gismonda zu geleiten, ihn auf seiner diplomatischen Mission zu beschützen und dafür zu sorgen, dass er sich auch sicher und gut aufgehoben fühlte. Das tat er auch. Er brauchte zum einen unseren Schutz in keiner Weise und zum anderen war genau ich es, an den der einzige, so unsäglich dämliche Attentäter, der den Versuch wagte diesem Mann zu nahe kommen zu wollen, geriet. Da mir an diesem Tag die Sticheleien aus dem Heer und die Anzüglichkeiten unseres Schützlings besonders auf den Nerv gingen, ließ ich meine gesammelte schlechte Laune an diesem armen Mann aus, nachdem ich ihn endlich in die Finger bekam. Er tat das einzig sinnvolle und floh schließlich vor mir. Die Jagd ging quer durch unser Lager und endete nach einem beherzten Sprung in eine Talsenke beiderseits direkt vor Mano, der durchaus nicht gewillt schien, sich die Suppe von einem Assassinen verschlechtern zu lassen. Im Gegensatz zu mir, endete sein Sprung tatsächlich in der Suppe.“
Ayco lachte jetzt erst recht. Luca hob die Schultern. „Der Attentäter von damals ist jetzt Thorns Schwiegersohn.“
Ayco verstummte. „Jaquand?“, fragte er unsicher nach.
„Ja“, bestätigte Luca. Damals haben weder Mano noch ich etwas gesagt. Wir alle, inklusiv Jaquands, wurden zu Orpheu zitiert. Der Hauptmann sperrte den jungen Assassinen für einige Tage ein, genaugenommen unter Deck des Schiffes, dass wir bestiegen. Nach einer Weile schwor Jaquand ihm und mir seine Treue. Mano allerdings verzieh mir nicht, dass ein ganzer Mensch in seiner Suppe herumgeschwommen war und damit der Geschmack seines Essens verschlechtert worden war. Er gab mir die folgenden Tage an Bord Unterricht und verbot mir für den Rest meines Lebens irgendwelche Gegner in die Nähe seiner Töpfe zu jagen.“
„Ist das wirklich wahr?“, fragte Ayco.
Luca nickte. „Bis auf die Tatsache, dass es damals alles andere als lustig für uns war, schon. Aber daher stammt die Freundschaft zu Jaquand und Mano. Und es war mein erster Tag, an dem die anderen Mitglieder des Heeres mich respektierten.“
Ayco schmunzelte. „Wer war eigentlich euer Schützling? Du sagtest, er hätte euren Schutz in keiner Weise gebraucht.“
Luca schloss die Lider und ließ den Kopf in den Nacken fallen. „Der höchste Ritter des Kaiserreiches. Kyle Trehearn.“
Der Elf erbleichte so plötzlich, dass Luca Tam fast aus den Armen verlor, als er nach seinem Liebsten griff.
flatternd brachte sich der Drachling in Sicherheit. Die Reaktion erschreckte Luca nicht minder. „Was ist mit dir?“, fragte er vorsichtig, aber auch sehr besorgt.
„Trehearn“, flüsterte Ayco heiser. „Das Monstrum hast du beschützt?“
Seine Stimme hatte allen Klang verloren.
In Luca kroch eine vage Ahnung hoch. Aycos silbriges Haar, seine edlen und anmutigen Gesichtszüge, die hohe Stirn und der perfekte Körper erinnerten ihn sehr an Kyle.
Besonders erinnerte sich Luca daran, dass Kyle ein Seraphin war, wie Aycolén und wie er selbst.
Im Moment warnte ihn eine dünne Stimme Ayco mehr von seiner Beziehung zu Kyle zu erzählen.
„Du kennst ihn?“, fragte Luca leise. Tiefe Angst und Sorge schwang in seiner Stimme mit. Die Antwort wollte er lieber nicht hören.
Tambren allerdings teilte sie ihm mit, noch bevor Ayco die Lippen öffnete.
„Luca, dieser Mann ist der Mörder von Lea, meiner Mutter und so ziemlich jedem in der alten Siedlung von Night’s End. Aber schlimmer als das, er ist mein Vater.“
Luca spürte wieder die klaren, offenen Augen Trehearns auf sich, seine selbstbewussten und spöttische Art, mit der er ihn, den damals vollkommen unsicheren, jungen Zauberer aufzog, ihn aber immer freundlich und gut behandelte, ihn hofierte und ihm schließlich sein Herz darbot. Für eine kurze Zeit war er wieder der Junge von damals, der die Nähe Trehearns mochte und ihm sogar einige Jahre später kurzzeitig in sein Heer folgte, um ihm als Magier zu dienen. Trehearn liebte ihn und er fühlte sich sicher in der Nähe seines damaligen, kurzzeitigen Gefährten. Trehearn lehrte ihn, genau wie Justin ihn lehrte. Nach dieser Zeit mit Trehearn, war Luca nicht mehr derselbe. Das wusste er und das spürten seine Kameraden in Orpheus Heer.
Trehearn wollte Luca besitzen, genau wie Justin, und dem entwand sich der Magier sehr schnell. Es kostete seinen Preis, aber Luca war genauso froh ihn kennen gelernt zu haben wie auch Justin. Beide Männer standen ihm sehr nah. Kyle allerdings nahm eine völlig andere Stelle für Luca ein. Nur wagte er im Moment nicht Ayco das zu gestehen.
Vorsichtig zog er den Elf an sich. „Ich kann mir nicht vorstellen dass er ungerechtfertigt morden würde. Er ist ein sehr ehrenhafter Mann, so wie ich ihn kennen gelernt habe...“
„Dann hat er dich betrogen und dir etwas vorgespielt!“, unterbrach Ayco Luca rau. Allerdings klammerte sich der Elf nur noch enger an Luca fest.
„Nein Ayco. Sicher nicht.“
„Willst du mir sagen, dass du den Mann besser kennst als ich ihn kenne?!“
Ayco stieß Luca von sich und starrte ihn hasserfüllt an. Der Magier wendete nur den Kopf und sah auf seine Schulter an der sich Ayco zuvor festgekrallt hatte. Die Abdrücke seiner Nägel waren noch deutlich zu sehen.
Als sein Blick zurück zu dem Elf glitt, hatte sich das Mienenspiel des jungen Mannes verändert. Angst und Schrecken dominierten sein Gesicht.
„Hast du gesehen, wie er das Dorf vernichtet hat?“, fragte Luca leise, wobei er einen sofortigen Gefühlsausbruch des Elfs erwartete.
Allerdings blitzte nur kurzer Schmerz in den leicht glasigen Augen des jungen Mannes auf. Sehr leise – als koste es ihn massive Überwindung diese Erinnerungen auszusprechen – sagte er: „Kyle stand in den Flammen, als ich endlich ankam. Inmitten der zerfetzten Leichen...“
Seine Stimme brach und Luca konnte nichts tun außer ihn Nähe und Wärme zu geben. Auch Tam kam wieder herbei und kuschelte sich liebevoll an den Oberschenkel des Elfs.
„Ayco, ganz egal was du von deinem Vater denkst“, begann der kleine Drachling mit ruhiger Stimme. „erinnere Dich an den Mann, den du aus deiner Kindheit kanntest.“
Der schlanke Elfenkörper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, bevor sich der Schmerz und seine Tränen endlich ihren Weg bahnten.
Liebevoll zog Luca ihn fester an sich und wiegte ihn sanft. „Du bist sein verlorener Schatz, der, den er nie finden konnte“, flüsterte Luca, der sich sehr gut an den ruhelosen, unsteten Ritter erinnern konnte. Ayco versteifte sich in seiner Umarmung. Sein Leib zitterte. Erneut rannen Tränen Aycos über Lucas Schulter und versickerten in seinem Haar. Erleichtert stellte Luca fest, dass Aycos Anspannung tiefem Schmerz platz machte. „Ich kann mir nicht vorstellen“, setzte er leise hinzu, „dass ein Vater seine Kinder und seine Frau töten würde. Schon gar nicht der Mann, den ich kennen gelernt habe. Er ist hart, gerecht und sehr liebevoll.“
Ayco schluchzte nur noch.
Langsam zwängte sich der dicke Drache zwischen die beiden Männer und richtete ich auf Aycos Schoß aus.
Der junge Mann beschwerte sich halblaut und löste seinen Griff von Luca, um Tambren nun hoch zu nehmen.
Luca betrachtete die Beiden. Der Elf saß auf seinen Fersen, die Wangen Tränenfeucht, die Augen gerötet und mit laufender Nase. Tambren lag wie ein Neugeborenes in seinen Armen, ließ sich drücken und spendete Trost mit seinen feuchten Drachenküssen, mit denen er Aycos Gesicht bedachte.
In dem Moment hatte der Elf mehr von einem Jungen als von einem Mann. Er begriff plötzlich, dass - auch wenn er 120 Jahre jünger war als Aycolén - er nun die Rolle des erwachsenen und weisen Mannes zu tragen hatte. Ayco, durch sein elfisches Erbe, war jung geblieben, trotz aller Schicksalsschläge immer noch ein Knabe, im Körper eines jungen Mannes, Luca hingegen hatte seine Kindheit und Jugend so früh verloren wie seine Unschuld. Er war erwachsen und diszipliniert schon in Kindestagen, ein Mann, der wenig lachte, das Leben hinnahm wie es auf ihn zu kam und mit den Konsequenzen lebte.
Der Magier kam sich für einen Moment unglaublich alt vor, als lasteten Tausende Leben in der gleichen Gestalt auf ihm, deren Wissen er nur verdrängt hatte.
Er neigte sich zur Seite und ergriff das Bündel seiner Kleider, um für Ayco ein sauberes Taschentuch herauszusuchen.
Der Elf hatte seine eigene Art mit Tränen und laufender Nase fertig zu werden. er schnäuzte sich in seine Finger und wusch sie im Bach rein.
Luca musste lächeln. Ayco hatte wirklich noch viele kindliche Züge, und zusammen mit Tambren lebte er sie auch aus.
Der junge Mann entspannte sich wieder vollkommen und sah dann zu Tam in seinen Armen.
„Erzählt ihr mir von dem Kyle, den ihr zu kennen glaubt?“, fragte er leise. In seiner Stimme schwang immer noch tiefes Misstrauen zu dem Ritter mit.
Luca setzte sich im Schneidersitz hin und zog sich sein Hemd über die Schultern.
„Gerne“, entgegnete er, als er die Ärmelbünde zusammenzog, aber die Schnüre offen ließ. „Wenn du mir zuvor sagst, wer dir sagte, dass Kyle der Mörder deiner Mutter und deiner Schwester war.“
In einer Talsenke, umgeben von Wäldern und Felsen, lag Night’s End. Das warme Sonnenlicht tauchte das idyllische Dorf in ein magisches Licht. Grüngolden schimmerten die Straßen. Die grauen Gebäude und gedrungenen Fachwerkhäuser wurden von Heckenrosen, Efeu und wildem Wein überwuchert und vom Wind bewegte Schattenflecken der Blätter in der Sonne, malten zauberhafte Bilder auf Wände und in die farbigen Glasfenster.
Der große, alte Findling, den man das Felsenkind nannte, thronte im Zentrum des Ortes. Ob der vielen Gäste, hatten die Bewohner den Granitblock mit Blütenketten und Bändern geschmückt, als sei der alte Stein ein lebendes Geschöpf. Einige Händlerkarren standen auf dem kleinen Marktplatz und Bäuerinnen und Mägde boten Obst, Gemüse, Korn, Eier und Fleisch an. Ein Mädchen schritt, einen ausladenden Korb mit kleinen Blumengebinden am Arm, durch die breiten Straßen und bot ihre Ware an.
Durch die vielen Fremden, die aus der Höhle geretteten Händler und Edelleute, hielt sich der Markt wesentlich länger als an anderen Tagen. Die Männer und Frauen, die Orpheu nach Night’s End gefolgt waren, tauschten mit den Bauern und Händlern hier ihre Sachen, erstanden neue Kleidung, frische Nahrung, Bier, Wein und Milch.
Das Gasthaus und alle umliegenden Gebäude waren mehr als ausgebucht. Die kleinen Höfe um Night’s End und selbst die Holzfällersiedlung eine knappe Meile südwestlich des Dorfes profitierten von den ganzen unerwarteten Gästen.
Auf ihrem Weg von dem Bach bis in den Ort bekamen Ayco und Luca einen klaren Eindruck davon.
Allerdings wollte der Elf nicht direkt in die Stadt. Er suchte sich einen Platz unter den Bäumen, im Schatten, ein wenig höher gelegen, sodass sie einen schönen Blick in die Ortschaft hatten, ohne selbst gesehen zu werden. Luca allerdings war so umsichtig seinen Wasserschlauch zuvor noch zu füllen, bevor sie sich nieder ließen, denn zum einen war es heiß und sie würden schnell Durst bekommen und zum anderen, wenn Ayco erzählte, würde sich sein Hals sicher bald rau und trocken anfühlen.
Tambren hatte seinen ersten Hunger mit frischen Walderdbeeren und Brombeeren gestillt. Unterwegs fütterte Ayco Luca, nicht ganz gegen den Willen des Magiers, der seit langem nichts richtiges, oder gar frisches mehr zu sich genommen hatte, mit Beeren. Für die Dauer des kurzen Marsches, war Ayco wirklich mehr Kind als Mann, fröhlich und ausgelassen, als habe er vollkommen vergessen, worüber sie zuvor noch gesprochen hatten.
Aber auf die Frage hin, warum der Elf nicht mit nach Night’s End kommen wolle, antwortete er ernst: „Das ist nicht mehr der Ort meiner Kindheit.“
Luca wollte nicht indiskret sein und vorzeitig weiter in ihn dringen als notwendig. Er beließ es bei der Antwort und wartete geduldig ab, bis Ayco seinerseits die Initiative ergriff. Allerdings nutzte der Elf augenscheinlich alle Möglichkeiten die Erzählung etwas aufzuschieben.
Den Magier beschlich dabei ein eigenartiges Gefühl, bedrückend, als wolle auch seine Erinnerung etwas hervorzaubern, an das er sich weder erinnern wollte, noch was in seiner für ihn erreichbaren Nähe lag.
Tambren, der sich wieder seinen Platz auf Lucas Schulter erobert hatte, suchte den Blickkontakt zu seinem Herren.
‚Da ist etwas, an das ich mich erinnern muss, nicht war, kleiner Freund?’ fragte Luca wortlos.
‚Wenn du es nicht weißt, Luca, kann ich –dir nur bedingt helfen’, entgegnete Tambren. ‚Es muss schon etwas da sein, was mir einen Hinweis liefert. Deine Erinnerungen zu durchforsten wäre schlecht. Das magst Du nicht, und zum anderen ist darüber ein Siegel gelegt worden, dass nur Ihad wieder aufheben kann, oder dass Du von dir aus Stück um Stück durchbrechen musst.’
Luca konnte gerade noch ein tiefes Seufzen unterdrücken, bevor er Ayco allzu deutlich machte, dass er gerade selbst über diesen Ort nachdachte. Night’s End kannte er gut von seinen ganzen Wanderschaften. Oft hatte er sich hier aufgehalten und kannte viele Leute persönlich, war ein beliebter und gerne gesehener Gast, schon weil er hilfsbereit, spendabel und freundlich war. Aber es gab auch einen Ort, um den er immer einen Bogen gemacht hatte. Das Haus und den Hof des momentanen Schmiedes. Er kannte den Mann und seine Familie, mochte sie alle sehr, kannte das Haus, aber genau das war auch der Punkt. Dieses Haus. Einmal hatte er darin genächtigt und fand keine Ruhe. Es waren die Stimmen der Toten, die in seinen Träumen und im Wachen mit ihm sprachen und ihn zu sich reißen wollten. Es war, als habe er eine Nacht auf einem ungeweihten Friedhof verbracht. Er träumte davon das Massaker vor 100 Jahren erlebt und Seite an Seite mit den Siedlern gekämpft zu haben. Allerdings träumte er auch von dem Tot all derer, die um ihn waren und seinen eigenen, der ungleich brutaler war.
Sein einziger Lichtblick in dieser Nacht war die Tochter des Schmiedes, das kleine Mädchen, was sich so zu ihm hingezogen fühlte. Sie hatte sich zu ihm gelegt, seine Tränen getrocknet und ihm von ihren Träumen erzählt. Luca war es damals, als habe er in dem Kind eine kleine Schwester gefunden zu haben. Seither teilten sie beide ihre Geheimnisse und ihr Wissen. Luca lehrte sie, immer wenn er seinen Weg durch Night’s End fand, Lesen und Schreiben, Magie und Astronomie, und sie schenkte ihm dafür ihre Aufmerksamkeit und ihre tiefe, kindliche Liebe.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, gab es wenig schlimmes, was er gegenwärtig mit Night’s End verband.
Sein Blick glitt über die Holz und Reisig gedeckten Dächer des Ortes und verfolgte versonnen einige Sekunden lang das Blumenmädchen in ihrem blauen Kleid. Alles hier war friedlich. Die Zeit hatte dieses kleine Dorf vergessen und Night’s End ignorierte die Kriege, die um den Ort herum stattfanden.
„Dort unten“, Ayco deutete zu dem kleinen Marktplatz, „habe ich damals gelebt.“
Luca folgte ihm mit den Blicken bis zu der Schmiede, aus der dichter Rauch aufstieg. Ein Schauer durchlief seinen Körper. Er musste nicht fragen, um sicher zu gehen, dass das der Ort war, an dem Lea und ihre Mutter starben. Es war klar. Das Warum zu dieser Sicherheit, konnte er nicht begründen. Es war eine unumstößliche Tatsache. Allerdings kam sein plötzliches frösteln auch von einer anderen Person, die nun hier war; richtiger von Lea. Ihre Präsenz war stark, stärker als sonst und geprägt durch eine Vielzahl von Gefühlen. Durch Tambren, der alles, was dieses zierliche, kleine Geistermädchen empfand, empfing er ihr Bewusstsein ungefiltert. Angst, Wut und Hass, ein so tief sitzender Hass, dominierten sie. Diese Gefühle waren durchaus nicht ungerichtet. Luca sah Tam in die Augen. Beide hatten das Bild Trehearns vor Augen. Dieses Kind hasste seinen Vater auf eine Weise, die unbeschreiblich war. Ayco glaubte ihn zu hassen, klammerte sich aber an dem Glauben an das alte Bild seines Vaters fest. Luca fand aber in Lea nichts als zerstörende, bodenlose Rache.
‚Das ist nicht gut, Luca. Sie nutzt ihren Bruder als Werkzeug ihrer Gefühle’, warnte Tambren. ‚Sie ist kein niedliches, kleines Kind, was ihren Bruder nicht allein lassen wollte. Sie ist eine dunkle Seele, die nur noch hasst.’
Luca nickte still.
Er konnte Lea aus dem Augenwinkel sehen. Ihre Züge waren maskenhaft erstarrt. Die Augen loderten allerdings. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt und schwarze Nebel stiegen aus ihren silbrigen Haaren auf.
Ayco beachtete sie nicht.
„Dort sind Lea und ich aufgewachsen, Luca.“
Er lächelte versonnen. „Unsere Mutter war die Priesterin des Dorfes. Eine Feuerpriesterin.“ Langsam senkte er die Lider und rief sich Night’s End in Erinnerung wie es einst einmal war. Luca durchzuckten mehrere Bilder des Ortes. Er nahm durch Tam die Gedanken und Erinnerungen der Geschwister, wohl richtiger Zwillinge, wahr. Aycos Vorstellung des alten Night’s End war friedlich. Die Ansammlung kleiner Holzhütten und ausgebauten Zelte um den Marktplatz und den Findling mutete an, als sei der Ort gerade erst entstanden, frisch aufgebaut, um einigen Siedlern ein Heim zu geben. Frauen hatten Leinen zwischen den Häusern gespannt und Holzgestelle gebaut, um ihre Wäsche zu trocknen und zu bleichen. Hühner, Ziegen und Schafe liefen frei herum und die ungepflasterten Wege waren noch nichts außer Trampelpfaden. Zwischen den hohen Bäumen, den Fichten, Erlen, Zypressen, Eichen und Buchen, spielten Kinder, Menschen vorwiegend, aber auch Elfen, Orcs, Trolle, Zwerge und Seraphin. Es hatte etwas so archaisches, einfaches, aber auch liebenswert schönes, dass Luca sich am liebsten in diesen Vorstellungen verloren hätte.
Leas Vorstellung des Ortes war optisch vergleichbar, aber durchwoben von Bildern einer steinernen Kirche, in der sie betete und zu warten schien. Ihr Dasein schien bestimmt durch Lernen, Arbeit und Hoffen. Aber tief in ihrem Unterbewusstsein traten fragmentarisch winzige Splitter von spielenden Kindern zu Tage, einem lachenden Knaben, der seine Zwillingsschwester neckte, einem schwarz geflügelten Bündel in weißen Windeln, was einfach nicht begriff, dass zwischen ihm und der Freiheit eine Glasscheibe war und immer wieder mit dem Kopf dagegen flog, bis es weinend aufgab, einer Wasserschlacht zwischen einigen der Dorfkinder, einem geheimen Treffen, wobei sie offenbar beschlossen, den Wirt und seine Frau zu ärgern und dem tiefen Hass auf einen Jungen, der ihr weder Liebe noch Aufmerksamkeit schenkte, sondern sich ausschließlich auf ihren Bruder konzentrierte und sie nur als Freundin ansah.
Luca begriff, dass Lea damals verliebt gewesen sein musste, ihre Liebe aber so wenig erlangt haben dürfte, wie die meisten Seraphin.
Er sah das Geistermädchen an, mitleidig und sanft. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
Tambren schob sich unter Lucas Zopf auf die andere Schulter, verfehlte seinen großen Freund allerdings und konnte sich gerade noch in den Haaren festklammern, bevor er abstürzte. Irgendetwas schien ihn nervös zu machen, aber den Gedankengang verlor Luca in dem Moment, in dem der Drachling um sein Gleichgewicht kämpfte. Behutsam half der Magier seinem Freund. Gleichzeitig erzählte Ayco, der in seinen Erinnerungen schwelgte, weiter.
Die Verbindung zu Lea riss ab.
„Lea und ich sind hier, in Night’s End geboren worden. Leider hatten wir selten etwas von unserem Vater. Er kam nur manchmal und dann auch nur für wenige Wochen zu uns. Sein Heer hatte hier ebenfalls die meisten Frauen und Kinder sitzen. Das Dorf war besiedelt von alten Männern und Frauen, Kindern und Müttern. Aber es war schön hier und friedlich. Einige der Krieger hatten sich auch zur Ruhe gesetzt und gingen handwerklichen Berufen nach. Schmiede, Korbflechter, Zimmerleute und Maurer hatten wir hier, aber auch Frauen, die das Handwerk des Brauers übernahmen, Bäuerinnen, eine Gerberin und mehrere Wirte. Es gab wenig, was sich hier nicht fand. Night’s End war ein vollkommen autarkes Dorf. Männer und Frauen arbeiteten miteinander und füreinander. Die Alten lehrten die Jungen und der Pakt mit dem hiesigen Landadeligen, dem Magier I’Eneel besagte, dass das Dorf ihm Waren als Pacht für das Land lieferte und er sie dafür magisch beschützte. Ich erinnere mich sogar noch sehr genau, dass Kyle diesen Packt mehrfach mit dem alten Halbelfen nachverhandelte.“ Versonnen lächelte Ayco. „Der alte Zausel, oben im Herrenhaus, war ein sehr trockener und eigenwilliger Mann. Manchmal glaubte ich, die Zeit habe ihn vergessen...“
Luca hatte einen kurzen Eindruck eines älteren, vornehmen Mannes mit edlen Zügen und langen, leicht gewellten Haaren. Ein sauber gestutzter Bart umrahmte seine Lippen und tiefe Linien gruben sich in seine bleiche Haut. Er hatte leuchtende, helle Augen, klar, kalt und schön. Aber darin fand sich wenig Wärme und noch weniger Mitgefühl. Lange, schlanke Elfenhände hielten den Griff einer Peitsche. Er umklammerte sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervor traten. In dem Griff der Silberdraht umwobenen Waffe war eine einzelne Rose eingelassen. Die Blütenblätter waren Rubinsplitter. Der erste Schlag traf. Luca spürte den sengenden Kuss auf seiner Brust. Der zweite Schlag allerdings prallte an der eisernen Rüstung eines Mannes mit dem gleichen Silberhaar ab, das Ayco hatte. Ohne es zu merken, hatte Luca den Griff seines Dolches umklammert. Die Rubinrose schnitt ihm leicht in die Handfläche. Die Finger seiner Linken lagen auf der Brust, dort wo er immer noch den sengenden Schmerz der Peitsche fühlte. Er spürte den Blick Leas auf sich. Als er zu ihr blickte, fragend, verwirrt, fand er tiefen Schrecken in ihren Augen.
Langsam sah er zu Ayco. Aber der Elf hatte davon nichts bemerkt. Er saß ruhig da und lächelte, die Lider geschlossen und versunken in mehr oder weniger schönen Erinnerungen versunken.
„I’Eneel war mein erster Lehrmeister in der Zauberkunst. Er war ein fürchterlich langweiliger Mann mit einer so monotonen Stimme, dass ich oft in seinem Arbeitszimmer eingeschlafen bin. In der Zeit hatte ich mehr blaue Flecken vom nicht aufpassen, als Kopfschmerzen vom Lernen, Luca.“
Er öffnete unvermittelt die Augen und Luca bekam gerade in letzter Sekunde seine Mimik wieder so weit unter Kontrolle, dass Ayco ihm nicht zu deutlich ansah, was er gerade mit seinen Worten anrichtete. Der Magier wollte seinen Liebsten nicht noch weiter in Zweifel und die gleiche Verwirrung zu stürzen, in der er sich gerade befand.
Mit jedem Wort, was Ayco nutzte um seine Vergangenheit bildlich zu machen, erwachten Spiegelscherben eines Lebens, das Luca ganz sicher nicht geführt haben konnte, zumindest nicht als der Mann, der er nun war. All das wovon Ayco erzählte, geschah vor etwa 100 Jahren. Soweit Luca sich erinnern konnte, war er ein neunundzwanzig jähriger Mann, der zwar kein schönes Leben geführt hatte, aber zumindest eines woran er sich weitestgehend zu erinnern vermeinte. Aber vielleicht hatte Ihad ihm zu viel seiner Erinnerung versiegelt? War er doch älter? Für die wenigen Sommer, die er lebte, konnte er eindeutig zu viel - wusste zu viel. Dennoch gab es gemeinsame Erinnerungen von Aycolén und ihm aus seiner Kindheit und Jugend, unumstößliche Tatsachen, die sein Leben mit schweren Schicksalsschlägen als Eckpunkte in der Geschichte Valvermonts sogar fixierten.
In Lucas Hals bildete sich etwas, dass ihm die Luft abschnürte und ihn schwindeln ließ. Für Sekunden wurde ihm so schlecht, dass schwarze Lichtblitze seine Sicht zerrissen. Der Boden neigte sich leicht unter ihm. In diesen Sekunden verwischten seine Gedanken vollkommen und er fand ein wenig Ruhe in der nahen Ohnmacht.
Erst als sich seine Gedanken wieder klärten vernahm er Aycos Stimme, die sich mit dem lautlosen Flüstern Tams vermischte.
„Ist alles in Ordnung, Luca? Das alles war zu viel für dich, oder?“, fragte der Elf besorgt.
‚Kyle und Ihad sind dir einige Antworten schuldig, Luca’, bemerkte Tam zeitgleich und mit tiefer Sorge aber auch unbändiger Neugier. ‚Du stößt gerade auf ein Paradoxon, dass du kennen müsstest, aber was dir fremd ist. Luca, mein Freund, das ist wichtig. Versuche alles daran zu setzen diese Bruchstücke zusammenzusetzen.’
Luca schluckte hart, setzte den Wasserschlauch an die Lippen und verschüttete die Hälfte fahrig. Tambren schimpfte sofort, als das Wasser ihn und den Stoff des Hemdes benetzte. „Gebadet habe ich schon, du Dummkopf!“
Der Magier schloss die Augen und atmete tief durch, gleichzeitig reichte er Ayco den Wasserschlauch. „Verzeih, Liebster“, flüsterte er. „Die Beeren und das Wasser vertragen sich offensichtlich nicht gut.“
Ayco nahm die Ausrede hin und Luca war insgeheim sehr dankbar, dass der Elf nichts davon wusste, wie robust sein Magen wirklich war.
„Geht es wirklich?“, harkte Ayco vorsichtshalber noch einmal nach. Sanft strich er mit seinen kühlen Fingern über Lucas Stirn. Der Magier nahm diese Berührung als ungemein wohltuend wahr. Langsam entspannte er sich wirklich wieder.
„Erzähle ruhig, mein Liebster.“
„Ich hatte damals einen Freund, den konnte I’Eneel nicht ausstehen. Er sah dir unheimlich ähnlich, war auch ein Zauberlehrling, wie ich und...“ Ayco verstummte.
Luca wendete den Kopf und sah den jungen Mann fragend an. In Aycos Blick spiegelte sich Unsicherheit und starke Verwirrung. Er schüttelte seinen schönen Kopf und rieb sich die Schläfen.
„Und?“, fragte Luca sanft nach, während er Aycos Arm berührte.
„Mir war sein Name entfallen“, murmelte der Elf tonlos.
„Wie hieß er?“, fragte Luca, obwohl er die Antwort kannte.
Der Elf richtete sich auf Knie und Hände auf, um näher zu seinem Freund zu kommen. Der Magier saß entspannt mit ausgestreckten, aber übereinandergeschlagenen Beinen gegen einen Baum gelehnt, Tam auf der Schulter und Lea neben sich. Ayco setzte sich auf Lucas Oberschenkel, ergriff mit beiden Händen Lucas Gesicht und betrachtete ihn lange. Vorsichtig strichen seine Fingerspitzen über die Wangen des Magiers. Luca hatte das Gefühl sein Geliebter wolle mit seinen Händen jedes Detail seiner Mimik und seines Aussehens einfangen.
„Luca“, beantwortete der Magier leise seine eigene Frage. „Das ist doch der Name, den dein Freund hatte, oder?“
In der Stimme des Magiers lag eine unheimliche Ruhe, dieselbe wie schon vor einigen Stunden.
Es war eine unumstößliche Tatsache, der weder er noch Ayco entgehen konnten. Der Magier hatte schon einmal gelebt und er war sich sehr sicher, dass er bei dem Untergang von Night’s End umgebracht worden war.
Aycoléns Körper bebte. Seine weit aufgerissenen Augen sagten Luca zu deutlich, dass er diese Erkenntnis nicht ganz so einfach verkraftete, und schon gar nicht Lucas Emotionslosigkeit verstand.
Luca lächelte still, schloss Ayco in seine Arme und vergrub seinen Kopf in den weichen, weißen Haaren.
„Wenn das, woran du dich erinnerst so wahr ist wie die winzigen Fragmente meiner Erinnerung, so habe ich in einer sehr ähnlichen Gestalt mit der gleichen Persönlichkeit schon einmal gelebt, Ayco“, flüsterte Luca.
„Aber wie kannst du dabei so ruhig bleiben?!“, rief der Elf entsetzt.
„Wenn ich die Nerven verliere, weil ich etwas nicht verstehe, oder im Heer meine Souveränität einbüße, worauf können sich dann die Männer und Frauen, die mir anvertraut sind, überhaupt noch verlassen?“, fragte Luca ihn. In seiner Stimme schwang so viel Sanftmut mit, dass Ayco mit ähnlicher Ruhe darauf reagierte.
„Alles, was ich nicht verstehe, was unerklärt bleibt, verdränge ich nicht sondern bewahre meine Fragen auf, bis ich sie stellen kann oder schlicht die passenden Fragmente habe um ein Bild daraus zu erschaffen, was meiner Logik folgt.“
Ayco atmete tief durch und richtete sich in Lucas Armen auf. „Du bist wirklich nicht mehr der Hilfsbedürftige Junge von damals. Weißt du wie schlecht und schwach ich mir nun vorkomme?“
Luca legte ihm seine Fingerspitzen über die Lippen und genoss für wenige Sekunden das seidige weiche Gefühl und den warmen Atem.
„Ayco, lass uns gemeinsam herausfinden, was damals hier passierte, wieso du die Erinnerungen an mich verdrängt hattest und ich als die selbe Person wiedergeboren wurde, mit dem gleichen Namen und dem selben Ansinnen Magier zu werden.“
Ayco nickte deutlich gezwungener. „In Ordnung. Ich erzähle dir, woran ich mich erinnere.“ Sein Kopf hob sich. Allerdings blieb er Luca so nah und setzte sich nun ganz auf den Schoß seines Freundes. Behände sprang Tambren von Lucas Schulter zu Ayco und rollte sich in dem Arm des jungen Mannes ein. Luca ahnte, warum der Drachling das tat. So war die mentale Verbindung zu dem Elf stärker und einfacher aufrecht zu erhalten.
Liebevoll kraulte Luca Aycos Nacken mit einer Hand, während er die Finger der anderen in die des Elfs verschlang.
„Erzähl, mein geliebter Engel“, flüsterte er.
Aycos Worte malten in Lucas Phantasie nur zu deutlich Bilder, schon weil er Kyle, Aycos Vater bestens kannte und sich zu erinnern glaubte, dass der Ritter auch damals seine Hände nicht bei sich behalten hatte, als er Luca kennen lernte. Aber er war immer Freund und Schutzschild für seine Kinder und den jungen aus Valvermont gewesen, Begleiter und Spielgefährte. Er sah sich mit Ayco als gleich altes Kind durch die Wälder toben, in Bächen baden und I’Eneel ärgern. Ayco, Lea und Luca waren einst Freunde, Kinder, wovon nur eines zu einem jungen Erwachsenen wurde. Luca fehlten Monate, teils Jahre, in denen er nicht bei seinen Freunden war, aber in jedem Fall fanden die drei immer wieder zueinander. Nur ereiferte sich I’Eneel immer stärker darüber und wollte besonders die beiden Jungen voneinander trennen. Ayco lernte mehr von Luca, dessen Leben scheinbar in einem Zauberorden begann und der, mit Ausnahme der Zeit hier in Night’s End nie an einem anderen Ort gelebt hatte, als von I’Eneel.
Zu Anfang duldete I’Eneel die Freundschaft, doch später, als sie intensiver wurde und auch – bestimmt durch das Seraph-Blut – enger und liebevoller, unternahm er alles, um Luca von Ayco fern zu halten.
Der letzte Tag von Night’s End, verwischte scheinbar in Aycos Erinnerungen zu Nebeln, die er nicht mehr durchdringen konnte, vielleicht auch weil seine Seele sich vor dem, was geschehen war, zu schützen versuchte.
Aber einige Details hatte er nicht vergessen. Luca hört stumm seiner Beschreibung zu.
„I’Eneel hatte mich in das Herrenhaus eingesperrt, damit ich nicht in das Dorf laufen konnte. Vermutlich hatte er bereits anhand seiner Magie gewusst, was passieren würde, denn er machte sich auf den Weg dort hin, um seinem Packt nachzukommen.“ Aycos Stimme bebte. „Er konnte mich nicht halten. Im Gegensatz zu ihm kannte ich jeden Schlupfwinkel des Hauses und auch den Dachausstieg. Er hatte wohl auf meine Angst zu fliegen gebaut. Insofern hatte er sogar recht, denn ich war zu feige, als ich oben auf dem Boden stand und hinab sah.“ Wütend schlug Ayco seine Faust gegen den Baum. „Verdammt. Wäre ich nicht so feige gewesen...“
„Wärest du jetzt tot!“, fuhr ihn Tambren, der bisher geschwiegen hatte, ärgerlich an. „Vielleicht hat der alte Mann so dein Leben bewahrt!“
„Aber ich hätte an der Stelle sein sollen, wo Lea und meine Mutter starben!“ Aycos Stimme überschlug sich. Luca verstand die Anspannung des Jungen, seine Gewissensbisse und den tiefen Gram darüber zu gut. Sein Blick glitt zu Lea, deren materielose Kiefer aufeinander mahlten. Die Augen des Geistermädchens verloren sich in der Entfernung, an dem Ort, wo sie einst starb.
Die Genugtuung über Aycos Schmerz allerdings war ihr anzusehen.
Luca schloss kurz die Augen. ‚Tam, bitte sage ihr, dass diese Niedertracht und dieser Neid auf ihren lebenden Zwilling so ungerecht ist. Ayco hat mehr gelitten als ihr Todeskampf hätte dauern können. Hundert Jahre Schmerz und Schuld auf seiner Seele, Einsamkeit und das Gefühl alles verloren zu haben, was ihm - einem Kind damals noch – die Kraft zum Leben gab, sind mehr als ein qualvoller tot.’
Lucas Verbindung wurde stärker zu Tambren und er nahm die Emotionen des kleinen Drachen sehr klar auf. Er fühlte die Überlagerung, das Erschauern Tams bei den tiefen, erregten Gefühlen Lucas und den Zorn auf Lea. Sogar die Übermittlung seiner Nachricht bekam er mit, schmerzhaft präzise.
Lea löste sich aus ihrer Starre. ‚Kyle war es! Er hat die Vernichtung begründet!’, donnerte sie. Blanker Hass verzerrte ihr schönes Gesicht zu einer grauenhaften Maske. ‚Er wollte nichts anderes als Dich! Und du weißt wieso. Ihr seid Seraphin, und er hat in dir sofort erkannt was du bist und wie wertvoll du für ihn bist. Darum hat er Mutter und mich verraten und hasst Ayco bis auf das Blut!’
Luca war sich sicher, dass Ayco genau mitbekommen hatte, was sie sagte, denn der Elf starrte sie verwirrt an. „Was meinst du damit, Lea?“, fragte er. Allerdings bevor sie eine Antwort geben konnte, fasste sich der Elf. Etwas in seiner Stimme änderte sich. Wut durchwob seine Worte.
„Du wusstest die ganze Zeit, dass Luca damals schon bei uns war?!“
Lea fuhr zusammen und sah ihn aus großen, runden Augen an. Sie hatte sich verraten in ihrem Hass.
„Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen?!“, zischte der Elf. Seine Fäuste ballten sich. Es schien Luca, als würde eine Form von Nebel, die Aycos Sicht der Dinge stark beeinflusst hatten, weggeweht werden. Das Vertrauen in Lea bröckelte augenscheinlich und der Elf rammte seine Faust mit einer Gewalt in die Rinde des Baumes, dicht neben Lucas Kopf, dass seine Knochen knirschten und seine Knöchel aufplatzten. Luca zuckte nicht zusammen. Ruhig saß er da und hielt den Elf fest. Aber in seinem Augenwinkel bemerkte er, wie Lea zurück wich.
‚Glaubst du, ich habe dich belogen?!’, verteidigte sie sich etwas hilflos.
„Oh ja, Lea, das glaube ich, du kleines Biest. Du musst mich wohl sehr hassen, dass du mich so narrst!“
Das Mädchen fuhr herum und floh in den Wald.
Luca konnte sie so gut wie ihn verstehen. Paradoxer weise tat ihm Lea sogar leid.
„Ayco“, flüsterte Luca, zog seinen Freund gegen seine Brust und barg den Kopf des Elfs in seinen Armen. Ayco, sprich weiter. Vielleicht klärt sich dann mehr für dich. Vielleicht siehst du ein, dass der Mann, den sie beschuldigt, keine Schuld trägt.“
„Ich habe ihn in den Flammen des brennenden Dorfes gesehen. Inmitten all des Blutes und der Leichen stand er, den zerfetzten Leib meiner Mutter in den Armen.“
Die Stimme des Elfs versagte ihren Dienst und wurde von einem kläglichen Schluchzen verschluckt.
„Lea hat dir gesagt, dass sie durch die Hand eures Vaters starb, nicht wahr?“, fragte Luca behutsam, während er Ayco streichelte und seinen Nacken kraulte.
Der Junge war nicht mehr in der Lage zu antworten, aber er nickte schwach.
„Sage mir einen Grund warum Kyle diesen Ort vernichten sollte? Das ist der Platz, an dem er seine Familie in Sicherheit glaubte. Viel eher bin ich der Auffassung, dass er zu spät kam, und nur noch die Toten vorfand. Das ist, was er mir sagte...“
„Was...“, Aycos Stimme erstarb kurz in einem erstickten Atemzug. „Was macht dich so sicher bei Kyle...? Was hast du mit ihm zu tun?“
Für einen winzigen Moment rang Luca mit sich. Er war sich ganz und gar nicht sicher, ob der Elf diese Wahrheit nicht als Betrug an seiner Liebe und seinem Vertrauen auslegte. Aber er konnte Ayco nicht belügen.
„Kyle Trehearn und ich stammen von demselben Seraphin ab. Wir sind Brüder, Ayco.“
Eine recht lange Zeit schwieg der Elf, erhob sich irgendwann von Lucas Schoß und reichte ihm Tambren zurück in die Arme. Der Drachling übermittelte Luca eine seltsam tiefe Ruhe aus der Seele des jungen Mannes. Die Bestürzung oder Wut, mit der Luca gerechnet hatte, blieb aus. Ganz im Gegenteil schien der Elf erleichterter als zuvor.
Er lächelte plötzlich. „Danke, dass du es mir gesagt hast, Luca.“
Der Magier hob eine Braue. „Ich dachte Du verabscheust Kyle aus tiefstem Herzen?“, harkte er nach.
„Ich bin mir nicht sicher, Luca.“ Entschuldigend hob er die Schultern. „Aber dich kann ich nicht für sein Verhalten verantwortlich machen, zumal du selbst wohl noch nicht lange weißt, dass ihr aus derselben Blutlinie stammt, oder?“
Luca lächelte. Er hatte das Gefühl etwas bei Ayco erreicht zu haben, wenigstens das bisschen Offenheit, was er brauchte, um auf seinen Vater zuzugehen, und ihn nicht gleich wieder von sich zu stoßen. Die beiden mussten vieles miteinander bereden. Vielleicht konnte Kyle Ayco auf den passenden Weg zurück leiten, aus dem rachsüchtigen Bann Leas heraus, in ein eigenständiges Leben.
„Ich war mir schon von Anfang an sicher, dass ich dein Gesicht, leicht verändert bereits kannte. Ihr seid euch optisch sehr ähnlich, oder?“, fragte Ayco.
Luca wiegte leicht den Kopf, erhob sich ebenfalls und setzte Tambren in sein Hemd. Der Drachling suchte eine ganze Zeit nach einer angenehmen Schlafposition, bis er sich endlich passend ausgerichtet und zusammengerollt hatte. Wenige Augenblicke später schnarchte es bereits wieder leise aus Lucas Kleidern.
Zärtlich strich der Magier über den Stoff unter dem er das Schuppenkleid seines kleinen Gefährten spürte.
„Ja, ähnlich sind wir uns“, bestätigte Luca. Kyle ist nur größer und wesentlich muskulöser als ich. Außerdem sind seine Züge härter und weniger weibisch als die meinen.“ Er grinste. „Sein Haar ist lang und silbrig weiß, wie deines.“
„Du bewunderst ihn sehr, oder?“, fragte Ayco. In seiner Stimme schwang leichte Eifersucht mit.
„Ja“, gestand Luca. Sein Blick glitt an Ayco vorbei in den frühabendlichen Himmel. Die Sonne sank und die Schatten der Häuser in Night’s End wurden länger. Die ersten Nachttiere erwachten. Neben sich hört Luca sehr dicht den Ruf eines Käuzchens und sah einige Katzen über den Dorfplatz zu dem Gasthof streben, wohl - wie er dachte - um einige Essensreste zu bekommen. Er lächelte. Das Bild Kyles in seiner schweren, dunklen Rüstung, stand ihm direkt vor Augen. Haarsträhnen, die aus seinem Zopf herausgezogen waren, wehten im Sommerwind um seine Wangen. Der Blick der intelligenten, grünen Augen hatte etwas Gütiges und ein warmes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Für einen winzigen Moment glaubte Luca zwei kleine silberhaarige Elfenkinder zu sehen, die auf ihn zustürmten und an ihm hoch sprangen. Ja, er liebte und bewunderte seinen Halbbruder sehr und er freute sich immer von ganzem Herzen Kyle wieder zu sehen und ihn in seine Arme schließen zu können.
Mit einer Hand ergriff er Aycos Arm und drückte ihn sanft. „Ich bewundere Kyle und wünschte mir manchmal so zu sein wie er, aber ich bin Luca, nicht Kyle.“
Ayco lächelte verlegen. Luca drückte ihn sanft. „Ich will hinunter ins Dorf, mit Orpheu reden, mit Aki und einige alte Freunde besuchen. Begleitest Du mich?“
Der Elf wollte im ersten Moment den Kopf schütteln, aber ein Funke Neugier erwachte in seinen Augen und er nickte.
„Wenn ich nicht allein bin, wird es sicher gehen.“
Mit den letzten goldenen Sonnenstrahlen betraten Ayco und Luca den Innenhof des Gasthauses. An runden, hölzernen Tischen saßen Dorfbewohner und Gäste zusammen und spielten Karten, verhandelten miteinander, erzählten sich Anekdoten oder lachten über Dinge, die weder Ayco noch Luca mitbekommen hatten.
Auf der Heckenrosen überwachsenen Mauer saß eine schwarze Katze und beobachtete die Männer und Frauen gelangweit, die sich bei Bier, Wein und Schnaps amüsierten. Die farbigen, bleigefassten Fenster waren weit offen und Lucas Blick ging ungehindert in die Gaststube. Auch die Tür hatte der Wirt an der Wand eingehängt, damit seine Schankmägde leichter hinaus und hinein konnten.
Hier draußen zogen Raven und Justin die größte Aufmerksamkeit auf sich. Der halbzwergische Dieb hatte eine ganze Gruppe Interessierter um sich geschart, die seinen Erklärungen zu einem neuen Spiel aus Valvermont lauschten und denen er seine meisterhaft gearbeiteten Karten dabei vorführte. Justin saß etwas abseits, auf dem Rand des Ziehbrunnens, umringt von einer Horde kleiner Kinder und schöner, junger Mädchen, die gebannt an seinen Lippen hingen. Er erzählt ganz offensichtlich einige seiner verträumten Märchen aus dem alten Valvermont, als die Stadt vor Jahrhunderten noch in Elfenhand lag.
Als der Elfenvampir Luca gewahrte, lächelte er ihm zu und winkte. Scheinbar hatte er all das, was er getan hatte, schon längst wieder verdrängt.
„Du wirst ihm doch nicht vergeben haben, Luca?“, fragte Ayco. In seinem Tonfall schwang eine leise Drohung mit.
Der Magier legte den Kopf schräg, sah Ayco an und schmunzelte. „Ganz ehrlich, glaubst du, Justin weiß das noch? Im Moment ist er der ruhige, liebenswerte Barde, der die Kindergeister bezaubert und Mädchenherzen raubt.“
Ayco schnaubte kurz. „Er hat dein Blut geraubt!“, protestierte er. „Das kann dieser elende, spitzohrige Scharfzahn nicht vergessen haben!“
Luca hob die Schultern. „Doch. Er wird daran keine Erinnerung mehr haben. Alles, was er in seinem Zorn oder aus seiner Verletzung heraus tut, ist später aus seiner Erinnerung getilgt. Wenn man ihn damit konfrontiert, bereut er es. Aber ändern kann man ihn nicht, schon gar nicht ich. Letztlich ist er wegen mir so geworden.“
Ayco wiegte zweifelnd den Kopf. „Du umgibst dich mit Wahnsinnigen und nennst es normal.“
Luca lachte leise und nickte. „Bin ich denn nicht auch völlig verrückt?“
Der Elf verschränkte die Arme vor der Brust und hob strafend beide Brauen. „Sei dir gewiss darin, dass ich mit Justin nicht so schnell wieder Frieden schließe.“
Luca deutete Justin gegenüber eine leichte Verneigung an und erntete dafür ein strahlendes Lächeln. Das Gefühl tiefen Glücks und unheimlicher Zufriedenheit, bemächtigte sich des Magiers. So, wie Justin sich nun verhielt, liebte Luca ihn als seinen Freund.
„Im Moment könntest du mit ihm alles machen, Ayco. Das ist der Mann, der unser Freund in unserer Kindheit war.“
Lucas Worte schienen Ayco nicht zu genügen. Der Elfenvampir imitierte das finstere Gesicht Aycos und lachte dann. Alle Kinder um ihn brachen ebenfalls in Gelächter aus.
„Er macht sich über mich lustig!“, ereiferte sich Ayco verärgert. Um größeren Schaden zu vermeiden, nahm Luca seinen Freund am Ärmel und zog ihn mit sich in die Gaststube.
Auf den Stufen kam ihnen ein hübsches, rotblondes Mädchen mit einem Tablett und duftendem Braten entgegen. In Lucas Hemd regte Tambren sich und begann zu schnüffeln. Halb im Traum und halb in der Wirklichkeit gefangen schmatzte er leise und sein Kopf reckte sich aus der Hemdschnürung hinaus.
„Er besteht nur aus zwei Eigenschaften“, stellte Ayco trocken fest. „Entweder er frisst oder er schläft.“
Luca wiegte den Kopf. „Das stimmt nicht ganz. Er nimmt ja nicht nur die Umwelt über Sinnesorgane wie Ohren, Augen, Nase und Tastsinn wahr. Er sieht mehr, weil er in die Seelen der Lebewesen blicken kann, hört ihre Gedanken und empfindet ihre Gefühle. Vor allen anderen auch besonders die meinen. Das verdrängt seine eigene Persönlichkeit und schadet ihm, wenn er nicht die Möglichkeit zur Ruhe findet.“
„Aber in dir“, wiedersprach Ayco, „hat er doch einen sehr ruhigen und gefestigten Mann. Das dürfte ihm am wenigsten Sorgen bereiten.“
„Glaubst du?“, fragte Luca und sah dabei über die Schulter zu Ayco zurück. „Du weißt nicht, wie es in meiner Seele und meinem Herzen aussieht. Viele Ruhe ist erzwungen. Tambren weiß das, und er hilft mir diesen Ausgleich zu schaffen.“
Verblüfft erwiderter Ayco Lucas Blick. „Ich dachte...“, murmelte er, brach dann aber ab.
Über beide Männer fiel ein Schatten. Luca nahm den schweren, süßlichen Duft von Räucherwerk wahr, das Aroma von Ihads Haut, was der junge Magier bestens kannte.
„Meister“, sagte er leise und neigte den Kopf vor Ihad.
Mit dieser, im Moment unangenehmen Überraschung, hatte Luca nicht gerechnet. Tief in sich hegte er die ganze Zeit hindurch die Hoffnung, dass Ihad bereits wieder in den Orden zurückgekehrt und seinen Zorn auf Luca langsam abgekühlt hatte.
„Deinen Widerspruchsgeist hast du wieder eingebüßt, nicht wahr, Lysander?!“, fragte der Dämon herausfordernd.
Luca hob den Blick und sah ihm still in die Augen. „Nein, ich habe nur gehofft, euch nicht anzutreffen!“, sagte er provokant.
Ihads Augen funkelten drohend. Luca fiel auf, dass er nun nur die Gestalt eines Menschen als Maske trug. Seine Bronzehaut schimmerte noch immer unnatürlich, aber seine Augen hatten die goldbraune Farbe von dunklem Honig und sein Haar fiel in dunkelbraunen, schimmernden Schlingen über seine Schultern und seine nackte, breite Brust. Die Hörner fehlten gänzlich und seine Klauen waren fein manikürte Nägel.
Plötzlich lächelte Ihad. Sein breiter Mund verzog sich und die vollen, dunklen Lippen schimmerten feucht. Ganz fein konnte Luca den Duft Cyprians auf Ihads Haut wahrnehmen.
Scheinbar hatte sich der Dämon abreagiert und sich an seinem Bruder ausgetobt. Innerlich dankte Luca seinem Mentor aus ganzem Herzen.
„Hunger“, murmelte Tambren, dessen Köpfchen auf Lucas Schulter lag, völlig zusammenhangslos.
„Dein Drachling verhungert, Lysander, fülle seinen kleinen Kugelbauch!“, befahl Ihad.
Der Magier wollte im ersten Moment etwas entgegnen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Speichel des kleinen Drachen langsam den Stoff seines Hemdes Tränkte, nickte er nur ergeben.
Ayco und Luca folgten Ihad in den Schankraum.
Dort erschien es Luca als angenehm kühl und schattig. Die Dielen knarrten leise unter seinen Schritten. Allerdings nahm er Ayco, der direkt hinter ihm ging, gar nicht richtig wahr. Der junge Elf schien über den unebenen Boden zu schweben. Luca dachte bis dahin, dass er einen leichten Schritt besaß. Ayco übertraf ihn um Längen. Mit einem Blick über die Schulter, stellte der Magier fest, dass sein Freund die Grazie eines Tänzers besaß und die Lautlosigkeit eines Diebes.
Für den Moment schob der Magier den Gedanken von sich und sah sich in der Gaststube um. Die Tische in den Alkoven waren alle voll besetzt. Dörfler wie auch Gäste und reichlich bekannte Gesichter aus dem Heer, hielten sie besetzt. Wie draußen aßen, tranken und spielten die Leute, unterhielten sich und diskutierten. Hinter dem Tresen aus aufgerichteten und vertäuten Fässern, stand die Wirtin und füllte aus einem gewaltigen Tonbehälter Schnaps in kleine Becher. Eine Magd wartete ungeduldig vor dem Tresen und eine weitere ging ihrer Herrin zur Hand, indem sie ständig neue Becher auf dem Tablett abstellte.
Aus der Küche drang der Duft gebratenen Fleisches und einer wohlriechenden Gemüsesuppe.
Ein weiteres Mädchen trat aus der Küche, zwei lange Holzbretter auf den Schultern, gefüllt mit heißem, frisch gebackenem Brot. So sehr Luca diese Schwäche hasste, aber ihm lief bei diesen Düften das Wasser im Mund zusammen. Dabei musste er sich kasteien, denn eine der grundsätzlichen Auflagen des Ordens war die Askese zugunsten der Reinhaltung des Geistes und der Disziplinierung der eigenen Wünsche.
Ein fetter und behäbiger Kriegsmagier hätte wohl auch kaum lange im Feld überlebt.
Luca schob schon fast gewaltsam den Gedanken an etwas zu Essen von sich. In Gegenwart Ihads würde er sich ohnehin keine Schwächen erlauben können und wollen.
„Herrlich, dieser Duft, nicht wahr Lysander?“, stichelte Ihad.
Luca war für einen Moment versucht seinem Großmeister irgendeinen harmlosen kleinen Fluch anzuhängen, verkniff sich aber jeden Gedanken an Rache, schon weil ihn die illustere Gesellschaft seiner Gefährten davon ablenkte.
Vor dem kalten Kamin saßen an einer Tafel die, wohl bemerkt, reichlich gedeckt war, Orpheu, Thorn und dessen schöne Tochter Camilla, aber auch Linette, Nea, Kione, Ria und Aki Valstroem, die wesentlich weniger damenhaft erschien in ihren groben Hosen und dem schweren, Lederwams, über dem sie einen Kettenüberwurf trug. Etwas entfern, rechts von einem leeren Platz, den sicherlich Ihad eingenommen hatte, saß Cyprian, in elfischer Gestalt. Sein langes, weißes Haar hielt er in einem Zopf gebändigt und die kühlen, edlen Züge erinnerten ein wenig an Aki. Luca hatte im Moment keine Schwierigkeiten seinen Mentor mit ihr gleichzusetzen. Nur fand sich weitaus mehr Hochmut ich den hellblauen Eisaugen Cyprians, als in denen der Königin des Nordens.
Er hielt die Hände unter dem Kinn verschränkt und betrachtete sie Fliege, die sich gerade in seinem Wein ertränkte. Ihn interessierte nicht im Geringsten, was die schnatternden Frauen zu erzählen hatten, und Kione, seit sie wieder durch das Tageslicht wandeln durfte, war ein redseliges Weib.
Sein Blick hob sich erst, als Ayco sich einen Stuhl von einem anderen Tisch herbei zog und neben ihm nieder ließ.
„Gelangweilt?“, fragte der Elf spöttisch. Cyprian musterte ihn einige Sekunden, als wolle er einschätzen, ob es sich lohnte den Energieaufwand für eine Antwort in Kauf zu nehmen. Als Luca den Kreis an diesem Tisch schloss, nickte er schließlich.
„Schön euch zu sehen!“, begrüßte Orpheu Ayco und Luca.
Der Magier lächelte verlegen, während Aycos fröhliches Grinsen auf Höhe seiner Ohren endete.
„Wir haben schon von eurem wahnsinnigen Heldenstück gehört“, begann der Hauptmann, verstummte aber sofort, als Lucas Hemd sich wild bewegte. Tambren kämpfte sich unelegant hervor und wollte gerade auf die Tischplatte springen, als Luca ihn auffing und auf seine Schulter verdammte.
Enttäuscht schnaubte der Drachling. „Das ist Drachenquälerei!“, beschwerte er sich. „Lysander, selbst du kannst nicht so grausam sein und mich bei gedeckter Tafel verhungern zu lassen!“
„Du bekommst ja gleich, Gierschlund!“, wies Ayco Tambren zurecht, noch bevor Luca etwas sagen konnte.
Der Magier hob eine Hand und wartete, bis eine Schankmaid zu ihm trat. Das Mädchen blieb stehen und klemmte ihr Tablett unter einen Arm. Dann neigte sie sich zwischen Ayco und Luca vorbei zu Tambren und kraulte ihm das Köpfchen. Dem Magier entging nicht, dass ihr draller Busen absichtlich gegen seine Schulter drückte und ihr gerüschtes Hemd so weit herabrutschte, dass ihre Brustwarzen fast hervor sprangen.
„Schön euch wieder hier zu haben, Lysander“, begrüßte sie ihn. „Und auf dich habe ich mich auch schon gefreut, kleiner Drache. Dir bringe ich gleich etwas Feines.“
Sie richtete sich wieder auf und einige ihrer langen, dicken Locken vielen über ihre vollen Brüste.
‚Läge dein Interesse nicht offenkundig bei Männern, Luca’, stichelte Tam, ‚wäre sie nur zu bereit dir jeden Aufenthalt hier mit ihrem Körper zu versüßen.’
Luca hob nur eine Braue und ignorierte seinen Drachling. Darauf zu antworten lohnte sich nicht.
Das Mädchen drehte sich nun zu Ayco um. „Nun, hübscher Elf, was kann ich dir bringen?“, fragte sie herausfordernd.
Ayco war offensichtlich das Spiel bei Luca nicht entgangen. Schon fast feindselig betrachtete er sie. „Tee und eine Gemüsesuppe!“, orderte er knapp.
Ihad neigte sich etwas vor und sah Ayco tadelnd an. „Hast du die Grundsätze des Ordens vergessen?!“, zischte er ärgerlich.
Der Elf überlegte einige Herzschläge angestrengt, erschrak, konnte aber seine Bestellung nicht mehr zurück nehmen, denn das Mädchen hatte bereits, beleidigt und mit hoch erhobenem Haupt, den Tisch verlassen.
„Das hatte ich verdrängt“, gab Ayco zu.
Orpheu räusperte sich. „Hört mir zu, Florean …“ bei dem Namen zögerte der Hauptmann einen Herzschlag lang. „und Lysander.“
Diese förmliche Anrede rief in Luca wieder ein unbehagliches Misstrauen wach. Aufmerksam verfolgte er die klare, emotionslose Mimik Orpheus.
„Großmeister Ihad hat euch und euren Lehrling für einen neuen Auftrag freigestellt...“, setzte Orpheu an, wurde aber von Aycos impulsivem Aufschrei sofort unterbrochen.
„Lehrling?!“, rief er erbost. „Ich ein Lehrling?!“ Er sprang auf. Sein Stuhl drohte nach hinten zu kippen.
Äußerlich blieb Luca ruhig und gelassen, zog Ayco auch wieder sanft auf seinen Stuhl zurück, aber in den tiefen seines Herzens verfluchte er Ihads sinnlose Affronts gegen den Elf so sehr wie die leicht reizbare, unüberlegte Art Aycos.
„Beruhige dich“, bat Luca. In seiner Stimme lag ein scharfer Unterton, den Ayco nicht ignorierte. Sofort schwieg der junge Mann, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Orpheu sah entschuldigend zu Ayco, fuhr dann aber fort. Wir werden die Dame“, wobei er auf Aki wies, „nach Sarina geleiten und ihre Sicherheit in den folgenden Monaten gewährleisten, auch auf dem Rückweg nach Valvermont und Skaaren, in ihre Hauptstadt.“
Die weiteren Worte des Elfs gingen an Luca vorbei, ohne dass er sich wahrzunehmen vermochte. Sicher wollte er Aki helfen, den Krieg beenden und den Mann jagen, der es gewagt hatte, den Tod selbst einzukerkern. Aber er wollte es aus freien Stücken, nicht verkauft wie Vieh. Leider gab es nichts, womit sich Luca gegen den Willen Ihads auflehnen konnte. Für Orpheu war es sicher gut, denn er musste nicht auf Lucas magischen Schutz verzichten.
Eine warme, vertraute Hand legte sich auf Lucas Schulter. Als der Magier den Kopf wendete, stand der Hauptmann hinter ihm. Er neigte den Kopf zu Lucas Ohr. „Kommt mit mir, Magier. Ich muss mit euch reden.“
Einen kurzen Moment sah er zu Ayco, dessen Augen sich misstrauisch verengten. Zeitgleich allerdings drängte sich die Magd herbei und unterbrach den Blickkontakt zwischen den beiden Männern. Orpheu nutzte die Gelegenheit und zog Luca unsanft an der Hand mit sich in den Hof.
Erst als sie einige Schritte weit in eine Seitengasse des Marktplatzes gewichen waren, wohl verborgen in den Schatten der heraufziehenden Dämmerung, blieb Orpheu stehen. Luca, der immer noch sein Handgelenk in dem eisernen Griff des schwarzen Elf sah, starrte den Hauptmann nur abfällig an.
„Entschuldigt, Lysander“, sagte Orpheu schnell und löste seine Finger. „Die Gelegenheit war günstig. Außerdem bietet sich in dem Pulk, in dem wir zurzeit hausen, gar keine Gelegenheit, euch allein zu sehen.“
Luca atmete tief durch und rieb sich seine noch immer etwas taube Hand. „Schon gut, Orpheu. Entschuldige.“
Er sah in die Richtung des Gasthofes zurück. „Im Moment bin ich sehr reizbar. Aber das geht nicht gegen dich.“
Orpheu schlug den Blick nieder und strich sich über seinen elegant gestutzten Bart. „Ihr werdet gleich ziemlich wütend sein, Magier“, begann er leise und unruhig.
Luca hob eine Braue. „Weshalb? Weil ihr mich als Begleiter beibehalten habt?“
Der Hauptmann nickte, sah Luca dann allerdings auf eine fast bittende Weise an, die der Magier bislang gar nicht bei dem Elf kannte. „Seid mir nicht böse, aber ich konnte nicht zulassen, dass Meister Ihad euch in den Orden zwingt. Er hatte angedeutet, dass er euch einsperren lassen würde, wenn ihr seinen Befehlen weiterhin nicht Folge leistet.“
Er hob den Blick und sah Luca in die Augen. „Ich kenne euch gut genug um zu wissen, dass ihr ein Mann seid, der nicht eingesperrt sein darf. Das wäre, als würde man euch die Flügel ausreißen und in Ketten an den Boden fesseln.“
In Luca wuchsen die Schuldgefühle. Er hatte zu hart über Orpheu geurteilt. Das Vertrauen und die Waffenbrüderschaft hatten offenbar dem Hauptmann viel mehr von Lucas wahrer Natur verraten, als der Magier angenommen hatte.
„Entschuldige, mein Freund“, sagte Luca leise und ergriff beide Schultern des Elfs. „Ein treuer Freund bist du mir schon lange. Nun verdanke ich dir auch diese Freiheit.“
Über die Lippen des Hauptmannes huschte ein erleichtertes Lächeln. „Ja, Freunde sind wir. Die letzten Jahre haben dieses Band gefestigt. Lasst uns auch weiterhin einen gemeinsamen Weg gehen.“
Luca musste lächeln. „Ungefähr bis zum dem Punkt, an dem du eine Gefährtin findest und Vater wirst. Dann werde ich immer noch dein Freund sein, aber sicher nicht mehr dein Weggefährte.“
Orpheu machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nachdem Kione den ganzen Nachmittag geschwatzt hat, teile ich mit dem Weibsvolk viel lieber nur eine Nacht, aber nicht mein ganzes Leben.“
Nachdenklich nickte Luca. Orpheu als Bauer oder Handwerker, war auch für ihn unvorstellbar. Dieser Mann hatte nur ein Handwerk gelernt. Er war ein Krieger.
Der Wind trug die sanfte, schöne Singstimme Justins mit sich. Er sang eine Liebesballade und Luca hatte eine sehr klare Vorstellung der Szenerie um den Elf. Paare und Frauen lauschten ihm andächtig, verliebt und verzaubert von seiner Magie. Luca kam diese Musik so unpassend zu Orpheus Worten vor. Ein seltsames Paradoxon. Allerdings störte ein plötzliches Gefühl von Gefahr Lucas humorige Betrachtung der Situation.
Am Rande seines Sichtfeldes bemerkte Luca eine Bewegung. Als er den Punkt knapp neben Orpheus Gesicht allerdings fixierte, lag die Gasse still und ausgestorben da und mündete in einen ruhigen und leeren Marktplatz. Vermutlich waren seine Nerven überspannt oder er sah Geister, wo es keine gab. Dennoch lag eine greifbare Spannung in der Luft, wie die aufgeladene Atmosphäre vor einem Gewitter. Ohne es zu wollen, ruhte seine Hand auf dem Griff seines Schwertes. Die Waffe allerdings bot ihm keineswegs das Gefühl von Sicherheit.
Auch Orpheus feine Sinne hatten ganz offensichtlich diese Veränderung bemerkt. Er trug seine Rüstung nicht, verzichtete aber so wenig wie Luca auf seine Waffen, die beiden Langschwerter an seinem Gürtel. Sein Blick fixierte weiterhin Lucas Gesicht, las darin, wie schon so viele Male zuvor. Der Hauptmann verließ sich scheinbar auf die Sensibilität des Magiers für die Gefahr. Luca bemerkte, wie Orpheus Finger unmerklich nach seinen Waffen tasteten, ohne sie jedoch zu berühren.
Dann öffnete sich eine Tür zum Markt hin und Licht flutete über das Pflaster. Ein langer Schatten zog sich in die Gasse hinein. Er war ganz und gar nicht menschlich. Deformiert schien er, verwachsen, bis er seine Schwingen ausbreitete und sich vom Boden abstieß.
Luca vergaß sein Schwert und sammelte seine Konzentration auf einen Bannzauber. Gleichzeitig fuhr Orpheu herum. Er hatte seine Schwerter gezogen. Mit einem lauten Aufschrei sprang er nach vorne und beschleunigte seinen Schritt, um den Lauscher noch mit seinen Waffen zu erreichen. Luca schätzte Orpheus Chancen sehr schlecht ein. Der Seraph, es war ein Seraphin, würde schnell aus der Reichweite des Hauptmannes entflohen sein. Aber vielleicht gelang es Luca, noch rechtzeitig seinen Zauber zu beenden.
Er richtete seine Konzentration auf den schwarzen Engel, der bereits über die Höhe der Dächer gestiegen war. Dann schleuderte er seinen Zauber.
Zeitgleich damit stieg eine Feuerlohe auf und hüllte den Seraph in eine brennende Aureole. Neben sich spürte er Leas Präsenz, die so plötzlich wieder da war, wie sie zuvor geflohen schien. Er beachtete das Geistermädchen nicht. Seien Aufmerksamkeit galt dem jungen Seraph. Jung stimmte. Er war noch fast ein Kind. Die Flammen taten ihm weh, der Zauber Lucas zwang ihn herab und als Orpheu hinauf federte, um den Fuß des Jungen zu erreichen, wurde der schwarze Engel endgültig nieder gerissen.
Der Junge schrie hell auf, bevor ein sehr unschönes Geräusch brechender Knochen seine Lippen verschloss.
„Nicht, Orpheu!“, schrie Luca.
Um ihn herum flackerten Lichter auf. Die Leute kamen zu ihren Fenstern und traten aus ihren Häusern, um dem Spektakel beizuwohnen. Auch die Musik Justins war verstummt und hatte dem Murmeln und den erschrockenen Ausrufen der Dorfbewohner Platz gemacht. Luca eilte die wenigen Schritte zum Marktplatz und hatte schon Schwierigkeiten über die Masse hinweg zu Orpheu zu sehen. Ein Luca wohl bekannter, silbriger Haarschopf fand sich nah bei dem Hauptmann. Aycolén. Luca konnte sich nun nur zu gut den Feuerzauber erklären.
Der Magier schob sich vorsichtig durch die Menge. Mehr als einmal musste er Rippenstöße und Tritte hinnehmen. Er brauchte eine ganze Zeit, sich durch die aufgebrachte Masse zu drängen. Allerdings hörte er schon zuvor das leise Stöhnen des Jungen. Ayco trat einen Schritt beiseite, als Luca ihn und Orpheu endlich erreichte. In den Augen des Elfs loderte ungezähmte Wut, die sich allerdings nicht gegen Luca richtete. „Es war wohl gut, dass ich euch gefolgt bin!“, kommentierte er gereizt und deutete auf den Jungen, der sich zu seinen Füßen krümmte.
„Wie, du bist uns gefolgt?!“, stieß Orpheu hervor und setzte sofort nach: „Dann hast du also gelauscht?!“
Luca nahm sich vor, dem Gespräch nicht beizuwohnen. Er kniete neben dem jungen Seraphin nieder. Ayco, der ganz offensichtlich auch recht wenig Lust auf eine eingehendere Diskussion zu dem Thema Belauschen, Misstrauen und dergleichen noch hatte, setzte sich auf seine Fersen und half Luca, den Jungen auf die Seite zu drehen.
Der Magier bemerkte, dass dieser Seraphin ein außergewöhnliches Geschöpf hoher und reiner Abstammung sein musste, denn er trug vier Schwingen auf den Rücken, wovon allerdings die meisten Federn versengt waren, genau wie das Haupthaar und die nackte Haut. Er wimmerte leise vor Schmerzen bei jeder noch so leichten Berührung und Tränen rannen über seinen Wangen.
Sein Arm lag in einer unnatürlichen Pose abgeknickt und beide Beine schienen gebrochen.
Die Tatsache, dass Orpheu ihn mit aller Gewalt zu Boden gerissen hatte, musste seine Knochen schwer beschädigt haben. Luca kannte dieses Problem zu gut. Seraphin besaßen Hohlknochen, wie ein Vogel.
Luca tat der Junge von ganzem Herzen Leid. Er war vielleicht adäquat zu einem Menschen vierzehn Jahre jung. Allerdings, so überlegte Luca, zählte Ayco auch nur wenige Jahre mehr – war er doch in menschlichem Ermessen bestenfalls siebzehn oder achtzehn - und man hatte ihm mehr schlimmes angetan, als ein Menschenleben fassen konnte.
Nur war der Junge körperlichen Schmerz nicht gewohnt, etwas, dass Aycolén ertrug ohne mit der Wimper zu zucken.
„Wir müssen seinen Körper kühlen, bis Justin hier ist und ihn heilen kann, Ayco“, sagte Luca leise.
Der Elf nickte, deutete auf Lucas Wasserschlauch und zog sein Hemd über den Kopf. Luca tat es ihm gleich. Die Berührung des groben Stoffes brachten den Jungen erneut zum aufschreien. Allerdings seufzte er leise, erleichtert, als Luca das Leinen wässerte.
„Orpheu“, rief Luca. „Bring Justin hier her!“
Eilig entfernte sich der Hauptmann. Die Menge allerdings umringte Ayco und Luca noch enger.
„Ein Unglücksbote! Wir sollte ihn sofort erschlagen!“, rief eine Frau.
„Ja, wir sind dem Untergang geweiht!“, stimmte eine andere zu.
Immer mehr Stimmen gegen den Jungen wurden laut. Der Blick Aycos wurde dunkel, zornig. Luca sah die Angst in ihm, aber auch die unbezwingbare Wut gegen diesen alten Aberglauben.
„Nicht...“, wisperte der Junge schwach.
Langsam erhob sich Luca und sah sich in der Runde um. Der Marktplatz hatte sich gefüllt. Wanderer, Gäste, Dörfler, alle wollten sehen, was gesehen war, den Seraph begaffen.
„Ihr werdet nichts dergleichen tun!“, rief Luca. Seine Stimme hallte an den Wänden der Häuser wieder. Was immer geschah, die Männer und Frauen verstummten und sahen zu ihm. „Niemand wird dem Kind auch nur ein Haar krümmen. Dieser alte Aberglaube, dass Seraphin unheil bringen ist Unsinn!“ Er drehte sich einmal im Kreis und hob eine Hand. „In den Köpfen von euch allen hat sich die Vorstellung eingebrannt, dass man eine Rasse für alle Vergehen und alle Unglücksfälle verantwortlich machen kann. Aber jeder, wenn er ehrlich ist, muss aus seiner eigenen Erfahrung heraus sagen können, dass es in jedem Volk, jeder Rasse, Gute und Böse gibt und all die, die in der Grauzone dazwischen liegen. Wer hat in seinem Leben noch nichts Verwerfliches getan, ungerecht gehandelt, einen anderen betrogen oder belogen? Wer von euch kann sagen, dass er bislang immer nur Glück oder nur Pech hatte? Das Schicksal wird nicht durch Seraphin, die angebliches Unheil bringen und Celestial, die euch Schützen, bestimmt, sondern durch euer Handeln, euer Denken und euer Verhalten anderen gegenüber. Ihr macht es euch zu einfach, wenn ihr ein Kind, einen Jungen, der zufällig schwarze Haut und schwarze Flügel hat, für euren Zorn auf euer eigenes Schicksal und eure eigenen Handlungen zur Verantwortung ziehen würdet.“
Ayco hatte sich erhoben und Lucas Hand ergriffen. Er stand breitbeinig wie ein lebender Schutzschild über dem Jungen.
Sanft, vertrauensvoll, drückte Luca die Hand seines Freundes.
„Wer von euch einen Jungen einfach abschlachten will, muss erst an mir vorbei!“, rief Ayco zornig. „Er steht unter unserem Schutz! Unter dem Schutz von Großmeister Ihad vom Orden der grauen Pentakel!“
Luca hatte für einen winzigen Moment das Gefühl, dass ihm die Gesichtszüge nicht ganz gehorchen wollten, fing sich aber wieder, als er das wohlwollende Nicken Cyprians in der Menge bemerkte.
Allerdings sah er auch Thorn und Camilla unter den Neugierigen. In den Augen des Halbzwergs flackerte tiefe Angst, aber auch schwer zurückgehaltene Wut auf ihn, den Magier und Aycolén.
Camilla schien die Einstellung ihres Vaters nicht zu teilen, denn sie strahlte bei den Worten Aycos über das ganze Gesicht. Ihre rotbraunen Locken wippten, als sie ein Stück weit hochsprang und fröhlich lachte. „Gut so, Lysander! Ihr und euer Freund sprecht Wahres aus! Wenn wir uns dem Drang hingeben eine Rasse zu vernichten, wird es eines Tages eine andere sein, die dafür herhalten muss und deren Frieden dann bedroht ist! Das will keiner von uns, besonders nicht in einem Ort, der ein Schmelztiegel aller Völker ist!“
Einige andere, junge Leute, stimmten mit ein, aber die Alten zogen es vor, sich lieber zu schweigen.
„Wir haben es geschafft“, murmelte Ayco.
Luca sah ihn an und wiegte unsicher den Kopf. „Die Denkweise, die Jahrhunderte alt ist, kannst du sehr schwer im Bewusstsein der Leute ändern. Das wird so lange gut gehen, bis wir nicht mehr in Night’s End sind. Dann – würden wir den Jungen hier lassen – würden sie ihn ohne zu zögern töten.“
Ayco schauderte bei der düsteren Sichtweise Lucas merklich. „Bist du dir sicher?“, fragte er zögernd.
Der Magier antwortete nicht, aber seine Blicke reichten aus, um Ayco verzagen zu lassen.
Langsam drehte sich Luca im Kreis und sah über die Menge der Schaulustigen hinweg, die sich nicht rührte.
„Geht in eure Häuser“, drängte nun Thorn aus der Mitte der Leute heraus. Hilfe aus seinem Munde hatte Luca nicht erwartet. Er kannte den Einfluss, den der Halbzwerg auf die Dörfler hatte. „Kommt schon, verschwindet endlich!“, befahl er ärgerlich.
Einige Stimmen wetterten dagegen, aber als sich tatsächlich die ersten abwendeten und gingen, zogen immer mehr und mehr Leute ab.
Luca atmete auf. „Nun ist es überstanden.“
Als er sich dem Jungen zuwendete, fand er den Blick des Kindes ängstlich aber klar. Er kniete sich wieder neben ihm nieder und strich ihm mit einer Hand die Haare aus der Stirn. „Warum musstest du auch so etwas unsäglich dummes tun?“, fragte er sanft.
Justin saß noch eine ganze Weile an der Seite des Jungen, versorgte ihn vorsichtig mit heilenden Kräutern, Tee und warmer Suppe. Seine Verbrennungen und Brüche hatte er mit seiner Magie geheilt, aber die Angst in dem Jungen blieb, selbst vor dem schönen und sanften Heiler, der im Moment das Herzstück des Lebensquells zu sein schien. Als Justin Luca und Aycolén aus dem Zimmer des Gasthofs schicken wollte, klammerte sich der Junge mit aller Macht an seine beiden Beschützer. Tränen rannen über seine eingefallenen Wangen und seine Lippen formten stumme, flehende Bitten.
Ayco hatte sich neben dem Knaben auf das Strohbett gesetzt und allein aus einer beschützenden Geste heraus, den jungen Seraph umschlungen, während Luca Justins Gemüt beruhigte. Auch Orpheu ließ sich nicht des Zimmers verweisen, was den Jungen eher wieder Schutz unter den Decken und hinter Aycos Rücken suchen ließ.
Als Justin endlich seine Arbeit beendete, war es schon nicht mehr weit von dem nächsten Morgengrauen entfernt. Ayco konnte sich nur noch mit Hilfe Tambrens wach halten, der jedes Mal, wenn der junge Mann einnickte, ihn in die Seite kniff. Manchmal, wenn Orpheu sich unbeobachtet wähnte, gähnte auch er hinter vorgehaltener Hand und rieb sich seine leicht entzündeten Augen. Der Junge selbst war schon lange eingeschlafen. Luca, der zumindest einen Teil des Tages schlafend zugebracht hatte, hatte das Gefühl noch der zu sein, dem die Müdigkeit am wenigsten zusetzte.
Sogar der Vampir streckte sich, gähnte ungeniert und rieb seine verspannten Muskeln im Rücken.
„Wenn keine weiteren Einwende bestehen, ziehe ich mich für einige Stunden zurück“, murmelte er, wobei er ein weiteres mal gähnte, dann zu Ayco trat, ihm einen Kuss auf die Wange gab, dem Jungen noch einmal über das Haar strich und zu Luca ging. Den Magier umarmte er kurz, küsste sanft seine Lippen und hob Orpheu gegenüber eine Hand. „So gehabt euch denn wohl, meine lieben Freunde.“ Er lächelte schläfrig. „Und bitte, bei allem was ihr macht, seid leise und denkt an den müden Mann im Nebenraum.“
„Ruh’ dich aus, alter Freund“, lächelte Luca.
Der Elf deutete eine sehr unelegante Verneigung an und schloss die Tür hinter sich. Nachdem der Riegel im Nachbarraum vorgeschoben worden war, wendete sich Ayco nicht weniger erschöpft an Luca. „Was glaubt er, tun wir heute noch, was Lärm verursacht?!“
Seine Stimme schwankte wie trunken.
Der Magier hob die Schultern. „Rauschende orgiastische Feste, Zeremonien voll finsterster Lust, ich weiß es nicht; jedenfalls all das, was keiner von uns auch nur hinbekäme, wäre er halb so müde.“
Er scheuchte Orpheu vom Fenster weg und öffnete es, um die Läden vorzulegen. Der schwarze Elf reckte sich kurz und vergaß, dass dieser Gasthof nicht für schwarzhäutige, zu groß geratene, elfische Drachenmischlinge gedacht war. Seine Hände stießen unsanft gegen die Deckenbalken und holten Staub aus den Ritzen. Eine aufgescheuchte Spinne huschte aus dem Lichtschein fort und der Hauptmann nieste mehrfach.
Luca legte den Finger über die Lippen. „Sei leise und wecke den Jungen nicht auf.“
Orpheu rollte ärgerlich mit den Augen. „Ich habe die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, den Knaben hier zu fragen, warum er uns belauscht hat. Nun ist er bestens versorgt, meine Gelegenheit auf eine schöne Nacht dahin und bald wird es schon wieder Morgen. Jetzt seid ihr mir auch eine Antwort schuldig, Lysander. Fragt euer Drachenvieh...“
Luca sah ihn strafend an. „In Ordnung“, revidierte Orpheu gereizt. Fragt Tambren bitte, warum der geflügelte Halbhohe uns belauscht hatte!“
In seiner Stimme schwang immer noch verhaltene Wut mit. An sich wollte auch Luca das zu gerne wissen, insbesondere weil er die Gefahr so deutlich gespürt hatte, und sich seien Ängste dann nur als lächerlicher Junge herausgestellt hatten.
Er sah einige Sekunden auf den schlafenden Knaben herab. So unschuldig und sanft sah das Kind aus, einfach nur schutzbedürftig. Es gelang Luca kaum den Gedanken der Bedrohung in sich zu bewahren. Besonders weil Ayco nun endgültig eingeschlafen war und der Junge seinen Kopf an das Knie des jungen Elfen geschmiegt hatte, ihre Finger ineinander verschränkt und vertraut, als wären sie Brüder.
Luca zog die Decken höher über beide und kniete sich neben sie auf den Boden. Für ihn war dort kein Platz mehr.
Tambren allerdings kroch nun zu Luca. Er rollte sich neben seinem Herren zusammen. „Was der Junge wollte?“, fragte er Orpheu.
Der Hauptmann nickte. „Ja.“
„Ich konnte aus seinen Erinnerungen herauslesen, dass er auch aus den Höhlen kam, allerdings war er ein völlig harmloser Diener, ein Hübscher Gespiele des Mannes, der das Lager leitete. Gregories Leibdiener eben.“
In den Augen Orpheus flackerte es. Er konnte seine Wut kaum zügeln. „Ich hätte das kleine Biest wie einen Käfer zertreten sollen!“, stieß er hervor.
Luca sah über die Schulter zu seinem Hauptmann und schüttelte den Kopf. „Ein Kind ist ein Kind. Du kannst ihn nicht für das verantwortlich machen, was sein Herr verlangt. Ein Junge in diesem Alter ist noch recht naiv...“
„Wart ihr das auch, Luca?“, fragte Orpheu, wobei er sehr großen Wert darauf legte, den wirklichen Namen des Magiers zu verwenden. Luca legte den Kopf schräg, sah einen Herzschlag still in die schattige Ecke des Raumes und schüttelte den Kopf. „Nein, das war ich nicht“, gestand er leise und sehr nachdenklich. „Aber ich war da auch schon seit einigen Jahren ein Magier, kein Lehrling mehr, und hatte alles verloren, was mir Freunde und Familie waren. Davon abgesehen habe ich meinen Körper eingesetzt um zu erhalten was ich wollte. Nein, ich habe mich nicht wie ein Kind verhalten. Aber ich bin auch ein schlechtes Beispiel, Orpheu.“
Der Elf betrachtete Luca eingehend. Viel hatte ihm der Magier nicht von sich preisgegeben, aber er hatte dem Hauptmann einen Einblick in die Abgründe gegeben, aus denen er kam.
„Seid bitte vorsichtig, Luca“, mahnte er den Magier noch einmal. „Ich traue dem Bengel da alles zu, nur nichts Gutes. Kind hin oder her, nicht alle müssen solche netten Kerle werden, wie ihr einer seid.“
Bevor Luca auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte sich der Hauptmann umgedreht und den Raum verlassen.
Das Gespräch mit Orpheu hatte Luca durchaus nachdenklich gemacht. Der Magier saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen den Rahmen des Bettes gelehnt und grübelte über dem Gedankengang. Tambren, in seiner treuen Art, wachte mit ihm, half ihm alles noch einmal zu durchdenken. Luca hatte – wie so oft – viele unbeantwortete Fragen. Einiges konnte ihm nur der Junge sagen, in dem er eine mögliche Informationsquelle für sich sah, allerdings hatte er auch einige Fragen an Ayco. Er hoffte auf das Wissen des Elfs, denn er musste den Jungen, wahrscheinlich in anderer Gestalt, schon einmal gesehen haben.
Über den Gedankengängen allerdings schlief auch er irgendwann ein. Allerdings kam der Schlaf nicht lange zu ihm. Sein Rücken und das Gesäß schmerzten irgendwann von dem harten Boden und der Stütze, und die nächtliche Kälte riss ihn immer wieder in den Wachzustand zurück. Er hatte hier leider weder ein weiteres Hemd, noch einen Mantel oder Decken. Schließlich zog er die Beine höher an den Leib und umschlang sie mit den Armen.
Tambrens Versuche ihn zu wärmen scheiterten kläglich. Schließlich löste Luca seinen Zopf und verbarg sich unter dem dichten Haarmantel, der ihm zumindest einen Schutz vor der Kälte bot.
Dann versank sein Geist wieder in unruhigen Träumen.
Immer wieder schreckte Luca hoch, verfolgt von Bildern bei denen er nicht genau sagen konnte, ob sie Wirklichkeit oder Traum waren. Wieder waren es Fragmente, Erinnerungssplitter wie die, der er aus Leas Geist heraus gelesen hatte. Sie waren so unstet und verwirrend, dass er oft nur wirre Szenen sah, die durchsetzt von seinen Ängsten, noch bizarrer anmuteten. Ein Bild allerdings hielt sich immer und verfolgte ihn in den Dämmerzustand nah an den Rand des Erwachens. Die Szenerie klammerte sich fest in seinen Geist, die Spieler auf dieser seltsamen Bühne und das, was sie darstellten.
Hintergrund war ein Flammenmeer, ein Vulkanischer Strudel, der feurige Gasfontainen irrsinniger Hitze ausspie. In dieser dampfenden Hitze, bis zu den Knöcheln eingesungen, stand der Findling, das Felsenkind, nur realer, fast ein humanoides Geschöpf, zusammengekrümmt wie ein Neugeborenes, nackt und hilflos. Ein Geschöpf, einer Gliederpuppe gleich, hing an einem Fuß an einer goldenen, in den flammen schimmernden Kette, fein wie Halsschmuck, aber schneidend wie Draht. Dieses Puppengeschöpf war ein kleines, entstelltes Elfenmädchen, ein Ding aus Fleisch, an dem die Gelenke mit Drähten verbunden waren. Seine – oder viel eher - ihre Augen, waren wie im Todeskampf erstarrt und verdreht, halb unter den Lidern versunken. Blut verklebte das graue Kleidchen und das silbrigweiße Haar. Ein anderes, noch sehr kleines Kind, schwarz und gefiedert, kauerte auf einem winzigen Flecken erstarrter Lava, die sich hinter ihm zu grauem, dunstigen Rauch und später zu einem wabernden Nichts verband und den Eindruck der Unendlichkeit erschuf. In seinen Fingern hielt er, es war ein Junge, einen Teil der Kette und zog das eine oder andere mal unschlüssig daran. Allerdings nicht die Fleischpuppe regte sich, sondern ein anderes Elfenkind mit Silberhaaren und weißen Flügelchen, das wie zufällig an der Szenerie, dem Flammenhimmel, aufgehängt schien, in der Taille umwunden von der feinen Goldkette, in beiden Händen ein Sonnenamulett eines Feuerpriesters. Na den unteren Flammen des Schmuckstückes hielt sich ein anderes Kind fest, auch gefiedert und schwarz, wobei sich die Kette leicht um seine Arme und Beine schlang, locker, nicht erdrückend. Während es an dem Amulett pendelte, spielerisch daran zerrte, zogen sich um die beiden Elfen die Glieder enger. Der Balg regte sich unkontrolliert und fiel auf den Rücken. Ihr Gesichtchen hatte man zerschlagen und dunkle Leere gähnte in ihrem Kopf.
Das andere Elfenkind würge hilflos und erschlaffte unter dem Druck der Ketten. Allerdings hatte all das nur eines zur folge. Durch die Bewegung in dem Gewirr aus Gold, Blut und Flammen, verwoben sich die Ketten um den Findling, der scheinbar mehr als Stein war. Adern, Fleisch, Muskeln und Blut bildeten sich aus dem Felsenkind und gaben grob die Struktur eines Menschen preis. In seiner Brust klaffte ein gewaltiges Loch, dort wo sein Herz schlagen sollte. Dennoch lebte er und war bei Bewusstsein, als die Fesseln immer zahlreicher wurden und sein Fleisch mit den Knochen zusammen zermalmten.
Das war immer das letzte, was Luca sah, bevor er Schweiß gebadet hoch schreckte. Nach dem vierten oder fünften Mal, wollte er endlich den letzten Rest Müdigkeit von sich streifen und richtig erwachen, doch es gelang ihm nicht. Und dieses Mal war kein kleines Mädchen da, was ihn die Nacht hindurch wach hielt mit ihren Geschichten und Wünschen. Allerdings war das auch nicht das Haus des Schmiedes. Luca hatte das Gefühl in seinen Alpträumen gefangen zu sein. Er begriff nicht mehr, was um ihn geschah und vor allem weshalb es geschah.
Irgendwann, Luca konnte nicht sagen wann, weckte ihn Tambren auf seine ganz eigene Art. Die kleinen Drachenzähne bohrten sich tief in Lucas Haut und zerrissen endgültig die grauen Spinnwebennebel, die ihn gefangen hielten.
Im Ersten Moment war Luca versucht wilde Flüche auszustoßen, weil der Drachling unbeabsichtigt tief in seinen Arm gebissen hatte, aber andererseits war er Tam, der sofort die Wunde zu lecken begann, sehr dankbar.
Behutsam strich er dem Drachling über den Kopf und sah ihn an. Durch die Ritzen der verschlossenen Fensterläden drang etwas Tageslicht herein und der Magier konnte sehen, dass der kleine Drachling weinte. Luca nahm ihn sanft hoch und drückte ihn an sich.
Tambren krallte sich ungewohnt heftig in Lucas Hemd und Haut, schlang sogar seinen langen Schwanz um den Nacken des jungen Mannes. ‚Ich hatte plötzlich keine Verbindung mehr zu dir!’, wisperte seine ängstliche Stimme in Lucas Geist. ‚Du warst weg, so als hätte es dich nie gegeben. Ich hatte so furchtbare Angst. Außerdem hat es so wehgetan. Und da war eine gewaltige Leere. Es kam mir so vor, als wenn du von einem Moment zum anderen gestorben wärest.’
Luca drückte ihn fest und kraulte ihn. Was er fühlte, an was er sich erinnerte, verheimlichte er Tam nicht. Der Drachling krallte sich mit Vehemenz an Luca. Seine Gedanken versuchten das, was Luca in seinen Träumen gefühlt und gedacht hatte, zu ordnen, sah sich aber selbst völlig überfordert damit. Resignierend gab er auf. Die einzigen für ihn und Luca klaren Punkte, waren die Symbolik der beiden Elfenkinder, Ayco und Lea und das Amulett. Es war sicher das Amulett ihrer Mutter.
Besorgt drehte Luca den Kopf zu seinem Liebsten. Ayco lag ruhig in den Kissen und Decken, den Jungen eng an sich gedrückt und schlief fest. Die Träume dieser Beiden schienen weitaus angenehmer zu sein, denn Ayco lächelte glücklich und der Junge hatte sich mit dem süßesten Kindergesicht halb auf ihm zusammengerollt.
Vorsichtig neigte sich Luca über die Beiden und hauchte jedem von ihnen einen Kuss auf die Wange.
‚Ich muss mich waschen, schon weil mein Ärmel voller Blut ist, Tammy. Meinst du, ich kann die beiden alleine lassen?’, fragte er seinen Freund vorsichtig. Tam krallte sich an Luca. ‚So lange du mich nicht alleine lässt...? Ich will bei dir bleiben!’
Der Magier betrachtete Ayco und den Jungen einige Sekunden unschlüssig. Allerdings war er sich nicht sicher, ob von diesem zauberhaften Kind nicht doch Gefahr ausging. Er hatte nicht vergessen, was er vor einigen Stunden in dieser Gasse gefühlt hatte. Das zusammen mit den Träumen und dem, was Tam sagte, ging er vielleicht ein wesentlich zu hohes Risiko ein.
Das Gefühl als stünde der Tod selbst in seinem Rücken, und das, so musste Luca zugeben, hätte ihn weniger gestört, da er Aki wesentlich mehr Vertrauen entgegen brachte, manifestierte sich in Form eines eisigen Schauers.
Lea stand hinter ihm.
Sie sah ernst aus und betrachtete wechselweise Ayco mit dem Jungen und Luca. „Ich habe so viele Fragen, Lea, aber du würdest mir sicher keine einzige beantworten wollen und können, oder?“, flüsterte der Magier.
Das Mädchen sah aus wachen Augen zu ihm, lächelte und hob die Schultern. Dann deutete sie auf Ayco. ‚Du und ich sind damals gestorben, nicht er. Du bist mir viel näher im Tot und dem Leben hinter den Barrieren“, entgegnete sie offen. ‚Du hast Seite an Seite mit unserer Mutter gekämpft und mit ansehen müssen, was sie ihr und mir antaten. Danach haben sie dich bei lebendigem Leib zerrissen, dein Herz heraus geschnitten und dich den Tieren zum Fraß vorgeworfen.’
Die Beiläufigkeit ihres Tonfalles ließ Luca mehr schauern als der Inhalt ihrer Worte. Sie erzählte es ohne die geringste Gemütsregung. ‚Du warst dabei; und mehr noch, du warst sein Grund. Es ging ihm nur um deine Vernichtung!’
Lucas Lippen formten still das Wort Wer, aber Lea hatte sich auf die Kante neben Ayco gesetzt und strich ihm mit ihren dünnen kleinen Kinderfingern über die Wange. Der Elf zuckte zusammen und erbleichte. ‚Er lebt. Das ist gut so. Aber ich musste sterben. Manchmal beneide ich ihn darum. Und ich beneide ihn um die Liebe, die er fühlt und die er bekommt.’
Tambren befreite sich rigoros aus Lucas Armen, sprang ungeschickt auf die Schulter des Magiers und machte einen uneleganten Satz hinüber zu den beiden schlafenden Jungen.
Mit gefletschten Zähnen und ausgefahrenen Krallen, das Schuppenkleid aufgeplustert, baute sich der Drachling zwischen Lea und Aycolén auf. „Leandra, wage es nicht sein Leben zu rauben!“, zischte Tambren mit veränderter Stimme. Das war nicht mehr der oft so verfressene und niedliche Drache, den Luca so liebte. Tambren tat genau das, was auch er als seine Aufgabe ansah. Er beschützte, was er liebte. Die Stärke, die Tambren dabei bewies, machte Luca stolz und glücklich.
Auch wenn er vielleicht nicht übermäßig beeindruckend aussah, gerade Katzengroß, zu dick und kurzbeinig, so versprühte er dennoch eine Aura, die jedem Eisdrachen Konkurrenz gemacht hätte.
Lea schien das zu bemerken, denn sie wich, sichtlich bedrängt durch den Drachling. Dann sprang sie vom Bett und huschte durch die Wand. Innerlich rollte Luca mit den Augen. Sie hatte sich das Zimmer ausgesucht, wo ein Geist die wahrhaftig schlechtesten Chancen hatte. Justin bewohnte es und er zauderte nicht lange, zumindest so lange er wach war, was Luca im Moment ernsthaft bezweifelte.
Durch das Gewicht des Drachlings auf seiner Brust erwachte der Elf recht schnell.
„Tam, runter von mir!“, scheuchte er den kleinen Drachen. Eilig nahm Luca seinen Vertrauten auf den Arm und drückte ihn liebevoll an sich. ‚Gut gemacht, mein Schatz’, lobte er ihn wortlos.
‚Was, Ayco zu wecken?’, gab Tam spitz zurück.
Still hob der Magier eine Braue. In seinen Armen beruhigte sich der Drachling sehr schnell wieder vollkommen und rollte sich zusammen. Augenscheinlich schlief er, aber unter seinen gesenkten Lidern beobachtete er den Jungen und Ayco.
Gähnend setzte sich der Elf auf und betrachtete den jungen Seraphin auf seiner Brust. „So warst du auch mal, Luca.“
Der Magier senkte den Blick und nickte. „Jeder war mal jung, selbst die, bei denen es uns schwer fällt es zu glauben.“
„Spielst du auf dieses fanatische Ungeheuer an, auf Thorn?!“, fragte Ayco, dessen Stimme einen schneidenden Klang annahm.
Luca trat zu den Fenstern, öffnete sie und schob die Läden zurück. Eilig brachte sich der Drachling auf Lucas Schulter in Sicherheit. ‚Fiesling’, schalt er den Magier. ‚Dabei war es gerade so schön bequem in deinen Armen.’
Luca ignorierte ihn in diesem Punkt.
„Ja, ich meine Thorn“, bestätigte Luca. Helles Sonnenlicht durchflutete den kleinen Raum. Seine eigenen Augen protestierten schmerzhaft gegen die Behandlung. Aber der nahe Wald, der Duft nach frischem Brot, die Stimmen der Leute auf dem Marktplatz und die Geräusche der Tiere, der Packesel, der Hund, Vögel und Katzen, entschädigten ihn. Die letzten schwarzen Traumfäden zerrissen, und trotz des blutenden Armes, fühlte sich Luca nun endlich wohl und erleichtert. Der Alptraum lag hinter ihm. Eine leise, dünne und böse Stimme wisperte in seinem Hinterkopf: ‚Für den Moment ist der Alptraum verschwunden, aber warte nur bis zur Nacht.’
Luca drehte sich zu Ayco um und setzte sich auf das Fensterbrett.
Der Elf kämpfte seinerseits noch immer mit der Helligkeit.
Seine Iris hatte sich erweitert. Mit einer Hand schützte er sich gegen das Licht.
Der Junge, der über ihm lag, gähnte herzhaft und streckte sich. Dank Justins heilender Hände und gesunder Kräuter, ging es dem Kleinen wieder gut. Er räkelte sich auf Ayco, rollte sich ganz auf den Schoss des Elfs und rieb sich an ihm. So lasziv, wie sich der Knabe bewegte, musste Luca mehrfach gallebittere Eifersucht hinunter schlucken. Aber er hatte nicht vor wie eine Glucke über den Elf zu wachen. Ayco konnte tun und lassen, was ihm gefiel. Er musste auch einiges einstecken können, wenn Justin Luca zu nahe trat, und der Magier bezweifelte, dass der Elfenvampir je damit aufhören würde, zumal Justin in Luca immer noch das Zentrum seiner Lust sah.
Offenbar rückte der Junge allerdings Ayco auch zu nah und der Elf schob ihn unsanft von seinem Schoß in die Laken, um sich zu erheben. Unwillig knurrte der Kleine, hob die Lider und betrachtete Ayco sehr genau. Luca und der Elf folgten beide dem Blick. Ayco errötete, wendete sich rasch ab und verließ eilig den Raum, um den Abort zu suchen.
Der Junge lächelte verlegen. Dann sah er zu Luca und wurde ernst. Er schob die Decken von sich und schwang seine Beine vom Bett. So wenig wie Luca störte es ihn scheinbar sich nackt zu zeigen. Der Magier verschränkte nur still die Arme vor der Brust. Die Reaktion schien dem Jungen zu verdeutlichen, das Luca nicht auf seine Spiele einging und keine Annäherungen duldete.
Der Junge legte den Kopf in den Nacken, ließ ihn Kreisen, als sei seine Muskulatur stark verspannt, verharrte dann allerdings in einer sehr unbequemen, lauernden Pose.
„Du hast mich doch gestern gebannt, oder?“, fragte er leise.
Luca nickte still.
„Und du hast mich gerettet, vor dem Pöbel.“ Seine Worte waren eine schlichte Feststellung, keine Frage. „Warum hast du nicht zugelassen, dass sie mich umbringen?“
Luca entging der lauernde Unterton in der Stimme des Jungen nicht. Er hob eine Braue.
„Einer Leiche kann ich schwerlich Fragen stellen“, entgegnete er nach einigen Herzschlägen. „Und Fragen habe ich an dich.“
Der Junge zuckte mit keiner Wimper. Vielmehr schlug er interessiert die Beine übereinander, wobei er Luca einen tiefen Einblick zwischen seine Beine gewährte. Der Magier registriere es und ignorierte es zugleich. „Das zieht bei mir nicht, Junge. Diese Tricks habe ich schon einige Jahre früher und wesentlich besser beherrscht.“
Enttäuscht zuckte der Kleine mit den Schultern. „Schade. Es wäre sehr schön gewesen, wenn du darauf eingestiegen wärest. Vielleicht hättest Du meine Dienste gemocht und mich weiter ausbilden können.“ Über seine Lippen huschte ein verführerisches Lächeln.
Tam seufzte hilflos und legte seinen Kopf auf Lucas Schulter. ‚Die Dienste dieses Jungen sollte jeder ablehnen, Luca. Er ist noch ein Kind!’
‚Beruhige dich, Tam’, gab Luca zurück. ‚In einem hatte Orpheu allerdings Recht. Er ist so wenig ein kleiner Junge wie ich es war. Diener, sagtest du? Ich weiß, welche Dienste er für diesen Gregorius verrichtet hat.’ Nachdenklich setzte er hinzu: ‚Eigentlich ist er ein bemitleidenswertes Geschöpf. Seltsam. Wir sind Brüder im Geiste, oder?’
„Wie ist dein Name, Junge?“, fragte Luca. Seine Stimme klang ruhig und gefasst.
„Gerome“, antwortete der Kleine.
Über Lucas Lippen huschte ein warmes Lächeln. „Dir wird es sicher auch lieber sein, wenn man dich bei deinem Namen nennt, oder?“
„Bei meinem Herrn habe ich keinen Namen. Da bin ich nur der Schöne, oder sein Engel“, entgegnete Gerome leise. In seiner Stimme schwang leise Trauer mit. „Er weiß sicher nicht, wie ich heiße. Das ist aber auch für einen Leibdiener nicht wichtig, oder?“ Er betrachtete Luca aus großen, fragenden Augen.
Der Magier legte den Kopf in den Nacken und überlegte. Mesallas Leibdiener hatten Namen und der Stadtprinz kannte sie alle sehr genau.
„Dein Herr ist ein Monster, wenn er dir die Kraft deines eigenen Namens nimmt, Gerome. Mit deinem Namen, mein Kind, verbinden sich deine Seelenkräfte“, erklärte Luca leise und betrachtete ihn. Der Kleine senkte nachdenklich den Blick und nagte an seiner Unterlippe. Die Lider senkten sich halb über die großen Kinderaugen. Der Kleine hatte Lucas Schwachpunkt getroffen. Dieses hilflose, unschuldige, was er eben ausstrahlte, brach dem Magier fast das Herz.
‚Vorsicht, Luca!’, warnte Tam.
Der Magier allerdings hatte sich bereits von seinem Sitzplatz gelöst und trat an das Bett heran. Die zierliche Gestalt mit den vier schwarzen Schwingen, saß dort, ganz in sich gekehrt und versunken in seine eigene Gedankenwelt.
Ruhig kniete Luca sich vor dem Jungen nieder. Behutsam ergriff er die Hände des Knaben und drückte sie sanft. „Lass dich nicht von einem anderen benutzen, Gerome. Mach nicht die Fehler, die auch ich schon gemacht habe. Dieses Leid will ich dir ersparen können, kleiner Bruder.“
Die riesigen Augen des Jungen richteten sich auf Luca. Sie hatten die Farbe des Himmels, klar und blau, hell leuchtend. Luca sah in Gerome wirklich einen kleinen Bruder. Sie beide waren Seraphin, sie stammten aus Adelshäusern, sie dienten hohen, mächtigen und bösen Männern und boten ihre Körper an, um wenigstens halbwegs sorgenfrei durch das Leben zu kommen. Der Kleine umklammerte Lucas Hände nun fester.
„Versprichst du mir, ehrlich zu sein, und dich mit deiner devoten Art nicht anzubieten, zurückzuhalten, Gerome?“, fragte Luca leise. „Deinen Körper wirst du nur der Person schenken, die du liebst?“
In beiden Fällen nickte der Junge.
Luca lächelte. Hinter ihnen öffnete sich die Tür und Ayco trat ein. Eine Sekunde lang verharrte er reglos, versuchte das Bild einzuordnen, trat dann aber zu Luca hinüber.
Tadelnd hob er den Finger. „Wenn du mir noch einmal so ungeniert zwischen die Beine schaust, besonders wenn ich gerade erst wach geworden bin, Kleiner, lege ich dich übers Knie und prügele dich durch, klar?!“, drohte er. Allerdings grinste er dabei unverhohlen breit. Luca atmete erleichtert auf. Allerdings entdeckte der Elf auch gerade die blutigen Bisswunden Tams in Lucas Arm. „Wie ist das denn passiert?!“ fragte Ayco leise nach und befühlte sanft den Arm des Magiers. Luca spürte die Wärme des Elfenkörpers, nahm den Duft Aycos wahr. Für einen Augenblick wollte er sich nur anlehnen und einfach alles andere, sogar Gerome, aus seinem Geist verbannen. Allerdings war ihm dieser friedvolle Moment nicht beschieden.
„Tut das weh?“, fragte er ernst, ganz der erwachsene Elf.
Luca schüttelte den Kopf. „Nein“, lächelte er. „Es war eine typisch Tam-Liebesbezeugung...“
„Gar nicht wahr!“, zischte der Drachling verärgert. „So was zäh Gammeliges würde ich nie anfressen!“
„Was ist passiert!“, bohrte Ayco mit wesentlich mehr Nachdruck.
Gespielt gelassen sah Luca den Elf an, behielt aber Gerome in seinem Sichtfeld, sodass er den Jungen noch aus dem Augenwinkel beobachten konnte.
„Ich bin schlicht aus meinem Alptraum nicht mehr erwacht, Liebster“, sagte er ehrlich. „Und wäre Tambren nicht gewesen, hätte sich meine Seele in den Träumen verloren.“
Erschrocken fuhr Ayco zusammen und sah Luca voll Sorge an. Was Luca bei Gerome wahrnehmen konnte, war milde Besorgnis, aber auch leiser Ärger in den schönen, hellen Augen.
„In der kommenden Nacht wache ich über dich“, beschloss Ayco leise, aber mit extremem Nachdruck, der seitens Lucas keine Einwände gelten ließ.
Der Magier ignorierte es vorerst. Er besah sich nachdenklich seinen Arm. Die Wunde blutete nur noch leicht. Bald würde es aufhören und nichts davon übrig sein, außer einigen kleinen Löchern in der Haut, die an den Traum erinnern konnten.
„Ich fühle mich schmutzig...“
Ayco lächelte. „Das waschen wir aus und dann holen wir uns frische Kleider bei Thorn. Wir können ja schwimmen gehen und...“ Er unterbrach sich, lachte dann aber, als habe er einen Entschluss gefasst. „Ich kann euch beiden ja mal das alte Herrenhaus zeigen. Vielleicht ist es ja noch bewohnt. I’Eneels Haus. Da habe ich die erste Magie gelernt!“
Lucas Magen krampfte sich aus irgendeinem Grund schmerzhaft zusammen. Als er allerdings das Nicken Geromes und die leuchtenden Kinderaugen sah, behielt er all seine Einwände, die er sich bereits zurecht gelegt hatte, zurück. Scheinbar liebten Kinder allen Alters unheimliche, verwunschene, düstere Gemäuer.
Etwas in ihm warnte ihn zwar erneut vor Gefahren, allerdings verschloss er den Gedanken genau so fest, wie das Gefühl, dass der Knabe wesentlich bedrohlicher war, als er erschien.
‚Du bist dumm’, schalt ihn Tam aus. Die Sorge des Drachlings erdrückte Luca im Moment fast, weil er sie wie seine eigenen Gefühle wahrnahm.
‚Und du bist wie eine Glucke, kleiner Freund. Wenn er für Ayco und mich gefährlich ist, reize ich ihn vielleicht zu unüberlegten Handlungen und er lässt seine Maske fallen.’
Tam antwortete nicht, zog sich aber auch nicht in weitere düstere Zukunftsgrübeleien zurück.
Der Magier beobachtete wie Ayco den Jungen nachdenklich betrachtete.
„In den Höhlen habe ich dich gesehen, aber da hattest du menschliche Gestalt. Der Körper jetzt ist etwas...“, er zögerte. „... provokant?“, beendete er seine Überlegung.
Über Lucas Lippen huschte ein kurzes Lächeln.
„Provokant ist eine leise Untertreibung. Das wäre wie mit einem blutigen Fleischstück vor hungrigen Wölfen zu wedeln“, erklärte er. „Davon abgesehen sind vier Flügel unmöglich unter einem Hemd unterzubringen.“
Ayco nickte nachdenklich. „Wie unsere Vorfahren wohl die kalten Jahreszeiten durchgestanden haben?“, fragte er nachdenklich. „Für die heiße Zeit wären fließende Tuchgewänder und Kleidung mit Bändern und Schnallen denkbar. Aber im Winter?“
Zweifelnd umrundete er den Jungen und schüttelte den Kopf. „Ich friere so schon jeden morgen und Abend.“
Luca musste leise lachen. Auch Gerome schien sich unheimlich zu amüsieren. Der Junge kicherte hinter vorgehaltener Hand.
„Was denn?!“, zischte Ayco gekränkt. „Ich bin nun mal fast nie in meiner Geburtsgestalt sondern fast immer ein Elf!“, erklärte er. Außerdem hat mir meine Mutter nichts dazu verraten und mein Vater war nie da, wenn ich darüber nachgedacht habe!“
„Vielleicht wart ihr mal von Kopf bis Fuß behaart?“, mutmaßte Tambren scherzhaft, wobei er genau wusste, dass ein Seraph gar keine Körperbehaarung hatte bis auf den Kopf.
„Wozu, denkst du“, erklärte Luca, „haben wir solch dichte und fast porenlose Haut, die dicker ist und unseren Körpern einen natürlichen Schutz gegen Waffen gibt? Das lange Haar und die doppeltmannsgroßen Flügel sind keine Zierde. Sie dienen dazu uns zu wärmen.“
Gerome nickte altklug. Luca sah zu ihm. Momentan fühlte er sich wie ein Schulmeister. Aycos Ärger hatte er so auf alle Fälle auf sich gelenkt. In den Augen des Elfs funkelte es wütend.
„Also läuft ein Seraph normal nackt herum?“, fragte er lauernd, offenbar in der Hoffnung Luca endlich verbal auszuhebeln. Allerdings hatte der Magier einige seines Volkes kennen gelernt und vieles über die Geschichte der Seraphin gelernt, wie sie zusammenlebten, was sie unterschied, dass es gefiederte aus den Waldtälern und solche mit Lederschwingen gab, die in den Bergen lebten, in ihren Felsenschlössern.
„Wir tragen in unserer natürlichen Gestalt anliegende Kleidung, die unsere Freiheit während des Fluges nicht behindert, aber wärmt“, entgegnete er ruhig. „Hosenanzüge aus weichem, flexiblen Leder, gehalten mit Schnallen und Bändern. Das Haar wird zusammengebunden oder abgeschnitten. Binnen einer Woche ist es ohnehin wieder so lang wie zuvor.“
Sein Blick strich über Gerome, der sich gerade streckte und dabei die Gestalt veränderte, kleiner, zierlicher und noch unschuldiger wurde. Sein langes, weiches Seidenhaar fiel ihm in die blasses Stirn und die hellen Augen. Locken ringelten sich über seine schmalen Schultern und seine schlanken Arme. Dieses Kind war ausnehmend schön und in seinem menschlichen Körper noch weitaus zauberhafter als in der Gestalt des Seraphin.
Luca langte nach seinem Hemd, mit dem er in der Nacht den verbrannten Körper des Jungen gekühlt hatte, reichte es ihm kommentarlos und reichte ihm das Lederband, mit dem er seinen Zopf zusammengebunden hatte.
Der Kleine betrachtete das Leinen mit gerümpfter Nase und musterte Luca. „Bist du nicht ein Magier?“, fragte er.
Luca hob eine Braue und erwiderte den Blick des Knaben.
Als Gerome endlich verstand, dass Luca nicht vorhatte auf seine Spitze einzugehen, setzte er hinzu: „Du trägst solch einen schönen, teuren Armschmuck, hast überall auf deiner Haut eingeschnittene und eingestochene Zeichnungen und Symbole, aber dir fehlt das Geld für besseren Stoff als grobes Leinen?“
Luca verkniff sich den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag. „Du sagst es“, antwortete er. „Ich bin Magier. Mein Sold wird in Material und Zauberrollen, Waffen und Pferde investiert.“
Still setzte er hinzu: ‚Wäre ich ein reiches Jüngelchen, würde ich mir vermutlich davon edle Tuche leisten können, einen Leibschneider und Schmuck. Aber was nützt dieser Tand im Kampf? Der Schmuck behindert sinnlos, die Tuche würden die erste Nacht auf Felsboden nicht überstehen.’
In Lucas Geist bildete sich ein zustimmendes Nicken Tams.
‚Der Kleine ist zu verwöhnt für einen Leibdiener, der keinen Namen hat’, überlegte Luca still, sagte allerdings laut: „Zieh dich an, Gerome. Wir wollen gehen!“
Im Schankraum saßen zwei sehr übermüdet aussehende Männer über den Resten ihres Frühstücks und ihren schon längst erkalteten Teebechern. Sie sprachen nicht miteinander, saßen sich gegenüber, die Köpfe weit gesenkt und erschöpft von der letzten Nacht. Justin reagierte knapp vor Orpheu, als Ayco, gefolgt von Gerome, der notgedrungen in Lucas Hemd steckte und das Haarband als Gürtel nutzen musste, und einem leicht angespannten Luca, der sich desolat und schmutzig fühlte.
Außer Hose und Stiefeln trug er nichts. Seine aufgelösten Haare wehten um seinen Körper und verschlangen sich in den Schnallen seiner hohen Stiefel. Sein Arm hatte zwar aufgehört zu bluten, aber er konnte sich nur notdürftig mit dem Wasser aus der Karaffe, die sich in jedem der Zimmer befand, reinigen. In den Tiefen seines Herzens hatte er gehofft Orpheu und Justin nicht zu begegnen. Allerdings entschädigte ihn das beleidigte Gesicht Leas, die brav und still neben dem Elfenvampir stand und so aussah, als habe er ihr nicht nur die Leviten gelesen, sondern sie auch über das Knie gelegt. Es war eben doch dumm als Geist Justin zu wecken und ihn, wenn er schlechte Laune hatte, auch noch Widerworte zu geben.
Allerdings hielt sich die heimliche Schadenfreude des Magiers gerade so lange, bis Justin anzüglich grinste und auf die nackte Brust Lucas deutete.
„Die Nacht war wild“, bemerkte er spitz.
Hinter vorgehaltener Hand grinste Orpheu. „Guten Tag, Magus. Habt ihr wohl geruht?“, fragte er. An dem spöttischen Funkeln in seinen Augen war zu erkennen, dass er Luca auch liebend gerne aufziehen wollte.
Der Magier atmete tief durch und schluckte alle Antworten herunter. Ayco allerdings wendete sich halb um. „Genau damit habe ich gerechnet.“ Mit dem Kopf deutete er zu Justin. „Du reizt ihn damit.“
Bevor Luca sich auch nur andeutungsweise eine Antwort überlegen konnte, erhob sich Orpheu bereits und trat zu ihnen. Dicht vor Gerome blieb er stehen und musterte den jetzt menschlichen Jungen. Sein Blick traf Luca.
„Wohin wollt ihr?“, fragte er nun doch deutlich angespannter. Unwillkürlich versteckte sich der Kleine hinter Ayco und umklammerte fest die schlanke Taille des Elfs.
Sanft griff Ayco nach hinten und strich dem Kleinen durch das lange, seidig schwarze Haar.
Die großen Augen sahen ängstlich zu Orpheu, dessen muskulöse, hünenhafte Gestalt drohend über Gerome aufragte. Der schwarze Elf aus Kalesh hatte wenig für den kleinen Seraph übrig und misstraute ihm mit jeder Faser. Luca kannte den Blick Orpheus zu gut. „Und“, wendete sich Orpheu an seinen Magier. „Was hat der Kleine zu sagen gehabt?“
„Der Kleine“, zischte Ayco verärgert, „Hat einen Namen. Er heißt Gerome.“
Der Hauptmann sah Ayco in die Augen. Aus seiner Miene und dem Blick konnte Luca nichts ablesen. „Und warum hat er uns gestern belauscht?!“
„Das frag Luca“, sagte Ayco brüsk, nahm den Jungen vorsichtig nach vorne und schob ihn zu dem leeren Platz neben Justin.
Luca konnte nur kurz beobachten, wie sich die Männer unterhielten, wurde dann aber von Orpheu zur Seite genommen. „Was ist das für ein Junge, Lysander?“, fragte er angespannt.
„Er ist Diener von Gregorius, dem Lagerleiter in den Bergen.“ Der Magier hob beide Hände. „Bevor du fragst, Orpheu, ich traue ihm nicht. Ein Kind ist immer ein guter Diener in allen Dingen, die du verlangst. Sie haben Angst vor Strafen, sind leicht zu beeindrucken, wirken unschuldig und sind umso wirkungsvoller, wenn sie dir in den Rücken fallen.“
„Demnach traut ihr dem Balg auch nicht“, stellte Orpheu erleichtert fest.
Luca deutete ein Nicken an. „Es ist einiges vorgefallen, mein Freund, und ich komme nicht dazu, Aycolén einzuweihen, weil der Kleine wie eine Klette an ihm hängt, und nebenbei ein ziemlich unfaires Spiel mit seinen Reizen treibt. Er weiß scheinbar ganz genau, dass wir zueinander gehören.“
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Gerome und seine beiden Freunde, aber auch Lea, die augenscheinlich desinteressierter denn je dabei stand und Löcher in die Luft starrte.
Justin hielt den Kleinen genau im Blick, gleich wie freundlich und charmant der Vampir zu dem Kind war, er misstraute ihm und sorgte deutlich dafür, dass Ayco nicht in der direkten Nähe Geromes blieb. Innerlich atmete Luca auf. Justin beschützte Ayco. Ob er das für den Elf aus Freundschaft tat, oder aus seiner Liebe für Luca heraus, wusste der Magier nicht. Aber es beruhigte ihn. Er wusste zu gut, welche Macht sich hinter diesem so verträumten Mann verbarg. Selbst wenn Luca alle seine Kräfte sammeln wollte, um gegen Justin zu kämpfen, wäre seine Chance die eines Eiskristalls in einem Vulkan.
„Was habt ihr nun vor?“, fragte Orpheu und lenkte die Aufmerksamkeit Lucas wieder auf sich.
„Wir wollen hoch zu dem Herrenhaus“, entgegnete der Magier.
Tambrens Schwanzspitze peitschte kurz und traf wie zufällig Lucas Wange. „Er ist in Gefahr, Hauptmann!“, wendete sich der Drachling direkt an Orpheu. Der Junge ist die Quelle großer Macht. Ich kann seine Gedanken und Gefühle immer nur wie eine Reflektion auf dem Wasser wahrnehmen, nie alles erfassen. Er verbirgt etwas. Und heute früh hat er ganz deutlich versucht Luca etwas anzutun!“
Der Elf riss die Augen alarmiert auf. „Ist das wahr, Lysander?“
Der Magier sah ihm in die Augen und deutete ein Nicken an. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es ist naheliegend“, gestand er.
„Ihr macht mir keinen Schritt ohne meine Begleitung. Und den Rotschopf da drüben nehme ich mit. Justin ist ein guter und mutiger Kämpfer.“
Anhand der Lautstärke, mit der Orpheu sprach, fürchtete Luca fast, dass Gerome sie hören konnte. Es war schon auffällig genug, dass sie hier so lange standen und tuschelten wie Waschweiber.
„Habt ihr denn etwas, was euch und den Elf schützt?“, fragte Orpheu besorgt.
Luca nickte leicht. „Diese Magie setze ich nur im Feld nicht ein, weil sie unnötiger Kraft- und Konzentrationsaufwand für mich ist.“
Der Hauptmann zog die Brauen zusammen und einen Herzschlag später sog er die Luft ein, als ein zierlicher, halbtransparenter, schwarzer Schmetterling in Lucas Hand entstand und an Stofflichkeit gewann, als er aufstieg und sich auf der Schulter des Magiers, dann auf der Schwanzspitze Tams nieder lies.
„Hübsch, aber was soll der Trick?“, fragte Orpheu nun skeptisch.
Luca lächelte. „Das ist ein Gestalt gewordener Zauber, der sich im passenden Moment entlädt. Ich muss ihn nur auslösen, oder binde ihn an eine Situation, in der er sich selbst auslöst“, erklärte er.
Fassungslos betrachtete der Elf Luca und den Schmetterling. „Das habe ich noch nie gesehen“, flüsterte er.
Die Mundwinkel des Magiers zuckten kurz. „Diese Gestalt- und Formgebung stammt von mir. Ich habe sie entwickelt, um Magie zu verzögern und Zauber zu bündeln.“
Luca konnte den leisen Stolz in der Stimme dieses Mal nicht verbergen.
Anerkennend nickte Orpheu. „Schöne Idee. Und es passt zu euch. Ihr seid der romantische Spinner, dem solche Zauber gut zu Gesicht stehen.“ Allerdings musterte er Luca nun auch von Kopf bis Fuß. „Ihr seid ja auch ein hübsches Kerlchen, mit einem schönen Köper und unzähligen schönen Körperzeichnungen, aber wollt ihr nicht vielleicht etwas, was eure nackte Brust bedeckt? Hemd und Wams habe ich noch.“ Er deutete mit dem Kopf die Treppen hinauf. „Ich will es nur anmerken, denn euer Mentor und euer Großmeister sind auf dem Weg nach unten, und zumindest Ihad traue ich nichts Gutes zu, wenn er entdeckt, dass ihr euch so herumtreibt.“
An sich hatte Luca gehofft, lediglich Orpheu und vielleicht noch Justin bei sich zu haben. Allerdings fand Cyprian auch Gefallen an dem Gedanken durch das – wahrscheinlich – verlassene Heim eines alten Magiers zu streifen. In den Augen des Eisdämonen flammte ein fast kindliche Freude auf und wenig später hatte er damit seinen feurigen Bruder ebenfalls angesteckt. ‚Das ist das Kind im Manne!’, kommentierte Tambren, den allerdings auch die Abenteuer-Freude infiziert hatte. Der einzige, dem es ähnlich wie Luca erging war Orpheu. Nüchtern betrachtet, bot das Haus eine Menge Gelegenheiten für Fallen und Probleme.
Auf der Strecke zwischen dem Dorf und dem Herrenhaus, der sich als beschwerlicher heraus stellte, als Luca angenommen hätte, fand er auch keine Gelegenheit, in der er allein mit Ayco reden konnte, zumal der Elf die kleine Gruppe anführte und sie mehrfach auf unbegehbare Passagen des einstmaligen Pfades trafen. Dornenbüsche, verfilztes Geäst, wuchernde Brennnesselfelder zwischen den Bäumen und zu dichtes Unterholz zwangen sie mehrfach einen anderen Weg zu suchen.
Gerome hing entweder an seiner Hand oder der Aycos, ließ sich auch teilweise tragen, da er nichts außer dem Hemd trug und seine empfindlichen, an Schuhe gewöhnten Fußsohlen schon nach kurzer Zeit schmerzten. Was Luca allerdings am Meisten in Sorge versetzte war Aycos Unwissenheit. Im Gegensatz zu Luca, war der Elf nicht gewarnt. Luca war sich nicht sicher, ob sein Freund nicht selbst bereits leises Misstrauen gegen Gerome in sich trug. Wenn es sich so verhielt, konnte Ayco es bestens verbergen.
Schließlich bat er Tambren um Hilfe. Der Drachling konnte Ayco anderweitig Lucas Gedanken unterbreiten. Dennoch tat es Luca leid, seinen kleinen Freund dazu zu missbrauchen.
Cyprian, der Lucas angespanntes Verhalten bemerkt hatte, ließ sich weiter zurück fallen und blieb an der Seite seines Schülers. Still ging er neben ihm her. Scheinbar erwartete der Eisdämon, dass Luca den Anfang machte.
Allerdings konnte der Magier nicht sprechen. Oft kam Gerome ihnen sehr nahe und das eine oder andere Mal verlangte der Kleine auch, dass Luca ihn auf die Schultern nahm.
Die Augen Cyprians folgte Lucas Bewegungen, besonders als er das Kind wirklich auf die Arme nahm und ihn behutsam an sich drückte. Luca spürte ganz genau, dass die Berührung Geromes das Misstrauen in seinem Herzen betäubte. Als der Kleine sich dann besonders eng an ihn schmiegte und sich an seine Schulter lehnte, dabei leise eine alte Ballade summte und Versonnen mit Lucas Haarsträhnen spielte, verwischten sich seine Sorgen kurzzeitig vollkommen und in dem Magier erwachte ein tiefes Gefühl von Glück und einer unerklärlichen Sehnsucht das Kind nie wieder loszulassen. Da war wieder der Gedankengang, ihn seinen kleinen Bruder zu nennen und ihn mit aller Zärtlichkeit und beschützen.
Gerome zog sich an Luca hoch, sah ihm in die Augen und lächelte ihm liebevoll zu. Bevor der Magier es noch recht wahrnahm, verschlossen die Lippen des Jungen seine eigenen. Dann brach der Bann ganz plötzlich. Luca fühlte mit einigem Unwillen, wie ihm Jemand das Kind aus den Armen nahm und den Jungen auf den Boden setzte. Orpheus schwarze Augen sahen drohend auf den Jungen herab. „Lauf selbst, du verwöhntes Balg!“, zischte er wütend. „Lysander ist nicht dein persönlicher Sklave!“
Unsanft nahm er den Jungen an der Hand und zerrte ihn mit sich. Gerome sah traurig über die Schulter zu Luca. Doch der bettelnde, flehende Blick des Jungen hatte seine Kraft verloren. Fast schien es, als würde Luca wieder freier atmen können und seine Umwelt klar begreifen. Er spürte den leichten Wind, der die Baumwipfel bewegte, den Duft des Bodens und des Holzes, hörte die Waldtiere, die Vögel und die Insekten, deren Summen und Gezwitscher die Luft erfüllte und nahm die Wärme der Luft wahr, die zu dem weiten, weißen Hemd Orpheus und der dicken Lederweste, die Luca eng um seinen Brustkorb geschnallt hatte, seinen Oberkörper schützte.
Tambren hatte seine Chancen genutzt und saß momentan auf Aycos Schulter. Ob sie miteinander redeten, konnte Luca nur vermuten, denn beide verhielten sich völlig normal. Zeitweise stieß der Elf einen leisen Fluch aus und versetzte einem Baum einen Tritt, wenn er zurückgehen musste, aber ihm war weder Misstrauen noch Verärgerung anzumerken.
Ayco war ein guter Schauspieler, dachte Luca mit deutlichem Stolz im Herzen.
Für einen kurzen Moment drängte der Gedankengang hoch, wie geschickt der Elf war und wie lautlos. Luca konnte sich nicht ganz des Gedankens erwehren, einen gewandten, routinierten Dieb vor sich zu haben, verschob aber die Frage vorerst auf einen anderen, späteren Zeitpunkt. Dazu wollte er allein mit dem Elf sein. Eine solche Frage konnte für einen von ihnen nur peinlich enden.
Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Stand überschritten, als sie aus den Wipfeln kleine Türmchen und eine Wetterfahne aufragen sahen. Auf den letzten hundert Metern beschleunigte Aycolén seinen Schritt etwas, und eilte durch den Wald, die unebenen Wege über Wurzelwerk und Büsche hinauf. Orpheu, Justin und Luca fiel es nicht schwer mit ihm Schritt zu halten, allerdings brachte es Cyprian an den Rand seiner Leistungsfähigkeit und Ihad nutzte seine magischen Fähigkeiten für eine unbeschwertere Form des Reisens. Der zauberte sich von Ort zu Ort.
Lucas Meinung nach war es lächerlich und unangemessen, sich so zu schönen. Dennoch musste er zugeben, dass sein Meister mit ziemlicher Sicherheit am entspanntesten vorankam.
Dennoch entschädigte der Anblick dieses schönen, verwilderten Schlösschens alle für den nicht gerade einfachen Weg.
Efeu und Wein hatten die niedrige, mit Eisenspitzen bewehrte Bruchsteinmauer, hinter der sich das Anwesen befand, in Besitz genommen. Vögel saßen in dem grünroten Laub und Schmetterlinge stoben auf, als die kleine Gruppe heran trat. In dem verwilderten Garten wucherte das Gras mehr als Mannshoch und alte, verwachsene Bäume wanden sich unter Schlingpflanzen dem Licht entgegen. Von der unteren Etage des Herrenhauses konnte man nichts mehr sehen. Allerdings mutete dieses Bauwerk auch eher an, als habe eine Familie über viele Jahrhunderte dieses Haus Stück um Stück erweitert. Ein Teil des Haupthauses, wohl den ältesten Kern davon, bildete ein gedrungenes Gebäude aus gelbem Sandstein grauem Granit-Bruchstein. Die Fenster in diesem Teil des Hauses waren noch glaslos und im Moment gähnende, schwarze Löcher, wie kleine, von Maßwerk verzierte, halbrunde Mäuler. Auf Höhe der zweiten Etage allerdings bauchte sich ein kleiner Turm mit Butzenglasfenstern heraus, der in einer runden, schiefergedeckten Spitze endete. Von dort aus konnte man sicher problemfrei auf eine umzäunte Fläche des Daches schauen, die freigelassen und als Aussichtsplattform genutzt wurde. Dahinter erhob sich ein anderer, mit Treppentürmen versehner Teil des Hauses, dessen Fenster kleiner waren, bereits mit Läden versehen und Bleiverglasung. Eine Art großer Balkon schwang sich in leichtem Bogen höher hinauf und zu einem massiven, aber schlanken Bauwerk, was sich in den unteren Etagen sicher auch an das Haupthaus anschloss, allerdings breite und flache Rundbögen hatte, die von innen mit Vorhängen verschlossen werden mussten. Eine Vielzahl feiner, kleiner Türmchen und eine in sich sehr verschachtelte Dachlandschaft bot sich dem Betrachter.
Wie schon zuvor spürte Luca diesen leisen Schauer, die Angst vor etwas an diesem verwunschenen, eigentlich wunderschönen Ort.
Als er sich aus einem Reflex heraus umsah, bemerkte er Lea, die schräg hinter ihm stand und traurig zu den Zinnen und Türmen hinauf sah. ‚Dort haben wir einst gespielt’, flüsterte sie. Luca war sich sicher, dass nur er und Tambren ihre Worte vernahmen. ‚Der Tag vor unserem Tot, Luca. An diesem Tag standen wir auch hier, du und ich. Wir haben auf Ayco gewartet. Damals habe ich mich immer gefragt, warum du dich noch mit uns abgibst. Wir waren nur Kinder, du aber fast erwachsen.’
Luca schloss die Augen und senkte den Kopf. Sie hatte recht. Dessen war er sich sicher. Er spürte den kühlen, leicht klammen Stein unter seinen fingerspitzen, das rostige, geschwärzte Eisen, roch das Metall. Er fühlte sich wieder hilflos, wie ein Kind. Ein Käfer krabbelte auf seinen flinken Chitinbeinchen über Lucas Handrücken und verschwand im Efeu. Der Magier konnte nicht sagen, ob es Wirklichkeit oder Erinnerung war.
Er fühlte Lea, die neben ihn trat und spürte, dass ihre Finger sich um eine Haarsträhne schlossen, so wie einst. Sie hielt sich immer an seinem Haar fest. Die Vögel sangen, aber in ihrem Gesang lag etwas Bedrohliches, unheimlich, wie ein finsterer Keller voller Schatten und Monster, die lauerten und nach seiner Seele gierten.
Als der Magier die Lider hob, stand Ayco dicht neben ihm. Der Elf betrachtete ihn besorgt, schwieg aber. Sein Blick wies warnend zu Gerome. Luca verstand. Er dürfte sich keine Blößen geben.
„Sieht unbewohnt aus“, rief Orpheu, der das eiserne Tor gefunden hatte und es nun auch forsch aufschob. Ein ohrenbetäubendes Kreischen zeriss den Frieden dieses Ortes. Rostiges Metall platzte ab und die Scharniere gaben nach. Ob es an seiner Kraft oder schlicht an dem Alter der Angeln lag, konnte Luca auf die Entfernung nicht sagen, aber Orpheu riss das Tor buchstäblich nach innen. Hilflos blieb er stehen und sah, wie es grotesk langsam in dem hohen Gras versank. Überflüssiger Weise sagte er leise: „Entschuldigung.“
Luca seufzte. Aus welchem Grund er das Gefühl hatte, sich für Orpheu zu rechtfertigen, wusste er nicht, aber ganz unbewusst tat er es. „Etwas mehr Feingefühl, Hauptmann. Das Haus ist vielleicht zur Zeit unbewohnt, aber es gehört auch nicht dir!“
Der Blick der schwarzen Elfenaugen, der Luca traf, war gelinde gesagt, unfreundlich. Normal hätte es Luca mit purer Mordlust umschrieben.
Für den Moment ignorierte der Magier es lieber. Gerome mogelte sich gerade hinter dem schwarzen Elf on den Garten und verschwand sofort in dem hohen Gras.
Weit kam er nicht, denn Orpheu fischte einen Herzschlag lang in dem grünen Meer und hatte den Kleinen auch sofort wieder am Hemdskragen. „So nicht, du abgebrochener Riese!“, tadelte er den Jungen, der ihm einen zornigen Blick zuwarf. Diese Reaktion prallte an Orpheu vollkommen ab. Der Elf nahm den Kleinen in seinen schraubzwingenartigen Griff und zwang ihn an seine Seite.
Er wartete bis Ayco, Justin, Ihad, Cyprian und Luca zu ihnen aufgeschlossen hatten und ließ sie auch erst alle durch, bevor er mit dem Jungen zusammen den Garten betrat.
Ihad strich mit einer Hand durch das weiche Gras und die hochgewucherten Blumen.
„Ein dunkler und verwunschener Ort“, fasste er seine Empfindungen zusammen. Cyprian, der immer noch in Lucas Nähe ging, schauderte leicht, rieb sich die Arme und sah sich sichernd um. Luca hegte keinen Zweifel daran, dass der sensible Magier dasselbe fühlte, was auch er wahrnahm. Die Bedrohung war greifbar nah und erdrückend. Aus diesem wilden Idyll lauerten Tausende neugieriger Augen, die jeden Schritt genau verfolgten, lautlos weiter gaben und es zu dem weiter trugen, dessen Präsenz hier, in den Mauern hing wie fauliger Atem. Luca wusste, dass I’Eneel sie belauerte. Aber er war kein lebendes Wesen mehr. Hier lag der Geruch der Grabeserde in der Luft.
Er tauschte mit Cyprian einen kurzen Blick. Sein Mentor nickte unmerklich, als habe er den Magier, dessen Ruhe sie hier störten, bereits ausgemacht. Beiläufig bemerkte Luca das leichte Glühen der blauen Eisaugen.
Justin hatte sich auch zurückfallen lassen und wartete nun auf Cyprian und Luca.
„Der Herr des Hauses ist zwischen Leben und Tot gefangen“, sagte er warnend und machte eine Kopfbewegung zu dem ältesten Gebäudekomplex. „Er belauert uns. Und seit wir das Grundstück betreten haben, ist er in Aufregung.“
Cyprian nickte Justin wissend zu. „Das ist, was auch ich gefühlt habe.“
„Er fürchtet entweder Ayco oder mich“, flüsterte Luca tonlos.
„Wir sollten seinen Frieden nicht stören“, sagte Cyprian leise. „Wir sind die Eindringlinge.“
„Er wartet auf einen von uns“, murmelte Luca. Seine Stimme bebte leicht. Er hatte das Gefühl, als wolle I’Eneel ihm genau das mitteilen. Die Präsenz des Magiers war hier so deutlich, dass er den Eindruck gewann, der alte Mann würde neben ihm stehen. In seinem Nacken fühlte Luca plötzlich wieder den kalten Metallgriff der Peitsche, seiner eigenen Waffe damals. Die Schatten vor ihm im Gras zogen sich zusammen. Er blieb abrupt stehen. Etwas erhob sich daraus und trennte sie von ihren Freunden, die vor ihnen gingen, sich durch das Gras zu dem Hauptportal kämpften. Lucas Herz machte vor Angst einen Sprung. Dieses Wesen erinnerte vage an einen gewaltigen, mannshohen Hund aus Nebel und Rauch. Das Stofflichste an diesem Wesen waren seine Lava-Augen, die mit Gier auf die drei Männer herab sahen.
„Justin“, rief Luca. „Mit ihm werden Cyprian und ich allein fertig.“
Der Elf zögerte nicht. Er machte einen Schritt in die Schatten und verschwand.
Das Nebelgeschöpf manifestierte mit jedem Lidschlag mehr in der Wirklichkeit. Schuppen und eitrig schwärende Wunden verunzierten seinen hageren Leib. Handlange Fangzähne verunzierten sein schlankes Hundegesicht. Grünlich gelber Speichel troff von seinen Lefzen. Luca fand sogar fast Gefallen an dem Wesen. Es war nicht hässlich, nur von Grund auf böse und untot. Sein Blick glitt zu Cyprian, der bereits einen Zauber wob. Luca lauschte der Melodie der Worte, der Formel und dem Klang. Die Worte des Eisdämons beschworen die Geister der Totenwelt, diese Wesen zu sich zu nehmen und es nie wieder hinaus zu lassen. In die Worte, den Singsang seiner Formel band Luca seine Magie mit ein.
Er wob ein Siegel, dass die Seele des Wesens vor einer erneuten Beschwörung aus seiner Welt schützte.
Noch bevor die Bestie sich völlig aus den Nebeln herausschälen konnte, griffen bereits die Zauber der beiden Magier. Ein Strudel aus Energie und Lebenskraft entstand und riss die Halbmaterie des Wesens mit sich. Luca konnte den Vorgang mehr fühlen als sehen. Mit einer sanften Mittagsbriese verging die Kraft der Bestie. Allerdings teilte sich plötzlich das Gras und spie wesentlich kleinere und stofflichere Geschöpfe aus, ähnlich des untoten Nebelhundes, aber wesentlich mehr davon. Cyprian, dessen Zauber noch aktiv war, erweiterte ihn rigoros mit Hilfe seiner inneren Kräfte.
Luca blieb in dem Fall nichts als seinem Meister die Ungeheuer, die dem Dämon zu nah kamen, mit seinem Schwert auf Abstand zu halten. Mit einigem Schrecken stellte der junge Magier fest, dass es mehr als ein duzend untoter Kreaturen war. Sie kamen ihm so vertraut vor. Mit Schwert und Dolch drang er auf sie ein. Blitzartig flammten Schmerzen in seinem Körper auf, solch gewaltige Schmerzen, dass er mehrfach seine Angreifer verfehlte. Es schien ihm, als würden diese Geschöpfe ihre Zähne in sein Fleisch schlagen und ihn bei lebendigem Leib zerfetzen.
Immer wieder bissen diese Wesen zu, allerdings ohne ihn wirklich zu berühren. Luca fiel es immer schwerer zwischen Realität und Erinnerung zu unterscheiden. Wie immer es ihm gelang, diese Geschöpfe auf Abstand zu halten, oder sie sogar zu treffen, konnte er nicht sagen. Aber von einem Moment zum anderen klärte sich alles um ihn herum und er schlug nur noch sinnlos auf Gras ein. Luca brauchte einige Herzschläge, um zu verstehen, dass die Schmerzen verschwunden waren und er wieder klar denken konnte. An seinem Schwert troff schwarzes Blut herab und Brocken schimmligen Fleisches hatten sich in dem hohen Gras verteilt. Eine der Bestien lag in ihrem Blut, wenige Schritte entfernt und die Überreste einer zweiten zu seinen Füßen. Luca starrte auf sie herab, würgte plötzlich und sank auf die Knie. Nun begann er auch viele kleine Wunden zu spüren, kleine Bisse, schnitte durch die Halme und leichte Prellungen. Ihm war übel. Der Schmerz tobte nicht mehr in seinem Körper, aber er wusste, dass diese Wesen ihn damals zerrissen hatten. Die Vorstellung machte ihm Angst.
Cyprians kühle Hände schlossen sich um Lucas Schultern. „Beruhige Dich, Luca“, flüsterte er und drückte den Magier mit dem Rücken an seine Brust. Die Kühle von Cyprians Körper tat Luca gut. Er fühlte sich wieder geborgen und beschützt, wie in den Tagen, als er ein Kind war.
„Danke für deinen Schutz, mein Freund“, flüsterte Cyprian. „Ohne dich hätte ich diese Geschöpfe aus den Höllenreichen nicht bezwungen.“
Luca atmete tief durch und nickte leicht. „Ist es nicht meine Aufgabe dich zu beschützen, wie du mich immer beschützt hast, Cyprian?“, fragte er leise.
Der Dämon wollte etwas entgegnen, schwieg aber. Sein Blick versank in Lucas. Sanft, aber mit Nachdruck, befreite sich der junge Mann aus den Armen seines Mentors. Was er eben tat war eine offene Einladung für Cyprian mehr zu tun, als ihn in zu halten.
„Lass uns nach Ayco und deinem Bruder suchen, Cyprian“, bat Luca.
Das Portal hing morsch in den Angeln, nur einen winzigen Spalt weit geöffnet, gerade weit genug, damit sich auch Orpheu und Ihad, die sicher die muskulösesten Mitglieder der Gruppe waren, hindurch drängen konnten. Da Tam bei Ayco war, wusste Luca, dass sein geliebter Freund gesund und sicher war, zwar in Begleitung Geromes, aber auch beschützt von Justin, der ihnen offenbar unbemerkt folgte. Ihad und Orpheu hatten sich offenbar an einem anderen Punkt von den Gefährten getrennt. Der Großmeister war in der Etage über Cyprian und Luca am Werk. Die Geräusche, die von den oberen Räumen herabdrang, war so unverkennbar für die wenig zartfühlende Art des Feuerdämons, dass Luca und Cyprian sich sogar lächelnd ansahen. „Wenn du dich weit im Vorfeld ankündigen willst, nimm Ihad mit“, erklärte Cyprian und deutete zu den knarrenden Dielen über ihren Köpfen. „Du siehst ihn nicht, aber hören kannst du ihn weithin.“
Luca winkte ab und strich sich Staub von der Stirn, der aus den Deckenbalken über ihren Köpfen herabrieselte. „Lass das deinen Bruder besser nicht hören, Cyprian. Er hat eine leicht reizbare Art.“
Nachdenklich nickte der Eisdämon. „Ja, so war er aber schon, als wir Kinder waren. Er ähnelt in seinem Wesen Aycolén und ich dir.“
Luca hob eine Braue, sah ihn aus den Augenwinkeln an, zog aber vor darauf nichts zu entgegnen.
Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die steinerne Treppe hinauf in die erste Etage. Hier unten konnte er nur dank seiner Seraphaugen sehen. Es war viel zu dunkel, die Räume in Schatten und gefahrenvolle Finsternis getaucht und er hatte das Gefühl, als würde etwas ihn rufen, ihn leiten und lenken. Aus unzähligen Schlupfwinkeln beobachteten sie unheimliche Augen winziger Boten.
Allerdings hatten die beiden Magier sich dieses Mal ein wenig besser geschützt. Während sich Cyprian nach magischen Problemen, Fallen, umsah, suchte Luca ihren Weg nach Untoten ab. Er war sich klar darüber, dass sie die Einbrecher in das Sanctum eines anderen Magiers waren, aber nichtsdestotrotz fühlte er auch den wispernden Ruf I’Eneels, den Zwang in seiner Seele. Sein Gefühl sagte ihm, dass Ayco ebenso in Gefahr war. Allerdings zwang er sich zur Ruhe. In Justins Obhut war seine Liebe sicher, und er konnte den sensiblen Cyprian nicht einfach hier alleine lassen. Cyprian besaß extrem starke mediale Fähigkeiten. Wenn er seinen Mentor zurück ließ, würde diese Finsternis wie eine Bestie über ihn herfallen und die flüsternden Stimmen ihn um den Verstand bringen. Luca konnte ihn wenigstens ablenken und ihn zeitweise zum Lachen bringen, seine Anspannung mit seinen Gesten und Worten lockern.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, bebte er innerlich vor Anspannung. Die Marionette an I’Eneels Fäden zu sein, gefiel Luca nicht.
Er ergriff die schlanke Hand Cyprians und zog ihn zu der steinernen Treppe hinüber. Erst als sie den Zwischenpodest erklommen hatten, blickte Luca zurück in die Halle. Der Raum war gewaltig, finster, und wenn man zu viel Phantasie besaß wie Luca und leider auch Cyprian, wurden aus den Fresken in den Wänden Ungeheuer anderer Ebenen, die das ganze Gebäude von innen heraus in sich einsaugen wollten.
Luca sah aus den Augenwinkeln, wie sich ein verschimmelter, modriger Wandteppich im Wind bewegte. Allerdings ging kein Lüftchen. Ein langer Schatten fiel in die Halle. Für einen winzigen Herzschlag sah Luca I’Eneel dort unten stehen. Der hagere Halbelf hielt sich in dem dämmrigen Bereich zwischen den Fresken und Türflügeln.
Einen Herzschlag lang glaubte er wieder Kind zu sein, neben Ayco auf den Stufen, entdeckt von dem Magier, dessen eisige Augen Luca fixierten und bannten. Er schrumpfte unter dem kalten Blick.
Sagte man nicht, Dämonen seien die Geschöpfe des Bösen? Der Gedankengang bemächtigte sich erneut Lucas. Nein, beantwortete er sich die Frage selbst. Das Wissen fehlte ihm damals noch. Aber Dämonen waren genauso frei sich in ihrem Schicksal zu entscheiden, wie jedes andere Wesen. Sie konnten leben wie sie es wollten. I’Eneel hatte sich als Halbelf, als Geschöpf des Lichtes für die Dunkelheit entschieden. Cyprian und Ihad für das Licht.
Dieses Wissen und die Sicherheit über sich selbst, gab Luca die Ruhe stehen zu bleiben und I’Eneels Blicke zu erwidern.
Der Eisdämon verhielt neben seinem Schüler und drückte sanft, freundschaftlich Lucas Hand.
„Meister Cyprian“, sagte Luca, ohne den Blick von I’Eneel zu lösen. „Bitte, geh zu Ihad, meinem Herren und bereichte ihm, was du siehst, wenn das Duell zwischen ihm und mir vorüber ist.“
Der Eisdämon lächelte. „Das wirst du ihm selbst sagen können, Lysander. Daran hege ich keinen Zweifel.“
Die Finger des jungen Mannes lösten sich aus denen seines Mentors. Luca verließ den Schutz und die Wärme seines Freundes. Im Gegensatz zu Cyprian schätzte er I’Eneel nicht als schwach ein. Außerdem ahnte er, dass der Halbelf bereit war alles Wissen aus der Vergangenheit einzusetzen um Lucas Sicht der Dinge zu schwächen. Aber er ging nicht völlig unvorbereitet in das Duell, auch wenn er nicht wirklich wusste, ob Ayco der Einsatz war oder etwas anderes.
Reglos stand Luca in der Halle, wenige Meter von I’Eneel entfernt. Der Halbelf hielt sich in den Schatten, aber die vorangeschrittene Zerstörung seines Äußeren ließ sich nicht mehr verbergen. Luca konnte ihn nicht klar sehen. Aber die Zeit hatte ihn überholt und vergessen. Die einstmals prachtvollen blausilbernen Roben und schwarzen Untergewänder waren verrottet und hingen in zerschlissenen vom Schmutz unkenntlichen Fetzen von seinem Leib herab. Das so schöne, stolze und edle Gesicht war nichts als eine Grimasse modrigen Fleisches und schimmelnder, oder vertrockneter Haut. Einige, wenige Haare, die aus seinem Kiefer herab hingen erinnerten an einen Bart. Die Lippen hatten sich über faulenden Zähnen zurückgezogen und ein feiner Schleimfaden rann über sein Kinn in seine Kleider.
Einzig die Augen schienen hellwach zu sein.
„Die Zeit hat euch verraten, Meister I’Eneel“, bemerkte Luca traurig. Der Anblick verletzte etwas in seiner Erinnerung. Sympathie hatte er dem Halbelf nie entgegen gebracht, aber Respekt. Dieses Wesen war ein Mahnmahl der Vergessenheit.
„Sagt mir, warum habt ihr mich gerufen?“, fragte Luca leise.
„Um dich zu töten“, antwortete der Untote. Seine Artikulation war kaum noch vorhanden. Die Laute kamen schwer, als könne er seine Zunge nicht kontrollieren.
„Dann seid ihr mir Antworten schuldig!“, sagte Luca fest.
I’Eneel schüttelte nur langsam, schwerfällig den Kopf.
„Wenn ich sterben soll, will ich wissen warum, und warum es mich schon einmal gegeben hat, genau als der, der ich auch jetzt bin!“ beharrte Luca. Er brauchte die Zeit, musste sie irgendwie schinden, um Zauber vorzubereiten und zu halten.
I’Eneel ging nicht darauf ein. Er machte nur eine einzige Handbewegung, als würde er einer Kehle die Luft abschnüren.
Nekromantie war etwas, dass Luca glücklicherweise wenig schaden konnte. Bevor I’Eneel den Zauber auch nur beendet hatte, konnte Luca ihn bereits zerstören. Die Wut in den Augen des Halbelfen brannte sich in Lucas Seele, aber der junge Magier ließ sich nicht irritieren. Graue Nebelfäden schoben sich aus dem Staub herauf, umschlangen Arme und Beine des Halbelfen und leuchteten in matten, blaugrauen Siegeln auf seiner hageren Gestalt. Der Bann mochte stark sein, gesteuert von Lucas Willenskraft, aber der junge Mann wusste, dass das ein sinnloses Spiel werden würde. Er wollte Zeit um seine Fragen beantwortet zu bekommen.
„Warum bin ich vor hundert Jahren hier schon einmal gestorben!“, beharrte Luca stur. Er faltete die Hände dabei über seiner Brust. Seine Seele gebar einen der schwarzen Schmetterlinge. Still band er an den kleinen Seelensplitter einen Teil seiner Lebenskraft und entließ ihn aus seinen Fingern. Er stieg vor seinem Gesicht auf und setzte sich in sein Haar. Auf seiner Schulter ließ sich der Schmetterling nieder, den er schon im Gasthof erschaffen hatte.
I’Eneel beobachtete sein Werk befremdet, schüttelte dann aber nur den Kopf und hob seine beiden Hände. Luca bemerkte das Krabbeln und Wimmeln in allen Ecken. Er fixierte I’Eneel, hob beide Hände und wob einen Schutzwall gegen die Insekten und Käfer. Einerseits fühlte er einen leichten Hauch von Ekel, als sich diese Wesen durch ihre reine Masse schon an seinem graublau glühenden Schutzkreis hochschoben und musste auch den Würgereiz krampfhaft unterdrücken, aber andererseits sank sein Respekt vor I’Eneel auch. Plötzlich riss der Boden unter Luca auf. Für einen winzigen Moment schwappte die Woge der Angst über ihm zusammen, aber so schnell wie er sich mit einem Wort aus dieser Situation des Stürzens wieder abfing, gewann er auch wieder Gewalt über seine Gefühle.
Von einem Moment zum anderen erkannte Luca den Schwachpunkt I’Eneels. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass der Halbelf damals Illusionist war. Das, was Luca zu sehen glaubte, gab es gar nicht!
Eilig sendete Luca die beiden Seelenschmetterlinge hinauf zu Cyprian, damit er sie nicht mit seinem Zauber gegen die Illusion des Halbelfen, zerstörte.
Eilig flüsterte Luca den Zauber, stieß beide Hände von sich und erstarrte. Er stand plötzlich in Night’s End, vor dem Findling. Ihn umringten unzählige Männer in Vollplattenrüstungen. Aus den Ritzen und den Versatzstücken drang feiner grauer Rauch und der Gestank verbrannten Fleisches legte sich Übelkeit erregend über Luca. Die Sehschlitze gaben den Blick auf dunkle, verbrannte Haut und in den Höhlen eingeschlossene, unheimliche Bleikugeln, die ihre Augen ersetzten, frei. Es schien fast, als seien sie Ausgeburten der Hölle. Ihre Waffen waren gezackt und geistverwirrend fremd. Luca konnte den Sinn der Klingen, Wiederhaken und Spikes nicht nachvollziehen. Blut troff von ihnen herab. Der ganze Platz war übersäht mit den Leichen von Frauen, Kindern und Alten. Ihre Körper waren nichts als blutige Fetzen. An den Gürteln einiger Gegner hingen Trophäen. Halb vom Fleisch abgeschälte Schädel, Haare, Gesichtshaut, Augäpfel in Glasbehältern und Zähne fanden sich darunter. Luca fühlte, wie ihn die Angst übermannen wollte, ihn erstickte und ihm den klaren Verstand raubte.
Er spürte genau, dass er seine Aufgabe nicht erfüllen konnte, dazu war er zu schwach, zu jung. In seinem Kopf gab es keinen einzigen Zauber mehr, sein Herz war versteinert vor Schrecken und er wusste, dass er alles verlieren würde, sogar sein Leben, aber zumindest eines konnte er beschützen. Er spannte seine Peitsche zwischen seinen Händen und stellte sich erneut den Männern entgegen. Night’s End brannte, war verloren.
Er sah, wie die Krieger, das Höllenheer, gerade einem Toten den Schädel eintraten und einem anderen das Herz heraus rissen. Nichts konnte ihn noch schrecken. Das, was Angst war, hatte er vergessen, als Lyeth niedergerungen wurde und Lea aus dem Tempel gezerrt wurde. Sein Kampf war verloren. Vielleicht gelang es der Hohepriesterin noch einige von ihnen mit sich in den Untergang zu reißen, aber Luca bezweifelte es. Der Herr über diese Männer, ein schwarz gekleideter Mensch, ein Mann, dessen Gesicht Luca schon einmal gesehen hatte, mit den Augen des Himmels, hatte die beiden Frauen mit sich in eines der Häuser gezerrt. Keine Schreie, kein verräterischer Laut von Vernichtung. Er konnte nur das keuchen der Männer, die ihm gefolgt waren noch unter dem Kampflärm hören. Luca hatte versagt. Er war noch zu schwach, um seiner Aufgabe nachzukommen! Ein Leben aber war sicher. Ayco lebte. Wenigstens war er sicher!
Ohne noch zu wissen, was er tat, warf er sich auf den nächst stehenden Krieger und wurde von einem beiläufigen Fausthieb meterweit zurückgeschleudert. Der Aufprall raubte ihm fast die Sinne. Ihm war, als würde sein Schädel aufplatzen. Vielleicht war es auch so, denn als er sich wieder hochstemmte, lief Blut in seine Augen und vernebelte ihm die Sicht. Unter roten Schleiern sah er den Mann mit den Himmelsaugen aus dem Haus kommen, in dass er Lyeth und ihre Tochter verschleppt hatte. Seine Brust war nackt, sein Körper blutig wie seine Lippen. Luca wusste, was er den beiden Frauen angetan hatte. Lea war seine Freundin und Lyeth seine Ziehmutter, das Wesen, was ihn wie ein Kind liebte. Tiefe Wut brannte sich durch seine Eingeweide und gab ihm die Kraft sich wieder zu erheben. Wie von Sinnen stürzte er los, die lächerlich wertlose Peitsche noch immer in seinen Händen. Neben dem schwarzhaarigen Mann, dem Anführer, trat I’Eneel aus dem Haus, hob eine Hand und machte eine leichte, wedelnde Bewegung. Unter Luca wurde das Erdreich so glatt, als wäre es von Eis überzogen. Mit einem überraschten Ausruf stützte er auf den Rücken. Ein beißender Schmerz fuhr durch seinen Rücken. Er spürte, dass etwas in seiner Wirbelsäule zerstört worden war. Vielleicht brach auch nur einer seiner Flügel. Luca war sich nicht sicher. Bis eben hatte er nicht einmal bemerkt, ein Seraphin zu sein. Es war ohnehin egal, denn die Krieger hatten ihn umringt. Mit schweren Eisenstiefeln traten sie auf ihn ein und Ketten zerschmetterten seine Knochen. Er spürte wie die Schmerzen ihn an den Rand der Ohnmacht trieben, sehnte sie sich herbei, aber dieser Wunsch wurde ihm nicht gewährt. Sie Ließen von ihm ab, gaben ihm eine Pause, in der er sich bewusst werden konnte, dass es nichts in seinem Körper gab, was noch an einem Stück war. Der Schmerz explodierte und nahm ihm die Relation zu dem Ketten und Haken, die sich in seinen Leib bohrten, ließen ihn vergessen, dass er über die Erde gezerrt wurde und jemand sich paradoxer Weise noch die Mühe machte, ihn an den Findling zu ketten.
Er erinnerte sich an seinen Traum, diesen bizarren Traum von dem Felsenkind, Ayco, Lea und den beiden Seraphin-Kindern.
Er hatte seinen Tot an dem Felsen von Night’s End gesehen.
Dieser Gedanke war so klar, logisch und nüchtern, dass es ihn angesichts der Situation fast erschreckte. Die Panik war nicht mehr da, der Schmerz allgegenwärtig und nicht mehr realisierbar, aber sein Kopf funktionierte wieder. Er sah alles, was geschah wie ein Beobachter. Mit leisem Schrecken bemerkte er, dass sie alles dazu vorbereiteten, seinen Körper in Stücke zu reißen. Die Hunde, genau dieselben, die er und Cyprian besiegt hatten, lauerten schon auf sein Fleisch.
Lucas Blick traft I’Eneel, der das Schauspiel mit undurchsichtiger Miene beobachtete und den Mann mit den hellen Himmelsaugen. Plötzlich wusste Luca wieder, woher er dieses Gesicht kannte. Er hatte ihn damals in Begleitung von Aycos Vater gesehen, als seinen direkten Untergeben, aber genauso auch in den Höhlen, in dem Lager. Es war Gregorius.
Mit dieser Erkenntnis, zeriss sein Leben.
„Du wolltest sehen, was war, wer du bist, und warum. Das habe ich dir gewährt.“
Die Stimme drang wie durch Watte in Lucas Geist. Die Schmerzen in seinem Körper ebbten nur langsam ab. Phantome eines anderen Lebens als derselbe Mann, wie er nun wusste. Er stand an derselben Stelle, in der Halle, I’Eneel gegenüber. Der Halbelf hatte einen Teil seiner Fragen beantwortet. Luca wollte zwar nicht diesen Weg gehen, Worte hätten ihm durchaus genügt, aber zum ersten Mal seit zwei Tagen erhielt er Antworten. Er empfand dem alten Magier gegenüber tiefe Dankbarkeit dafür, auch wenn ihm im Moment speiübel war und er nicht wusste, ob er auch nur einen Schritt weit gehen konnte, ohne wie ein Reissack umzukippen.
„Danke“, murmelte er undeutlich, wobei er den Brechreiz wieder unterdrücken musste.
I’Eneel deutete eine Nicken an, hob aber den Blick und sah zu einem Punkt über Luca, auf den Stufen.
„Aycolén“, sagte er nur leise.
Der Elf schrie wütend auf. „War Lucas Herz dein Preis?!“ brüllte er durch die Halle.
I’Eneel suchte Lucas Blick. Zwei kleine, schwarze Schmetterlinge setzten sich auf seine Schultern und lösten sich auf. Lebensenergie floss in den halb verwesten Leib und zwang ihn an die Schwelle zwischen Leben und Tod. Der Halbelf sank zu Boden, den Blick starr, die Hände auf seine Brust gepresst. Sein Herz schlug kurz, ein, zwei Mal, bevor es versagte.
In dem Moment verließen auch Luca alle Kräfte. Die lang ersehnte Ohnmacht fing ihn endlich auf.
Unangenehmes Schaukeln und das Gefühl, dass diese Bewegung seinen Mageninhalt endgültig zum Überlaufen bringen wollte, begeleitete Lucas Rückweg in die Wirklichkeit. Für einen Moment verkrampfte er sich und das Rauschen eines Wasserfalls in seinen Ohren schwoll zu dumpfer Betäubung an. Er hatte kaum Kontrolle über sich, das spürte er noch zu deutlich. Seine Glieder pendelten wie an Fäden aufgehängt herab und unterstützten den Gedankengang, dass er ein Kinderkreisel war, der sich in wackligen, unkontrollierten Pirouetten um seinen Magen drehte. Allein die Verbildlichung dieser Idee ließ Lucas Welt hinter seinen geschlossenen Lidern aus dem Rahmen kippen. Es dauerte noch einmal einige Zeit, bis sich sein Bewusstsein so weit geklärt hatte, dass er nicht mehr nur den Blutstrom in seinem Körper wahr nahm und realisieren konnte, dass er eigentlich fror, aber zugleich feucht von eisigem Schweiß war, die Sonne, die zeitweise seine Haut berührte, ihn zu verbrennen vor hatte und das beständige Klappern, was sich nach einem Würfelspiel mit Knochen anhörte, nichts als seine eigenen Zähne waren. Das reibende Gefühl auf seiner Haut musste Orpheus Leinenhemd sein, dessen Gewebe sicher ein unregelmäßiges Muster auf seiner Haut hinterlassen hatte. Der Geruch nach Staub, Schweiß und Metall drang ihm in die Nase. Er musste nicht die Augen öffnen, um zu wissen, dass er von Orpheu getragen wurde. Im Moment kam er sich unbeholfen und schwach vor. Dazu realisierte er, dass sein Schädel wie leer gefegt war. Kein einziger Zauber, kein bisschen fließendes magische Kraft, die ihn stärkte und ihm das Gefühl gab nicht mehr als ein unbeholfener Klotz am Bein zu sein. Der Preis für I’Eneels Antworten war sehr hoch gewesen. Allerdings begriff Luca auch nicht, warum die zwei Zauber, in denen er seine Lebenskraft gebunden hatte, ausreichen konnten, um den Magier so weit damit zu überladen, dass er in das Leben zurückkehrte – sicher, um sofort wieder zu sterben. Aber das konnte nicht er allein gewesen sein. Luca vermutete Justins Hilfe dahinter. Das unendliche Reservoir an reiner Energie, das der Elfenvampir in sich verschlossen hielt, vermochte solche Wunder zu bewirken. Lucas Nekromantie reichten nie an die Fähigkeiten seines Freundes heran.
Allerdings verschob er alle weiteren Überlegungen auf einen anderen Zeitpunkt. Es gab so viel, was er zu sagen hatte, und weitere Fragen, die ihm seine Freunde vielleicht erklären konnten.
Langsam und vorsichtig hob er die Lider, bereute es aber schnell wieder. Das Tageslicht brannte in seinen Augen und weckte Kopfschmerzen, die er bis dahin gar nicht als solche Wahrgenommen hatte.
Leise stöhnte er auf und verkroch sich dichter an Orpheus Brust. Der Elf blieb stehen und zog Luca enger an sich. Dem Magier war die Situation unsäglich peinlich, aber im Moment brachte er nicht einmal die Kraft auf, direkt die Lider zu heben.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Hauptmann besorgt.
Luca wollte aus einem Impuls heraus nicken, gab es aber sofort wieder auf. Was hatte er getan, dass sein Körper ihm gar nicht mehr gehorchte?
Er konnte nicht einmal eine Hand heben.
„Leg’ ihn ab“, bat die Luca wohl vertraute Stimme Justins.
Der Magier nahm wahr, wie Orpheu ihn in das weiche Gras legte. Die Erde unter dem Körper Lucas strählte Kälte aus. Sie mussten im Wald sein, dort wo wenig Wärme den Boden berührte. Wieder begannen seine Zähne vor Kälte zu klappern. Selbst der Urinstinkt, sich zusammenzurollen wie ein Kind, funktionierte nicht. Lucas Muskeln hatten ihm den Dienst versagt. Er spürte, dass jemand etwas über ihn breitete. Der schwere Stoff roch nach Ihad. In seinem Herzen breitete sich ein starkes Gefühl der Zuneigung und Wärme für seinen Meister aus. Einen Moment später hoben sanfte, geschickte Finger Lucas Kopf im Nacken an. Er fühlte, wie Ayco sich nah an ihn heran schob und ihn liebevoll umarmte. Der Gedanke, dass all seine Freunde sich so um ihn bemühten, berührte in Luca etwas. Er sah im Moment in ihnen nicht die Bedrohung, keine Gegner, oder die, die seine Flügel stutzten und ihn einsperrten. Jeder einzelne von ihnen war für ihn da und gab ihm das Gefühl, dass Luca ein wichtiger Teil ihres Lebens war.
Besonders Aycos Nähe half Luca, seine Wärme und die Gefühle, die jede einzelne Berührung für den Magier transportierte.
‚Jeder hat eine gute und eine schlechte Seite, Luca’, hörte er Tam in seinen Geist flüstern. ‚Und was Ayco ausgestanden hat, um bei dir zu sein, war mehr als dieser Kampf gegen den Halbelfen.’
Luca wollte ihn fragen, wollte alles erfahren, denn sein Geist war wach, aber alles in ihm, sogar die telepatische Verbindung zu Tam, versagte ihm den Dienst. Es ärgerte ihn maßlos nun gefangen in seinem unbeweglichen Körper zu sein. Aber allein das Denken, die Momente, in denen er wach war, ermüdeten ihn. Bald schon versank seine Welt wieder in verwirrenden Nebeln, die ihn zurückzogen.
Dunkelheit umfing ihn, als er erneut erwachte. Dieses Mal war es allerdings nicht die Finsternis hinter seinen Lidern, sondern die Tatsache, dass es Nacht war. Er lag unbekleidet in seinem Bett bei Thorn Rotbart und fröstelte leicht. Das Fenster stand offen, und er konnte die schimmernden Mondkreise, die sich einander näherten, halb hinter Wolken verborgen sehen. Der Duft der Wälder stieg ihm in die Nase, ebenso der Geruch der Tiere, der Ziegen, Schafe, Gänse und Kühe. Allerdings überlagerte der Duft von Aycos Haaren alles andere. Er hatte sich offenbar gründlich gebadet und seine silberne Haarpracht mit Seife gereinigt. Das Aroma des Elfs umhüllte ihn verführerisch und wunderbar. Die Wärme seines Körpers, der sich gegen Lucas schmiegte, der angenehme, gleichmäßige Herzschlag und das leise Rauschen seines Blutes, zogen Luca zusätzlich in seinen Bann.
Lucas Verlangen nach Ayco wuchs mit jedem Gedanken, an den Elf. Langsam realisierte Luca, dass er so viel Kraft verloren hatte, dass sein Körper ausgelaugt und fast unbrauchbar geworden war. Er war ausgebrannt. Der Gedanke erschreckte ihn nicht wirklich. Oft hatte er am Rande des Abgrundes gestanden. Die Höhle, der unkontrollierte Zauber, die Erkenntnisse in I’Eneels Haus und das Wissen über die Verbindung zwischen Aycolén und ihm zusammen mit dem wenigen, was er an Nahrung zu sich genommen hatte und der Anstrengung durch die ständige Abgabe von Lebenskraft, um andere zu heilen oder um über seine magischen Energien hinaus noch zaubern zu können, hatten alle Reserven aufgezehrt. Die momentane Situation kannte und fürchtete Luca ein wenig. Er wusste, dass die Gestalt des Seraphin übernahm, was die menschliche Form nicht mehr zu leisten im Stande war. Als Luca eine Hand hob, um seine Haut im Mondlicht zu betrachten, wunderte es ihn gar nicht, dass sie nicht bleich sondern porenlos und schwarz war. Der Dämon in ihm hatte alle Funktionen übernommen. Er senkte die Lider leicht und betrachtete den schlafenden Elf, Der Anblick des unschuldigen, knabenhaften Wesens schürte seine Lust, aber zugleich auch die Sehnsicht nach Lebenskraft. Er wollte Ayco lieben, aber im selben Atemzug sein Blut kosten. Der Gedanke sich ganz mit ihm zu vereinigen war so greifbar nah. Wie einfach es doch wäre, den Jungen im Schlaf zu verführen, sich seinen Körper untertan zu machen und in seiner höchsten Lust das Band zwischen ihnen mit Blut zu besiegeln. Lange betrachtete er Ayco, ließ sich von Geisterfingern seiner Vorstellungskraft liebkosen und in die Höhen des Verlangens tragen, genoss die Vorstellung und die Hitze, die sich in ihm anstaute und drängte sich dabei sehnsüchtig enger an seinen geliebten Freund. Ayco allerdings schlummerte friedvoll und still an seine Schulter gedrängt, so unschuldig, dass Luca sich in seiner Hitze selbst geißeln musste und den Gedanken mit aller Gewalt von sich schob. Es viel ihm unsäglich schwer, mit dem Wesen an seiner Seite, was für ihn bestimmt war. Er konnte sich nicht vollkommen zurücknehmen. Das war unmöglich. In dem Moment verstand er auch Justin, dem es so wenig möglich war, sich zu kasteien, wenn die Person, nach der er verlangte, die ganze Zeit um ihn war. Lucas Augen füllten sich mit Tränen. In seinem Herz stauten sich alle Facetten seiner Gefühle für Ayco und Justin. Die Liebe zu beiden überwog alles andere. Aber dieses Mal war es kein Gefühl tiefen Friedens und Glückes, sondern Unruhe, Zwang, ein Druck, den Luca sich kaum erklären konnte. Er glaubte sein Herz mit Blei ausgegossen zu haben.
Schuldgefühle gegenüber Justin erwachten, Wärme, liebevolle Nähe und das zwingende Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, weil er die körperliche Nähe des Vampirs nach 19 Jahren plötzlich zurückwies und sich nicht mehr den zärtlichen Händen Justins hingeben wollte. Zugleich wollte er sich für diese Zeit und die vielen Männer in seinem Leben vor Ayco entschuldigen ihm sagen, dass sein Herz nur ihm gehörte und dass nur seine Nähe ihn glücklich machte. Es verhielt sich auch nicht anders. Als Partner brauchte er nur diesen jungen Elf, aber Schamgefühl und Betroffenheit, sich nicht gezügelt zu haben für den Mann, den er die ganze Zeit suchte, nach dem er verlangte, ließen nicht die Nähe zu, die er sich die ganze Zeit ersehnte. Außerdem wusste er, dass Aycos feuriges Temperament schnell überkochte und er, ohne es zu wollen, schnell mit Ayco in Streit geraten konnte, besonders wenn der Elf etwas nicht hören wollte.
Luca suchte mit den Blicken den Raum nach Tam ab. Er sehnte sich nach seinem friedlichen, sanften Freund, der seine Gedanken und seine Liebe teilte. Tam war sein Ruhepol. Aber der Drachling, selbst völlig erschöpft von den Geschehnissen, lag zusammengerollt neben seinem Kopf auf dem Kissen und schlief so fest, dass Luca nichts außer narkotischer Schwärze aus seinem Geist extrahieren konnte.
Der Magier hatte das Gefühl getrieben von seinen Gefühlen, hinaus zu wollen, in die Nacht und die kalte Luft, die ihm sagte, dass er frei war.
Behutsam schob er sich unter Ayco fort und bettete den Jungen sanft in Kissen und Decken. Seine Schwingen behinderten ihn, selbst so eng an seinen Körper angelegt waren sie in dem engen Zimmer eine Last. Der Ruf des Windes war kaum noch erträglich. Er wollte hinaus, fliegen und vergessen. Langsam schritt er zu dem offenen Fenster hinüber und umklammerte mit einer Hand den Rahmen. Die Wolken zogen frei über ihm hinweg. Kälte streichelte seinen erhitzten Körper und weckte sein Verlangen erneut. Der Dämon, der Seraphin, der er war, zeriss ihn innerlich.
Wenn das unruhige Erbe seiner Mutter ihn auf diesem Weg in Besitz nehmen konnte, wollte er es nicht annehmen. Er sehnte sich nach dem ruhigen Ausgleich, der sonst in seiner Seele herrschte.
Aycos sanfte Finger strichen durch Lucas Haarmantel langsam seine Wirbelsäule hinab und riefen einen wunderbaren Schauer hervor. Wie schon zuvor hatte er den Elf nicht wahrgenommen, bis er direkt bei ihm stand.
„Ohne dich fehlt mir die Wärme“, sagte der Elf leise. Ohne ein weiteres Wort umklammerte er Lucas Taille und schmiegte sich in das weiche, schwarze Gefieder und das über den Boden fließende Haar.
Die Lider des Magiers schlossen sich. Der dämonische Seraphin fand plötzliche Ruhe. Die wenigen Worte Aycos hatten die Macht Lucas Herz zu beruhigen.
„Du bist mein Herz und meine Seele“, flüsterte Luca. Langsam drehte er sich von dem Fenster und der kalten Nachtluft, seiner Freiheit, ab, um Ayco in seine Arme zu schließen. „Ich liebe Dich, Ayco.“
Dieses Mal erwachte der Magier zusammen mit Ayco, glücklich und immer noch wohlig erschöpft von der letzten Nacht. Er konnte zwar nicht behaupten, dass seine magischen Kräfte wieder zurückgekehrt waren, aber innerlich hoffte er auch darauf, dass er sie in den nächsten Tagen nicht wirklich brauchen würde. Von Thorn erfuhren sie, dass es der letzte Tag in Night’s End sein würde, bevor sie ihren Rückweg nach Valvermont antreten würden. Der Tross sollte groß sein. Aki Valstroem, Sjorn, die drei Mädchen – obgleich Luca bezweifelte, dass Ria die Bezeichnung gerne hörte – Linette und Gerome würden ihnen folgen und ziemlich alle Gefangenen, die sie gemacht hatten. Ebenso natürlich auch die beiden Ordensgroßmeister und Justin. Allerdings würden sich diese Drei in der Feistadt von ihnen trennen. Ihr Weg war dort zu Ende. Von Valvermont aus, so beschloss zumindest Orpheu, mit stillem Einverständnis von Luca, wollten sie gen Süden über die Küstenstrecke mit dem Schiff die letzte Etappe bewältigen. Sarina allerdings war wesentlich weiter entfernt als die Eisenberge von Valvermont. Ayco zumindest wehrte sich sehr gegen die Vorhersage, dass sie mehrere Zehntage an Bord eines Schiffes reisten. Durch die Halbherzigkeit seiner Einwürfe, nahmen die wenigsten Teilnehmer an dieser Versammlung ihn ernst. Luca konnte wieder einmal nur aus seinen Gefühlen heraus urteilen, aber er spürte ganz deutlich die panische Angst seines Geliebten vor dem Wasser und der offenen Weite des Meeres. Auch der Gedanke, dass sie nur wenige Meilen von der Küste entfernt dahinsegelten, machte Ayco nicht sicherer.
Luca beschloss, ihn, wenn nicht alle Gefährten und Freunde um sie versammelt waren, und er Gerome für eine kurze Zeit endlich loswerden konnte, zu fragen, was der Grund dieser Ängste war.
Insgesamt hatte Luca noch so viele verschiedene Fragen an Ayco. Das, was er gehört hatte, bevor er in dem Herrenhaus das Bewusstsein verlor, was seine Freunde gesehen und gefunden hatten, aber auch das, was er so dringend Ayco mitteilen musste, dass es nicht Kyle war, der Night’s End vernichtete, sondern sein einstmaliger Adjutant Gregorius.
Außerdem musste er sich mit Ayco wegen Gerome austauschen. Ihm war aufgefallen, dass der Kleine keinen Moment ausließ, sich Ayco anzubieten, und der Elf, der dieses Verhalten mitbekommen hatte, wusste oft kaum, wie er sich diesen, ihm peinlichen Situationen entgehen konnte.
Zu allem Überfluss brauchte Luca etwas zu essen.
Leider musste Luca bis zum bitteren Ende neben Orpheu die Beratung ertragen, und war, wie sein Mentor und sein Großmeister, sowie auch Ayco, dazu gezwungen, mit knurrendem Magen den anderen beim Essen zuzusehen. Im Gegensatz zu Ayco oder Cyprian ließ ihm Orpheu, der einige verführerisch duftende Stücke Honigbrot mit frischer Sauerrahm-Butter vor sich liegen hatte, die Luca das Wasser im Mund zusammen laufen ließen, nicht die Möglichkeit das eine oder andere Mal den Schankraum zu verlassen, in dem sie sich versammelt hatten.
Der Durst quälte ihn fast genauso schlimm. Manchmal wurde es Luca schwindelig vor Hunger und er hatte in manchen Situationen eher das Essen seines Gesprächspartners zu fixieren, als die Person. Einigen fiel es nicht auf, Orpheu allerdings bemerkte es mit spöttischem Funkeln in den Augen und Ihad mit einigem Tadel im Blick.
Luca fühlte sich wie ein kleines, zurechtgewiesenes Kind. Einerseits entglitt ihm seine sonst so starke Selbstdisziplin, zum anderen sah er sich selbst als furchtbar unhöflich seinen Gefährten gegenüber.
Ihad hatte es sicher einfach. Der konnte bereits auf seinem Zimmer etwas zu sich nehmen. Cyprian sicher auch. Ayco würde sicher bei seinen Wegen durch die frische Luft den einen oder anderen Beerenstrauch oder Apfelbaum besuchen. Das Leben konnte ja so grausam sein, besonders mit Orpheu als Hauptmann, der alle Schwächen Lucas kannte und sie weidlich ausnutzte. Tief in sich schwor Luca grausame Rache, hatte aber den Gedankengang schon längst wieder vergessen, als die Versammlung sich gegen Mittag auflöste. Ayco erwartete Luca bereits an der Tür in den Hof. Er hatte es vermieden, sich zu setzen. Die letzte Nacht musste ihre Spuren hinterlassen haben. Mit einiger Sorge dachte Luca daran, dass sie ab morgen die meiste Zeit im Sattel verbrachten, bis sie die Freistadt erreichten.
Tambren, der es im Moment vorzog, selbst zu laufen, weil die Gefahr bestand, dass Luca ihn vielleicht versehentlich fallen ließ, verdrehte seinen Kopf zu seinem Herren und betrachtete ihn. „Du solltest vielleicht bei Ayco etwas vorsichtiger sein. Er ist das Spiel noch nicht gewohnt. Sein Körper ist zerbrechlicher als der Deine.“
Darin konnte Luca ihm nur zustimmen, auch wenn sich der Magier, dessen Gestalt wieder menschlich war, immer noch fühlte, als könne ihn jeder stärkere Windstoß umstürzen.
„Ayco, Luca, wartete auf mich!“, schrie Gerome und trampelte über die Dielen. Luca war es vollkommen unverständlich, wie ein solch zierliches Kind den Auftritt eines ausgewachsenen Steintrolls in der Größe Manos, haben konnte. Selbst die Tonbecher auf den Tischen bebten. Langsam drehte er sich um und überlegte einen Herzschlag lang, ob er einfach nur zur Seite treten und den Kleinen an sich vorbei stürmen zu lassen, verwarf die Idee allerdings ganz schnell wieder.
Gerome sprang Luca mit ausgebreiteten Armen an. Der Junge machte so offenkundig den Eindruck glücklich zu sein, dass es dem Magier wieder gut ging, dass Luca die ganzen negativen Gefühle und sein Misstrauen von sich wies. Im Moment hatte er wieder das Gefühl, einen kleinen Bruder zu haben, auf den er aufpassen und ihn erziehen musste. Der Sprung Geromes endete, allerdings nicht in Lucas Armen. Wie immer Orpheu es gelungen war, den Kleinen wieder einzufangen, konnte Luca gar nicht genau sagen. Das Kind hatte ihn wieder so von seiner Umwelt abgelenkt, dass sein Sichtfeld sich auf den schwarzhaarigen Jungen konzentrierte.
Allerdings hielt Orpheu ihn am Hosenbund hoch und trug ihn zu seinem Tisch zurück.
Gerome wetterte und einige sehr unfeine Flüche entglitten seinem Mund.
Tadelnd hob Kione den Zeigefinger und drohte ihm leise. Sie war wieder ganz die Edeldame aus Rouijin, zumindest so lange Justin in ihrer Nähe war. Nea schob ihm einen vollen Becker heißer Milch hin und deutete mit einer Geste auf den Platz neben sich, der bei Ablehnung lediglich eine Ohrfeige bedeuten konnte. Justin hielt dem Jungen etwas Honigbrot hin. Allerdings lehnte Gerome ärgerlich ab. Justin zuckte die Achseln und bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, den Luca nur als blankes Misstrauen interpretieren konnte. Die Zwergin Ria schob Gerome etwas zur Seite und ließ sich nahe dem noch immer speisenden Elfenvampir nieder. Luca tauschte mit Ayco einen langen Blick. „Wir sind bald wieder da, Orpheu!“, rief der Elf.
Mit erhobenem Teebecher nickte ihnen der Hauptmann zu.
„Ich will mit!“, insistierte Gerome.
„Lass die beiden erst mal wieder halbwegs werden, Kleiner“, winkte Orpheu ab. „Außerdem hat sich hier bislang noch keiner entschieden, dich auf einen Spieß zu ziehen und über dem Feuer aufzuhängen.“
Luca wendete sich erleichtert ab. Immer wenn Gerome nicht in seiner Nähe war, konnte er klar denken.
Bereits auf der Treppe, folgte ihnen noch das Gespräch zwischen ihren Gefährten und dem Jungen.
Tambren hüpfte träge die einzelnen Stufen hinab und watschelte breitbeinig über den ausgesandeten Innenhof. Luca beobachtete seinen kleinen Freund. Ihm gefielen der warme Boden und das Sonnenlicht.
Einige der Händler saßen auf den Bänken und stillten ihren Durst und Hunger. Niemand nahm Notiz von den beiden Männern und dem kleinen Drachen. Dieses Gefühl tat Luca gut und es hielt sich auf ihrem Weg durch Night’s End.
Sie verließen das Dorf in Richtung des Flusses. Aber bereits auf der Hälfte des Weges zog Ayco ein Bündel aus seinem Hemd und reichte es Luca mit breitem Grinsen. Luca betrachtete den Stoffbeutel, nahm ihn dem Elf ab und schmunzelte. Wo immer der junge Mann das Honigbrot her hatte, es war noch schön warm, und der Duft drang durch das Tuch hindurch.
„Frisch geborgt aus dem Ofen der Wirtin“, bekannte Ayco.
„Geborgt?“, wiederholte Luca zweifelnd.
„Geklaut“, erklärte Tam. „Sag’ mal, hast du Intelligenzbestie immer noch nicht begriffen, dass Ayco ein Dieb ist?“, tadelte ihn der Drachling barsch.
Luca hob eine Braue. „Damit habe ich ja gerechnet“, gestand er. „Aber Ayco“, er sah dem Elf in die Augen, „sollte mir das von sich aus sagen.“
Der junge Mann errötete. „Das entspricht sicher nicht deinem Gefühl für Gerechtigkeit und Anstand, oder?“, entschuldigte er sich hilflos. „Ich meine, ich weiß ja, dass du als Kind schon ehrlich und gerade heraus warst und ich...“
Luca legte ihm die Finger über die Lippen und sah ihn strafend an. Aycos Mimik war ein Spiegelbild vollständigen Leides. Der junge Mann machte den Eindruck, als würde die Welt um ihn zusammenbrechen.
Luca grinste plötzlich. „Wenn du redest anstatt etwas von dem warmen Brot zu versuchen, bist du selbst daran schuld.“
Fassungslos klappte Aycos Unterkiefer herunter. „Oh, du Gauner, und ich dachte, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst, wenn ich dir das sage!“, schnappte er wütend.
Luca öffnete das Tuch und warf Ayco einen verschmitzten Blick aus dem Augenwinkel zu. Behutsam brach er etwas von dem dunklen Brot ab und fühlte die weiche, warme, klebrige Krume in seinen Fingern. Bevor der Elf mehr sagen konnte, hielt Luca ihm etwas von der köstlichen Süßspeise vor die Lippen. Er lächelte dabei. Der Elf zögerte kurz, nahm es dann aber sanft mit dem Lippen auf.
Das Gefühl, was in Luca erwachte, war mehr als Wärme und Zuneigung. Am liebsten hätte er den jungen Mann in seine Arme geschlossen und nie wieder losgelassen.
„So, oh großer Meister, nun kannst du Tammy und mich ruhig weiter füttern!“, forderte Ayco Luca lachend auf.
Der Magier ließ sich von dem zärtlichen Glücksgefühl gänzlich erfüllen. Ein gutmütiges Lächeln huschte über seine Lippen und er brach das nächste Stück für Tam ab, um seinem Drachling auch eine Freude zu machen. Wesentlich weniger sanft als Ayco schnappte er danach und biss Luca leicht in die Fingerkuppen. Der Magier sog die Luft zwischen den Zähnen ein, sagte aber nichts. Tams Gier konnte er verstehen. Er suchte sich einen angenehm schattigen Platz am Wegesrand und ließ sich dort nieder. Ayco und Tam setzten sich rechts und links nieder. Hungrig starrten Beide das Brot in Lucas Händen an. Der Magier grinste. „Worauf wartet ihr?“
Wohl gesättigt und träge lag Luca im Gras am Bach und hielt Ayco in seinen Armen. Tam hatte sich zusammengerollt und zwischen die beiden Männer gedrängt, um die Wärme beider Körper zu haben. Luca wusste, dass er nicht schlief. Tam war viel zu neugierig, wie Luca auf Aycos Erzählung der Dinge, die er in dem Haus I’Eneels Haus erlebt hatte, reagieren würde.
„Was habt ihr gefunden?“, fragte der Magier leise.
„Das ist gar nicht so einfach zusammengefasst“, erklärte der Elf leise. „Fang einfach dort an, wo wir im Garten getrennt wurden?“, schlug Luca vor.
Der Elf wiegte den Kopf. „Das war der Moment, in dem Gerome sich losgerissen hatte.“
„Gerome“, murmelte Luca nachdenklich. Er war sich so sicher, dass der Junge ein Spitzel Gregories war.
„Das Hauptportal stand einen Spalt offen und der Kleine hatte sich durchgezwängt. Leider waren Orpheu und ich nicht so schnell. Ich kam vorbei, allerdings musste der Hauptmann die Türen fast aus den Angeln reißen, um hindurch zu passen. Justin war es, der mir folgte. Zu Anfang waren Gerome, Justin und ich allein in dem Haus. Von euch haben wir weder etwas gesehen noch gehört. Das lag aber auch an Orpheu, der wie eine lebende Barriere in der Tür klemmte und sie aufhebelte. Ihad muss ihm wohl dabei geholfen haben. Justin und mir allerdings blieb gar nicht die Zeit, uns um sie zu kümmern. Der Junge war bereits in einer der oberen Etagen und uns blieb nichts, als ihm zu folgen. Ein solches Bürschchen, zu fein um Leinen zu tragen, hätte sich an dem Dreck auf dem Boden eher die nackten Fußsohlen zerfetzt.“
„Und, hatte er das?“, fragte Luca vorsichtig. Er kannte die Antwort.
„Nein“, knurrte Ayco. „Dafür konnte ich mir später spitze Steine, Splitter, Holz und Nägel aus meinen Fußsohlen ziehen, und ich bin gewohnt ohne Schuhe zu laufen.“
Luca nickte. „Der Kleine ist seltsam. Er ist so offenkundig ein Verräter. Warum macht er das? Weshalb lässt er es darauf ankommen, dass es eskaliert?“
„Das tut er nicht. Er hat dich und mich, die immer wieder weich werden“, erklärte Ayco mit einiger Wut in der Stimme.
„Wo habt ihr ihn wieder eingesammelt?“, lenkte Luca das Gespräch zurück.
„In meinem Turm“, gestand Ayco. „Er saß an dem Turmfenster und sah nach draußen. Die alte Wolldecke von mir hatte er um sich geschlungen und sog den modrigen Gestank ein. Das war unheimlich. Justin sagte mir, er wolle lieber in den Schatten bleiben, sozusagen als mein Trumpf, würde etwas passieren.“
„Ist etwas passiert?“ Luca hatte dieses Mal ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
„Ja. Und ich war sehr froh, dass Justin bei mir geblieben ist!“ stieß Ayco hervor. „Irgendwie bin ich in ein morsches Brett getreten und hatte mir das Fußgelenk verdreht. Aber dabei bin ich auch wieder auf die Kiste aus unserer Kindheit gestoßen. Das Ding, in dem all unsere Schätze verborgen lagen. Glaskugeln, Zeichenkohle, einen Holzkreisel, getrocknete Blumen, alte Zeichnungen von dir und mir, ein Eisenring und noch einiges mehr.“
Luca glaubte sich daran zu erinnern. Es waren Leas Glasmurmeln, Aycos Zeichenkohle und ein graues Seidenband, mit dem Lucas Haar einstmals zusammengebunden worden war.
„Ja, ich glaube ich weiß, was da alles lag. Auch mein Haarband, oder?“
Ayco nickte.
„Das hatte dir gefallen. Das und meine …“ Luca verstummte und wendete den Kopf. Er versuchte in Ayco Augen etwas zu lesen, eine Antwort darauf, was er noch in I’Eneels Haus verborgen hatte. „Meine Ordensrobe, die Gewänder, die mir Ihad vor einhundert Jahren hatte nähen lassen“, flüsterte er tonlos.
„Das habe ich dann auch erkannt. Ihad hat dich damals schon in seinen Fängen gehalten und es dir jetzt verschwiegen. Das waren Kleider, die nur einem Kind passen konnten. Aber was ich auch fand war ein versteinertes Herz, Luca. Es war klein, das Herz eines Kindes.“
Der Magier schwieg. Er wusste, dass Ayco sein Herz in Händen gehalten hatte.
„Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass es ein Herz war, aber dann, als ich es anfasste und es Gerome, der es wie einen Stein wegwerfen wollte, entzog, kamen die Visionen wie alptraumhafte Erinnerungen zurück. Ich habe das Bild eines Mannes gesehen, der dir dieses Herz heraus nahm und es I’Eneel als Unterpfand gab.“
Luca schreckte die Vorstellung nicht mehr. Er nahm den Gedankengang still hin.
„Der Kleine war plötzlich über Ayco und hatte ihn in seinem Bann“, erklärte Tam anstatt des Elfs. Ayco sah den Drachling verwirrt an. „Davon habe ich nichts mitbekommen!“, rief er hilflos.
Tam ignorierte ihn „Gerome feilschte zu Anfang mit ihm um das Herz, schaffte es aber nicht. Dann zwang er Ayco an sich und versuchte ihn mit seinen Reizen zu zwingen, ihn zu verführen. Und das schrecklichste dabei war, dass er seine Gestalt veränderte. Er sah aus wie eine kindliche Form von Luca, allerdings mit blauen Augen. Ayco war gar nicht mehr in der Lage sich so gegen ihn zu wehren, wie er es wollte. Anhand seiner Gedanken war ich mir sicher, dass er auch dich sah, Luca.“
Der Elf erbleichte und klammerte sich an seinen Geliebten. „Ich wollte es nicht!“
Luca strich ihm durch das Haar. „Du trägst keine Schuld“, versuchte er ihn zu beruhigen, war aber selbst zornig.
Tam hob den Kopf. „Gerome hatte das Herz bereits in den Händen. Er hat aber nicht von Ayco abgelassen. Er will ihn besitzen, Luca. Ihn, sein Leben und seinen Geist. Ohne Justin wäre nun alles verloren gewesen. Er hat Ayco aus seinem Bann befreit und dem Jungen das Herz entrissen.“
Luca umarmte seine beiden Freunde fester und umklammerte sie mit aller Kraft. Er hatte mehr Angst Ayco und Tam zu verlieren, als sein Leben aufzugeben. Der Gedanke, dass Gerome Ayco etwas tun konnte, war schlimmer als alles sonst.
„Aber warum habt ihr nicht …“, begann Luca.
„Gerome ist kein Kind, Luca“, fiel ihm Tam ins Wort. „Es ist derselbe, der Lea, Lyeth und dich getötet hat.“
Der Magier empfand wenig Überraschung bei Tams Worten. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass ihm der Schreck tief in die Glieder fuhr. Die Reaktion Aycos allerdings war eher eine Mischung aus Schrecken und plötzlicher, sehr tief sitzender Angst. Offenbar hatte auch er die ganze Zeit über etwas Vergleichbares vermutet, aber darüber geschwiegen.
„Aber er ist ein Kind“, murmelte Ayco. „Und ich habe meinen Vater in den Flammen gesehen. Lea, warum sagt sie, es war Kyle?!“, fragte er nun mit Nachdruck.
Luca schwieg. Er ließ die Dinge, die er durch I’Eneel erlebt hatte, noch einmal an sich vorüber ziehen. Kyle war bei dem Angriff nicht dabei gewesen. Er hatte ihn weder gesehen noch gefühlt, dafür allerdings Gregorius und I’Eneel. Diese beiden Gesichter hatten sich nun unauslöschlich in seinen Kopf gebrannt. Lea, was hatte sie getan? Luca glaubte sich zu erinnern, dass sie auf etwas wartete. Sich in der Kapelle aufhielt, nicht um zu beten, sondern weil sie wartete.
Auf wen? Die Hilfe ihres Vaters? Kyle musste zu spät gekommen sein, erst zu dem Zeitpunkt, als Gregorius bereist sein Werk vollendet und abgezogen war. Wie lang hatte Ayco gebraucht, sich aus dem Herrenhaus zu befreien? Es musste genügend Zeit in Anspruch genommen haben, um Gregorius abziehen zu lassen. Warum hatte I’Eneel Aycos Leben geschützt? Der alte Magier sperrte den Jungen damals ein, weil er wusste, was in Night’s End passieren würde. Er war derjenige, der den Pakt mit Kyle gebrochen hatte. Aber warum? Was war sein Hintergrund?
Die Geheimnisse um Night’s End waren noch nicht gelüftet. Ebenso der Zusammenhang mit seiner eigenen Person zu dem Ort. Warum war er damals hier gewesen, in nahezu der gleichen Gestalt und mit dem gleichen Namen wie den er jetzt trug? Warum war er damals ebenfalls in Ihads Orden? Zumindest konnte sich Luca Ihads massives Interesse an seiner Person nur so erklären, dass der Großmeister der Pentakel etwas über ihn wusste, was Luca verborgen blieb. Wahrscheinlich war es etwas in Lucas Bestimmung, die ihn für Ihad unersetzlich machte. Deshalb hatte er den Jungen seiner gesellschaftlich und finanziell maroden Familie für eine Summe abgekauft, mit der man eine kleine Stadt erwerben konnte.
Ihn konnte Luca fragen, aber er zweifelte mehr denn je daran vorzeitig auch nur eine Information zu erhalten, die die Pläne des Feuerdämons aus den Kalifaten aufdeckten.
Cyprian war sicher nicht in alles eingeweiht. In vielen Punkten misstraute Ihad seinem Bruder, schon weil Cyprian als Lucas Mentor, seine ganze Seelenkraft für seinen Schüler opferte und sicher bereit war alles zu tun, um ihm zu helfen. Die Neigungen des Eisdämons waren schon immer klar. Er tat alles für seinen Schützling.
Es gab wenige, von denen Luca passende Antworten erhalten konnte. Einer von ihnen lebte nicht mehr.
Kyle würde er, mit etwas Glück, in Sarina wieder sehen. Aber bis dahin hatten sich seine Fragen verdreifacht. Allein jetzt trug er eine Masse unbeantworteter Dinge mit sich herum und sah, dass jede Lösung neue Fragen aufwarf.
Gerome, oder Gregorius, wusste sicher alles, aber ihn auch nur wissen zu lassen, dass sein Geheimnis keines mehr war, konnte für alle Beteiligten gefährlich werden.
„Luca, ich rede mit dir!“, zischte Ayco und riss den Magier wieder in die Gegenwart zurück. „Es wäre schön, wenn du deine Gedanken auch mit mir teilst!“
Das, was Luca allerdings in Aycos Augen las, war mehr als Ärger. Sein Freund war hilflos und fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Er hatte so wenige Antworten parat wie Luca, nein, sogar weniger.
Der Magier seufzte leise und schloss die Augen, zog Ayco eng an sich und drückte den Kopf des Jungen gegen seine Brust. Tam arbeitete sich, bevor er endgültig erdrückt wurde, unter Ayco hervor.
„Was Night’s End betrifft, Ayco, habe ich nur Vermutungen für dich als Antwort.“
„Dann sag’ sie mir“, flehte Ayco und klammerte sich mit beiden Händen in Lucas Hemd.
Unschlüssig nagte Luca an seiner Unterlippe. „Da gibt es so viel, Ayco. Auch was mit meinem Traum gestern früh zusammen hängt. Meine eigenen Gedanken stehen noch lange nicht in Einklang damit.“
„Dann lass es uns gemeinsam...“
„Zu dritt!“, unterbrach Tam Aycos Satz.
„... herausfinden. Gut, zu dritt“, gab der Elf nach.
Tam legte sich flach auf Lucas Bauch und rollte zufrieden seinen Drachenschwanz um seinen Körper.
„Dann fang an mit deinem Traum, Luca“, bat Ayco.
Der Magier nickte nachdenklich. „Der Traum war eine lodernde Szenerie aus dem inneren eines Vulkans. Allerdings nehme ich an, dass es nichts anderes als eine Darstellung Night’s Ends war. Der Findling war ein Teil des Traumes, du als Kind, aufgehängt an Ketten, aber genauso Lea. Sie war eine Puppe aus Leichenteilen, deren Fuß in die gleiche dünne Goldkette verharkt war, die sich um deinen Bauch wand.“
Luca wagte einen Blick zu Ayco. Es war nicht seine Art normal von seinen bizarren Träumen zu erzählen. Aber er hatte das Gefühl, dass, so verwirrend die Bilder erschienen, alles ganz einfach und nicht sinnbildlich zu verstehen war.
Der Elf hatte die silbrigen Brauen zusammengezogen und hörte still zu.
„Es gab noch einen Seraphin mit sechs Flügeln, einen sehr hohen Seraph, ein kleiner Junge aber. In seinen Fingern lief die Kette zusammen. Er saß auf einer Basaltzunge inmitten des Infernos. Hinter ihm waberte eine fast erdrückende Unendlichkeit. Allerdings hatte ich das Gefühl, als sei er vollkommen paralysiert, apathisch.“
„Wer war das?“, fragte Ayco nun neugierig.
Luca deutete ein Schulterzucken an. „Ich weiß es nicht. Einen Seraph mit sechs Schwingen kenne ich, einen mächtigen, uralten Seraph, noch aus der ersten Periode des Äons. Amoth ist sein Name. Aber das ist auch der einzige Sechsgeflügelte, der mir einfällt. Und als Kind kann ich ihn mir kaum vorstellen.“
Luca lächelte versonnen. „Wenn er das war, dann hätte ich ihn am liebsten sofort in die Arme geschlossen und ihn beschützt. Er sah wirklich hilflos und traurig aus.“
Ayco schmiegte sich enger an Luca, zog Tam mit, bettete seinen Kopf auf dem runden Kugelbauch des Drachlings und ignorierte jeden Einwand des kleinen Kerls.
Luca streichelte beiden über die Köpfe.
„Dann hing an dir ein Seraphkind, ein kleiner Junge mit vier Flügeln. Er war ein Synonym für Gerome, darin bin ich mir sicher, Ayco.“
Der Elf verzog angewidert die Lippen. „Stell dir vor, dieser Junge war oft in den Eisenbergen in meiner Nähe, und näherte sich mir oft beim Baden, oder begleitete mich durch die Höhlen.“
Luca hob eine Braue. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. „Davon hattest Du mir nichts gesagt.“
Ayco seufzte leise, verzog die Lippen und murmelte: „Ich wollte ja, war mir aber unschlüssig wegen Orpheu. Du und er, ich wollte den Kleinen nicht in Gefahr bringen, wenn ich offen sagte, dass er Gregories Leibdiener und Gespiele war. Der Kleine hatte sich seinen Erzählungen nach nie wirklich gut dabei gefühlt und oft meine Nähe gesucht. Also wollte ich ihn schützen. Orpheu wäre sicher bereit gewesen, ihn vor Sarinas höchste Richter zu schleifen.“
In Luca erwachte tiefe Eifersucht, die sich seiner Gefühle bemächtigte und sein Herz zusammenzog. Einige Sekunden schwieg er, zwang den Gedanken, dass Gregorie ständig in Aycos Nähe war, ihn mit seiner naiven, kindlichen Gestalt bezaubert und in seinen Bann gezogen hatte, nieder und atmete schließlich tief durch.
„Jetzt würde ich ihn am liebsten höchst persönlich bei dem Kaiser abliefern und die Avatare der Götter zu seinen Richtern machen!“, sagte Luca bissig.
„Luca, Ayco hat es verstanden!“, mahnte Tam verärgert. „Du musst nicht noch in der Wunde bohren.“
Luca kam sich selbst schäbig vor. Ihm war allerdings nicht klar, wie er den Jungen weiterhin in Sicherheit wiegen sollte mit dem Zorn, den er in seinem Herzen trug. Luca war so schon nie ein guter Schauspieler gewesen, aber das ging sicher über seine Kräfte.
„Erzähl bitte weiter“, drängte Ayco, dem offenbar die Situation mehr als peinlich war.
„Er krallte sich an ein Amulett, das dein kindliches Ich in den Händen hielt...“
Der Elf zuckte entsetzt zusammen und fuhr auf. „Dieses kleine...“ Dicht neben Lucas Kopf rammte er seine Faust in das Erdreich.
Tam zuckte und schlang in einem Reflex seinen Schwanz um die Schnauze, sodass nur noch seine goldnen Augen und eine Ohrquaste, die langsam ebenfalls versank, zu sehen war. Langsam, fast träge folgte Luca der Bewegung seines elfischen Freundes und hob eine Braue. Ein kleines Pusselteilchen fügte sich zu einem klareren Bild in seinem Traum ein.
„Diese Ratte hat mein Amulett!“, zischte Ayco und betrachtete seine aufgeschlagenen Fingerknöchel, ohne wohl den Schmerz zu registrieren. „War es ein Feueramulett mit Flammenkranz und Rubinen?“, fragte er Luca ernst.
Der Magier nickte. „Es war ein besonders wertvolles Ordensamulett“, entgegnete er. „Ayco, es ist nur ein Traum“, warnte er. „Verrenn’ dich besser nicht.“
Der Elf sah ihn mit brennender Leidenschaft an. „Das Amulett hatte mir meine Mutter gegeben, an dem Tag bevor Night’s End fiel. Seither hatte ich es immer bei mir. Ich dachte, als ich in den Eisenbergen als Spion aufgefallen war, dass ich es nie wieder sehen würde. Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass Ihad es in seinem Wahn dort eingeschmolzen hatte. Aber wenn dein Traum stimmt, hat Gregorius es. Diese Ratte!“
Der Elf sprang auf und machte sich daran sofort loszustürzen.
„Langsam!“, sagte Luca in einem sehr harten, befehlenden Ton, der den Elf sofort zusammenfahren ließ.
Jetzt erwachte der Widerspruchsgeist Aycos erst recht. „Verdammt, dieses kleine Mistvieh rennt mit meinem Anhänger durch die Gegend!“ Er machte eine Handbewegung Richtung Night’s End. „Diese Kröte hat meine Mutter und Lea ermordet, er hat dich getötet, Luca, reicht das nicht?!“ Aycos Stimme überschlug sich fast in seinem hitzigen Zorn. „Er hat Hunderte anderer Wesen getötet, sie in diesem Lager zu Tode quälen lassen, und er war bereit alles zu tun um an das versteinerte Herz zu kommen, was Justin, er und ich gefunden haben!“
Luca verstand Aycos rachsüchtigen Zorn zu gut. Am liebsten hätte er die Liste mit allen Punkten, die ihm noch einfielen, verlängert. Aber in seinem Kopf warnte bereits wieder die Stimme der Vernunft.
„Und, Ayco, er hat eine Königin und Göttin gefangen und eingesperrt. Er hielt die Herrin des Todes in seinen Klauen“, sagte er ruhig. „Das sollte dir sagen, dass wir vernachlässigbar sind für ihn, keine Gegner, die er auch nur eine Moment lang ernst nimmt.“
Der Elf erblasste. Luca konnte sehen, wie alle Kraft aus ihm wich. Diesen Punkt hatte Ayco offensichtlich verdrängt.
„Meinst du, er wusste, wer Aki ist?“ fragte Ayco leise und kniete sich wieder neben Luca.
Der Magier wich seinem Blick aus. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ja. Beschwören kann ich es nicht. Aber ich denke, es war kein Zufall, dass wir die Königin der Nordlande in seinen Fängen vorfanden. Selbst wenn es ihm nicht klar war, hatte er doch die Macht, sie zu binden. Das sollte dir noch mehr zu denken geben, Ayco.“
Der Elf hob hilflos die Arme. „Was hält ihn denn davon ab, mit uns allen einfach nur so zu verfahren, wie er es mit den Wesen in der Höhle getan hatte?“
Luca legte den Kopf schräg. „Vielleicht ist es etwas in Night’s End, vielleicht dieses versteinerte Herz. Was habt ihr eigentlich damit gemacht?“, fragte er nun mit einiger Neugier.
„Eigentlich wollten Justin und ich es beerdigen, aber dann wurdest du ohnmächtig, und die Reaktion von Gerome hat uns beiden ziemlich zu denken gegeben.“
Er hob die Schultern. „Wir haben etwas beerdigt. Einen wunderschönen, großen Eckstein von einem kleinen Feld.“
„Justins Idee, oder?“, fragte Luca.
Tam peitschte Luca kurz mit seinem Schwanz. Im ersten Moment wollte sich der Magier darüber beschweren, wusste aber einen Herzschlag später, warum der Drachling das getan hatte.
„Gar nicht!“, beschwerte sich Ayco. „Das war meine Idee!“
Er strich sich einige seiner Haarsträhnen aus den Augen. „Ich bin der Dieb, nicht Justin.“
„Der hat zuweilen auch klebrige Finger“, murmelte Luca mehr zu sich selbst als zu Ayco.
Geflissentlich überhörte der junge Mann die Worte des Magiers. Luca vermutete, dass er dem Stolz des Elfs gerade einen gehörigen Schlag versetzt hatte.
„Du hoffst, dass Gerome darauf hereinfällt?“, fragte Luca. Leider gelang es ihm nicht ganz seine Skepsis aus der Stimme zu verbannen.
„Im Moment hat Justin es. Er sagte mir, er würde es aus der Reichweite Geromes an einem vollkommen sicheren Ort unterbringen.“
Luca ahnte, wo sein alter Freund dieses Herz verbergen wollte. Gelegentlich würde er Justin danach fragen.
„Nun erzähl’ bitte weiter“, drängte Ayco.
Luca ließ sich wieder in das Gras zurück sinken, streckte sich und verschränkte die Arme im Nacken.
Tam krabbelte auf seinen angestammten Platz auf seiner Brust und räkelte sich ebenfalls, bevor er sich wieder zusammenrollte und schläfrig die Lider senkte.
Ayco hob eine Braue, nahm den Drachling hoch, der sofort wild protestierte, schmiegte sich dann aber an genau die Stelle auf Lucas Brust und umschlang den Drachling wie eine Kind eine Strohpuppe.
Tam gab es auf. Erschöpft hing er in den Armen des Elfs und starrte beleidigt zu Luca hinüber, von dem er zumindest irgendeine Art der Hilfe erwartete.
Der Magier lächelte. „Die Ketten zogen sich um den Findling, das Felsenkind, zusammen. Allerdings steuerte das nicht der Seraph mit den sechs Schwingen sondern Gregorius, Gerome, wie immer er wirklich heißt.“ Für einen Moment stand ihm das Bild seines Traumes und das Erlebnis bei I’Eneel wieder vor Augen. Er spürte in beiden Fällen, wie die Ketten seinen Körper zerstörten. Zögernd sprach er weiter. „Das Felsenkind wurde zu einem lebenden Wesen. Die Kettenglieder zerrissen es. Damit endete mein Traum.“
Ayco schauderte. „Von Ketten zerschnitten zu werden muss ein grauenhafter Tot sein, Luca.“
Kälte durchkroch Lucas Körper. „Ist es Ayco. So hat Gregorius mich vor hundert Jahren hier in Night’s End töten lassen.“
Ayco riss die Augen auf. „Wie?!“
Luca sah ihn ruhig an. „Bevor I’Eneel starb, zeigte er mir in diesem Duell die letzten Momente bevor Night’s End fiel. Ich weiß nicht, ob es seine Taktik war, mich mit der Illusion der Vergangenheit zu schwächen, oder ob es wirklich seine Art war, mir meine Fragen zu beantworten, aber es war in jedem Fall ein Geschenk an mich, Ayco.“
Der Magier lächelte, als Ayco auffahren wollte.
„Das ist kein Geschenk, wenn er dich durchleben lässt, was du schon einmal ertragen hast!“, ereiferte er sich.
Tam packte eine Haarsträhne des Elfs und zog daran.
„Au!“, rief der junge Mann. „Bist du verrückt?!“
„Anders ignorierst du mich ja“, erklärte Tam. „Du musst versuchen zu denken wie Luca und I’Eneel. Luca sieht in allem noch etwas Gutes. I’Eneel hatte ihm die Wahrheit gezeigt, weil er sie ihm nicht sagen konnte. Der Mann, mit dem er seinen Pakt gegen die Stadt abgeschlossen hatte, war bei dir, in dem Moment in seinem Haus. I’Eneel hatte dich immer gerne, das konnte ich in den Gemäuern spüren. Er hat dich beschützt, Luca die Informationen gegeben, ihn aber auch zum Handeln gezwungen, damit er seinen Frieden bekommt. Mit seiner Erlösung dieses untoten Daseins als Leichnam, konnte er sich auch der Rache Gregories entziehen. Soweit verständlich?“, fragte Tam nach, dem scheinbar Aycos große Augen nicht entgangen waren.
Der Elf nickte zaghaft. „Aber, wenn er mich so gerne hatte, warum hat er das dann getan? Was hat ihm Gregorius geboten, was Kyle ihm nicht bieten konnte?“, fragte Ayco nun neugierig.
„Vielleicht etwas sehr wertvolles, vielleicht Magie, vielleicht dich.“ Tambren deutete ein Schulterzucken an.
Der Elf schauerte leicht unter den Worten.
„Meint ihr“, begann er leise, „Wir finden noch etwas, wenn wir uns das Haus alleine ansehen? Jetzt dürften keine Gefahren mehr da sein. Justin hatte es gesegnet, bevor wir gestern gingen.“
Luca, in dem Neugier und natürliche Vorsicht gerade einen wilden Kampf gegeneinander führten, nutzte das Argument, sofort zu Gunsten seiner eigenen, immer noch abenteuerlustigen Seele. Etwas in ihm rief ihm deutlich zu, dass er sich magisch gar nicht zur Wehr setzen konnte, dass seine Reaktionen noch eingeschränkt und langsam waren und es Hunderte, oder Tausende Schwertkämpfer gab, die besser waren als er, aber er ignorierte diese Stimme und verschloss sie in sich. Vielleicht lag es auch daran, das Tam ebenfalls neugierig war und ihn dasselbe Fieber ergriff.
„Überzeugt“, lächelte er. „Lass uns gehen.“
Luca bereute es nicht. Er genoss es, allein mit Tam und Ayco durch den Wald zu gehen, seine eigenen, körperlichen Fähigkeiten zu testen und mitzubekommen, dass seine Ausbildung im Orden jenseits der staubigen Bücher, mit Schwert und Dolch, auf Parcours und Hindernisstrecken, gar nicht so schlecht waren. Er konnte sich nicht immer darauf verlassen, dass seine Magie ihm den Hals rettete.
In ihm erwachte der kindliche Eifer, seine eigenen Talente auszureizen und mehr Abenteuer zu erleben, in denen er sich gruseln und Geheimnisse aufdecken konnte.
Dieses Mal, ohne die Entourage an Freunden, kamen sie schnell voran. Es gab keinen quengelnden Jungen, der sich lieber tragen ließ, keinen Ihad, der sich darüber aufregen konnte, dass seine Roben sich in dem Unterholz verfingen und keinen Orpheu, für den schmale Durchgänge nicht breit genug waren.
In vielleicht der Hälfte der Zeit erreichten sie das alte Herrenhaus.
Sie näherten sich dem Gemäuer von einem etwas anderen Punkt, bedingt durch ihren wesentlich direkteren Weg, den sie gewählt hatten. Das Tor lag genaugenommen ihnen gegenüber. Allerdings hielt sich Ayco nicht mit dem Marsch um die Umfriedung auf, sondern hangelte sich mit unsäglicher Leichtigkeit an einem nahe stehenden Baum hinauf, um über einen Ast auf die andere Seite zu gelangen. Luca blieb einige Sekunden bewundernd stehen. Er betrachtete seinen Freund im Moment mit völlig anderen Augen. Der Elf besaß die Grazie und Geschicklichkeit einer Katze. Er balancierte über den leicht gen Himmel gereckten Ast hinauf, die Arme ausgebreitet, verwoben in sein langes, offenes Silberhaar. Allerdings verlor das Bild etwas an Reiz, als er jenseits der Mauer hinab sah und den Halt verlor. Mit einem spitzen Schrei verschwand er im hohen Gras. Luca glaubte, ihm müsse das Herz stehen bleiben. Sofort zog er sich an einem tief hängenden Ast hoch und kletterte, wesentlich weniger elegant, hinter Aycolén her. Doch der Elfe schien sich nichts getan zu haben. Er fluchte lediglich wie ein Brunnenputzer und versetzte der Mauer einen Tritt.
Luca, der ihm gefolgt war, ging nun auf dem Ast in die Hocke. Er hielt sich vorsichtshalber fest, spürte aber, wie sich das Holz unter seinem Gewicht bog. Dennoch war er sich sicher, dass der Baum seine Belastung leicht verkraftete.
„Na, immer noch höhenschwindlig?“, spottete er ausgelassen. Ayco warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Dann allerdings grinste er und sprang nach oben, um den Ast, auf dem Luca kauerte, zu erreichen. Der Magier bemerkte die Absicht und sprang. Er war nicht so geschickt und geschmeidig wie Ayco, der vermutlich sogar seinen Fall zu kontrollieren in der Lage war. Tam klammerte sich in Lucas Haaren fest, breitete aber sicherheitshalber die Schwingen aus.
Der Magier kam recht leicht auf und federte schnell auf die Füße zurück. Sein Freund stand vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt und kritisch. „Nicht wirklich elegant“, knurrte er. Allerdings wusste Luca, dass das nicht stimmte. Seine tänzerischen Fähigkeiten kamen ihm oft zugute, auch im Kampf und bei solchen Situationen. Er hob nur eine Braue, grinste dann aber unverschämt breit.
„Komm schon, das Abenteuer wartet!“
Dieses Mal suchten sie sich ihren Weg durch den einstmaligen Kräutergarten, vorbei an den kleinen Versorgungsgebäuden, die sich auf der Rückseite zur Küche hin befanden. An das Wasch- und das Backhaus und den Brunnen erinnerte sich Luca noch. Einmal hatte I’Eneel ihm damit gedroht, ihn, wenn er Ayco weiterhin besuchen würde, in das Waschhaus einzusperren und dort zu vergessen. Luca lief ein eisiger Schauer dabei über den Rücken. Den Gedanken schob er allerdings mit viel Wehmut von sich, als er sah, in welch bedauernswertem Zustand sich alles hier befand. Der weiße Anstrich der Gebäude war schimmlig grün und platzte in großen Placken ab. Feine Spinnweben überzogen den Bruchstein darunter und die Feuchtigkeit gab allem einen unangenehmen Geruch.
Luca nahm noch den Brand- und Rauchgeruch aus dem Backhaus wahr, der sich über so viele Jahre darin festgesetzt hatte. Es vermittelte ihm ein eigenartiges Gefühl von zu Hause.
Ayco ergriff, als Luca nicht gleich reagierte, seinen Arm und zog ihn mit sich. Der Magier stolperte einige Stufen hinter Ayco hinab und stand vor einer schief in den Angeln hängenden Holztür mit zerbrochenem Glaseinsatz. Die Spinnweben und der Dreck machten es unmöglich nach innen zu sehen.
„Das ist der Zugang zur Küche“, erklärte Ayco lächelnd.
Luca sah kurz das Bild eines verwinkelten Raumes mit tönernen Bodenkacheln, einer Feuerstelle und Holzregalen, in denen Teller und Becher standen. Von der Decke hingen Haken herab, an denen kupferne Pfannen und dreibeinige Töpfe befestigt waren. Allerdings zerbrach das Bild, als Ayco ohne große Scheu durch das dichte Gespinst der Spinnen griff und von innen den Riegel löste. Als er die Tür – zugegeben sehr laut – in ihren verrosteten Angel aufschob, bot sich ihnen ein bizarr verwunschenes Bild. Im Halbdunkel der Küche lag knöchelhoch das Laub und der Staub. Spinnen hatten die Küche für sich erobert, allerdings auch Vögel, denn aus einigen Gefäßen ragten dürre Äste, trockene Blätter und Federn hervor. Leises zwitschern erfüllte den Raum. Luca sah einige braune, weit aufgerissene Schnäbel, junge Vögel, die nach Futter verlangten. Leichter Wind wehte das Laub über den Boden, bis hinüber zu der hohen, leicht gewedelten Treppe, die in den Flur führte.
Luca trat tiefer in den Raum und sah sich noch einmal gründlich um. Etwas rührte an seinem Herzen. Es tat ihm von Herzen Leid, dass dieses schöne, alte Anwesen verfiel, und damit auch das Andenken an I’Eneel.
Der Magier hatte ihm selten etwas gutes getan, aber er empfand tiefen Respekt vor ihm.
Im Moment spürte er den Hauch der Verwesung hier, aber genauso die starke Präsenz der Persönlichkeit I’Eneels.
Ayco huschte wie ein Schatten an ihm vorüber zu den Stufen. Er betrachtete den Raum von einem erhöhten Punkt. „Egal was er getan hat, Luca, er fehlt mir“, gestand der junge Mann. „Das ist sein Haus, und ich habe das Gefühl, ihm hier so nah zu sein.“
Luca deutete ein Nicken an. „Ich verstehe dich“, flüsterte er.
„Ihr seid schlicht sentimental!“, kommentierte Tambren verächtlich.
Luca gab seinem Freund einen leichten Nasenstüber. „Vorlauter Kerl“, lächelte er.
Tams Eindruck allerdings, das konnte Luca deutlich erkennen, unterschied sich in keiner Weise von dem seinen.
„Lass uns weiter gehen“, bat Ayco, wendete sich ab und trat durch die RundbogenTür ohne Türblatt in den dunklen Flur.
Mit einigen Schritten hatte Luca Ayco eingeholt.
Gemeinsam durchschritten sie den langen Gang zu der Haupthalle. Dieses Mal drängte Luca weiter, denn der Ort, an dem I’Eneel sein Leben aushauchte, war wie eine gewaltige Schuld auf seiner Seele. Ayco schien keine Einwände zu haben. Dennoch musste Luca etwas wissen. „War es Justin, der I’Eneel in das Leben zurückgerissen hatte?“
Tam zuckte mit den Schultern. „Ungefähr in dem Moment, in dem du ohnmächtig wurdest, habe auch ich das Bewusstsein verloren, Luca.“
„Ja“, sagte Ayco fast zeitgleich. Er trat aus den Schatten neben I’Eneel. Das war ein Bild, dass ich nie wieder vergessen werde. Es kam mir in dem Moment vor, als wäre er nicht mehr unser Freund, sondern ein überirdisches Wesen. Er war ein Gott, der das Leben selbst in sich trägt; ein heiliges Wesen.“
Luca deutete ein Nicken an. „Das ist er wirklich, Ayco. Dabei hat er noch lange nicht seine vollkommene Macht erreicht.“
Der Elf senkte den Blick und sah zu der Stelle, an der I’Eneel starb. Schweigend wendete er sich ab und huschte die Stufen hinauf. Luca sah die stumme Flucht und eilte ihm hinterher, holte ihn aber erst im ersten Obergeschoss wieder ein. Hier lag ebenfalls Laub und Dreck auf den Fluren. Grüngefiltertes Sonnenlicht malte bewegliche Muster auf Wände und Boden. Efeu hatte die glaslosen Fenster in Besitz genommen. Luca sah sich um. Er erinnerte sich, dass I’Eneel hier ein Labor hatte, in dem er alchemistische Versuche machte. Allerdings befanden sich auch sein Schlafzimmer und das Aycos aus Kindertagen auf diesem Flur. Er glaubte einen Moment lang wieder der Junge von damals zu sein, der sich nachts durch den Flur zu Ayco schlich, alle Zauber I’Eneels überlistete, nur um das Zimmer seines Freundes zu erreichen, der mit ihm dann manchmal die Nächte draußen verbrachte, mit ihm spielte, mit ihm sogar wagte zu fliegen, oder mit ihm an regnerischen, kalten Tagen, im Winter, das Bett teilte.
Luca spürte noch gut den Reiz des Verbotenen, seine Angst und seine Freude, wenn er Ayco sah und sie ein weiteres Mal I’Eneel heimlich verspotteten.
Der Elf stand auch vor seiner ZimmerTür, strich mit den Fingern über das, von der Witterung gequollene, Holz und drückte sie auf.
Luca folgte ihm. I’Eneel hatte nichts verändert. Das riesige Bett dominierte noch immer den Raum, aber die Strohmatratze hatte sich in etwas sehr Unansehnliches verwandelt und auf den zerschlissenen, vergammelten Decken lag der Schmutz eines Jahrhunderts.
Luca sah das kleine Schreibpult in der Ecke neben dem Fenster, sorgsam so gestellt, dass die Kälte dem Jungen nichts anhaben konnte.
Alles hier war alt, modrig und kurz vor der endgültigen Verwesung, aber es berührte in Ayco und Luca etwas. Wunderschöne Stunden hatten sie hier zugebracht. Teilweise hatten sie zusammen unter der Decke gekauert und gemeinsam Zauber geübt. Oder Luca hatte Ayco Geschichten erzählt, Märchen, die er aus den Kalifaten kannte, wohl Erzählungen von Ihad. Sie hatten hier gespielt, gerauft, sich geliebt.
Ayco schlug die Hände vor das Gesicht und vergrub sich in Lucas Armen. Der Magier selbst kam sich schlecht vor, hin und hergerissen von seinen Gefühlen und seinen Erinnerungen.
Tam sprang von seiner Schulter herab und landete unsanft in dem hohen Laub. Staub wirbelte hoch und ließ den Drachling mehrfach niesen.
Luca beobachtete ihn mit einer gehobenen Braue.
Scheinbar suchte der Drachling etwas, oder folgte einem Gedanken, den er vor Luca verbarg.
Nun sah auch Ayco auf und zog seine Brauen zusammen.
„Was machst du, Tammy?“, fragte er leise.
„Was suchen“, entgegnete der Drachling und schnüffelte über den Boden und in der Luft. Allerdings hatte sich der Staub noch nicht ganz gelegt. Er begann wieder zu niesen.
„Und was?“, fragte Luca, der Ayco nun wieder los ließ.
Langsam, fast herablassend, wendete sich der Drachling um, verschränkte seine Ärmchen vor der Brust und legte seinen Kopf schräg. „Hättest du dich nicht gestern fast tot gezaubert, würdest du es auch merken!“, tadelte er Luca.
Ayco sah seinen Freund an, der nur hilflos die Schultern hob.
„Hier hängt noch der Geruch des Untoten in der Luft“, belehrte Tam sie beide. „Gestern war I’Eneel noch in diesem Raum, und wahrscheinlich kurz bevor wir hier aufgetaucht sind, oder vielleicht währenddessen.“
„Es ist sein Haus“, vermutete Ayco arglos.
Luca schüttelte leicht den Kopf. „Wenn die Präsenz noch nicht alt ist, muss er bei Tageslicht hier gewesen sein, das kostet einen wirklichen Untoten sehr viel Kraft.“
Ayco sah ihn nachdenklich an. „Meint ihr, er kam nicht das eine oder andere Mal nachts hier her?“
Tam hob seinen Kopf und betrachtete Ayco einige Herzschläge lang. Luca konnte beobachten, wie der junge Mann immer weiter unter dem Blick zu schrumpfen schien.
„Wenn er nicht unbedingt gerade in dich verliebt war, glaube ich das weniger, Ayco“, bequemte sich Tam zu sagen. „Er mochte dich sehr, denke ich“, merkte er aber an.
„Vielleicht war er auch in der Nacht hier“, räumte er ein, „Allerdings weiß ich nicht warum.“
Er wendete sich ab und sah sich dann um. „Luca?“, rief er seinem Meister zu. „Kannst du mich mal hoch heben?“
Er deutete auf den Schreibpult.
Der Magier wollte etwas Giftiges antworten, verkniff es sich aber, schon weil er auf die mentalen Fähigkeiten des Drachlings angewiesen war, so ganz ohne eigene Magie.
Er kniete nieder und nahm ihn hoch. Tam sah ihn erwartungsvoll an.
„Nein, ich tue dir nicht den Gefallen nachzufragen, was du ausheckst, Tam“, sagte er ärgerlich.
Der Drachling zuckte mit den Schultern. Beleidigt drehte er dem Magier den geflügelten Rücken und sein breites Hinterteil zu. Der Magier musste lächeln.
Er hob ihn auf das Schreibpult und griff sofort nach, als er merkte, dass Tams Gewicht das morsche Holz bestenfalls zum Einsturz brachte.
„Kannst du mal die Klappe anheben?“ bat Tam nach einiger Zeit neugierigen Schnüffelns.
Luca tat ihm den Gefallen. Er setzte seinen Freund in seinen Nacken und ergriff sehr vorsichtig die alte Holzplatte, die mit kleinen, schwarz fleckigen Messingscharnieren gehalten wurde, an. Er spürte, wie das Holz unter seinen Fingern zusammengedrückt wurde und zu splittern begann.
Eine aufgeschreckte Spinne krabbelte aus dem Pult und ließ sich an einem feinen Faden nach unten, um im Laub zu verschwinden.
Ayco trat an Lucas Seite. Neugierde sprach aus seinem Blick. „Was ist da drin?“, fragte er.
„Wahrscheinlich die Überreste deiner Lehrbücher“, mutmaßte Luca und hob die Klappe ganz an.
Völlig Unrecht hatte der Magier nicht. Darin lagen noch alte Bücher, eine Schiefertafel und das, was einst Aycos Schreibfeder gewesen war, nun aber Eigenleben entwickelt hatte.
Allerdings lag hier auch ein gesiegelter Brief. In dem Wachs eingeprägt war die Eule auf der Kristallkugel, das Zeichen I’Eneels.
Das Pergament war sicher nicht sauber und neu, aber auffällig wenig verstaubt und in keiner Weise schimmlig und feucht, im Gegensatz zu Aycos Büchern.
Der Elf zögerte einen Moment und griff schließlich danach.
„Das war, was ich gerochen habe, Ayco“, sagte Tam.
Der Elf sah den Drachling und dann Luca an.
„Öffne es schon!“, befahl der Drachling. „Du bist doch genauso neugierig wie Luca und ich!“
Der Magier konnte Tam leider nur zustimmen.
Nachdenklich senkte der Elf den Kopf, schien zu grübeln.
„Meint ihr es ist an mich?“, fragte er zaghaft.
Luca tauschte einen Blick mit Tam und nickte. „Wäre es sonst hier, in deinem Pult?“
„Vielleicht, wenn er sich mit Gregorius zusammen getan hatte, war es für ihn bestimmt? Die kleine Giftkrabbe ist mir ja gestern den ganzen Tag hinterher gerannt.“
„Mag sein“, sagte Tam spitz. „Aber du findest es erst heraus, wenn du den Brief entfaltest und liest!“
Ayco schluckte hart, dann aber brach er das Siegel auf.
Was immer der Junge erwartet hatte, es geschah nichts. Weder brach das Herrenhaus in sich zusammen, noch schlugen die Feuer der Hölle über ihnen zusammen.
Vorsichtig, deutlich furchtsam, entfaltete er den Brief. Und betrachtete das wirre, unruhige Schriftbild.
Es war kein Brief sondern eine Urkunde. Ayco stieß einen leisen Schrei aus und sah zu Luca.
„Das ist unfasslich!“, rief er aufgeregt. „Das ist die Besitzurkunde des Hauses!“ Er drückte das Schriftstück in Lucas Hände. „I’Eneel hat mir das Haus vermacht. Es gehört mir!“
Luca sah verblüfft auf das Pergament hinab und versuchte die zittrige, kleine Schrift und all die Schnörkel in den Buchstaben zu entziffern. Es dauerte einige Zeit, bis er sich an den veralteten Schrifttypen gewöhnt hatte. Dann nickte er allerdings fasziniert. „Das Haus und der Titel gehen damit an dich, Ayco.“ Er sah auf und lächelte. „Und das Dorf. Du bist der neue Herr von Night’s End.“
Mit deutlich mehr Spannung und Neugier durchstreifte Luca nun dieses alte Gemäuer. Er war sehr froh, dass Ayco, Tam und er noch einmal hier her gekommen waren. Ayco war nun ein junger Adeliger, Herr über ein kleines, aber ausnehmend schönes Stück Land und Besitzer dieses Hauses.
Allerdings beantwortete diese Urkunde noch keine der Fragen, die er hatte. Sie hatten den Raum gewechselt. I’Eneels Schreibzimmer war ein Fundus an alten, raren, wundervollen Abhandlungen über Zauberei und Luca musste sich sehr zusammen nehmen, sich nicht völlig in diese Glanzstücke magischen Wissens zu vertiefen. Während er sich gründlich in den Regalen umsah, in einige Schriften las, bewies Ayco sein Talent Schlösser aller Arten öffnen zu können, ohne dem Möbelstück auch nur den geringsten Schaden zuzufügen.
Der Elf hatte sich des großen, erstaunlich gut erhaltenen Sekretärs angenommen, der dieses Zimmer neben den Regalen dominierte.
Kein Schubfach hatte eine Chance gegen den jungen Mann, dessen geschickte Finger einen Holzspan oder den Dorn einer Gürtelschnalle genauso zu nutzen wusste wie einen Schlüssel.
Luca sah immer wieder fasziniert zu ihm hinüber und musste zugeben, dass Mesalla in ihm einen perfekten Spion hatte. Aycos unschuldiges, manchmal sehr kindliches Aussehen, verschaffte ihm Narrenfreiheiten und freien Zugang überall hin, während seine Neugier und Fingerfertigkeit den Rest erledigten.
Binnen kürzester Zeit hatte der junge Mann eine Anzahl Schriftrollen, Augengläser, einige Münzen, einen Kompass und unzählige Briefe, Federn und Schnitzmesser zu Tage gefördert, die er sauber auf der Arbeitsplatte des Sekretärs aufreihte. Einiges las er auch flüchtig, runzelte manchmal die Stirn, oder gab ärgerliche Laute von sich.
„Was hast du gefunden?“, fragte Luca, ohne den Blick von einer wunderschönen Kristallkugel zu nehmen, die I’Eneel wie eine Buchstütze benutzte.
„Einige Verträge mit meinem Vater“, sagte Ayco. „Hier ist Kyles Siegel eingeprägt worden. Sie haben um die Landerweiterung bis zu der Holzfällersiedlung verhandelt. Das bedeutet, dass Night’s End von der Grundfläche fast so groß ist wie Valvermont.“
Luca wendete ihm nun doch den Kopf zu. „Das ist ein gewaltiges Areal über mehrere Quadratmeilen, Ayco“, bestätigte er.
„Dann ist da ein komischer Zauber dabei, den ich nicht lesen kann.“
Ayco hob eine Rolle hoch und wedelte achtlos damit durch die Luft. „Schaust du sie dir mal an?“
Luca lächelte nachsichtig. „Wenn es eine magisch gesicherte Schrift ist, kann ich sie im Moment nicht lesen, mein Liebster. In mir fliest zurzeit nicht mal genug Magie, um einen Lichtzauber zu erschaffen.“
Der Elf hielt ihm dennoch auffordernd die Rolle hin. Luca löste sich schweren Herzens von dem Regal, durch das er gerade gestöbert hatte.
Schon als er das Pergament in Händen hielt, kam es ihm vertraut vor. Neugierde ergriff ihn wie ein Feuer. Er entrollte es und bis sich vor Schrecken auf die Zunge. Wieder überfielen ihn Bilder einer Vergangenheit die er nicht erlebt haben konnte oder sollte.
Ayco, der ihn beobachtete, sah ihm nun fragend über die Schulter.
Für den Elf waren diese fremdartigen Schriftzeichen nichts, was er verstehen konnte, aber Luca kannte sie und den Mann, der sie geschrieben hatte. „Das ist Ihads Handschrift. Es ist sein Zauber!“, rief Luca aufgebracht. „Das ist der Zauber den Tod zu fangen und ewiges Leben zu erlangen!“
Ayco schluckte hart. Tam, der auf eigenen Wegen in einem der Regale unterwegs gewesen war, trat gerade neben das Brett und polterte mit einigen Wahrsagekarten zu Boden.
„Aua“, knurrte der Drachling und rappelte sich auf, um, ungeachtet der schönen Karten, zu Ayco und Luca zu krabbeln. „Das ist der Zauber, der ihm gestohlen wurde, oder Luca?“, fragte er leise.
Der Magier nickte. Dann sah er Ayco an. „Ihad sagte, dass der Zauber nicht funktioniert.“
Verständnislos beobachtete Ayco Lucas Gesicht.
„Na ja, nicht funktionieren ist falsch“, gab der Magier zu. „Es schafft ewiges Leben zwischen den Welten, ausgestoßen von den Lebenden und nicht eingelassen bei den Toten.“
Ayco zuckte zusammen. „I’Eneel hatte den Zauber an sich ausprobiert!“, hauchte er tonlos. „Das bedeutet, der Zauber macht mächtige Magier zu mächtigen Untoten!“
Luca nickte schwer. Er rollte das Pergament zusammen und legte es auf dem Sekretär nieder.
„Ihad muss mir einige Fragen beantworten, wenn er den Zauber wieder zurück haben will!“
Er ballte die Faust, bis seine Knöchel weiß hervor traten.
„Was immer er mit I’Eneel zu tun hatte, der Halbelf wusste von dem Zauber.“
„Ist das so ungewöhnlich?“, fragte Ayco. „Etwas so mächtiges müsste sich in der Welt der Eingeweihten schnell herum sprechen.“
„Wenn ein Zauber, den man entwickelt, einwandfrei funktioniert, Ayco“, erklärte Luca, „stellt man ihn der Öffentlichkeit vor, zumindest, wenn man ihn verkaufen oder publizieren will. Das aber ist Magie, die ein Zauberer für sich entwirft, weil die Bekanntmachung dessen eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes hervorriefe. Ihad hat diese Magie entworfen, und ich weiß davon, weil ich damals dabei war.“ Luca deutete auf die Rolle. „Darin sind kleine Anmerkungen in meiner Handschrift.“
„Du hast ihm geholfen?“, fragte Ayco verständnislos.
„Vor hundert Jahren muss ich bei Ihad aufgewachsen sein, nehme ich an. Fragmente dieser Zeit fange ich nur auf, wenn ich etwas aus dieser Zeit in den Händen habe. Verdammt!“ Luca starrte auf die Rolle hinab. „Die Siegel die Ihad über mich gelegt hat, wollen nicht brechen! Ich kann mich an nichts erinnern, bis ich damit direkt konfrontiert werde!“
Er presst die Lippen aufeinander. „So, wie Du I’Eneels Spielball bist, bin ich der Ihads. Und dieser verdammte Dämon hat alles in meinem Kopf zerstört und geleert, um mein Bewusstsein mit Magie bis zum Rand zu füllen! Was bezweckt er mit seinem Lügengespinst?!“
„Frag’ ihn das“, flüsterte Tam. „Wenn du dich nicht wagst, wirst du niemals eine Antwort erhalten.“
Luca senkte den Blick und ergriff die Rolle erneut. „Das ist nur eine Rohfassung. Sie ist nicht mehr als ein magisches Konzept. Aber vielleicht war das I’Eneels Bezahlung für den Verrat an Night’s End.“
„Dann muss er aber davon gewusst haben“, erinnerte Ayco Luca.
„Vielleicht“, gab Tam zu bedenken. „War er irgendwann mal Ihads Schüler? Den Orden gibt es unter Ihads Herrschaft seit mehr als 700 Jahren.“
Luca deutete ein Nicken an. „Vielleicht. Aber wahrscheinlicher ist, dass er von mir etwas erfahren hat. Ich war ein Kind, oder?“
Tam sank ein Stück in sich zusammen. „Auch das wird sich erst klären, wenn Ihad dir antwortet.“
Bestätigend nickte der Elf. „Ich werde dich aber nicht allein zu ihm lassen, Luca. Der alte Magier hat uns schon einmal mit seiner Zauberkraft getrennt.“
Behutsam ergriff er den Magier am Arm. „Lass uns weiter suchen. Vielleicht finden wir hier noch weitere Antworten.“
„Wenn I’Eneel nicht so nett war uns seine Tagebücher zu überlassen, sind wir vermutlich bald am Ende unserer Erfolge hier“, flüsterte Luca düster.
Fast erwartete Luca nicht mehr noch etwas zu finden, nachdem sie alle möglichen Räume durchsucht hatten. Er war kurz davor zu verzagen. Tam schien auch der Drang und die Euphorie zu fehlen, die sein kleines, begeisterungsfähiges Herz bisher voran getrieben hatte. Einzig Ayco trieb sie mit unglaublicher Beharrlichkeit von Raum zu Raum.
Schließlich musste aber auch er zugeben, dass er sich ausgelaugt und müde fühlte. Das Haupthaus bot, bis auf die Baderäume nichts, was sie nicht gründlich durchsucht hatten. Warum der Elf Luca auch noch durch die einstmals sehr prachtvollen Bäder führte, konnte Luca nicht sagen. Allerdings war er ihm im Nachhinein dankbar dafür. Auch hier hatte der Verfall Einzug gehalten. Blätter lagen auf dem Boden und das stinkende Brackwasser in den Becken schien mehr eine schleimige Masse denn flüssig zu sein. Aber das nahm auch Lucas Blick nicht gefangen, sondern die unglaublichen, kunstvollen Deckenfresken.
All die Bilder ergaben scheinbar die Geschichte von Night’s End. Das, was allerdings Lucas Blick gefangen hielt, war der sechsgeflügelte Seraph, der aus dem Felsenkind einen Seraphin formte; einen schwarzen Engel, der das Gesicht Lucas trug.
Bis die Nacht aufzog, saß Luca auf den Stufen des Hauptportals vor dem Herrenhaus. Ayco rieb sich die Schläfen. Er hatte Lucas gesamten Ausführungen zu seinem Traum und dem von I’Eneel geschaffenen Bild der Vergangenheit erneut gelauscht, den Magier zuvor aber fast gezwungen noch einmal alles minutiös zu erzählen. Luca betrachtete den Elf. Sein Schädel schmerzte höllisch. Tambren lag schwer wie ein Bleigewicht in seinem Nacken.
Über die Muskeln breitete sich das Stechen aus bis zu seinen Augen und Schläfen, wandelte sich dort zu einem dumpfen Pochen, im Takt eines schwerfälligen Herzschlages und erschütterte seinen Körper bis in die Eingeweide hinab.
Die Vermutung, dass dieser Ort die Wiege der Seraphin war, drängte sich dem Magier auf. Mehr noch erwachte in ihm ein Verdacht, ein bislang ungreifbares Gefühl von Verbundenheit zu dem Ort, den er beharrlich von sich schob.
„Ihad kann mir vielleicht die Antworten geben, die ich brauche, Ayco“, sagte er vorsichtig. In seine Vermutungen, die er sogar vor Tam zu schützen versuchte, wollte er sich nicht unbedacht noch weiter verstricken.
Langsam, unsicher auf seinen Füßen, erhob sich Luca und machte ein, zwei unsichere Schritte in Richtung Night’s End.
Besorgt griff der Elf unter Lucas Arme und stützte ihn.
Tambren krabbelte aus Lucas Nacken und sprang zu Boden. Sein Aufprall wurde von feuchtem Moos und Geäst gedämpft. So langsam wie sie nun gingen, konnte der Drachling sogar aufrecht gehend, mit ihnen Schritt halten. In seiner vermenschlichten Art legte er seinen kürzen, von der wenigen Nutzung recht dünnen linken Arm um Lucas Knie und versuchte ihn so etwas zu stützen. Ayco lachte leise, aber mit wenig Humor in der Stimme. „So wird das nichts, Tammy.“
Luca sah hinab und bereute es fast gleichzeitig. Die Welt begann zu wanken. Instinktiv hielt er sich an seinem Freund fest und schloss die Augen. Sein Herz raste von den wenigen Metern Weg durch den Wald.
Was nahm ihm nur die ganze Kraft an diesem Ort? War es das Wissen, dem er sich Stück um Stück näherte? Schützte sich der Ort so selbst? Ihad musste ihm antworten, schnell. Vielleicht konnte ihm sonst nur noch Gregorius helfen, und vielleicht der sechs geflügelte Seraphin.
Mühsam stolperte er in einem immer dichter werdenden Nebel aus Müdigkeit, Erschöpfung, Überanstrengung und Schmerzen, zwischen Ayco und Tam dahin, ohne noch zu wissen, wie viel Zeit verstrich.
Für wenige, geringe Herzschläge spürte er das gut geschützte Gewebe eines Zaubers. Doch das Wissen versank in der erdrückenden Last aus Schmerzen.
Alles verschwamm um ihn zu einer grauen Masse, die in sich wirbelte, dessen Epizentrum ein dunkler Punkt war, den er nicht mehr ergreifen konnte.
Plötzlich zerrissen die Bilder grauschwarzer Nebelschleier und geisterhafter Schemen um ihn und machten dem warmen, klaren Licht einer Kerze platz. Der Duft nach Zimt, Koriander, würzigen Kräutern und Alkohol erfüllte den Raum und unter seinem Leib fühlte Luca weiche Daunenkissen und –decken.
Die niedrige Decke verging in dunstigem Schatten. Er fühlte Tambren, der behutsam auf seine Brust kroch und sich dort mit langem Seufzen niederlegte und Aycolén, dessen Nähe er dicht neben sich wahrnahm.
„Er erwacht!“, hörte er Aycos Stimme. Darin fand sich Sorge und Erleichterung, dachte Luca. Er ahnte bereits, dass sie sich bei Ihad aufhielten, noch bevor die dunkle Stimme des Dämonen Aycolén antwortete.
„Dann bricht der Zauber auf, der ihn niederzwingt“, murmelte der Großmeister langsam. Er neigte nun sein gehörntes Haupt über Luca und packte Tam, der es sich gerade auf Lucas Brust gemütlich gemacht hatte, im Nacken, um ihn sanft auf dem Kissen unter Lucas Kopf nieder zu setzen.
‚Warum machst du mir immer solche Sorgen, Luca?’, fragte Ihad sanft. Luca brauchte Sekunden um zu begreifen, dass der Dämon die Lippen nicht bewegt hatte.
Der Magier senkte den Blick. ‚Wenn du mich immer nur mit Halbwahrheiten abspeist, werde ich wohl nie der folgsame Schüler sein, den du haben willst, Meister’, entgegnete er stumm. Dieses Mal flammte in Ihads Blick kein Flammenmeer auf. Seine Augen blieben ruhig und golden. Das lange, glatte, schwere Haar fiel über die muskulösen Schultern Ihads und berührten Lucas Brust. Der Magier registrierte ganz am Rande, dass er vollkommen nackt war und auf seiner Haut immer noch die leichte Feuchtigkeit von Ölen, Alkohol und Wasser stand. Irgendein irrealer Gedanke erinnerte Luca daran, dass Ayco vor Wut und Eifersucht eigentlich kochen lassen müsste, in der Situation, in der sie sich nun befanden. Instinktiv sah er zu dem Elf, der neben ihm lag, ebenfalls unbekleidet. Hätte Luca die Möglichkeit gehabt ihn nun, in dieser Sekunde zu zeichnen, so hätte er es zu gerne getan. Ayco lag auf der Seite, eine Hand unter seinen Kopf geschoben, die andere um seinen Oberkörper geschlungen, ein Bein angewinkelt und umwoben von silbrigen Haarsträhnen. Der Blick der Jadeaugen war sehnsüchtig und lasziv. Wie eine Katze spielte er mit einer von Lucas schwarzen Haarsträhnen und verflocht sie still mit den seinen.
Für einen Moment gestattete der Magier sich den Wunsch, nun allein mit Ayco zu sein und seinen Körper in vollen Zügen zu genießen.
Scheinbar fing Ihad den Gedankengang auf, denn er sah seinen Schüler tadelnd an.
Der Magier verdrängte seine Sehnsucht unwillig in eine andere Ecke seines Bewusstseins und verschob sie auf einen spätern Zeitpunkt.
‚Was habe ich dir verschwiegen, Luca?’ nahm nun Ihad den Dialog wieder auf, wobei er seine Hände rechts und links von Lucas Gesicht in die Kissen stützte.
Seine Blicke bohrten sich in Lucas Seele, sanft aber unerbittlich. Luca erinnerte sich unfreiwillig an die Jahre im Orden, in denen er die Magie Ihads lernte, die Sehnsüchte und die Lust Anderer zu nutzen, um in ihren Geist einzudringen. Neben sich hörte er Ayco, der sich langsam aufrichtete, sah aus dem Augenwinkel, wie sich die verträumte Mimik des Elfs in blanken Hass verwandelte und sich der ganze Leib des jungen Mannes spannte.
Luca schloss die Lider. „Ihad, es reicht!“, sagte er bestimmt und laut. Er spürte, dass der Dämon mit voller Absicht den Bogen bei dem Elf überspannte.
Ihad neigte sich über Luca bis sein heißer Atem die Haut des Magiers zu verbrennen drohte. Von Ihad ging eine unsägliche Hitze aus. So kalt Cyprian war, so sengend war sein Gegenpol.
Die Lippen des Dämons näherten sich Lucas. Entsetzt drückte sich der junge Mann tiefer in die Kissen, wendete aber den Kopf nicht. Ihad verharrte weniger als einen Hauch von dem Magier entfernt. Dann verzog ein hässliches Lachen seine Lippen. Er neigte sich zu Lucas Ohr. „Was erlaubst du dir mir gegenüber, Schüler?!“, wisperte er. Lucas Haut schien erneut zu verbrennen. Schauer rannen seinen Rücken herab.
„Nicht ich bin hier in Erklärungsnotstand, sondern Du“, presste er hervor.
Der Bann brach. Ihad hatte sich keine Sekunde bewegt, seit er sich über Luca geneigt hatte. Zwischen ihnen befand sich genügend Raum.
In einer fließenden Bewegung richtete sich Luca nun auch auf und sah seinem Meister in die Augen.
„Beantworte meine Fragen, Ihad“, bat er nun wesentlich sanfter.
Der Dämon zog die Brauen zusammen. Scheinbar verlor er das Interesse an dem Spiel; für den Moment.
Luca spürte deutlich, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Ihad zu zeigen, dass er ihn fürchtete, war nie gut.
Der Dämon hob die Brauen und strich sein Haar über die Schultern. „Stell mir deine Fragen, Luca“, sagte er. „Ich werde mir dann überlegen, welche ich beantworte.“
Nachdenklich legte Luca den Kopf in den Nacken und betrachtete die Deckenkonstruktion, verfolgte ihre Verläufe. Das half ihm, klar zu denken, einen Anfang zu finden, aus dem sich Ihad nicht herauswinden konnte.
„Vor einhundert Jahren habe ich schon einmal gelebt“, begann er. „auch als ein Magier deines Ordens. Nur war ich damals von Anfang an bei dir.“
Die Vermutung wurde für Luca zur Gewissheit, als er ein kurzes Zucken in Ihads Augen sah und sie Pupillen des Dämonen zu tiefem Rotgold veränderten.
„Du hast mich also vor neunzehn Jahren mit voller Absicht suchen lassen, weil du von Anfang an wusstest, dass ich wiedergeboren und dabei nicht anders sein würde als 100 Jahre zuvor?“
Ihad zuckte mit den Schultern. „Seit 700 Jahren treibe ich das Spiel schon“, gab er offen zu. „Alt geworden bist du selten, Luca.“
Der Magier fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ihm wurde schwindelig und schlecht.
„Dein Leben scheiterte allein in den vergangenen hundert Jahren drei Mal an diesem elfischen Narren. Aber auseinander halten konnte ich euch nicht. Gleich was ich tat, um euch zu trennen...“
Ayco rammte Ihad ohne eine Vorwarnung die Faust in den Leib. Der Dämon wendete nur träge den Kopf. „Wenn ich eure Erinnerungen nicht immer wieder verändert hätte, wäre weitaus schlimmeres passiert. Und du kleiner Narr kannst dir sicher sein, dass Luca immer wegen Dir starb!“
Ihads Stimme nahm nicht an Lautstärke oder schärfe zu, aber sie reichte um für Luca die Welt erneut ins Wanken zu bringen.
Ayco saß bebend neben ihm. Seine Augen hatten sich entsetzt geweitet. Scheinbar bemerkte er nicht einmal, dass Tränen über seine bleichen Wangen liefen. Die Welt des jungen Elfen erschütterte sich offenbar in ihre Grundfesten. Luca ergriff seine Hand, drückte sie sanft, spürte aber sofort das Widerstreben des Elfs, als dieser realisierte, dass Luca ihn berührte.
Er entwand sich dem Magier.
„Nicht!“, hauchte Ayco tonlos.
Tam krabbelte nun schwerfällig auf Aycos Knie und zog ihn sanft an einer Haarsträhne.
„Luca ist nicht dein Feind, Ayco …“
„Aber wenn ich seinen Tot bedeute, muss ich …“, begann Ayco hilflos, wurde aber sofort und barsch von Ihad unterbrochen.
„Reiß dich zusammen, Elf!“, donnerte er wütend. „Mein Fehler war, anzunehmen, dass ich euch trennen muss. Das habe ich aber erst in dieser verdammten Höhle vor einigen Tagen erkannt. Ich darf euch nicht trennen, weil ihr eine Einheit bildet. Egal was ich dafür getan habe, ohne dich kann Luca gar nicht das werden, was er ist. Du bist der Schlüssel dazu.“
Verständnislos sah Ayco ihn an. Der Blick unter dem silbernen Pony war der eines verstörten Kindes.
Ihad hob eine Braue. „Das musst du nicht verstehen, Aycolén.“
Er wendete sich Luca zu, der nun doch Aycos Hand in die Seine nahm und den jungen Elf an sich zog. Ayco bebte immer noch, entzog sich aber nicht mehr Lucas Berührungen.
Einen Herzschlag später krallte sich Ayco hilfesuchend an Luca und vergrub sein Gesicht an der Brust des Magiers. Zärtlich umschlang Luca seinen Geliebten.
„Solltest du noch einmal den unwiderstehlichen Drang verspüren, mich zu schlagen, Aycolén, dann unterdrücke ihn das nächste Mal!“, knurrte Ihad. „Bei dir lasse ich schon mehr Nachsicht walten als bei jedem anderen, davon ganz abgesehen gibt das unschöne Prellungen, und das ist etwas, dass mir nun wirklich nicht zusagt!“
Luca zweifelte daran, dass Ayco auch nur eine Sekunde zugehört hatte, konnte aber Ihad nur zustimmen. So viel ließ sich der Dämon normal nicht gefallen. Jeder andere, der sich diese Respektlosigkeiten erlaubt hätte, wäre einen Herzschlag später tot gewesen.
Dennoch lenkte er seine Gedanken wieder um. „Warum ich?“, fragte er Ihad nun leise.
Der Dämon hob die Hände. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. Stumm schüttelte er den Kopf.
„Kannst oder willst du mir nicht Antworten?“, fragte Luca. Wut schwang in seiner Stimme mit.
„Ich darf nicht in dein Schicksal eingreifen. Das ist mir als Außerweltlichem verboten“, sagte er schlicht.
Lucas Herz krampfte sich kurz und schmerzhaft zusammen. „Was darfst du nicht? Hast du dich nicht schon zur Genüge in mein Leben und mein Schicksal eingemischt? Du versuchst es doch beständig dem anzupassen, was auch deinen Zielen genügt!“
Ihad hob eine Braue. „Dein Schicksal ist es den Orden zu führen“, gab er offen zu. „Dein Schicksal wird es sein, der Großmeister zu werden, aber ebenso ist es auch dein Schicksal dieser Welt zu dienen. Weshalb, warum gerade du, oder eher ihr beide, kann ich nicht sagen, weil es mir verboten ist. Allein das schon reicht aus, sie zu wecken, ihr Misstrauen...“
In Ihads Augen sah Luca das Reflektieren tiefer Angst. Nie hätte er sich vorstellen können, dass es etwas gab, dass Ihad fürchtete. Der Gedanke, dass der mächtige, grausam verspielte Dämonenfürst sich vor etwas anderem, noch mächtigerem beugen musste, erschien Luca abstrus, aber zugleich auch erschreckend. Einen Herzschlag später spürte er, wie sich etwas änderte. Die Schatten verdichteten sich, ballten sich unter den Deckenbalken zu etwas stofflich bedrohlichen, zogen ihre gesamte Materie zusammen und zerrten die Wirklichkeit in einen bizarren, unbegreiflichen Blickwinkel, den Luca kaum zu verstehen in der Lage war. Tam spannte sich. Seine sensiblen Sinne fingen die Schwingungen zu deutlich auf. Er spürte die Anwesenheit von diesen Geschöpfen. Seine Schuppen plusterten sich auf und begannen leise zu klappern. Er zischte leise, grell und hoch. Dieser Laut war nah am nicht mehr wahrnehmbaren. Goldstaub wirbelte von seinem Schuppenkleid auf und bildete winzige Wirbel, die immer dichter und enger in sich rotierten. Plötzlich entzündeten sie sich und begannen in grellstem Sonnenfeuer zu leuchten. Für einen winzigen Moment konnte Luca sie sehen, diese Geschöpfe! Sie waren Materie und Energie in einem, stofflich und unfassbar, Wissen und Gedanken von Äonen. Keine Aki Valstroem, kein Gregorius oder Justin war in der Lage sich gegen sie zu wehren, auch kein Ihad... All die Götter, seine Freunde, Verbündeten, Gegner, waren nicht in der Lage dieses Bewusstsein zu ergreifen, zu erfassen als das, was es war. Für eine schreckliche Ewigkeit wusste Luca alles, erreichte den Grund des Wissens und erkannte das Geschöpf, aber dann, gleichzeitige mit dem Niedersinken des Goldstaubes, versank auch die Erinnerung wieder und das Wissen rann durch seine Finger, ohne mehr zu hinterlassen, als der Gewissheit, dass sie nun im Fokus eines Geschöpfes waren, dass in seiner Macht über allem stand, was Luca bislang kannte.
Als Luca zu Ayco und Ihad sah, wusste er, dass sie beide nicht gesehen hatten, was sich ihm offenbarte. Beide trugen wahnsinnige Angst in sich. Ihre Blickle verrieten es dem Magier. Tam hatte sich eng zusammengerollt und zitterte am ganzen Leib. Luca strich seinem kleinen Freund zärtlich über die Schuppen. Er hatte einen Kampf beobachtet, ein stiller Kampf, bei dem beide Gegner unentschieden hervor gingen. Tambren konnte sich also gegen sie wehren und er, weil er mit dem Drachling verbunden war, hatte einen winzigen Moment das Fenster zu der eigentlichen Wahrheit aufstoßen können.
Plötzlich nahm alles um ihn herum einen abstoßend schalen Beigeschmack an, denn er begriff, dass dieses Leben hier eine Illusion war. Luca allerdings wusste, dass sie sich diesen gelebten Lügen beugen mussten, weil sie sonst alle Grundlage verlieren könnten.
Obgleich die Frage fast ihren Sinn verloren hatte, stand sie nun präsenter denn je im Raum.
„Warum ich?“
Ihad brauchte lange um die Frage zu erfassen und zu beantworten. Er sah Luca still an.
Nach einer stillen Endlosigkeit, in der alles die Luft anzuhalten schien regte Ihad sich. Er erhob sich langsam und schüttelte sein gehörntes Haupt. „Wieso willst du das alles wissen, Luca? Leben kannst du auch ohne die Antworten. Das würde dir auch sicher besser bekommen.“
„Warum ich?“, fragte Luca erneut.
„Weil du der einzige deiner Art bist. Es gibt keinen anderen, der so ist wie du.“, entgegnete Ihad müde.
Mit dieser Antwort war Luca nicht schlauer als zuvor. Seraphin gab es vielleicht nicht sonderlich viele, aber er zeichnete sich dadurch aus, dass er einfach nur ein Seraphin aus Valvermont war. Magier wie ihn gab es auch reichlich. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass er immer wiedergeboren wurde und das immer als dieselbe Person.
Ihad schien die Verwirrung in den Augen des Magiers gelesen zu haben. Er lachte humorlos auf. „Dass die Antwort dir nicht hilft, Luca, war mir schon klar, mein Freund. Aber mehr werde ich dir dazu nicht sagen. Den Rest wirst du mit deiner Beharrlichkeit noch herausfinden. Nur zweifele ich daran, dass du deinen Spaß an der Antwort haben wirst.“
Er begann die Tongefäße auf dem Tisch zusammenzusammeln.
„Was hat er damit gemeint, Luca?“, fragte nun auch Ayco.
Der Magier hob hilflos die Schultern.
„Ich kann es Dir nicht sagen“, flüsterte er, umschlang den Elfen aber fester.
„Ihad, Fragen habe ich dennoch.“
Der Dämon drehte sich gereizt um. „Was denn noch, Luca?!“
„Wer war I’Eneel?“, fragte Luca leise.
Der Dämon stellte wuchtig einen Salbentopf auf den Tisch, sodass alle Phiolen leise klirrten.
„Bist du denn immer noch nicht zufrieden?“, zischte der Dämon.
„Nein, weil wir zu viele Dinge, Hinweise von Dir zu ihm und umgekehrt bei I’Eneel gefunden haben und ich mir sicher bin, dass es eine Verbindung zwischen euch beiden gab!“
Ihads Augen verfärbten sich rot. Ayco allerdings schien seine Angst gegenüber des Dämons überwunden zu haben. Er richtete sich auf. „Was habt ihr miteinander zu tun gehabt?!“, fragte nun auch er. „War er einst einmal einer deiner Schüler?“
„Ja, verdammt, das war er! Mit ihm und Luca zusammen habe ich das Serum erforscht, was ihn zu diesem … Ding zwischen Leben und Tot gemacht hatte!“
Er schlug die Faust auf den Tisch. „Das ist zwei Jahrhunderte her. Damals habe ich ausgiebig solche Forschungen betrieben und vieles erfahren und gesehen, was die Essenz der heutigen Nekromantie ist.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich auf die Tischkante. „I’Eneel war ein älterer Schüler, älter als Luca damals. Er fixierte sich auf Lebensmanipulation. In Luca sah er etwas besonderes, wie auch ich damals. Er war damals ganz allein mein. Selbst Cyprian wusste nichts von dem Jungen in meinen Gemächern, nur I’Eneel, der ihn dazu nutzte das ewige Leben auszutesten. Luca allerdings war zu stabil und stark für I’Eneel und der Zauber, der den alten Halbelfen später zu dem Untoten machte, funktionierte bei Luca völlig anders. Er entwickelte eine Resistenz gegen Lebensmanipulationen. I’Eneel dachte wohl, dass das allgemeingültig sei. Damit irrte er ziemlich. Der Idiot brach sein Studium bei mir ab und verschwand. Dass Luca nicht unsterblich war, wurde mir bewusst, als ich ihn tot in meinem Arm hielt. I’Eneel hatte ihn – vermutlich unbeabsichtigt – getötet.“
Ayco starrte Ihad an. „Das erzählst du so ruhig und beiläufig?!“, stieß er fassungslos hervor.
„Wenn du ihn so oft verloren und wiedergefunden hättest, Ayco, wäre der Tot für dich kein Schrecken mehr. In Luca hat sich immer ein Teil des Wissens aus seinem Vorleben manifestiert gehabt. Er lernte immer schon schneller als alle anderen um ihn herum und deshalb suchte ich ihn mir immer wieder aus, zwang ihn immer wieder zu mir zurück. Und er kam jedes mal wieder zu mir. Ich bin sein Mentor, Junge, schon seit Jahrhunderten. Und ich liebe es, ihn aufwachsen zu sehen, seinen Verstand zu füllen und ihn mit allem auszustatten, was er begehrt.“ Luca hörte in Ihads Stimme zum ersten Mal wirkliches Interesse, Zuneigung und Stolz heraus. Es schien ihm fast, als habe der Dämon ihn adoptiert.
„Eines allerdings hast du ihm nie gegeben, Ihad“, sagte Ayco leise. „Wärme und Liebe. Du hast ihn benutzt, weil er in deinen Plan hinein passte, oder?!“ Der Elf funkelte Ihad an. „Vielleicht entstand der Plan auch nur wegen Luca. Vielleicht war er der Grund, weshalb du diesen …“
„Schweig!“, fuhr ihn Ihad an.
„Dann bin ich der Wahrheit wohl sehr nah, oder?“, fragte Ayco herausfordernd. Unmerklich schob sich der Kiefer des Elfs vor. Angriffslust spiegelte sich in seiner Mimik wieder.
Luca seufzte. „Auseinander ihr Beiden“, bat er ruhig, bevor Ihad nachsetzen konnte.
„Wie konnte I’Eneel an die Formel kommen?“, fragte er Ihad.
Der Dämon wiegte den Kopf. „Vielleicht durch dich, das weiß ich nicht. Als du ihm rund hundert Jahre später, für ihn fast unverändert wieder unter die Augen tratst, musste er annehmen, dass alle Alterung bei dir gestoppt worden sein musste. Er kannte dein Geheimnis nicht...“
„Sowenig wie ich selbst“, unterbrach ihn Luca. „Vermutlich dachte er auch, dass ich ihn nicht mehr erkennen würde, weil er doch älter geworden war, oder irre ich in der Annahme?“ Ihad hob die Schultern. „Das sind nun nur noch Spekulationen. Darauf habe ich keine Antwort. Logisch allerdings wäre es.“
„Warum könnte mich I’Eneel umgebracht haben?“, fragte Luca leise.
Die Augen des Dämons nahmen wieder ihre goldene Färbung an.
„Vor zweihundert Jahren hast du dich ihm vermutlich in den Weg gestellt, als er die Formel in seinen Besitz bringen wollte. Vor hundert Jahren, darin bin ich mir sehr sicher, fürchtete er, dass du ihn erkennen und verraten könntest, zumal er wohl etwas wie ein ehrbares Leben zu haben schien.“
„Ja und einen Packt mit meinem Vater, den er gebrochen hatte“, zischte Ayco zornig. „Er und Gregorius sind Mörder und Verräter an dem ganzen Dorf Night’s End!“
Tam kugelte sich fester zusammen. „Hört bitte auf“, keuchte er. „All die Gedanken, die ich aufnehme, die Erinnerungen von dir, Ayco, und von Ihad, bringen mich um den Verstand. Mir wird schlecht, wenn ich euch noch lange zuhören muss.“
Betroffen zuckte Ayco zusammen. „Entschuldige, Kleiner“, flüsterte er. Tambren allerdings schottete bereits seine Gedanken vor Ayco ab.
Luca hob seinen Freund hoch, in seine Arme und drückte ihn sanft. ‚Deine Gedanken drehen sich nicht um dieses elende Abschlachten und den Mord an Lea, Lyeth und dir, du denkst auch nicht an Macht und Sex. Lass mich eine Weile bei deinen Gedanken verharren, Luca. Sie sind weit und fern, wie kühle Nachtluft.’
Tatsächlich hatten sich Lucas Gedanken selbst von dem Konstrukt aus Halbwahrheiten gelöst. Er versuchte seine Gedanken erneut zu sammeln, indem er daran dachte zu fliegen, frei zu sein und fern aller Sorgen und Mauern, die ihn herabzwangen.
Er schloss die Augen. „Danke Ihad für deine Geduld und die Auskünfte. Danke auch, dass du mich von dem Bann befreit hast, der über mir lag. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass Ayco, Tam und ich schlafen gehen, bevor der Tross morgen gen Valvermont aufbricht.“
Der Dämon nickte matt.
„Gute Nacht.“
Valvermont
Sonnenlicht fing sich im Morgennebel und erfüllte den Wald mit ätherischer Schönheit. Vögel sangen in den Ästen und kleine Tiere huschten durch die kleinen Waldmeisterfelder zwischen den Stämmen. Grüngolden schimmerte der Feenschleier dieses frühen Tages als Vorbote der Freistadt.
Tam seufzte erleichtert. „Wir sind fast zu Hause, Luca“, sagte er leise und schlang seinen langen Schwanz um den Oberarm des Magiers.
Ayco hatte zu ihnen aufgeschlossen und blickte durch die Bäume hindurch. Offenbar sah er das Tal dahinter, die Gehöfte und die entfernte Küste.
In den süßen Duft des Waldmeisters mischte sich bereits hier schon die salzige Seeluft.
„Zu Hause..?“, murmelte der Elf versonnen. „Ich hätte nie gedacht Valvermont je wieder zu sehen. Nicht nach dem Kessel und dem Pendel.“ Er tastete nach Lucas Fingern, die auf dem Oberschenkel des Magiers ruhten.
Luca spürte das leichte kitzeln durch den Stoff seiner Hosen und lächelte. Als Kind wäre er sicher schreiend davon gelaufen, in seiner Situation wohl eher davon geritten.
Sanft ergriff er Aycos Hand und schloss sie in die seine ein.
Der friedvolle Atem der Freistadt trog, das wussten sie alle. Was dem Prinzen nicht gefiel, verschloss er in Justins Labyrinth auf ewig. Aber die Illusion des Guten und Schönen konnte er damit aufrechterhalten.
Luca hörte hinter sich Ihad und Cyprian, die beide ihre Reittiere zügelten.
„Unsere Wege trennen sich vorerst wieder, Lysander.“
Der Magier sah sich zu seinem Großmeister um. Ihad wirkte im Sonnenlicht wie ein goldener Gott, mächtig und gewaltig, selbst jetzt, in seiner menschlichen Gestalt noch. Cyprian hingegen war das stille, begleitende Mondlicht.
Luca hatte nicht vergessen, wie sensibel Cyprian reagiert hatte, wie nah und verbunden ihm sein Lehrmeister war und wie sehr er den Eisdämon dafür liebte, genauso wenig konnte er die tiefe Angst Ihads vor diesen Wesen, dem Geschöpf, was immer es war, aus seinem Geist verdrängen.
Luca hatte einen Moment tiefer Angst bei seinem Herrn miterlebt. Das machte ihn zu einem Lebewesen, einem Geschöpf, vor dem er Respekt und Zuneigung empfand. Und er war ihm dankbar für die Antworten, aber auch für seine väterliche Liebe.
„Ich werde euch Ausrüstung zukommen lassen, ihr Beiden“, versprach Cyprian lächelnd. „Jedem etwas, dass ihm hilft und seine Fähigkeiten unterstützt.“
Luca neigte still den Kopf.
„Und ich baue darauf, dass du aus dem kleinen elfischen Schwachkopf einen fähigen Magier machst, klar, Lysander?!“, setzte Ihad hinzu.
Im ersten Moment fürchtete Luca, dass Ayco auf den Affront eingehen würde, war aber sehr erleichtert, als der junge Mann einfach nur die Braue hob und schwieg.
„Ayco wird ein starker Magier werden, Ihad. Sei dir dessen sicher“, versprach Luca.
Der Dämon nickte, wendete dann sein Schattenpferd und löste sich in den Nebeln auf. Cyprian lächelte. „Ich bin in Gedanken immer bei euch“, sagte er leise. Wie seine Worte im Wind vergingen, verwehte seine Gestalt.
Ayco setzte zu einem Kommentar an, wurde aber von der dumpfen, dröhnenden Stimme Manos unterbrochen.
„Müssen Magier eigentlich immer so ein Aufhebens um ihr Erscheinen und Verschwinden machen?“
Luca lachte leise. „Du hast einen zielsicheren Sinn dafür jede noch so schöne Szenerie sehr bodenständig werden zu lassen, Mano.“
Der Koch zuckte mit den Schultern. „Ich will nur noch in die Stadt und zwei Tage am Stück durchschlafen. Mein Hosenboden ist durchgesessen und mein Rücken fühlt sich an, als wäre eine Kuhherde drüber getrampelt.“
Luca nickte nachdenklich. Auch er sehnte sich nach einem heißen Bad, frischen Kleidern und seinem Bett, ganz abgesehen von etwas zu essen oder zu trinken. Das einzige, was ihn daran störte, war die Tatsache, dass sein Zuhause zugleich das Justins war, und er konnte nicht sagen, in welcher Stimmung sich der Vampir gerade befand. Aggressiv würde Lucas Aufenthalt im Labyrinth zu einem Abstecher in die Hölle werden, friedfertig wäre es wahrscheinlich eine Erholung, bis sie die schwankenden Planken des Segelschiffes nach Sarina betraten.
Justin hatte er in den vergangenen Tagen selten länger gesehen, deshalb konnte er die Stimmung seines Freundes nicht einschätzen. Aber der Vampir hatte Gerome im Moment bei sich und Luca zweifelte eher an einem erholsamen Aufenthalt, schon weil der Junge die ganze Zeit zwanghaft zu Ayco und ihm wollte. Gestern hatte er sich sogar eine Stunde Ritt vor Luca auf dessen Schattenpferd erbettelt. Dank Ihads Gegenzauber, konnte der Junge Luca dieses Mal nicht einfach so in seinen Bann ziehen. Auch Ayco schien immun gegen ihn zu sein. Dennoch versuchte er alles, um das Paar in den Sog seines Wesens zu ziehen. Der Magier ließ es nicht wirklich zu, ging aber scheinbar immer darauf ein, bis sich Justin erbarmte den Jungen wieder zu sich zu nehmen. Luca wollte nicht so genau wissen, was die beiden genau besprachen, miteinander taten oder ausheckten.
Auch jetzt sah er Gerome, der bei Justin ritt. Das einträchtige Beisammensein der Beiden rief erneute Besorgnis in ihm wach.
„Wie lange müssen wir diese unheimliche Farce noch aufrechterhalten Luca?!“, fragte Ayco mit einigem Nachdruck. „Ich halte die Anspannung langsam nicht mehr aus!“
„Ich weiß es nicht, Liebster“, entgegnete Luca nachdenklich. „Aber vermutlich müssen wir uns noch eine Weile mit ihm herum schlagen. Er hängt sich jetzt an Justin, weil er merkt, dass er uns nicht mehr so einfach bezaubern kann.“
Ayco seufzte tief. „Dann lass uns zu mir gehen, in meine Werkstatt, wenn wir in der Stadt sind. Das ist das alte Haus Deines Großvaters.“
„Was, wenn Mesalla dich ausfindig macht, bevor Orpheu und ich bei ihm waren? Du giltst in der Stadt als Dieb und darfst eigentlich nur im Labyrinth leben.“
„Ich muss im Labyrinth leben?!“, zischte Ayco zornig. „Na, das werden wir ja sehen! Ich lasse mich von diesem größenwahnsinnigen Spinner nicht einsperren!“
Luca seufzte erneut. Ayco war scheinbar von Ihads Kommentaren immer noch sehr gereizt und ließ seine Laune an ihm aus. Verstehen konnte er den Elf. Aber er selbst war auch unfrei. Ihm war es auch verboten an einem anderen Ort zu leben als dem Labyrinth, war er doch Sohn eines Ketzers, dessen Namen auf ewig getilgt wurde.“
„Na ihr beiden Turteltauben?“, fragte Thorn spöttisch hinter Ayco. „Ist das der erste Streit zwischen Verliebten?!“
Luca ahnte was kommen würde. Der Tonfall war eindeutig der Falsche. Aycos Temperament würde sicher gleich mit dem jungen Mann durchgehen. Aber er machte gar nicht erst den Versuch ihn aufzuhalten. Thorn hatte es schließlich verdient.
Ayco griff nach dem Zaumzeug von Thorns Stute und zerrte das Tier zu seinem, Flanke an Flanke. Das Pferd wieherte erstaunt, ließ es aber zu. Thorn hingegen runzelte die Stirn und stieß einen erschrockenen Laut aus, als Ayco geschickt wie ein Kunstreiter in seinen Sattel kletterte und sich gerade vor dem Halbzwergen aufrichtete, nur um ihn mit einem eleganten Rad, dass er auf der Stelle vollführte und mit zwei Tritten vom Rücken seiner Stute zu stoßen. Dann ließ er sich auf seinem Wallach nieder, gab dem Kaltblut einen Klapps auf die Kruppe und spie vor Thorn, der entgeistert und immer noch völlig überrumpelt auf dem weichen Waldboden hockte, aus.
Luca grinste still in sich hinein. Tam allerdings fiel vor Lachen von seiner Schulter in seinen Schoß.
„Hat einer das schon gesehen?!“, japste er atemlos. „Das war der schönste Auftritt, seit Jaquand in Manos Kessel geplumpst ist!“
„Ist das …!“, keuchte Thorn zornig, fand aber offensichtlich nicht die passenden Worte. „Habt ihr das gesehen?!“, schrie er. Einige Männer des Heeres ritten stumm an ihm vorüber und ignorierten den rotbärtigen Schreihals, andere rissen ihre Witze über ihn, und selbst sein Schwiegersohn ignorierte ihn.
Ayco schloss sich kommentarlos den anderen an. Luca neigte sich aus seinem Sattel nach unten und hielt Thorn die Hand hin. Der Halbzwerg schlug sie zur Seite und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf. „Pack!“, zischte er.
Luca hob eine Braue. „Wenn du dich noch weiter künstlich aufregst, mein Lieber, verlierst du noch den letzten Respekt. Deshalb solltest du in deinem eigenen Interesse aufstehen, dein Pferd besteigen und so tun, als wäre nichts gewesen“, warnte ihn der Magier.
Thorn fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Dann federte er auf die Füße und rannte seinem Pferd hinterher.
Luca sah ihm Kopfschüttelnd nach. „Ein unmöglicher Kerl, oder, Tam?“
Der Drachling wiegte den Kopf. „Sei die Mal nicht so sicher, dass er nicht auch das eine oder andere auf dem Kerbholz hatte. Man verliert nicht von einem Moment zum anderen das Ansehen Mesallas und damit seine Anstellung als Schauspieler und Sänger.“
Luca nickte nachdenklich. „Wohl wahr“, murmelte er, bevor er dem Tross nach Valvermont folgte.
Luca holte Aycolén erst nach den Stadtmauern wieder ein. Der Elf wollte allein sein und Luca respektierte das, also hielt er sich im Hintergrund und ritt Seite an Seite mit Ria. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit schwieg sie den größten Teil des Weges. Scheinbar spürte auch sie, ähnlich wie Luca, dass hier in der Stadt eine Entscheidung gefällt würde.
Die wenigen Gefangenen, die noch bei ihnen waren trotteten still zwischen den Söldnern und wurden von der Garde Mesallas in Empfang genommen. Scheinbar hatte Ihad den Prinzen informiert, dass das Heer nicht allein zurückkehrte. Am Süd Tor bereits erwarteten fünfzig Gardisten das Heer, angeführt von eine riesenhaften Gestalt, gehüllt in einen dunkelgrünen Samtmantel, der offensichtlich mit schwerem Stoff unternäht war. Selbst Orpheu wirkte klein wie ein Kind gegen die Person. Mano konnte ihr in die Augen sehen. Luca erkannte sie allerdings sofort, als er sie sah. Die schwarzen Schnurrhaare konnte sie nicht ganz in die Schatten ihrer Kapuze zurückdrängen und die Krallen, die tiefe Risse in den gepflasterten Straßen hinterließen, blieben auch nicht unentdeckt. Ayco wartete scheinbar deshalb bis Luca und Ria aufgeschlossen hatten. „Was ist das denn?!“, wisperte er tonlos. „Das ist weder ein Troll, noch ein Oger oder Elf. Luca lachte leise. „Das wohl bestgehütete Geheimnis der Stadt verbirgt sich dort“, lächelte er. „Glaube mir, du wirst sie noch kennen lernen.“
Ayco hob eine Braue. „Will ich das?“, fragte er. „Das ist ein Gardist Mesallas.“
Luca senkte den Blick. „Nicht alles was für Mesalla arbeitet ist böse. Du bist es ja auch nicht!“, mahnte er Ayco mit einiger Schärfe in der Stimme.
Der Kopf des Elfs hob sich und die Jadeaugen fixierten Luca.
„Musste das sein?!“, fragte er verletzt.
„Ja, um dir klarzumachen, dass du ziemlich verbohrt und fanatisch bist, schon“, entgegnete der Magier leise. „Mesalla ist vielleicht ein Monster, aber nicht die, die für ihn arbeiten. Sie hatten oft genauso wenig eine Wahl wie du und ich!“
Betroffenheit machte sich in Aycos Blick breit. „Das hatte ich vergessen. Tut mir leid.“
Luca machte eine Kopfbewegung zu der verhüllten Gestalt. „Entschuldige Dich nicht bei mir sondern bei ihr. Sie hat ein sehr feines Gehör und hat sicher mitbekommen, was du gesagt hast. Mir bist du keine Rechenschaft schuldig dafür.“
Unsicher sah der Elf zu der hünenhaften Gestalt, die langsam am Kopf der Garde schritt und sich nicht umdrehte. Nervös nagte er an seiner Unterlippe.
„Sie sagtest du? Das ist eine Frau?“, hakte Ayco vorsichtig nach.
„Ja, sie ist durchaus eine Frau.“
Luca lächelte auf sehr eigentümliche Art.
Bevor Ayco eine weitere Frage stellen konnte, erhob sich Luca im Sattel. „Orpheu!“
Der Hauptmann drehte sich auf dem Rücken seiner Stute um und winkte den Magier nach vorne, an die Spitze des Heeres.
„Was jetzt?“ fragte Ayco.
„Komm mit“, forderte ihn Luca auf.
Der Elf folgte unwillig. Die Söldner machten ihnen Platz. Es bildete sich eine Schneise bis zu Orpheu vor, der hinter der Garde ritt.
Passanten und Händler drängten sich an die Häuser, die zweigeschossigen Fachwerk- und Steinbauten, machten dem Heerzug Platz. Fenster öffneten sich und neugierige Menschen sahen hinaus, winkten verhalten, aber alles in allem war diese Heimkehr eher still und von verhaltener Angst vor neuen Schlachten begleitet. Das Heer hatte wenige Männer verloren. Nichtsdestotrotz sahen die Leute, dass es den Söldnern durchweg nicht gut ging.
Bevor allerdings die beiden Männer bei Orpheu ankamen, winkte Justin, der ebenfalls mit Gerome weit vorne ritt, Ayco zu sich. Zeitgleich löste sich Gerome von der Seite des Vampirs und steuerte Luca an.
„Och nö“, maulte Tam verärgert. „Den nicht schon wieder!“
Luca sah strafend zu ihm herab. „Ein falscher Kommentar und wir sind alle Geschichte. Im Moment leben wir nur, weil er nicht weiß, wer das versteinerte Herz hat!“
Der Drachling verkroch sich unter Lucas Hemd und ließ nur noch seine Schwanzspitze herauspendeln.
„Das sieht nicht wirklich schön aus“, kommentierte Gerome mit hochgezogenen Brauen. „Warum hast Du eigentlich einen Drachling als Vertrauten, Luca?“
Der Magier lächelte. „Weil wir einander ausgesucht haben, Gerome“, erklärte er sanft.
„Aber der hier ist doch ganz und gar nicht hübsch und elegant, wie du“, beharrte Gerome.
Luca sah ihn tadelnd an. „Tambren kann dich hören. Du verletzt seine Gefühle.“
„Aber es stimmt. Er ist plump“, wiederholte der Junge.
„Ein grünes Männchen, schlank und elegant, das wäre eher ein Familiaris, oder?“
„Idiot!“, knurrte Tam verärgert.
Luca strich sanft über die Drachenkugel in seinem Hemd. „Vertraute suchen einander nicht nach der Optik, sondern dem Wesen. Tam ist vielleicht rund und ein Neutrum, aber wir ergänzen einander. Wir haben unsere Seelen miteinander verbunden, Gerome.“
„Heißt das“, fragte der Junge nach. „Dass ihr eure Gedanken miteinander teilt?“
Luca hatte zwar das Gefühl zu viel zu sagen, aber es wäre sinnlos gewesen es zu leugnen.
„Ja, unsere Seelen reden miteinander, wir teilen alles miteinander.“
„Dann müsste man also nur den Familiaris eines Magiers fangen um ihn zu töten?“, fragte Gerome freimütig nach.
Luca konnte seine Gesichtszüge für einen winzigen Moment nicht ganz kontrollieren. Gerome/ Gregorius war nah an seinem Ziel, sonst würde er nicht so offen an alles heran gehen. Er beschloss, genauso verhalten offen zu antworten.
„Ja, willst du mich denn töten, mein Kleiner?“ fragte er leise, ohne seiner Stimme eine klare Gewichtung zu geben.
„Nein“, sagten die Lippen des Jungen, aber das verrottete Innere des Knaben sagte ja, das konnte Luca sogar ohne Tambren in seinem Blick lesen.
Luca lächelte vordergründig. Als er sein Schattenpferd beschleunigte, dachte er darüber nach, wie er Tam am besten und sichersten schützen konnte, ohne dass es auffällig wurde.
„Ihr habt lange gebraucht für die wenigen Ellen hier her!“, tadelte Orpheu ihn. Luca senkte den Blick und überging die Worte. „Begleiten wir die Gefangenen mit Lady Valstroem direkt zu Mesalla?“
Der schwarze Elf nickte. „Sjorn, ihr, und die kleine Krabbe, würde ich sagen.“
„Wen meint ihr mit kleine Krabbe?“, fragte Gerome plötzlich, der sein Pferd zwischen Orpheu und Luca zwang.
„Rate!“, forderte ihn Orpheu barsch auf.
Gerome verstummte und warf dem Hauptmann einen vernichtenden Blick zu.
Luca ließ sich zurückfallen bis Ayco und Justin ihn eingeholt hatten.
„Aki, Sjorn, Gerome, Orpheu und ich reiten mit den Gardisten zu Mesallas Stadtpalast. Ihr solltet versuchen unbemerkt ins Labyrinth zu kommen. Dort seid ihr vor Gerome sicher.“
Ayco und Justin warfen ihm einen fragenden Blick zu. „Er wird versuchen mich umzubringen, und zwar mittels Tam. Dann seid ihr aber auch nicht mehr sicher. Und er könnte auf die Idee kommen, sich euch dann in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Das wäre wirklich gefährlich. Es wird bald zu einer Entscheidung kommen.“
„Glaubst du, ich lasse zu, dass das Kind dir etwas tut?!“, zischte Ayco.
„Das Kind ist eine durchtriebene Natter!“, murmelte Justin. „Er ist ziemlich gefährlich.“
„Damit du auf dem neusten Stand bist, Justin, das Kind ist Gregorius!“, flüsterte Luca.
Der Magier wartete gar nicht mehr ab, bis einer seiner Freude ihm antwortete, sondern begab sich wieder an Orpheus, und wie er erleichtert feststellte, auch Geromes Seite. Dieses Mal war ihm der Junge nicht gefolgt. Tief in sich hoffte Luca, dass Ayco und Justin sich soweit verständigten und untereinander austauschten, um gemeinsam gewappnet zu sein, wenn Gerome mit Orpheu und Luca wieder von Mesalla zurückkehrte.
Am Großmarkt, nah des Stadtpalais von Mesalla, trennte sich das Heer auf verschiedene Gasthäuser auf oder nach Hause zu ihren heimischen Häusern, Hütten und Wohnungen. Bevor allerdings alle Männer loszogen, sich endlich zu entspannen, verfügte Orpheu mit lauter Stimme, dass sie sich zur kommenden Morgenstunde am Hafen treffen wollten, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.
Mano hob nur knapp die Hand, die Luca ein weiteres Mal vorkam, als wäre sie eine Bratpfanne. Er trottete schwerfällig davon, sein Reittier, ein Pferdeartiges Wesen mit sechs Beinen und der Rückenbreite von eineinhalb Ellen am Zaumzeug.
Luca kannte seinen Weg. Einer wie Mano hatte nicht das Recht in der Stadt zu leben, nicht als ehrbarer Bürger, auch wenn er in den Schlachten das Recht von Valvermont erkämpfte.
Ihm gehörte ein altes, etwas gammeliges Gehöft, nördlich der Stadt. Der Troll nutzte einfach nur den Weg durch die Stadt als Abkürzung. Davon abgesehen mochte er es scheinbar immer, durch das Patrizier-Viertel zu schleichen und die reichen und hochadeligen Damen und Herren zu erschrecken.
Auch Raven verabschiedete sich eilig. Der Halbzwerg eilte fort, als seien wütende Dämonen hinter ihm her.
„Was hat er?“, fragte Gerome leise und deutete hinter dem schwarzhaarigen Mann her.
Luca hörte in der jugendlichen Stimme ehrliche Verwirrung heraus.
„Die liebste seiner dreizehn Gemahlinnen liegt seit Jahren an das Bett gefesselt“, erklärte Luca. Er dachte an Lucretia, die sanfte, blonde Schönheit in den lindgrünen Gewändern, geschmückt wie eine Königin am Tag ihrer Hochzeit mit Raven. Jeder, der diesen Tag miterlebt hatte, wusste, dass Raven eigentlich nur sie liebte. Luca sah sie im Hof ihres Vaters tanzen, die Brautbänder in ihren Goldhaaren, die grünen Augen schimmernd vor unfassbarem Glück. Justin hatte das Paar vermählt. Sogar er musste zugeben, dass er selten eine liebevollere Ehe geschlossen habe.
Luca legte traurig seine Hand auf Tams Rücken. Der Drachling lag immer noch zusammengekugelt in seinem Hemd.
‚Lucretia wird bald sterben, Luca’, merkte der Drachling besorgt an. ‚Raven muss sich beeilen, um noch einige Stunden mit ihr zu haben.’
Mit der Linken fuhr sich der Magier über die Augen. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Schmerz zurückzudrängen. So forsch Raven sonst war, so angreifbar war er bei ihr. Dieses Mal wusste Luca, dass Raven seine Frau beerdigen und nicht mehr mitreisen würde.
„Hast Du sie gemocht?“, fragte Gerome in Lucas Gedanken hinein und legte seine Hand auf den Oberschenkel des Magiers. Die Geste sollte Anteilnahme wiederspiegeln, aber Luca spürte nur tiefe Wut über diese Heuchelei in sich.
„Noch lebt sie!“, antwortete er wesentlich lauter und barscher als beabsichtigt.
Gerome fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen und senkte den Blick.
Luca, dessen emotionale Anspannung es ihm fast unmöglich machte, noch länger zu Schauspielern, musste sich sehr auf die Zunge beißen, um nicht verbal nachzuschießen.
Er löste seinen Blick von dem Jungen und sah sich um. Das Heer löste sich auf, aus den Soldaten wurden müde und geschlagene Männer, die nur noch ein Bett oder etwas zum Essen und Trinken wollten. Bei den Meisten würde es nicht einmal dazu ausreichen ein Bad zu nehmen, oder ihre Kräfte und ihr Geld bei einer Hure zu lassen.
Freudlos schlichen sie davon, nicht umjubelt, nicht glücklich wieder hier zu sein. Das bunte Markttreiben verschluckte sie wie ein gewaltiger Moloch.
Am Rande seiner Aufmerksamkeit fand Luca das Geistermädchen Lea wieder. Sie stand abseits. Ayco, der bis eben bei Justin war, saß ab und tauschte einen langen, besorgten Blick mit Luca. Das Herz des Magiers krampfte sich fest zusammen.
‚Hoffentlich passiert ihm nichts, Tam.’
‚Er ist bei Justin sicher im Moment; vorausgesetzt’, setzte der Drachling hinzu, ‚er läuft dem Vampir nicht aus Angst um dich weg. Das war auch äußerst dumm von dir, ihm zu sagen, dass Gregorius es vermutlich auf dich abgesehen hat. Du solltest dir eher um deinen Hals Sorgen machen, Luca. Davon abgesehen musst du nun erst mal Mesalla überstehen.’
Innerlich seufzte Luca und versuchte abzuschätzen, wie viel Magie er wieder in sich hatte, und wie viele Zauber er nun vorbereiten konnte, um sie gegebenenfalls alle gleichzeitig einzusetzen.
Er hob seine Hand und winkte Ayco und Justin nach, als sich die beiden Männer wohl oder übel auf den Weg zum Labyrinth machten. Was ihn ein wenig verwirrte war, dass Lea Ayco dieses Mal nicht wie ein Schatten folgte, sondern etwas abseits, unter dem Schild eines Backhauses stehen blieb. Ihr Blick traf Lucas, strich an ihm vorüber und hielt dann an Gerome fest.
Der Magier vermied es Gerome anzusehen. Aber er glaubte, dass der Junge den Geist auch bemerkte.
Eine junge Frau trat aus dem Laden und glitt durch Lea hindurch. Sie schauerte und beschleunigte ihren Schritt. Auf Leas Antlitz erschien ein hässliches Grinsen.
Dann trat sie die Stütze einer Brotsteige fort. Frische, noch warme Brote kugelten zu Boden, über das Stroh bedeckte Pflaster. Einige Passanten nutzten ihre Chance, andere traten die Laibe achtlos zur Seite. Kinder griffen danach und verschwanden im Getümmel. Bis die Bäckerin endlich aus ihrem Laden nach draußen und zum Einsammeln der restlichen Brote kam, hatte sie bereits ein knappes Duzend Verlust gemacht. Luca sprang von seinem Geisterpferd, trat zu ihr und half kommentarlos.
Lea huschte hinter ihm weg zu dem Geisterpferd und kletterte in den Sattel.
Als Luca sich aufrichtete um der armen Frau die Laibe zu reichen, die er eingesammelt hatte, umfing ihn eine eisige Woge von dunklen, hoffnungslosen Gefühlen, wie ein Grabeshauch.
Er schloss kurz die Augen, konzentrierte sich auf Tambren und seinen eigenen Herzschlag. Helligkeit glühte in den Tiefen der Dunkelheit, ein pulsierender Strom grauer Nebel, eine Mischung aus vollkommener Leblosigkeit und starkem, unzerstörbarem Leben kamen ihm entgegen. Das war der personifizierte Tod, mehr als es Aki Valstroem je sein konnte!
Luca hob die Lider und sah sich einem Fremden gegenüber, dessen Haut aschfahl war, die Züge scharf geschnitten, kantig und hart. Er machte den Eindruck, als sei er aus Stein geschlagen worden. Seine Lippen waren voll und dennoch hart, die Nase scharf gebogen, das Gesicht schmal und die Wangenknochen hoch. Die grauen Augen lagen tief in den Höhlen, betrachteten Luca ruhig, neugierig sogar, aber weder freundlich noch wütend. Es war das Interesse eines Alchemisten an einem ausgestopften Tier oder einer neuen Formel.
Der Mann war nur gering größer als Luca, ähnlich schmal, aber trainiert und stark. Luca sah den langen, dunkelgrauen Mantel, die tief in das Gesicht gezogene Kapuze, unter der er hervorblickte wie der leibhaftige Tod. Über den breiten Schultern spannte sich der Stoff. Luca bemerkte das schwere Stabschwert, den Morgenstern und den gewaltigen Bidenhänder, den der Fremde auf dem Rücken trug.
Einzig die Fibel wies den Mann als einen Priester aus, und die Aura des Todes, die ihn umgab.
Er hatte die Steige wieder aufgestellt und legte nun ebenfalls einige Brotlaibe hinein.
Die Bäckerin hielt sich weit von ihm entfernt, blass und ängstlich begegnete sie ihm.
„Danke Herr“, murmelte sie leise.
Wortlos, aber den Blick in Lucas Augen, in seine Seele gebohrt, trat er einen Schritt zurück.
Der Magier spürte die Macht des Mannes, der ihm gegenüber stand. Er hatte das Interesse des Priesters geweckt, warum auch immer.
‚Tam, was ist mit ihm?’, fragte Luca wortlos.
‚Keine Ahnung. Seine Gedanken kann ich nicht lesen. Er ist zu... fremd!’
Der Priester unterbrach plötzlich den Blickkontakt und trat an Luca vorbei. Stumm sah der Magier ihm nach. Es verwunderte ihn gar nicht, dass man ihm aus dem Weg ging. Wohin er trat wichen die Leute zur Seite und wo zuvor noch Lachen und Gesang war, hatte sich eine Art dunklen Schleiers von Melancholie und Trauer über die Gemüter gesenkt.
„Unheimlich“, wisperte die Bäckerin und schlug ein Schutzzeichen gegen das Böse.
Luca konnte seinen Blick nur schwer von dem Mann lösen. Er hatte nur zu deutlich gefühlt, dass der Priester in allem das Gegenteil von seiner eigenen Person war.
„Er ist nicht böse“, flüsterte Luca aus einem Impuls heraus.
„Wenn ihr meint?“, konterte sie jetzt wieder forsch.
Luca lächelte und sah zu ihr hinab. Dann drehte er sich um und eilte sich zu Orpheu zurückzukommen.
Lea saß immer noch im Sattel seines Geisterpferdes und wich nur knapp vor ihn aus, als er sich mit reichlich Schwung auf dessen Rücken niederließ.
‚Und nun?’, fragte er still, und deutlich verärgert.
Sie wendete sich zu ihm um und betrachtete ihn aus großen Augen. ‚Lass mich bei dir bleiben. Ayco ist so böse auf mich, und der Priester hasst mich’, bat sie.
Luca seufzte leise und gab nach.
Im Hof des Palais nahm der Stallmeister persönlich die Pferde entgegen und mokierte sich über Lucas Geistertier.
Als der Mann mit seinen Stallburschen die Pferde über den gepflasterten Hof führte, hörte Luca noch immer leise Flüche und Beschwerden, warum Magier immer solche dummen Scherze mit einfachen Menschen machen müssten.
„Machst du das absichtlich, Luca?“, fragte Gerome, ohne rechtes Interesse an der Antwort. Der Junge drehte sich bewundernd um seine eigene Achse und betrachtete den sandfarbenen Palast, dessen Spitzbögen, schlanke Säulen und Minarette so gar nicht in das Stadtbild passen wollten. Valvermont war eine prachtvolle, reiche Stadt mit gewaltigen Häusern, Villen, Plätzen, Theatern und Parkanlagen. Aber der Palast, trotz seiner goldenen, warmen Pracht, wirkte archaisch in der Moderne der mehrgeschossigen Stadthäuser und deplatziert, wenn man den Baustil Kaleshs hier, am Rande der Nordreiche erkannte. Durchbrochener Sandstein, Messingsymbole in den Bodenplatten des Hofes, ein palastumfassender Balkon mit mehreren zierlichen, durchbrochenen Stufen, kein Glas in den Fenstern und wehende Gazevorhänge anstatt Türen. Dieser Palast war ein Traum aus einem Märchen, fand Luca immer, wenn er sich hier aufhielt.
Mesalla umgab sich mit den Träumen seiner Heimat, Orpheus Heimat.
Die schönsten Felinen, aufrecht gehende, humanoide Katzen, bedienten Mesalla hier, waren ihm zu willen und dienten zur Zierde. Panther und Leoparden schlichen unbewacht und frei durch die Gänge des Palais und des prächtigen Parks. Der Duft exotischer Blumen und Früchte erfüllte die Luft und Phiolen mit duftenden Essenzen und Ölen verströmten sinnbetörende Aromen.
Aki fühlte sich hier unwohl. Luca sah, dass die Herrscherin des Nordens schauerte unter dieser südlichen Pracht. Eis, Schnee und kaltes silbrig weißes Licht waren ihre Welt.
Auch Sjorn zog unwillkürlich den Kopf zwischen seine breiten Schultern. Gerome schien das alles hier zu faszinieren, und Orpheu fühlte sich zu Hause. Luca konnte sich nie des Gefühls erwehren hier Hals- und Handschellen zu tragen. So zauberhaft das alles hier erschien, so wenig schön waren die Begegnungen mit Mesalla für ihn gewesen. Der Prinz lag seit langen Jahren in Streit mit Ihad um Luca. Er wollte den Magier für sich haben, wie er sagte, als Vertrauensperson und Berater. Er hatte Luca sogar das Angebot gemacht, dass er wieder seinen wirklichen Namen tragen dürfte und wie ein König leben konnte. Ihads Angebot war ein anderes. Wissen zu sammeln und wenigstens in den Schlachten frei zu sein.
Lucas Wahl wurde ihm sehr einfach gemacht. Er wollte nichts mehr als frei sein.
Hier lastete ein Stein auf ihm, der ihn nieder drückte.
Die Anführerin der Garde trat zu der kleinen Gruppe, verneigte sich tief vor Aki Valstroem und blieb vor der Elfenkönigin knien.
„Hohe Dame, mein Herr erwartet euch mit Freude im Herzen“, sagte die Riesin. Dabei lispelte sie stark.
Aki bedeckte ihre blasse Stirn und die Augen mit dem Handrücken gegen das gelle, heiße Sonnenlicht.
Eine Wolke von Schmetterlingen, unter die sich unbemerkt etliche schwarze mischten, stob auf und umflatterte die Königin. Einige von ihnen setzten sich wie lebende Blumen in ihre Haare.
„Der Prinz bittet euch sein Gast zu sein, bis ihr das Schiff nach Sarina betretet. Euch wird es an nichts mangeln. Ihr sollt dieselben königlichen Rechte haben, wie sie in eurem Reich üblich sind.“
Aki senkte den Blick. „Seid bedankt, liebe Frau,“ lächelte sie. „Prinz Mesalla ist gütig und weise. Ich möchte ihm aber selbst meinen Dank aussprechen können.“
Die Riesin richtete sich auf. „Bitte folgt mir, Herrin.“
Nachdem Gerome mehr als einmal einer Felinen und einer Großkatze hinterhergelaufen war, nahm Luca ihn zwischen sich und Orpheu an die Hand.
Insgeheim fand er den Gedanken bizarr, aber Gerome/ Gregorius spielte seine Rolle als recht unerzogener junger Mann aus reichem Hause perfekt. So hielt sich der Magier auch in keiner Weise zurück wenigstens die eine oder andere streng väterliche Schimpftirade über dem Jungen ergehen zu lassen.
Die Riesin führte sie durch hohe Bogengänge und durch kleine Terrassengärten, Atrien und Flure in die privaten Audienzgemächer Mesallas. Mit einer forschen Handbewegung schlug sie die seidenen Vorhänge zur Seite und gewährte ihnen Einlass in einen Raum, der zur Westseite hin vollkommen offen war. Eine elegante, niedrige Balustrade begrenzte den Raum und fünf Säulen trugen das Kreuzbogengewölbe. Im Zentrum des Raumes war ein rundes Messingbassin eingelassen, in dem frische Blüten trieben. Kissen lagen auf dem rotbraunen Marmor, bezogen mit rotgoldener Seide. In Alkoven an den Sandsteinwänden standen Messingskulpturen von Felinen und Drachen, Raubkatzen und wunderschönen Elfs.
Diwane, weich gepolstert und von zauberhafter Form, standen fast willkürlich im Raum verteilt und Sessel, neben kleinen Messingtischen mit geprägten und fein ziselierten Platten, boten ein gemütliches Bild. Schalen frischen Obstes und Karaffen mit süßen Weinen und Säften warteten auf Besucher.
Winzige Feen schwebten in dem Raum und zwei schwarze Panther lagen träge im Sonnenlicht neben der Brüstung. Mesalla war noch nicht anwesend. Allerdings huschte hinter Orpheu und Luca ein zierliches Mädchen herein, das kinnlange Haar schwarz und glänzend, und die großen Bernsteinaugen hell leuchtend. Sie rutschte mit ihren feinen Seidenschühchen auf dem glatten Marmor weg und schlidderte unelegant an Sjorn vorbei. Ihr schwarzer Katzenschwanz suchte nach einem Halt und wickelte sich um sein Handgelenk. Dann hob der Troll seine Pranke und riss das Kind von den Füßen.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus und pendelte hilflos, eine Elle über dem Boden.
Sjorn hob sie dicht vor sein Gesicht und sog ihr Aroma ein.
„Mich kannst du nicht essen, Monster!“, schrie sie aggressiv.
„Sjorn wird dich auch kaum essen, Kaya“, lenkte Luca eilig ein. „An dir ist ja nichts dran!“
Die Kleine sah den Eistroll aus großen Augen an.
„Wirklich?“, fragte sie misstrauisch.
„Wirklich“, bestätigte Sjorn geduldig und setzte sie behutsam auf den Boden.
Die Kleine richtete ihre Weste und die Hosen, strich sich das aufgeplusterte Fell an ihrem Schwanz glatt und umschritt Sjorn nachdenklich. Dann blieb sie vor Aki stehen, die sie streng betrachtete.
„Eine Eiselfe?“, fragte die Feline. „Sollte heute nicht eine Eiselfe kommen, Sis?“
Die Anführerin der Garde schluckte hart. „Kaya, das ist die Königin!“, mahnte sie leise.
Das Mädchen fuhr zusammen und blieb reglos stehen, den Blick hoch zu Aki aufgerichtet.
„Auf die Knie, ungezogenes Ding!“, befahl die Gardistin streng.
Sofort tat die Kleine, was ihre Freundin befohlen hatte.
Akis Mundwinkel zuckten, aber sie konnte sich gut genug kontrollieren, nicht laut loszulachen. Langsam kniete sie sich zu Boden und streichelte dem Mädchen liebevoll über die Haare.
„Komm Kaya, das ist nicht notwendig, mein Kleines.“
Die Feline hob vorsichtig den Blick und lächelte dann scheu.
„Ihr seid so lieb, Herrin“, sagte sie leise und kuschelte ihren Kopf gegen Akis Knie. Die Elfenkönigin hob das Mädchen auf ihre Arme und drückte sie liebevoll an sich.
„Du bist ja eine ganz Liebe“, lachte Aki, als Kaya ihre dünnen Arme um ihren Nacken schlang.
„Herrin!“
Aki und Luca drehten sich um. Unter der Tür stand ein schlanker, schwarzer Elf mit langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren und einem sauber gestutzten Vollbart. Seine Augen schimmerten wie Gold, als er Aki betrachtete. Mesalla war deutlich kleiner und schlanker als Orpheu, aber in seinen Zügen fand sich der Hauch großen Wissens und in Gestik und Blick strahlte er einen Zauber aus, dem sich selbst Aki nicht entziehen konnte. Er war weit mehr als ein charmanter Mann. Er war der weitaus mächtigste Mann von Äos, auch wenn sein Reich das kleinste war. Diese Macht trug er in seinem Blick, seiner Gestik. Mesalla, der Weise, der Listenreiche, der Umsichtige, der Gütige. Luca kante alle Beinahmen, die man ihm gegeben hatte. Und jeder einzelne traf zu. Mesalla war umsichtiger und geschickter, ein Trickser, der sich mit weise ausgearbeiteten Verträgen jeden Ärger vom Halse hielt, aber auch jeden an sich band, der ihm nützlich war.
Nun sank er vor Aki auf ein Knie und neigte sein Haupt. „Herrin“, sagte er leise. Seine samtene Stimme verriet, wie er seine Magie wob.
Aki setzte behutsam Kaya auf dem Boden ab und legte ihre Hand auf seinen Hinterkopf. „Prinz, ihr dürft nicht vor mir knien, nicht in eurem eigenen Haus“, gebot sie.
Mesalla erhob sich. Er reichte Aki gerade bis zur Schulter, dennoch schienen sie sich ebenbürtig. Zwei Herrscher mit großer Macht.
Mesalla bot ihr Platz auf einem Diwan nah der Brüstung an und gab Kaya einen Wink. Das Mädchen postierte sich rechts neben Aki.
Der Blick der Elfe schweifte durch den Raum. Als er auf Luca hängen blieb, schritt auch er zur Seite seiner ihm anvertrauten Herrin. Orpheu setzte sich in einen Sessel und Sjorn zog die Kissen vor. Gerome allein besetzte einen weiteren Diwan. Von seiner Position aus konnte man über die Stadt zum Meer sehen.
Schiffe unterschiedlichster Nationen, geflaggt und prächtig, lagen an den Kais vor Anker.
„Wünscht ihr etwas zu trinken oder zu essen, hohe Dame?“, fragte Mesalla.
Aki senkte den Blick. „Wasser, bitte“, bat sie leise.
Kaya eilte sofort aus dem Raum.
„Und euer Gehör für mein Anliegen, edler Prinz.“
Die Nacht war bereits heraufgezogen und der Raum kühlte deutlich aus.
Still hörte sich Mesalla alle Ausführungen der Eiskönigin an und stellte selten Zwischenfragen. Aki ließ Luca zwischendurch erzählen und lauschte seiner Perspektive.
Während der Magier die Grausamkeiten Gregories beschrieb, berührten seine Blicke immer wieder unmerklich Gerome. Der Junge fixierte ihn bei jedem Wort und haftete voller Gier an seinen Lippen. Scheinbar gefiel es ihm von seinen Taten aus dem Munde eines anderen zu hören. Seine Augen leuchteten, als Mesalla auch von ihm, als persönlichem Leibdiener Gregories, eine Erklärung haben wollte.
Im Gegensatz zu dem ersten Mal gewann der Lagerleiter die Qualitäten eines finsteren Gottes, der machtvoll, bezaubernd und von Grund auf wahnsinnig war.
Auch ohne Tams Unterstützung glaubte Luca Gerome unbesehen jedes Wort. Mehr als einmal konnte sich der Magier kaum gegen das Gefühl tief sitzender Angst, die ihn zu übermannen versuchte, wehren.
Die geisterhafte Erscheinung Leas, die plötzlich neben ihm heranwehte und ihn sachte berührte wie ein Windhauch, vertiefte Lucas ungutes Gefühl.
Still stand sie neben Luca und starrte den Jungen, Gerome, aus brennenden Augen an.
Luca konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, dass zum ersten Mal, seit Gerome sie begleitete, Leas Gefühle gegen ihn wirklich in Aufruhr gerieten.
Er sah in den großen, jadegrünen Augen Schrecken, Ärger und Wut.
Auch wenn bislang der Junge Lea immer wieder verstohlene Blicke geschenkt hatte, so vermied er doch jetzt den direkten Blick zu ihr. Vielleicht hielt Mesalla ihn auch mit seinen Fragen zu sehr gefangen und wollte einfach zu viele Details hören.
Auch Orpheu musste minutiös seine Version der Geschichte erzählen. Zu Ende nickte Mesalla nachdenklich und wendete sich an Aki Valstroem.
„Herrin, die Verhandlungen zwischen Sarina und den Nordlanden sind hier in Valvermont gescheitert. Eure Diplomaten haben auf irgendeinem Weg von dem Gefangenenlager erfahren und die Situation genutzt, um dem Krieg neues Feuer zu geben.“
Aki senkte den Blick. Scheinbar schien sie das bereits vermutet zu haben, denn sie nickte nur still.
„Wenn ich mein Reich zurückerobern will muss ich also entweder in den Nordlanden kämpfen und mehr Blut vergießen, oder ich trete den Gang nach Sarina an und bringe dort mein Anliegen den Krieg zu beenden, vor, gestehe damit aber auch meine Niederlage ein und mein Reich wird Protektorat des Kaisers“, schlussfolgerte sie resigniert.
„Er ist kein Monster, Herrin“, wehrte Mesalla ab. „Seine Politik ist vielleicht nicht weise, aber zumindest offen und verhandlungsbereiter als die der Inselkönige von Gismonda oder der Herrscher von Rouijin, Paresh und Kalesh.“
Nachdenklich hob Aki die Hand an die Lippen. Luca sah ihren kurzen, scheuen Blick zu Gerome.
‚Weiß sie, wer er ist?’, fragte er Tam besorgt.
Der Drachling rollte sich umständlich aus Lucas Hemd und kroch vorgeblich müde auf die Schulter seines Herren hinauf.
‚Wenn du mich fragst, weiß sie es aus ihrem Stand als Avatar des Todes schon. Sie müsste sehen, dass seine Lebensfäden nicht die eines vierzehnjährigen Jungen sind’, erklärte Tam still. ‚Und scheinbar weiß er etwas über sie oder hat etwas von ihr, womit er diese mächtige Frau niederzwingen kann.’
‚Er lenkt sie also?’, fragte Luca nach.
‚Vermutlich schon’, entgegnete der Drachling und rollte sich so ein, dass sein langer Schwanz wie ein Schal um Lucas Hals hing.
‚Dann kann sie uns jederzeit gefährlich werden und in den Rücken fallen?’ Luca spürte deutlich, dass er sogar denen, die er bewunderte und Freund nannte, nicht mehr trauen konnte. Ayco, er und Orpheu standen mit dem Rücken an der Wand, eingekesselt. Nun konnte nur noch ein Wunder passieren, dass ihnen half.
‚So in der Art’, bestätigte Tambren.
Luca wollte gerade noch die Frage stellen, wie sicher die Frauen, Ria, Nea, Linnette und Kione waren, kam aber gar nicht mehr dazu den Gedanken deutlich auszuformulieren, denn die Hauptfrau der Garde wirbelte plötzlich herum, sodass ihr Kapuze und Mantel vom Leib herabsanken und riss die Vorhänge zum Flur zur Seite.
Ihr langer Schwanz peitschte nervös über den Marmor.
Aki drückte sich schutzsuchend an Luca, der immer noch hinter ihr stand und Sjorn war, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten mit unglaublicher Leichtigkeit auf seine Füße gefedert und baute sich vor seiner Herrin auf. Er war ein lebendes, undurchdringliches Schild aus Muskeln, Fleisch, Knochen, Hornplatten und zotteligem Haar und Bart.
Eiskristalle flockten sachte aus seinem Gewand. Die Temperatur sank merklich. Stumm wob Luca einen Erkenntniszauber, Magie, die ihm alles offen legen sollte, was er weder sehen, noch hören konnte. Mit geringer Überraschung stellte der Magier fest, dass ihr stummer Beobachter nicht so ungeschickt war, sich im bestgesichterten Palast der Stadt solch einen Fehler zu erlauben. Nun war der junge Mann auf Tam und seine eigene Sensibilität angewiesen.
Luca spürte aber weitaus mehr als die Zauberkraft des Eistrolls und der Todesgöttin. Da war etwas, zwischen den Atemzügen, ein Beobachter am Rande des Wahrnehmbaren, verborgen, nicht unsichtbar, aber geschützt zwischen den Herzschlägen der Zeit.
Sisikazev, die Hauptfrau, wendete sich langsam, lauernd um. Ihr schwarzer Rattenkopf zuckte immer wieder in die Luft. Die feinen Barthaare tasteten, fanden aber nichts. Unter ihrem weißen Seidenhemd spannten sich Muskeln, die vermutlich Orpheus ebenbürtig waren.
Stumm tauschte sie mit Mesalla einen Blick, hob den Kopf und stieß einen feinen, hohen Pfiff aus, der nah am unerträglichen für Luca lag.
Kaya überwand mit zwei Sätzen die Distanz zwischen Akis Diwan und dem ihres Herren. Sie hatte sich verändert. Nun war sie nicht mehr das unschuldige, liebe kleine Mädchen, der persönliche Page Mesallas, sondern ein menschengroßer, dennoch sehr junger, Panther. Feines, schwarzes Fell bedeckte ihren Leib, und sie wand sich unbehaglich aus ihren Kleidern. Mit peitschendem Schwanz schritt sie vor dem Prinzen auf und ab. Auch Orpheu tastete nach seinem Schwert. So wenig er Mesalla mochte, so fest waren seine Verpflichtungen als Söldnerhauptmann zu dem Prinzen.
Einzig Gerome, Lea und Luca regten sich nicht wirklich. Der Junge saß mit versteinerter Miene auf seiner Liege, angespannt und lauernd, als erwarte er einen persönlichen Angriff gegen sich. In Leas Augen fand Luca dieselbe Angst, tief und dunkel.
Ihn wiederum ängstigte es nicht wirklich. Beruhigend legte er eine Hand auf Akis Schulter. Unsicher tastete die Elfe nach ihm und umklammerte seine Finger. Sie fürchtete etwas, jemand, Luca konnte es nicht sagen. Ein einzelner, schwarzer Schmetterling ließ sich auf ihrer Schulter nieder, während alle anderen, jeder stoffliche Zauber, den Luca in den vergangenen Stunden gewoben hatte, aus ihrem Haar aufstob.
Die Zeit schien stillzustehen. Der Wind legte sich vollkommen, bis nicht einmal mehr ein laues Lüftchen die Vorhänge bewegte. Sjorn und Sisikazev schienen mitten in ihren Bewegungen erstarrt. Die Ratte witterte, wartete auf ein Zeichen, vielleicht auch nur auf einen winzigen Hinweis, dass sich diese Person, oder was immer ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, noch einmal zeigte.
Aber es geschah nichts. Dennoch war sich Luca sicher, dass der Fremde immer noch in der Nähe war, und es war die Präsenz des Mannes, dem er auf dem Großmarkt begegnet war. Der Priester des Todes.
Schritte wurden laut, Gardisten eilten über die Flure und strömten aus den Höfen und Gärten hinauf in den Audienzsaal.
Binnen weniger Herzschläge umgaben zwanzig Mann die schwarze Rattenfrau.
Mesalla hob tadelnd eine Braue. Offenbar war ihm das alles etwas zu langsam gegangen.
„Herrin, ihr seid mein Gast, nun wird euch sicher nichts geschehen können. Bitte, seid euch dessen sicher, dass alles wieder unter Kontrolle ist.“
Aki löste ihre Finge von Lucas und erhob sich. „Ich fühle mich nicht sicher“, gab sie offen und wesentlich zu barsch zu.
Mesallas Mundwinkel zuckten kurz, aber er beschloss offenbar, ihr diesen Ausrutscher zu verzeihen.
„Wollt ihr euren Beschützer auch hier an eurer Seite haben, Königin?“, fragte er sanft und wies mit seinem Blick zu Luca hinüber.
Sie starrte Mesalla an. „Waffen bieten eine trügerische Sicherheit, Prinz“, sagte sie leise. „Ich verlasse mich lieber auf die Sensibilität meines Beschützers.“
Langsam wendete sie sich zu Luca um. „Sagt mir, Lysander, bin ich hier sicher?“
Nachdenklich betrachtete der Magier sie. Eigentlich wollte er nichts sehnlicher, als zu Ayco zurück, aber genauso war er gezwungen, seinem Auftrag Aki zu beschützen, nachzukommen. Die Zwickmühle in der er saß, war dieses Mal ziemlich groß. Das Problem, dem er sich auch gegenüber sah, war, dass Ayco wohl kaum ruhig bei Justin in den Tiefen des Labyrinthes sitzen und abwarten wollte. Zudem ging von Gerome eine unsägliche Gefahr aus, ganz besonders für Ayco. Gregorius ließ langsam seine Maske fallen und würde ganz sicher keine Rücksicht mehr auf Ayco oder Luca nehmen. Besonders fürchtete er, dass Gregorius Ayco weitaus schlimmeres anzutun in der Lage war, als es der Tod war. Aki mit in das Labyrinth zu nehmen, war unmöglich. Damit hätte er sich gegen Mesallas Befehle gestellt. Der junge Mann senkte die Lider. Die Frage war nicht, ob Aki hier sicher war. Luca empfand wenig Bedrohung außer der Geromes. Viel eher lautete die Frage, wie gefährlich konnte Gerome seiner Umwelt werden.
Sein Herz füllte sich erneut mit Angst und Sorge, bis es schwer wie ein Stein in seiner Brust schlug.
Aus einem Impuls heraus, vielleicht reiner Verzweiflung, um Ayco nicht zu gefährden, richtete er sich auf und wies auf Gerome.
„Hohe Dame, ihr habt die Frage falsch formuliert. Wie gefährlich ist Gerome, also Gregorius, für die, die uns nahe stehen?!“
Offensichtlicht hatte Gerome nicht mit einem offenen Angriff gerechnet, denn er fuhr zusammen und starrte Luca an. Der Magier erwiderte zornig seinen Blick. „Ich kann die Charade nicht mehr weiter spielen, sonst vergiftet mich dein Hass, Gerome!“
Der Junge zog die Brauen zusammen. Seine Mundwinkel zuckten angespannt. Scheinbar wusste er für einen winzigen Moment nicht, was er tun sollte.
Aki sog die Luft zwischen den Zähnen ein und spannte sich, als warte sie nun wirklich auf den Tot. Die Mimik des Hauptmannes verriet, dass er fast mit etwas derartigem gerechnet hatte, denn seine Überraschung hielt sich stark in Grenzen. Viel mehr zog Orpheu sogar blank und baute sich halb vor Aki auf. Auch Kaya und Sisikazev reagierten sofort. Katze und Ratte waren die geborenen Leibwachen. Mesalla allerdings saß ruhig, neugierig, sogar hochinteressiert da, beobachtete aber nur. Für ihn gab es keine Gefahr. Er war der best amüsierte Zuschauer eines sehr bösen Schauspiels.
Gerome lachte hell und klar, ein Laut, der sich allerdings in etwas hässliches, finsteres verzerrte, als er sich erhob.
„So wenig hängst du also an deinem Geliebten, Lysander?“, fragte er leise.
Luca fixierte ihn still.
‚Was meint er?’, fragte der Magier Tam dennoch.
‚Vielleicht das Amulett von Ayco, was er noch hat?’, schlug Tam vor.
„Du glaubst zu wissen, Lysander?“, fragte Gerome leise.
Wieder schwieg der Magier. Es war unklug seine eigenen Erkenntnisse zu offen darzulegen.
„Du weißt nur Fragmente des ganzen Spieles, und glaube mir, ich werde dir keine Chancen lassen, das gesamte Bild je zu erfassen, mein Freund, mein Bruder.“
Langsam erhob sie der Junge. „Der Tod, der Schutz und das Feuer gehören bereits mir, Lysander.“
Schmetterlinge stoben auf, ein Schwarm schwarzer Falter. Im gleichen Moment, indem Luca seine Zauber entsandte, wusste er, was die Worte Geromes bedeuteten. Der Tod gehörte ihm. Er kontrollierte Aki und damit den Tod. Er konnte nicht sterben. Allerdings war es dem jungen Magier auch nicht mehr möglich, die Magie aufzuhalten.
Völlig lautlos explodierten Flammen und Kraftfelder um ihn, zerrissen den Kinderleib in dem Bruchteil eines Lidschlages und versengten Haar und Haut, verzehrten sein Fleisch, bis von ihm nichts weiter übrig war als verbrannte Reste, die auf dem Marmor vor sich hin schmorten und dabei einen unsäglichen Gestank verbreiteten.
Auch gegen jedes bessere Wissen, empfand Luca tiefe Reue und Mitleid für den Leib, den er zerstört hatte. Er wollte nicht töten. In dieser Sekunde hätte er sich am liebsten abgewendet und wäre vor sich selbst geflohen. Dass selbst Tambren eine etwas weniger mitleidvolle Perspektive hatte, als er, half dem jungen Mann nicht darüber hinweg. Er hatte gemordet, und das mit festem Vorsatz.
Angewidert wendete sich Aki ab und barg ihr Gesicht vertraut an Lucas Brust. Fast schien es, als habe die Königin binnen der letzten Stunden beschlossen, ihn zu ihrem Favoriten auszuwählen, mit dem sie vorgeben konnte näher zu stehen als im Verhältnis einer Herrin zu ihrem Diener.
Sie klammerte sich hilfesuchend an ihn, kralle ihr kräftigen Hände in seinen Rücken und sein Gesäß.
Einen Augenblick war Luca versucht sie von sich zu stoßen, spürte er doch, dass sie ihn zu ihrem Spielzeug herab degradierte.
Die Reaktion Sjorns war für Luca bestens verständlich. Er betrachtete seine Herrin traurig und warf Luca einen Blick zu, der Kalesh mit ewigem Eis hätte überziehen können. Allerdings trat er still zurück und überließ Luca das Feld, den er eindeutig als seinen Rivalen um die Königin klassifizierte.
Der Magier senkte betroffen den Blick.
Lea betrachtete die Umarmung der Elfe bei Luca mit gehässigem Blick. Sie würde sicher Ayco ein schönes Lügenkonstrukt darum bauen. Der Magier fühlte sich nur noch schäbiger und schlechter.
Kaya schnüffelte neugierig an den Resten des Kindes.
„Der ist wohl hinüber, oder Luca?“, fragte sie in ihrer kindlichen Ahnungslosigkeit.
Allerdings fühlte sie sich von Sisikazev zurückgedrängt, die mit ihrem Schwert in den schlackenden Überresten herumstocherte.
Plötzlich erschütterte etwas die Wirklichkeit, die Realität, teilte sie. Für Luca schien es, als habe jemand die Zeit angehalten und danach weiterlaufen lassen. Aber niemand außer ihm und natürlich damit auch Tam, hatten diese Veränderung bemerkt.
Der Drachling entfaltete knisternd seine Schwingen und sprang lautlos auf die Lehne von Akis Diwan.
„Luca, es ist noch nicht vorbei!“, rief der Drachling plötzlich.
Alle Blicke richteten sich an den Punkt, an dem Luca gerade das getan hatte, was ihm immer wiederstrebte, zu töten. Aus den rauchenden Überresten, die einmal ein Lebewesen waren, trat etwas hervor, was stark an schwarzes Blut erinnerte. Es sickerte aus dem Leichnam und kroch über den ebenen Boden bis zu Kayas Pfoten.
Die Feline betrachtete es neugierig, achtete aber darauf, dass es nicht ihr Fell benetzte. In kleinen, langsamen Schritten wich sie zurück und schnüffelte immer wieder daran. Ihre Schnurrhaare zuckten jedes Mal zurück, bevor sie die ölige Flüssigkeit berührte.
„Weg, Kaya!“, befahl Sisikazev barsch.
Die Feline legte den Kopf schräg, sah ihre Freundin an und senkte ärgerlich die Lider.
„Warum denn?“, fragte sie leise. In ihrer Stimme schwang deutlicher Trotz mit.
„Tu, was Sis sagt“, drängte Luca. Seiner Meinung nach ging von dieser Pfütze etwas Böses aus, dass seiner kleinen Freundin sehr gefährlich werden konnte.
Die Bernsteinaugen Kayas richteten sich auf Luca.
„Das kann doch nichts schlimmes sein...!“
Ein feiner Schleimfaden löste sich aus der Pfütze und richtetet sich gerade auf. Kaya starrte ihn voller Faszination an. Ihre Augen weiteten sich. Dann begann dieser haarfeine Tentakel zu schwingen, als würde sanfter Wind ihn bewegen. Die Blicke Kayas hafteten daran fest. Sie konnte sich davon nicht mehr losreißen.
Tam spannte sich und fixierte den Faden ebenfalls. Dieses Mal machte sich Luca mit einigem Nachdruck aus der Umarmung Akis frei. Allerdings reagierte er wesentlich zu spät. Allein Sisikazevs schnelle Reaktionsfähigkeit rettete Kaya das Leben. Die Rattenfrau ergriff den Panther in der Körpermitte und riss sie mit sich, wirbelte um ihre eigene Achse und stürzte schwer auf die Seite. Der eben noch so spielerisch erhobene Faden durchschlug mit Leichtigkeit eine der dicken Säulen, die die Decke trugen. Einen Herzschlag später fuhren unzählige dieser Tentakel aus und durchbohrten Holz, Metall und Stein, soweit sie konnten.
Drei schwarze Schmetterlinge zerbarsten wie feinstes Glas in tausend Splitter, die sich in Rauch auflösten und drei Schutzzauber auslösten. Allerdings konnte Luca nur einige wenige im Raum beschützen. Die Gruppe der Gardisten, Mesalla, Kaya und Sisikazev, befanden sich wohl behütet in zwei starken Kraftfeldern, die Gregorius nicht zu durchdringen in der Lage war, Orpheu, Tam und Aki schützte der dritte Zauber, allerdings wurde es nun für Sjorn, Lea und ihn zu einem Spießroutenlauf.
Der Eistroll jaulte vor Schmerz, als sein rechter Arm durchbohrt wurde, zerfetzte aber mit seiner Klauenpranke den Faden, nur um alles in eine Eishölle zu verwandeln, was sich in seiner näheren Umgegend befand.
Lea wich auch immer nur in letzter Sekunde den Fäden aus. Obwohl Luca fieberhaft in seinem Repertoire nach einem passenden Zauber suchte, um flächendeckend dieses Geschöpf unter Kontrolle zu bringen, konnte er nur auf sein Schwert zurückgreifen.
Ein Faden riss eine tiefe, blutige Furche in seine Seite. Für Sekunden war der Schmerz so gellend, schreiend, dass Luca das Gefühl hatte, das Bewusstsein zu verlieren. Er sackte nach links ein, was ihm vermutlich das Leben rettete, denn einer der Tentakel schlug breitflächig nach seinem Hals. Wie leicht er so den Kopf hätte verlieren können, wurde Luca bewusst, als hinter ihm ein tiefer Riss in die Wand geschlagen wurde. Ein weiteres Mal kam ihm zugute, dass Justin ihn im Tanz trainiert und unterrichtet hatte. Immer wieder wich er fast tänzerisch den Fäden aus, die nach ihm stachen und schlugen. Er verschaffte sich eine Sekunde Luft um sein Schwert aus der Scheide zu reißen. Zwei seiner Schmetterlinge setzten sich auf die Klinge und zerflossen darauf. Das Eisen wurde schwarz und fahl, verlor allen Glanz. Den nächsten, auf ihn fixierten Angriff wehrte er ab und zerschnitt mit der Klinge die Tentakel. Sie wurden zu grauen Rauchfäden und zerfaserten in der mittlerweile in Wellen heißen und kalten Luft. Sjorns Eismagie kühlte den Audienzsaal auf eisige Temperaturen herab, während Lucas Höllenzauber immer noch Wände und Boden nachbrennen ließen. Das Atmen wurde schwerer. Frische Kühle und stickiger Gestank nach brennendem Fleisch und glühendem Stein, raubten dem Troll und dem Magier die Luft. Dennoch wirbelten sie herum, um wenigstens die Tentakel halbwegs von sich fort zu halten. Der Magier wusste, dass, wenn kein Wunder geschah, sie alle sterben würden, sobald seine Magie nachließ. Verbissener denn je schlug er mit der schweren Klinge zu und nahm Gregorius Duzende seiner Tentakel. Sjorns Kräfte scheinen unerschöpflich, aber der Troll blutete aus mehr weitaus mehr Wunden als Luca. Sein Atem ging aber noch immer ruhig und gelassen. Unter den Tentakeln konnte er mit seiner Eismagie viel Schaden anrichten. Waren die Fäden gefroren, mähte er hundert davon ab. Lea allerdings hielt sich dicht bei Luca. Scheinbar fühlte sie sich sicherer bei ihm, denn das eine oder andere Mal spürte der Magier ihre kleinen Geisterhände, die sich hilfesuchend an sein Bein klammerten. Orpheu und Mesalla sahen hilflos bei dem Kampf zu. Die beiden Männer lechzten nach Blut, das sah Luca jedes Mal, wenn er ihnen den Blick zuwendete. Aber sie konnten die Kraftfelder nicht verlassen, wollten sie sie nicht zum Kollabieren bringen.
Luca sah ein, dass die Lage, so versprengt wie sie waren, verhältnismäßig aussichtslos war. Gregorius hatte scheinbar ein unerschöpfliches Arsenal dieses stählernen Schleims, und das einzige, was helfen konnte, war scheinbar das Eis des Trolls. Aber so lange Sjorn nicht zum Zentrum kam, um es zu erfrieren, sondern sie beide wie wilde Tiere einfach getrieben wurden, würde sich ihre Situation nur zusehends verschlechtern.
‚Lea, wir kämpfen uns zu Sjorn durch. Bleib dicht bei mir’, rief Luca ihr still zu.
‚Mach! Ich habe Angst!’, schrie sie hysterisch. ‚Wir sterben, und dieses Mal richtig!’
Da auch der Troll in beständiger Bewegung war, stellte sich das Unterfangen als weitaus kräftezehrender heraus, als Luca es gehofft hatte. Seine Schutzkugeln würden nicht mehr lange halten, und er selbst war so erschöpft, dass es ihm schwer fiel noch das Schwert mit beiden Händen zu führen. Seine Lungen brannten und seine Gelenke schmerzten höllisch. Hemd und Hose klebten von Blut und Schweiß an ihm, und sein langer Zopf löste sich immer weiter auf. Die herausfallenden Strähnen behinderten ihn und woben ihn mit jeder Bewegung, jedem Schwung oder Überschlag mehr ein.
„Du... du musst ins Zentrum!“, keuchte Luca atemlos. „Friere das Ding ein!“
Der Troll nickte, ohne Luca anzusehen. „Seite an Seite, Magier!“
Gemeinsam, mit Schwert und Klauen, drangen sie auf das Wesen ein, wichen nicht mehr zurück, wehrten nur noch ab.
Tentakel schossen auf sie zu, durchdrangen sie, zerfetzten Sjorns linken Arm, aber von dem Troll kam kein Laut des Schmerzes. Schweiß rann ihm über die hohe Stirn und mischte sich mit Blut und Speichel in seinem Bart. Der Wille dieses Geschöpfes erschien Luca übermächtig. Sjorn liebte offenbar seine Gebieterin so sehr, dass er alle Kräfte mobilisieren würde, nur um ihr dienlich zu sein. Der Mut und die Kraft des Trolls spornten auch seine letzten Reserven an. Er setzte sich vor Sjorn und wehrte, so schnell es ihm möglich war, die immer wieder herausschießenden Tentakel ab. Mindestens ein dutzende Mal traf ihn einer der Fäden an Armen, Beinen und Gesicht. Der Magier war nicht der muskulöseste, aber zumindest ausdauernd und zäh. Im Moment wünschte er sich, dass er einstmals Ihads Ausführungen im Schwertkampf genauer gelauscht hätte.
Nahe des Zentrums konnte Luca ohnehin nicht mehr denken, nur noch reagieren. Sein Hals fühlte sich nach rohem Fleisch an, die Zunge klebte am Gaumen und Schweiß – oder Blut, er wusste es nicht - vernebelten seine Sicht. In seinen Ohren rauschte das Blut so laut, dass er kaum noch das helle, krächzende Pfeifen seiner Lungen wahrnahm. Die Klinge wurde ihm unerträglich schwer. Jeder Hieb durchfuhr seine Handgelenke bis in die Ellenbogen. Dann barst die erste seiner Schutzkugeln und spie Mesalla, Kaya und Sisikazev aus. Sofort griff die riesige Rattenfrau an und trennte etliche Tentakel auf einmal durch, Kaya allerdings konnte nur ausweichen. Mesalla hingegen griff nach der nächsten Waffe, die ihm in die Hände fiel. Mit einem Leuchter und brennenden Kerzen bewaffnet, machte er sich daran, die Tentakel von seinem Pagen fern zu halten. Luca konnte das Bild nur noch fahrig in seinem Geist verwerten. Er empfand einen kurzen Hauch von Zufriedenheit, konnte aber im Nachhinein nicht mehr sagen, warum.
Plötzlich durchschlug er gefrorene Fäden. Das Gewicht der Klinge in seinen Händen wurde schwerer, machte ihm unmöglich, das Schwert länger zu halten. Aber es war auch nicht mehr notwendig. Sjorn hatte es geschafft und das Geschöpf vollständig gefroren.
Wieder ging ein Zucken durch die Zeit.
Innerlich betete Luca, dass es nicht wieder ein neuer Angriff war. Seine Atmung glich eher dem eines gehetzten Tieres.
Im Nichts, direkt über den Resten Geromes, materialisierte sich eine dunkelgraue Schwertklinge, ein Bidenhänder. Graue, lange Finger krampften sich um das Heft, und während die Klinge hernieder fuhr, materialisierte der Leib des Totenpriesters. Durch den Raum ging ein gellender Laut, kein Schrei in Sinne eines menschlichen Lautes. Vielmehr klang es, als wurde sich aus den Tiefen der Welt etwas lösen und zerreißen. Luca sank auf die Knie, eine Hand um das Schwert gekrampft und eine auf dem Marmorboden abgestützt.
Ihm war schwindelig und schlecht. Luft holen konnte er keine, weil seine Mundhöhle zu trocken war. Seine Knie zitterten schneller als sein Herz raste. Dennoch blieb er bei Bewusstsein.
Am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte er, dass die anderen Schutzkugeln aufbrachen und sich Männer und Frauen in den Saal ergossen. Allerdings wüsste er nichts mehr damit anzufangen und begriff auch erst wesentlich später, dass die Gefahr für den Augenblick gebannt war.
„Luca!!!“
Der Magier schloss die Lider. Bildete er sich nur ein, Ayco hier zu hören? Müde wendete er den Kopf und sah den Elf, begleitet vom Urvater aller Rattenmenschen.
Halb entsetzt, aber dennoch überglücklich seinen Geliebten wiederzusehen, lächelte er. Vermutlich war es eher eine Grimasse. Dennoch stützte Ayco auf ihn zu, umklammerte ihn fest und vergrub seinen Kopf in Lucas Halsbeuge.
Der Magier musste husten, weil ihm jede Luftzufuhr endgültig angeschürt wurde, sank aber glücklich an seinen Freund, als dieser seinen Griff etwas lockerte.
„Ich lasse dich nie mehr alleine, klar?!“, rief Ayco. „Du lebst mir viel zu gefährlich!“
Lucas verkrampfte Finger konnten sich endlich von der Klinge lösen. Sie fiel polternd hinter dem Elf zu Boden. Seinerseits umklammerte der Magier nun seinen Geliebten.
So sehr er etwas sagen wollte, sich verständlich machen, es ging nicht. Sein Hals war viel zu wund und zu rau dafür.
Allerdings kletterte nun auch Tambren an Lucas Haar auf dessen Schulter.
„Bist du denn völlig verblödet?!“, brüllte er seinen Herren an und trat ihm unsanft gegen das Ohr. „Du hättest dieses Mal sehr leicht sterben können! Das war doch, was Gregorius wollte, dich so zu verunsichern, dass du ohne Deckung einfach nur noch kämpfst. Das mit Ayco war doch sicher nur ein Spruch. Mit dem Anhänger von Lyeth kann er gar nichts gegen den Feuerkopf hier tun. Viel mehr droht dir Gefahr. Er hat einen Pakt mit dem Tod!“
Eine dunkle Woge von Grabeskälte strich an Luca vorüber, als der Fremde einige Schritte von den Überresten Geromes Abstand nahm. Dieses Mal zog Tam es vor sich so weit wie möglich zwischen Ayco und Luca zu verstecken. Der Priester machte ihm keine Angst im herkömmlichen Sinn. Allerdings führte er Tam und Luca ihre eigene Sterblichkeit vor Augen.
Die Finger des jungen Elfs krallten sich schmerzhaft in Lucas Rücken und rissen ein weiteres Stück Haut auf, dass die Tentakel nur leicht verwundet hatten. Ayco spürte also diese Aura ebenso.
Nachdenklich sah der Magier auf. Sein Blick hatte sich wieder geklärt und sein Verstand war dabei sich zu erholen, auch wenn er sich sehr sicher war, dass sein Körper noch lange nicht so weit war und er keinen Millimeter laufen konnte, schon weil ihn seine Beine einfach nicht tragen wollten.
Aki stand aufrecht, Sjorn neben sich, der zwar aus unzähligen Wunden blutete, aber sich immer noch auf den Beinen hielt. Sie starrte aus brennenden Augen zu dem Fremden in den grauen Roben.
Der Mann neigte sein Haupt tief vor ihr, sagte aber kein Wort. Für Mesalla hatte er nur geringschätzige Blicke. Er betrachtete unverhohlen neugierig Sisikazev und ihren Vater, der mit Ayco aus dem Labyrinth heraufgekommen war.
Aki folgte seinem Blick. Auch sie erstarrte. Ein größeres, humanoides Wesen, war offenbar auch ihr noch nicht begegnet. Die silberne, weit nach vorne geneigte Ratte stand reglos da, auf seinen Stock gestützt und betrachtete die Szenerie aus wachen, klaren Augen. Luca hatte ihn als Kind Himmelsauge genannt. Bis heute glaubte der Magier, dass es für Nicodemus keinen passenderen Namen geben konnte. Sein Blick war wie der weite, ferne, freie Himmel, unbegrenzt und uralt, allerdings wunderschön. Die großen Augen leuchteten hellblau, und in ihnen spiegelte sich das Wissen und die Geschichte der Welt wieder. Wenige kannten das Alter dieses Geschöpfes. Aber er hatte Jahrtausende überdauert.
Langsam schritt er durch das Portal in den Saal und neigte seinen Kopf vor Aki und Mesalla.
„Prinz, deine Tage des Friedens werden bald zu Ende gehen“, mahnte er. Seine Stimme dröhnte dumpf und schwer wie ein Gewitter in den Hallen. „Valvermont wird den nächsten Krieg mitbestreiten.“
„Niemals, Nicodemus!“, beharrte Mesalla. „Ich will nicht parteiisch sein.“
Die Ratte senkte den Kopf etwas und legte seine Hand auf die Schulter seiner wesentlich kleineren Tochter.
„Sieh dich vor, Mesalla. Du wirst schnell der Spielball der Götter. Und die meinen es nicht gut mit deinem stolzen Haus.“ Er deutete mit seinem Stock, der vormals ein junger Baum gewesen sein musste, auf das, was einst Gerome war.
„Die Götter sind auf die Welt herabgestiegen, Mesalla. Sie werden deine schöne Stadt überrennen auf dem Weg zu ihrer Geburtsstätte. Gregorius ist einer der gefährlichsten, mein alter Freund. Er ist der Verrat, der Gott, der als dritter geschaffen wurde. Er ist Gott und Avatar, verschmolzen zu Beginn des Äons. Aki, Göttin des Todes, selbst am Rande der Sterblichkeit. Sie ist schön und kalt. Ihr traue nicht.“
Sjorn wollte einen Schritt auf Nicodemus zu machen, aber Aki hielt ihn mit einem Kopfschütteln zurück.
„Nein!“, befahl sie hart.
Der Troll fuhr zusammen. Sein verstörter Blick klärte sich auch nicht, als er in Akis Mimik nichts als neutrale Kälte las.
„Ich muss an mein Reich denken, Nicodemus“, antwortete sie ruhig. „Einzig die Nordlande liegen mir am Herzen.“
Der Rattenkopf wendete sich schwerfällig in ihre Richtung.
„Genau das wird dein Untergang sein, Königin der Nordreiche.“
Sie hob erstaunt eine Braue.
„Ihr müsst euch lösen“, ergriff Tambren das Wort. Luca wusste, worauf Nicodemus anspielte, Tambren ebenso. Zur Zeit war der Drachling sein Sprachrohr, so lange ihm jede Möglichkeit fehlte mehr als ein heiseres Krächzen herauszubringen.
„Lösen?“, fragte Sjorn verständnislos. „Was meinst du damit, Drachling... oder rede ich eher mit deinem Herren?“
„Mit uns beiden“, entgegnete Tam. „Luca ist zu erschöpft um zu reden.“
Scheinbar begriff auch Ayco sehr schnell den Zusammenhang zwischen den Worten von Nicodemus.
„Ist doch klar“, sagte er und setzte sich neben Luca auf den Boden. „Wenn ihr eure Ämter als Könige, Prinzen, Edelleute, Berater - was auch immer – weiterführt, werdet ihr das Geschehen dieser Welt zugunsten eurer Reiche und eures Ruhmes vergessen. Aber nur die Welt als Gesamtheit ist lebensfähig. Wenn ihr euch gegenseitig die Köpfe einschlagt, macht ihr es solch durchtriebenen Monstern wie Gregorius sehr einfach, erst eure Reiche zu okkupieren und schließlich alle wichtigen Herrscher gegeneinander auszuspielen.“
Er neigte den Kopf und nagte nervös an seiner Unterlippe. „Allerdings weiß ich nicht, was er davon hat. Machtgier ist ja eine Sache, aber diese Welt lässt sich nicht durch einen Herrscher niederdrücken. Es wird immer Ausständige und Widerständler geben, gleich wo ein Tyrann alles überrennt.“
„Ist das der richtige Zeitpunkt, diese Diskussion zu führen?“, fragte Aki nun scharf und beantwortete sie auch sofort. „Dazu müsste man alle herrschenden Parteien zusammenbringen, an einen Tisch zwingen. Hier sind gerade mal ein recht unbedeutender Prinz und ich.“
Mesalla ignorierte die Spitze gegen sich.
„Vielleicht hast du recht, Königin“, knurrte Nicodemus verärgert. „Vielleicht ist es aber auch nur Ausdruck deiner behäbigen Faulheit du deiner Angst um dein eisiges Stück Erde, dass auch du dir nur widerrechtlich erstritten hast!“
Sie erbleichte, aber Nicodemus ließ ihr gar nicht die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen.
„Valvermont, seine Heere, seine Magier und Priester, werden das verteidigen, was wirklich wichtig ist.“
Er drehte sich um und verließ den Raum. Schweigend sah Luca ihm nach und lauschte dem Geräusch, was der schwere, mehrere Ellen messende Rattenschwanz auf dem Boden verursachte.
Er wusste, dass Nicodemus etwas sehr wichtiges angesprochen hatte. Aber Aki, gleich wie sehr er sie respektierte, war nicht bereit von ihrem Vorhaben abzulassen. Vielleicht hatte sie Erfolg, wenn sie um Frieden bei dem Kaiser bat. Vielleicht entbrannte ein neuer Krieg. Egal wie, er würde schrecklicher werden, als jeder andere zuvor.
Alle Damenhaftigkeit und Güte schien von Aki abzubröckeln. Auch wenn sie sich nicht nennenswert anders verhielt als zuvor, gewann Luca den Eindruck, als würde sich hinter jedem Blick und jedem Wort eine Anklage oder Herausforderung an Mesalla verbergen.
Sie zeigte ihre Zweifel an dem Herrscher der Stadt. Er hatte offenbar in ihren Augen Schwäche gezeigt, als Nicodemus ging. Vermutlich hätte sie es lieber gesehen, wenn die alte Ratte in Ketten abgeführt worden wäre. Aber Luca wusste zu gut, dass kein Stahl geschmiedet worden war, der Nicodemus halten konnte. Die Ratten waren die stärksten und resistentesten Geschöpfe der Welt, einstmals geschaffen um zu kämpfen und zu überleben. Nichts konnte sie wirklich töten; fast nichts.
Nicodemus aber war einer der drei Herrscher Valvermonts. Seine Stadt war die Kristallstadt unter der Stadt. So wie Mesalla in der Oberstadt und Justin im Labyrinth regierten, gehörte ihm die magische Stadt der Klänge und des Lichtes in den Kavernen unter Valvermont. Seine Meinung respektierte Mesalla, ihn verehrte der Drachenprinz, ihm war er sogar bereit zu folgen. Sehr nachdenklich blieb der schwarze Prinz zurück, nachdem Aki um ein Bad und frische Kleidung gebeten hatte. Dieses Mal legte sie auch auf Lucas Schutz keinen Wert, sondern bat Sjorn.
Mesalla ließ sich auf der Brüstung nieder. Er musste eine ganze Zeit suchen, bis er einen Bereich gefunden hatte, der ihn noch trug. Luca blieb auf dem Boden sitzen. Seine Atmung hatte sich wieder beruhigt und nach einem Schluck Wasser, den er von Ayco bekam, legte sich wenigstens in Ansätzen das Gefühl, ein Waschbrett verschluckt zu haben.
Der Priester stand immer noch still im Saal und Kaya lag erschöpft und zusammengerollt in Sisikazevs Schoß.
Orpheu machte es sich neben seinen beiden Freunden bequem.
Unerklärlicherweise blieb Lea im Raum und hielt sich dicht hinter Luca. Der Priester sollte ihr Angst machen, weil seine Aufgabe darin bestand, Geister und andere Untote zu befreien, aber sie löste sich nicht. Fast schien es dem Magier, dass sie ihn als neue Klammer für diese Welt betrachtete, zumindest um ihren Bruder so weit zu reizen, dass er ihr mit irgendeiner Reaktion gegenüber trat. Aber für Lucas Empfinden verhielt sich Ayco allgemein sehr abweisend Lea gegenüber, sehr viel kühler als noch vor einigen Tagen. Er schien sie gar nicht mehr zu sehen.
Luca beschloss, Ayco später eine entsprechende Frage zu stellen, vorausgesetzt Lea hielt sich nicht in seiner Nähe auf. Damit schob er den Gedanken allerdings auch, bis auf weiteres, von sich.
„Wie ist nun unser weiteres Vorgehen, Herr?“, fragte der Hauptmann. „Meine Männer müssen wissen, was passieren soll, und wie wir uns ausrüsten. Dazu kommt der Sold von unserem letzten Zug...“ er sah zu dem Priester. „... und was hat es mit ihm auf sich?“
Mesalla verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah an Orpheu vorüber. Sein Blick traf Aycolén.
„Meinen Spion hast du mir wohlbehalten wieder gebracht, das gibt zumindest einen Extrasack Gold für dich, Orpheu.“
Dem Hauptmann klappte der Unterkiefer herab. Fassungslos starrte er Mesalla an. „Bitte was?!“, keuchte er. „War das die Heimholung eures Schoßhündchens?!“
Ayco fuhr zornig herum und wollte gerade Orpheu antworten, als Luca ihn sanft zu sich zurück zog und vorsichtig seine Finger über die Lippen des Jungen legte. Aycos Blicke bohrten sich nun nicht weniger wütend in die Augen Lucas.
Aber zumindest schwieg er.
„Prinz“, begann Luca leise, diese Mal um seine Stimme zu schonen. „Aycolén Amaro ist Magier der grauen Pentakel und mein Schüler. Ich bitte euch, gebt ihm nicht noch einmal solche Aufgaben, besonders solche, die seinen Körper und Geist zerstören können.“ Er ergriff Aycos Hand und drückte sie zärtlich. „Wenn, dann müsst ihr zukünftig auf mich in eurem Herr verzichten, weil es meine Aufgabe ist, ihn keinen Moment aus den Augen zu lassen und ihn beständig zu unterrichten. Er ist schließlich dazu angehalten in den kommenden Wochen vor Großmeister Ihad seine Prüfungen abzulegen...“
„Halt den Mund, Luca!“, knurrte Mesalla. „Er kann bei dir bleiben!“
Der Prinz ballte die Faust. „Du redest mir zu viel, Magier.“
Über Lucas Lippen huschte ein Lächeln. „Ihr wart mir immer ein geschickter und verhandlungsfreudiger Lehrer, Prinz“, konterte er.
Mesalla sah zu ihm, eine Braue gehoben. „Wenn ich nicht annehmen müsste, dass es ein Kompliment ist, würde ich dich wegen Beleidigung hinauswerfen“, schmunzelte er. Seine Augen funkelten.
Luca lächelte. So mochte er Mesalla sogar gerne.
„Du bist ein ziemlicher Fuchs, Luca. Irgendwann gebe ich dir wirklich Amt und Namen zurück und werfe dich der wütenden Meute der Adeligen wieder zum Fraß vor. Schauen wir, wie lange du dich im offenen Wortkampf halten kannst, mein Freund.“
„Das würdet ihr nicht“, winkte Luca ab. „Wer sollte denn sonst euren Namen vor den Mauern der Stadt rühmend als Magus vertreten?“
Mesalla deutete auf Ayco. „Wenn er etwas taugt, vielleicht er eines Tages? Dann wird der Ketzer wieder adelig.“
Ayco hob eine Braue. „Ich bin im Raum!“, mahnte er.
Orpheu hob seine Hand. „Was sollen wir nun machen, Herr?“
Seine Stimme hatte merklich an Schärfe zugenommen.
„Ihr geleitet Aki Valstroem nach Sarina und sorgt dafür, dass ihr nichts passiert, aber haltet auch Augen und Ohren offen. Ihr wisst ja, jede Information über ihre Pläne bedeutet dass wir uns in diesem Krieg still verhalten können und unserem Reich nichts passiert.“
Weder Orpheu noch Luca gingen direkt darauf ein. Beide Männer waren es gewohnt, Mesalla Rapport zu erstatten.
Mit viel Bedacht verschränkte der Prinz seine großen, kräftigen Hände übereinander und ließ sie langsam in seinen Schoß sinken.
„Was eure Ausrüstung betrifft, so gilt das Übliche“, sagte er ruhig. „Entweder Orpheu oder Luca liefern mir eine detaillierte Ausrüstungsliste und ich statte euch aus mit dem, was meine Schmiede zu leisten vermögen.“
Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Vielleicht sind wir das kleinste Reich in ganz Äos, aber wir haben die weitaus besten Krieger, Magier, Priester, Schmiede und Bogner.“
Diese Worte galten eher dem schlanken, dunklen Priester, der die Ansprache ignorierte. Der Ruhm Valvermonts schien ihm durchaus zu Ohren gekommen zu sein. Das stehende Heer war nicht groß, vielleicht 20.000 Mann, aber es setzte sich aus sehr guten Kriegern zusammen, Zauberwirkern aller Arten, Spionen, Attentätern und Meisterdieben. Mesalla hatte sich jeden einzelnen Untertan gemacht. Einige dienten ihm, weil sie es wollten, wegen Geld und Land, andere, weil er etwas gegen sie in der Hand hatte. Er ließ jedem talentierten Verbrecher die Wahl zwischen Tot oder Dienst in seinen Heeren. Keiner entscheid sich zu sterben, wenn er ruhmreich und absolut nicht arm leben konnte.
Mesalla schürte mit Absicht das Gefühl ein sanfter, vielleicht etwas zu nachsichtiger Mann zu sein. Luca kannte ihn anders.
Als der Streit zwischen Ihad und Mesalla um ihn entbrannte, saß der Magier einige Tage in den Gefängnissen des Prinzen und wusste kaum ob es Tag oder Nacht war. Mesalla hatte ihn, obgleich der junge Mann damals nichts getan hatte, in Eisen legen lassen und ihn in vollkommener Finsternis eingesperrt. Lucas Zeitgefühl wurde nur durch das unregelmäßige Essen, von dem er ohnehin nichts hatte, gesteuert. Er glaubte jeden Tag etwas zu bekommen, aber die Zeitabstände erschienen ihm zu unregelmäßig. Er hielt seinen Geist ruhig, indem er neue Formel in seinem Kopf baute und sie auf ihre innere Logik zu testen versuchte. Mesalla hatte ihm natürlich nicht den Gefallen getan, zumindest etwas Magie in ihm zu lassen. Einer seiner Magier hatte Luca zuvor vollkommen ausgebrannt. Der junge Mann stellte zudem fest, dass die Wände dort unten scheinbar ein Erz in sich trugen, das Magie hemmte. Dennoch war das der Ort, an dem er seine schwarzen Schmetterlinge das erste Mal erschuf. Als Cyprian ihn endlich mit Orpheu zusammen abholen konnte, kam ihnen ein Schwarm schwarzer Schmetterlinge aus der Zelle entgegen. Orpheu hatte Luca einige Tage später, nachdem es dem Magier wieder halbwegs gut ging, gefragt, wie Schmetterlinge, Nachtfalter und ähnliche Geschöpfe, hinab in die tiefen Gefängnishöhlen kommen konnten. Daraufhin hatte Luca ihm lächelnd erklärt, es seien nur seine gestaltgewordene Wut und Verzweiflung gewesen. Ob Orpheu ihm glaubte, bezweifelte Luca bis heute. Da aber hatte er Mesallas teils sehr ungerechte Macht das zweite Mal zu spüren bekommen. Der Prinz war ein Marionettenspieler. Alles geriet in Bewegung, wenn er kontrolliert und gezielt einen Finger hob. Sogar Ihad musste ihm Folge leisten, obwohl sein Orden vollkommen autark war. Lucas weitere Erlebnisse mit Mesalla waren weitaus weniger irritierend, aber schmerzhaft und oft sehr demütigend und gewalttätig. Luca bewunderte in Mesalla die Fähigkeit diese Stadt in vollkommenem Gleichgewicht zu halten, verabscheute aber die Person als solche von ganzem Herzen. Dass er und Orpheu dem Prinzen gegenüber viele Narrenfreiheiten besaßen und er nur zu bereitwillig alles tat, was Hauptmann und Magier erbaten, lag daran, dass sie, genau wie Sisikazev und Kaya zur Elite seiner Streitkräfte gehörten. Mesalla honorierte auf seine Art die Leistungen mit Großmut und Freundlichkeit. Luca wünschte sich nur sehr oft, dass diese Freundlichkeit ernst gemeint wäre. Aber er traute Mesalla nicht. Schon deshalb, weil der Prinz zu gerne mit dem Wissen um seine Person, seine Art und seine Familie spielte.
„Also, stellt mir eine Liste, was ihr braucht“, unterbrach Mesalla seinen Gedankengang.
„Das macht Lysander!“, schob der Hauptmann die Verantwortung an Luca weiter.
Der Magier hob eine Braue und wünschte Orpheu gerade die Pest an den Hals, schon weil er wusste, wie lange er an dieser Liste sitzen würde. Er musste nach den Fähigkeiten jedes einzelnen Kriegers bestellen. Zeitweilig spielte Orpheu seine Karte des einfachen Kämpfers, der die Verwaltungsarbeiten nicht gerne machte zu sehr gegen Luca aus. Dennoch würde Luca vermutlich später bei Justin sitzen und sich die ganze Nacht hindurch den Kopf darüber zerbrechen, während der schwarze Elf ruhig und gemütlich im Bett einer schönen Hure läge. Ungerechte Welt, dachte der Magier und sah zu Ayco. Der Elf sah ihn an und tat das, was Luca nie machte, sich aber immer wünschte. Ayco trat Orpheu massiv gegen das Schienbein. „Fiesling!“, kommentierte der junge Mann seine Handlung. Orpheu sah ihn befremdet an und zog das Bein näher an den Körper, um den nächsten Tritt abzuwehren, so er denn kam. Dennoch war er weise genug, den Mund zu halten und Ayco keine weitere Angriffsfläche zu bieten.
„Morgen erhaltet ihr die Aufstellung, Herr“, sagte Luca leise. „Wir brauchen aber auch zwei bewaffnete Küstensegler, die uns bis Sarina bringen, und es müssen Männer entsendet werden, die den flüchtigen Ritter und seinen Magier sicher einfangen und hier her geleiten. Renard und seine Männer sind zwar unschuldig, aber sie sind wichtig, um Anklage bei dem Kaiser zu stellen. Damit könnte es gelingen, den Krieg beizulegen.“
Mesalla wiegte nachdenklich und ernst den Kopf. „Luca, da stimme ich dir zwar zu, aber eines darfst du nicht vergessen, der Auslöser dafür ist tot. Gregorius ist hier gestorben.“
Luca schüttelte aufgebracht den Kopf. „Nein, ist er nicht!“
Mesallas Blick gefror. „Zügele dich, Magier!“, tadelte er Luca.
„Herr, habt ihr nicht gehört, was er sagte? Er hat einen Pakt mit Aki Valstroem. Er hat sie mit irgendetwas in der Hand! Im Moment kann man zwar seinen Körper zerstören, aber seinen Geist nicht. Aki ist in der Lage ihn aus einem einzelnen Haar seines Körpers wieder auferstehen zu lassen. Sie ist die Herrin des Todes!“
Der Prinz nickte nachdenklich. „Finde heraus, was er von ihr hat. Sie scheint ja an dir Gefallen zu finden, Luca. Bewege sie dazu, dass sie es dir sagt. Mach was immer notwendig dazu ist. Meinetwegen schlafe dazu mit ihr. Wenn wir es wissen, haben wir etwas in der Hand und eine klare Vorstellung davon was wir suchen können. Du wirst es schon finden. Wenn du einen Fokus hast, wirst Du ohnehin nicht mehr aufhören, bis du diese Aufgabe erledigt hast. Dafür habe ich dich ja.“
Luca klangen die Worte unangenehm nach. Er wurde gerade von Mesalla zu etwas degradiert, was er nicht war. Aber Einspruch zu erheben wäre dumm gewesen. Er senkte nur den Blick. „Ja, Prinz“, antwortete er müde.
„Ihr werdet mir täglichen Bericht ablegen, was an Bord passiert und was in Sarina geschieht. Mit meinen Freibriefen, werden Orpheu und du auch dem Kaiser begegnen können und zumindest Luca, du wirst keine Sekunde von Akis Seite weichen.“
Der Magier sah zu Ayco. „Ich bin sein Lehrmeister“, erinnerte er nur. „Bis wir wieder hier sind, muss ich Ayco so weit gebracht haben, dass er den Initiationsritus durchlaufen kann.“
Mesalla lächelte gehässig. „Das ist dein persönlicher Spaß, Luca. Aycolén und du, ihr gehört in Orpheus Heer, und damit seid ihr mein Eigentum.“
Der Magier biss die Zähne zusammen, sah aber aus dem Augenwinkel, dass Ayco kurz davor stand eine Dummheit zu begehen. Der junge Mann war zu impulsiv und leidenschaftlich, völlig ungelenkt und undiszipliniert. Er würde, wenn Orpheu und Luca nicht bald auf ihn einwirkten, eine diplomatische Katastrophe werden. Sarina war die Bühne der Diplomaten und das Intrigenspiel dort würde nicht aufhören, sondern nur wesentlich feiner werden. Unsanft ergriff Orpheu Aycos Hosenbund und hielt den jungen Mann auf dem Boden. „Reiß dich zusammen, Feuerkopf!“, mahnte er den Elfs mit einigem Nachdruck.
Mesalla lächelte immer noch. Seine Mimik war ein Verwirrspiel aus Boshaftigkeit und Güte.
Ayco funkelte ihn hasserfüllt an.
Ein weiteres Mal nahm sich Luca vor, heute Nacht noch einiges mit Ayco zu besprechen. Der Hass zwischen Dieb und Prinz war greifbar.
Allerdings sah er auch wieder zu dem Priester. Da er die ganze Zeit anwesend war und scheinbar nur zuhörte, musste er wohl früher oder später zu dem Heer hinzugezogen werden.
Mesalla folgte Lucas Blick.
Mit einer beiläufigen Handbewegung deutete er auf den Priester. „Dein Heer bekommt nun endlich einen Priester, Orpheu. Freue dich, alter Freund. Er hat den gleichen Rang wie Lysander, also wie du, Luca.“
Orpheu entglitt für einen winzigen Moment die Mimik. „Bitte?“, murmelte er trocken.
„Luca soll seine Kräfte zum Kämpfen und Beschützen, nicht seine Lebenskraft zum Heilen, einsetzen. Das stört mich schon seit neun Jahren!“
Luca betrachtete nun den stillen, finsteren Priester. Alle Versuche ihn einzuschätzen scheiterten schon im Ansatz. Gegen ihn war selbst der schweigsamste Krieger in Orpheus Herr ein Waschweib. Dieser Mann vollführte nicht eine unnötige Bewegung, sprach nicht und hielt seine Macht im Verborgenen.
‚Tam, was ist mit ihm?’, fragte Luca stumm.
‚Unidentifizierbar’, gab Tam zurück. Er klang fast beleidigt. ‚Der Mann hat sich so weit unter Kontrolle, dass ich nicht mal seinen Namen herausfinden kann!’
Langsam wendete sich der Priester zu Orpheu, Ayco, Luca und Tambren um.
Der Hauptmann erhob sich langsam, so auch Ayco und Luca.
„Orpheu ist mein Name“, stellte sich der Hauptmann knapp vor. „Nennt mich bei Rang oder Namen.“
Der Priester neigte kurz sein Haupt, strich dann aber seine Kapuze vom Kopf. Genau wie Luca trug er sein Haar streng zurückgekämmt und zu einem engen Zopf geflochten, der ihm auch bis zu den Oberschenken hinabfiel.
In den Zügen erkannte der Magier einen sehr harten, disziplinierten und strengen Mann, der sicher wenige unnötige Worte verlor.
Ayco sah an dem schmalen Priester hinauf und reckte sein Kinn leicht vor. „Aycolén Amaro ist mein Name. Ich bin Magier und Goldschmied.“
Wieder nickte der Priester nur.
Konnte er überhaupt reden? Luca verneigte sich leicht, immer noch recht wacklig auf den Beinen. „Man nennt mich Lysander, Meister des Ordens der grauen Pentakel. Allerdings nimmt es scheinbar auch mein Herrscher nicht sonderlich ernst mit der Wahrung meines wirklichen Namens.“
„Ich kenne dich, Luca-Seraphin Veraldis.“
Luca erstarrte. Die Stimme des Priesters klang tief, ruhig, aber auch hohl, als würde sie in einer Grabkammer wiederhallen.
„Man nennt mich Lorn.“
Wie es Orpheu und Luca gelungen war, sich aus der Schlinge, die Mesalla ihnen mit Aki gelegt hatte, wieder herauszureden, um die Nacht nicht im Palast verbringen zu müssen, wussten beide nicht mehr genau zu sagen. Vermutlich war es Sjorns Aussage, dass er gut genug auf Aki achten könne und sie ohnehin niemand sehen wolle.
Fast schon erleichtert, verließen Ayco, Orpheu und Luca den Palast, dicht gefolgt von Lorn, der scheinbar seine Unterkunft in einem der Gasthäuser am Großmarkt hatte, denn dort verloren die drei Freunde ihn aus den Augen.
Die Straßen waren noch immer hell erleuchtet und es roch nach Braten, Brot, Wein, Bier, Parfum und Blumen. Über allem lag der salzige Duft des Meeres. Leuchten und Lampions luden in Lokale, Bordelle und Wirtshäuser ein. Hinter farbigen Fenstern spielte sich das häuslich familiäre Leben ab. Aus den Kaminen stieg, trotz der Wärme, Rauch auf. Musik aus dem nahen Theater mischte sich in Bardengesänge auf den Plätzen und in den Tavernen. Der Platz des Großmarktes war nun Bühne der Gaukler und fahrenden Spielleute. Männer und Frauen lachten, sangen, tanzten, aßen und tranken. In Hauseingängen und Gassen, dem Park und in Büschen, mischte sich der Duft von Schweiß und nackter Haut in die Luft. Leise Rufe und niedergezwungenes Stöhnen waren die Melodie, nach der sich Liebende bewegten.
Ayco klammerte sich an Lucas Arm. Der Magier sah seinem Geliebten sanft in die Augen. Trunken und dunkel vor Lust, erwiderte der Elf den Blick.
Seufzend rollte sich Tambren zusammen und versuchte sich so weit wie möglich aus Lucas Geist fern zu halten. Allerdings gelang es dem Drachling scheinbar nicht. Die Gefühle und Gedanken der beiden Männer machten ihn neugierig genug, als dass Luca ihn beständig in seinem Bewusstsein spürte.
„Was sollte das nun eigentlich?“, fragte Orpheu, der scheinbar sehr lange über Mesallas Spitzfindigkeiten nachgedacht hatte. Er sah gar nicht zu seinen beiden Freunden, sondern knirschte mit den Zähnen. „Ich bekomme noch einen von eurer Art vor die Nase gesetzt, dieses Mal einen Priester. Bin ich neuerdings als Heerführer so schlecht?!“
Offenbar legte Orpheu es als persönlichen Angriff gegen seine Fähigkeiten aus.
Luca seufzte leise. „Vielleicht geht er davon aus, dass wir beiden uns zu viele Gefühlsduseleien erlauben, Orpheu. Zumindest ist er der festen Auffassung, dass ich meine Arbeit als Magier vernachlässige.“
Er schwieg kurz. „Tue ich das?“, fragte er Ayco und Orpheu ernst. Beide schüttelten die Köpfe.
„Nachdem, was ihr beide in der Höhle gemacht habt, bin ich der Ansicht, dass es nicht viel gibt, was sich euch beiden Magiern in den Weg stellen kann“, erklärte Orpheu.
„Heilen kannst du auch, Luca, von daher sehe ich auch keinen Grund für den Priester“, setzte Ayco hinzu.
„Na ja, das ist Ansichtssache“, wehrte Luca ab. „Ich bin kein Heiler. Im Rahmen meiner Nekromantie kann ich Lebensenergie aufwenden, um sie anderen zu geben. Das ist die Umkehrung eines Zaubers, mit dem man normalerweise anderen wiederrechtlich Kraft raubt.“
„Lysander halt“, knurrte Orpheu. „Lieb wie immer.“
Ayco und Luca sahen ihn fragend an.
„Ich kann mir“, führte Orpheu seinen Gedanken weiter, „einfach nicht vorstellen, dass der Kerl je etwas Böses tut. Der ist ja nicht mal in der Lage jemand aus tiefstem Herzen zu hassen!“
Luca räusperte sich. „Äh, ich bin anwesend.“
Orpheu lächelte. „Ich weiß. Und außerdem seht ihr immer noch aus, als hättet ihr euch mit einem Igel geprügelt und hättet verloren.“
Luca sah an sich herab. Sein Hemd war an etlichen Stellen zerfetzt. Bei dem bunten Licht der Tavernen, konnte man nicht klar sagen, dass die Flecken Blut waren. Aber der Magier war sich sehr sicher, dass die nächste Stadtwache ihn abführen würde, wenn er nicht etwas aus dem Bereich der öffentlichen Straßen fern blieb.
„Justin wird wohl viel Spaß mit mir haben“, witzelte Luca böse.
Ayco sah verletzt zu ihm auf.
„Mit dem Heilen“, lenkte Luca ein.
Plötzlich trat Lea aus den Schatten vor ihnen. Der Magier hatte sie aus den Augen verloren, als sie den Palast verlassen hatten. Vermutlich schien es ihr nicht zu gefallen, dass Lorn nun Teil des Heeres war. Warum der Priester sie ignorierte, konnte sich Luca auch nicht erklären. Lea war all das, was er bekämpfen sollte.
Ayco verhielt mitten im Schritt, straffte sich und folgte Orpheu, der das Kind nicht sehen konnte. Da aber Luca sich nicht rührte, blieb der Hauptmann stehen. „Was habt ihr nun entdeckt? Einen verletzten Mistkäfer, um den ihr euch kümmern könnt, Lysander?“, knurrte Orpheu.
Ayco hob eine Braue und sah böse zu seiner Schwester. „So was in der Art, würde ich sagen, Orpheu“, bestätigte er.
Verärgert fuhr Lea zu ihm herum.
„Die Kleine zu reizen ist dumm!“, warnte Tam, der ein Lid hob und träge zu dem Geistermädchen schielte.
Ihre Stimmung sorgte dafür, dass sie auch für Orpheu sichtbar wurde.
Mit einem Satz war Orpheu direkt an Aycos Seite und richtete sein Schwert auf ihre Brust.
„Das ist Lea“, erklärte Ayco unwillig. „Meine verlogene Schwester!“
Das Schwert sank auf das Pflaster herab. „Willst du mir damit sagen, dass die ganze Zeit hindurch ein Geist bei uns war?!“, rief Orpheu aufgebracht. Eilig rammte er seine Klinge in die Scheide zurück und starrte nun zu Ayco. Wut entflammte seine Augen.
„Ruhe da unten!“, schrie eine schrille Frauenstimme.
Ein halb bekleidetes Paar stürzte aus einem Busch hastig davon. Das Mädchen schlug ein Abwehrsymbol gegen Geister.
Lea aber spie nur aus.
Der Drachling kletterte vorsichtig an Lucas Arm hinab und ging aufrecht Orpheu und Ayco entgegen. „Vielleicht sollten wir uns für eine Aussprache ein etwas friedlicheres Fleckchen aussuchen!“, mahnte er herrisch. Sein langer lauer Schwanz peitschte ärgerlich über den Boden. „Bei Justin zum Beispiel. Da könnt ihr euch nach Leibeskräften anbrüllen und beschuldigen, ohne dass sich jemand aufregt und mit Nachttöpfen nach uns wirft. Davon abgesehen, kann der Priester Luca wieder ganz machen und ich bekomme endlich was zu essen und sehe meine Schwester wieder!“
Orpheus Blick fixierte den Drachling, dann glitt er über Lea, Ayco und Luca. „Jetzt nehme ich schon Befehle von Minidrachen an. Mein Ruf geht endgültig dahin!“, beschwerte er sich kopfschüttelnd, wendete sich dann aber um und meinte: „An sich hat der Zwerg ja recht. Also lasst uns gehen!“
Sehr viel stiller als zuvor und auf dunklen Umwegen betraten die Freunde das Labyrinth durch den unbewohnten Stadtring, in dem die Geister und Ghoule lebten. Luca stellten sich die Nackenhaare auf, als er die Augen der Toten auf sich fühlte. In den Schatten, den Fenstern, unter den Türen, den dunklen Torfahrten, wusste er sie.
Ihre Schritte hallten lange nach und wurden zu unheimlichen Echos des Lebens außerhalb des Rings. Dumpf drangen noch die Laute des Großmarktes und der Bühne zu ihnen, eher wie Geräusche einer anderen Welt. Hier war der Ort der Toten, die Barriere, die das Labyrinth von den Lebenden trennte. Der Magier entsendete zwei kleine Schmetterlinge, die zu gleißenden Lichtgestalten ihrer selbst wurden, während sie ihre Schwingen schüttelten und die Spitze übernahmen.
Sand und Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Luca allerdings war sich nicht sicher, ob das beiläufige Knacken, was manches Mal erscholl und sich mehrfach in den leeren Höhlen der Häuser und Höfe brach, auch wirklich trockene Äste waren und nicht feine Knochen. Ayco hielt sich nur noch dichter an der Seite des Magiers. Für ihn war die Begleitung Leas normal, aber das hier war ein Ort der Verfluchten. Diese Geister meinten es niemals mit Sterblichen gut.
Fast schon gewann Luca den Eindruck, als würde Ayco zum ersten Mal hier hindurch gehen. Er war sich sehr sicher, dass dem nicht so war.
Nebelfelder krochen durch eine Gasse und sanken langsam über Schutthaufen und Ruinen zu Boden. Langsam wirbelten sie wieder auf und zogen weiter. Selbst Luca empfand im Moment tiefste Angst vor diesen Erscheinungen. Etwas schien die Geister in Aufruhr gebracht zu haben. Sie wichen nicht einmal wirklich vor dem Licht der Magie zurück. Das aber war bislang sein einziger Schutz dagegen gewesen.
Er sah zu Orpheu, der nervös mit dem Heft seines Schwertes spielte.
„Sie sind zornig“, kommentierte Tambren, der wieder auf Lucas Schulter Posten bezogen hatte und angestrengt in alle Richtungen spähte. „Etwas ist in der Stadt“, erklärte er. „Jemand, der sie verwirrt und erregt.“
„Lorn und Aki?“, schlug Luca vor. Er war nicht annähernd so entspannt, wie er klang. Seine Nerven begannen ihm Streiche zu spielen. In den Nebeln sah er Gesichter, Gestalten und Bewegung. Über Tam allerdings wusste er, dass es nur die Präsenz von einigen Seelen sein konnte, die stumm protestierten, also nicht wirklich böse waren.
„Das ist ein schrecklicher Ort“, flüsterte Ayco heiser.
Etwas in Luca erinnerte sich an ähnliche Worte aus demselben Mund. Damals aber war er noch ein Kind gewesen.
Er atmete tief durch und schloss die Augen, um sich zu sammeln.
„Schritte!“, warnte Ayco plötzlich. Sein feines Gehör hatte etwas erfasst. Luca spähte angestrengt in die Richtung, in die Ayco wies. Eilig durchdachte er seine ihm noch offenen Zauber. Untote zu entdecken würde ihm sicher kaum weiterhelfen, so lange er mitten unter ihnen stand. Einen Zauber, der ihm helfen konnte, Untote zu kontrollieren, hatte er noch offen. Der Schmetterling stieg auf und verschwand in den Nebeln. Einen Moment später löste sich Justin aus den Nebeln, den Schmetterling in seinen roten Locken.
„Lass den Unfug, Luca!“, tadelte er ärgerlich.
Der Magier lächelte erleichtert, spürte aber Ayco, der sich an seinem Arm versteifte und den Kopf zwischen die Schultern zog. Im ersten Moment bildeten sich vor seinem geistigen Auge Bilder, dass Justin ihm womöglich Gewalt angetan haben könnte. Dafür allerdings war der junge Mann zu entspannt und zu wenig ängstlich.
Justin stützte die Fäuste in die Hüften und blies eine Strähne aus der Stirn. Sein langer, blauer Mantel bauschte sich, als sanfter Wind aufkam und die Nebel weiter weg trieb.
Er sah verärgert aus.
„Wenn du mir noch einmal davon läufst, mache ich mit dir das gleiche, was ich schon getan habe, als du noch ein kleiner Bub warst!“, zischte Justin ärgerlich.
Aycos Blick umwölkte sich. Luca musste lächeln, als er sah, dass sein schöner, diebischer Geliebter trotzig sein konnte wie ein kleiner Junge.
Orpheu räusperte sich, sah sich um und machte eine wedelnde Handbewegung. „Lasst uns gehen, los doch, schnell!“
Entspannt und mit halb geschlossenen Lidern saß Orpheu in dem großen Lehnsessel in Justins Schlafraum. Seine Finger spielten versonnen mit dem Weinkelch, den er sich bereits zweimal neu gefüllt hatte. Das letzte bisschen dunkler Flüssigkeit bedeckte den Boden und schimmerte wie Blut in dem Licht der Kerzen.
Der elfische Priester hob die Karaffe an, schätzte, wie lange Orpheu noch brauchen würde, um sie zu lehren und zog an der Klingelschnur für seine Dienerin S’ielle.
Ayco saß auf der Bettkante neben Luca und hielt ihn zärtlich in seinen Armen, während Tambren auf dem seidenen Kopfkissen lag und den Geräuschen seines leeren Magens lauschte. Der Drachling beschwerte sich im Abstand weniger Augenblicke, dass er gleich eines grauenhaften Hungertodes sterben würde, wenn er nicht umgehend etwas bekäme, was die Leere zwischen seinen Rippen füllen könne. Lea hingegen stand am Fenster und starrte in den verwilderten Garten. Ihre Gedanken schienen fern allem hier zu sein.
Luca betrachtete sie von seinem bequemen Platz in Aycos Armen aus. Nachdem Justin ihn unsanft aus seinen Kleidern geschält, diese zum Verbrennen deklariert und ihn geheilt hatte, trug der Magier nur einen von den langen Mänteln des Elfenpriesters.
Der rothaarige Herr des Labyrinthes hatte sich nicht weiter über Ayco aufgeregt und auch Luca mit den üblichen Phrasen verschont. Viel eher wollte er wissen, was ihnen alles wiederfahren war. In der Zeit war seine Bedienstete, S’ielle, eine andere schwarzhäutige Elfe, mehrfach herein gekommen, hatte Wasser und Wein gebracht, Lucas Kleider mitgenommen und versprochen, dass es in kürzester Zeit etwas zu Essen gäbe. Allerdings konnte sie sich kein einziges Mal einen schlagfertigen oder ironischen Satz verkneifen, der entweder Tambren oder Luca betraf.
Orpheu hingegen starrte ihr nach und schien versonnen zu sinnieren, sobald sie den Raum verließ. Scheinbar gefiel ihm diese schwarze Schönheit mit der scharfen Zunge nicht nur außergewöhnlich gut, sondern eroberte sein Herz binnen Sekunden.
Luca erinnerte sich, das Orpheu nicht das erste Mal hier war, aber scheinbar hatten sich diese beiden auch immer verpasst.
„Liebe auf den ersten Blick“, kommentierte er leise zu Ayco.
Der Elf grinste breit. „Unser Hauptmann ist im Reich der Liebe eingetaucht. Das wird Nea nicht gefallen, oder?“
Luca hob die Schultern. „Das müssen die beiden unter sich ausmachen.“
„Scheinbar trinkt er sich gerade Mut an“, knurrte Justin und legte sich auf dem Bett nieder, um hinter dem Kopf die Arme zu verschränken.
Luca sah sich zu ihm um und betrachtete das schöne Gesicht, die weichen Lippen, die ihn so oft geküsst hatten. Justin spürte ganz offensichtlich Lucas bewundernde Blicke, denn er streckte sich elegant, präsentierte dem Magier seinen schönen Leib, die schlanken, langen Glieder, die Muskeln, die sich hart unter seinen samtenen Hosen spannten, seine zerbrechliche Taille und seine schlanke Brust, die sich unter der Seide seines Hemdes abzeichnete.
Seine Lider senkten sich mit dichten Wimpern über die dunklen Augen. Er versuchte Luca zu verführen.
Der Magier lächelte, senkte die Lider und sank wieder gegen Aycos Schulter. Müdigkeit ergriff ihn. Dieses weiche Bett, sie Wärme und der berauschende Duft des Weines ließen ihn die Starpatzen der vergangenen Wochen erst recht spüren. Baden, essen und schlafen waren drei Dinge, die ihn weitaus mehr reizten als Justins Schönheit.
Gähnend setzte er sich dennoch wieder auf. „Trödeln hilft ja nichts“, murmelte er mit bösem Seitenblick zu Orpheu. „Justin, hast Du Tusche, Feder und Pergament für mich?“, fragte er und streckte seine verspannten Muskeln. „Für einen gewissen Herren darf ich ja mal wieder den Schreiber spielen!“
Die Spitze verlor sich vollständig im Nichts, weil Orpheu ihm gar nicht zuhörte.
„Ich helfe dir“, lächelte Ayco gutherzig. „Wenn wir zusammenarbeiten, schaffen wir die Rüstliste schneller, oder?“
Luca lächelte dankbar. „Vielen Dank, mein Liebster.“
Bevor Justin einen giftigen Kommentar geben konnte, klopfte S’ielle.
„Das Heldenmahl ist bereitet. Und, Lysander, ich habe besonders darauf geachtet für dich wenig Flüssiges zu kredenzen. Dann kann auch nichts aus dir heraustropfen.“
Luca streckte ihr die Zunge heraus.
Sie grinste und streckte ihm ebenfalls die Zunge heraus.
Gegenüber S’ielle musste er sich nicht zurückhalten. Sie waren enge Freunde.
Tambren richtete sich auf seinem Kissen auf. Ein langes, ausdauerndes Knurren seines Magens begleitete diese Bewegung.
Die großen, schwarzen Mandelaugen der Elfe funkelten spöttisch, als sie sich entspannt, etwas lasziv, in den Türrahmen lehnte, beide Hände hinter dem Rücken gefaltet. Die vollen Brüste drängten sich gegen ihr dunkelrotes Mieder und schienen es sprengen zu wollen. Orpheus Blick strich über ihr Gesicht, zu dem Dekolleté und haftete an ihren schönen Rundungen fest. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt weit und formten Worte, die er nicht aussprach. Fahrig stellte er das Glas zielsicher neben den Tisch und bemerkte die Scherben nicht. Ihre vollen Lippen kräuselten sich leicht, als sie ihn ansah.
Justin murmelte einen Fluch und federte vom Bett. Sie winkte aber ab. „Das mache ich schon, Herr.“
Dann sah sie zu dem Drachling, der auf Lucas Schulter geklettert war.
„Tam, Du hattest leider Pech. Dein Futter ist bereits in einem anderen Drachenmagen gelandet“, lächelte sie, während sie ihre Hand in elegantem Schwung hoch hielt. Ein roter Drachling pendelte mit wutfunkelnden Augen an der Schwanzspitze herab.
„Goldy war leider schneller als du, wie immer...“, lachte S’ielle.
Tam biss die Kiefer aufeinander und sprang von Lucas Arm wieder herab, um sich breitbeinig auf dem Boden abzustützen. „Goldy, du Vielfraß!“
Das Drachenmädchen hangelte sich geschickt auf S’ielles Arm und sprang zu Boden. Sie streckte sich, elegant wie eine Katze und schüttelte ihre rotgoldenen Schwingen auf.
Dann setzte sie sich gesittet nieder, rollte ihren langen Schwanz um sich und sah ihn herablassend an.
„Fettsack!“, stieß sie hervor. „Abnehmen kann dir nicht schaden! Lysander bricht ja irgendwann ein, wenn du noch fetter wirst!“
Tam setzte sich auf und sah zu Luca. „Teilen wir wieder?“, fragte er leise und setzte dabei seinen schönsten Bettelblick ein.
Ganz automatisch nickte der Magier. Ayco allerdings kniete nieder und bohrte dem Drachen mit einem Finger in den Fettpölsterchen herum. „Du bist aber wirklich dick. Wenn ein Drachling aussehen sollte wie sie, dann sollte wohl aus dir zwei der Art werden, oder?“
„Ich bin ein Neutrum, die sind alle gewichtiger!“, verteidigte sich Tam verärgert. „Außerdem kostet Denken auch viel Kraft!“
Goldy rollte elegant ihren Schwanz auf und schritt leichtfüßig, auf allen Vieren, zu Tambren hinüber.
„Dann hast du also eine Denkerfigur?“, fragte sie leise.
Tam beachtete sie nicht, sondern wartete, bis Luca sich dazu erbarmte, ihn wieder auf den Arm zu nehmen. Aber der Magier blieb stehen. Verdutzt drehte Tam sich zu ihm um und bedeutete ihm so wenig elegant, wie es nur ging, dass er auf die Schulter seines Meisters wollte.
„Lysander ist auch ein Denker, aber er ist auffallend unterernährt im Vergleich zu dir!“, rief Goldy. „Bei dir kann ich die Speckringe zählen, bei ihm die Rippen.“
Ayco grinste vergnügt. „Die kleine Dame ist ja genauso wenig auf den Mund gefallen wie S’ielle!“
„Meine Schule!“, lachte die Elfe.
Während Goldy Ayco einen verliebten Blick zuwarf, winkte S’ielle kurz. „Das Essen wird kalt!“
Zum ersten Mal seit Wochen fühlte Luca sich satt, aber noch erschöpfter, nachdem S’ielle die Teller und Schüsseln abgeräumt hatte. Nachdenklich betrachtete der Magier seinen Hauptmann, der im Moment gar nicht ansprechbar erschien, wendete sich dann aber Justin, Ayco und Lea, die Luca im Moment überall hin folgte, an.
„Ich habe dir“, er blickte noch einmal zu Orpheu, der aus dem großen Panoramafenster, das von dichtem Efeu vollkommen überwachsen war, hinaus, in das Blattwerk starrte. „Irgendwie wirklich nur ich. Mit ihm ist heute gar nichts mehr anzufangen“, sagte er mit gehobenen Brauen, allerdings mehr zu sich selbst. „Gleich wie“, schob er das Problem von sich und konzentrierte sich wieder auf seine Freunde. „Ich hatte nun erzählt, was bei Mesalla vorgefallen war. Nun würde mich allerdings auch interessieren, was du und Ayco, beziehungsweise ihr alleine jeweils getan habt. Konntet ihr euch denn untereinander ein wenig austauschen?“
Er betrachtete erst Ayco, dann Justin.
„Er hatte mir von Gerome erzählt“, begann Justin. „Allerdings wurde das zu einem besonderen Auslöser. Er bat mich um etwas sehr seltsames.“
Ayco maß Justin mit einem Blick, den man nicht als freundlich deuten konnte. Dennoch ging er nicht darauf ein.
„Er fragte mich, ob ich eine Möglichkeit habe, alle Siegel und Barrieren, die Ihad wohl über ihn gesprochen hatte, aufzuheben und ihm sein volles Erinnerungsvermögen wiederzugeben.“
Lucas Lippen klafften auf. Er wusste, dass Justins Macht weit genug reichte.
„Hast du?“, fragte er leise.
Der Elfenvampir nickte. „Ja.“
Ayco und Luca sahen sich an. Die Blicke versanken ineinander. Plötzlich bemerkte Luca das Feuer in Ayco Blick, die Erinnerung an sein ganzes Leben. Er war im Moment kein Knabe mehr, auch wenn er diese Maske gerne nutzte. Dieses Mal war es ein Mann, dem Luca in die Augen sah.
„Dann bist du unser beider Gedächtnis“, flüsterte der Magier. „Meine Erinnerungen sind immer noch verborgen und kommen zu den unmöglichsten Augenblicken zu Tage.“
Langsam nickte Ayco. „Nach und nach werde ich Dir auch alles erzählen, Luca. Aber im Moment müssen wir uns auf anderes konzentrieren.“ Er sah zu Lea, die sich hinter Luca an dem Stuhl festklammerte. Sie versteckte sich schon fast vor ihrem Bruder.
„Du bist gemeint, Lea!“, sagte er scharf. „Du kleines …“ Er ballte die Fäuste und ließ sie auf den Tisch niederfahren. Tam und Goldy, die beide mit den Schnauzen in einer Obstschale hingen, fuhren erschrocken zusammen.
Langsam atmete Ayco durch, füllte seine Lungen mit Luft. Behutsam legte Luca seine Finger über Aycos Faust. Er spürte den Zorn und die Anspannung in seinem Geliebten. Dann allerdings ließ der Elf locker und seine Finger sanken entspannt auf die dunkle Holzplatte nieder, suchten nach Lucas und umgriffen sie zärtlich.
„Sie hat mir die letzten Jahre immer wieder nur Bruchteile der Wahrheit gesagt, nicht einmal wirklich gelogen, nur verschwiegen und inhaltlich verdreht. Außerdem muss sie Gregorius im Kessel bereits erkannt haben. Aber anstatt mich zu warnen, wäre sie sogar bereit gewesen mich sterben zu lassen!“
Lea wich zurück. Luca sah sich zu ihr um. Angst spiegelte sich in den kindlichen Zügen wieder.
Schnell wendete er sich zu Ayco um. „Heute hätte er sie fast selbst umgebracht, Liebster. Er hat sie nur benutzt und heute endgültig verraten.“
„Das ändert aber nichts daran, dass sie mich in den sicheren Tot geleitet hat!“, zischte der Elf. „Leandra wusste, dass Gregorius unser Dorf vor hundert Jahren zerstört hatte. Sie hat ihn sogar sehnsüchtig im Segnungsraum unserer Mutter erwartet! Sie hat deinen Tot mitzuverantworten gehabt, weil sie mitbekommen hatte, wie viel wir uns bedeuteten. Sie war es, die sich gegen uns Lebenden stellte!“
Er federte so rasch von seinem Sitz auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und polternd zu Boden fiel.
Hilflos verdrehte Justin die Augen. „Leiser!“, mahnte er streng. „Das Haus ist auch ein Spital!“
Offensichtlich ignorierte Ayco ihn, denn er schritt schnell um den Tisch herum. Lea wich noch weiter zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß und halb darin eintauchte.
„Warum?!“, fragte er Lea. „Haßt du mich so sehr? Oder alles, was glücklich ist?!“
Sie schüttelte hilflos den Kopf.
Behutsam berührte Luca Aycos Hand. Der Elf schüttelte sie ab. Dieses Mal wollte der Magier nicht aufgeben. Er stand auf und schlang seine Arme um Ayco. Sanft drückte er seinen Geliebten an sich. „Beruhige dich, Liebster. Gib ihr die Möglichkeit zu erklären, warum sie es getan hat.“
In Lucas Umarmung wurde Ayco ruhiger. Er drängte sich an den Magier und umklammerte ihn fest.
Lea allerdings wich durch die Wand zurück und verschwand.
„Sie kann mir gerne für den Rest meines Lebens vom Hals bleiben, Luca“, flüsterte Ayco düster.
„Wird sie sicher nicht“, mischte sich Orpheu plötzlich wieder ein. Scheinbar hatte er die ganze Zeit zugehört.
„In meinem Volk nennt man diese Geister die Fessel der Lebenden. Sie sind unzufriedene und neidische Geschöpfe, die mit Verrat und Betrug die, an die sie sich binden, hinab ziehen und demütigen, teils so sehr, dass sich die Lebenden umbringen.“
Er stützte sich mit beiden Armen auf der Tischplatte ab, die unter seinem Gewicht ächzte.
Tam nickte bedauernd. „Das ist leider wahr“, bestätigte er. „Das einzige, was man tun kann, ist diese Geister zu vernichten, oder in das Leben zurück zu zwingen. Das eine wie das andere sind sehr gefährliche Sachen.“
Er machte eine Kopfbewegung zu Justin.
„Er kann sicher mehr dazu sagen.“
Mit gesenkten Lidern sank der Vampir in seinen Stuhl zurück. „Sie ins Leben zurückzurufen, wäre das einfachste, wenn es noch irgendetwas von ihren sterblichen Überresten gibt, Ayco. Dann ist sie auf ein eigenes Leben angewiesen und muss auf eigenen Beinen stehen, am besten fern ab von dir.“
„Das hat sie gar nicht verdient!“, fuhr der junge Elf auf.
„Aber sie bekommt eine Chance, Ayco“, flüsterte Luca. „Sie kann sich von Grund auf ändern. Willst Du ihr diese Chance nehmen?“
Wenig elegant ließ sich Goldy auf dem Tisch nieder. „Sie ist eine Frau im Geisterleib eines Kindes. Nie wird sie das fühlen, was du fühlst, Ayco“, erklärte sie sanft. „Sie wünscht sich Liebe, einen Partner, ein eigenes Leben, einen Körper, der ihr wirklich gehorcht, und den sie ihr eigen nennen kann. Was immer sie von diesem Gregorius dachte, dass er für sie wäre, sie hat sehr schmerzhaft gelernt, was es bedeutet selbst verraten zu werden. Wahrscheinlich schon als man sie getötet hat.“
Der Elf ballte die Fäuste. Tambren übermittelte Luca Aycos Gefühle. Der Widerstreit zwischen Wut und Mitleid in dem Herzen des Jungen war hart. Verzweifelt lehnte er sich an Luca, vergrub sein Gesicht an seiner Halsbeuge und umklammerte ihn noch enger.
„Ich will im Moment darüber nicht nachdenken“, bat er leise. „... nur mit Luca allein sein und wenigstens einmal alles um mich vergessen.“
Orpheu senkte den Blick und zuckte mit den Schultern. „Ich mache die Liste. Aber wenn ihr fertig seid, Magier, bewegt ihr euren Hintern zu mir und helft mir, verstanden?!“
Das Gefühl seidener Kissen und Laken unter seiner nackten Haut, gab Luca das Gefühl zu Hause zu sein. Obwohl er nicht wirklich lange geschlafen hatte, lag er noch immer in seinem Bett, die Augen zur Decke gerichtet, versunken in seine Erinnerungen an die ersten Jahre, die er hier bei Justin verbrachte. Der Elf hatte ihm einen großen Raum nah des seinen gegeben, ausgestattet mit allem, wonach Lucas Herz verlangte. Ein zierlicher Sekretär stand zwischen den beiden Buntglasfenstern, die zauberhafte elfische Waldfesten zeigten, und in deren filigraner Pracht ein leiser Hauch dessen spiegelte, was eins das Labyrinth war. Der vergangene Glanz der schönsten elfischen Hochkultur. Licht fiel keines in den Raum, das verhinderten die hohen, verfilzten, abgestorbenen Bäume in Justins parkartigem Garten, aber dieser Ort war ein Platz des Vergessens und der Dunkelheit. Elegante Kristallleuchter, die eher organisch und gewachsen erschienen hielten schlanke, weiße Talgkerzen. Helle Teppiche dämpften jeden Schritt in dem Raum. Hier hatte Luca seine eigene kleine Bibliothek mit Büchern über Historien, Götter, Könige, Strategien, Magie und Alchemie, allerdings auch Bände mit Gedichten, Erzählungen, Märchen und Heldensagen. Als Kind liebte er es Justins sanfter Stimme zu lauschen, wenn er ihm vorlas, oder mit ihm zusammen Gedichte verfasst. In diesem Raum lag mehr Kindheit, als in seinem Vaterhaus. Hier hatten er und auch Ayco zusammen gelacht und gespielt, gelernt zu singen und zu tanzen. Luca sah zu der Schilfrohrflöte, die sauber abgestaubt auf dem Sekretär lag, die Laute, die ihm Justin geschenkt hatte und dachte an die schönen Klänge und die Zauberstimme des Elfenvampirs. Seine Blicke strichen weiter, zu der alten Truhe, in der er seine Bilder aufbewahrte, alte Zeichenbücher und Gedichte, die er nicht wagte Justin zu zeigen, weil sie von Sehnsüchten nach einem anderen Mann sprachen. Vermutlich hatte der Vampir sie dennoch gelesen, aber Lucas Wunsch war nie Justin als Liebhaber zu bekommen. Nun lag der Mann, nach dem er sich sein Leben lang gesehnt hatte, schlafend in seinen Armen, nackt und schön. Stunden der Zärtlichkeit hatte Luca genutzt, um Ayco wirklich alles Leid vergessen zu lassen, wenn auch nicht für lange. Aber so viel hatte ihn Justin gelehrt, dass es ihm nicht schwer fiel, jeden Mann glücklich zu machen und ihre Körper wie Instrumente zu nutzen.
Der junge Elf schmiegte sich enger an Luca und flüsterte den Namen des Magiers. Lächelnd streichelte er über Aycos Haar und flocht die silbernen Strähnen um seine Finger. Vorsichtig hob er das feine Gespinst vor seine Augen und betrachtete es bewundernd. Aycolén war schön, rein und natürlich gegen ihn. Er hatte sich vollkommen neu in den jungen Mann verliebt, völlig ungeachtet von all den Gefühlen, die vorher existierten, und an die er sich klammerte. Das Lachen, die Emotionalität und Ehrlichkeit gefielen ihm, sein Mut, sein ungebrochener Wille bei Luca zu sein, seine Stärke, aber auch das schutzbedürftige, kindliche in ihm. Ayco war verletzlicher als er selbst, in sich aber unglaublich gefestigt, sonst hätten ihm all die Erkenntnisse der letzten Tage den Verstand zerbrochen wie das Kristallglas, dass Orpheu vorhin fallen gelassen hatte.
Luca schwor sich, diesen Jungen niemals weh zu tun und ihn mit Leib und Seele zu beschützen.
Sanft streichelte er Aycos Wangen und küsste sein Haar. Wenn er ihn so betrachtete, konnte Luca sich allerdings auch nur eingestehen, dass ihn der schöne junge Mann unglaublich anzog. Seine unschuldige Art verführte Luca, aber genauso seine sehnsüchtigen Augen und die vollen weichen Lippen, die er in dieser Nacht so oft geküsst hatte. Der empfindsame Körper Aycos reagierte auf die sanftesten Berührungen Lucas. Wenn er ihm mit einer seiner Haarsträhnen über die Wirbelsäule strich, genauso, wie er unter dem sanften Hauch von Lucas Atem erschauerte und die Lider schloss, sobald der Magier seine Haut mit den Lippen streifte.
Sehnsüchtig seufzte Luca und schloss die Augen, um den Duft von Aycos Haut ganz in sich aufzunehmen.
Den Gedanken an Orpheu und der ihm zugesagten Hilfe, verschob er weit in den äußersten Winkel seines Bewusstseins. Viel mehr wollte er noch einmal die Wärme Aycos Körper genießen und die Leidenschaft des Jungen erneut anfachen.
Insgeheim schimpfte sich Luca dafür sogar aus, denn Ayco war als Elf mit seinen hundertfünfundfünfzig Jahren einem vielleicht siebzehn- oder achtzehnjährigen Menschen adäquat. Aber das schien Ayco kaum zu stören, waren sie sich doch schon als Kinder und Jugendliche sehr nah gewesen.
Luca spielte mit dem Haar des Elfs und neckte ihn sanft damit, bis der Junge im Halbschlaf leise unter den Berührungen stöhnte.
Sollte Orpheu ruhig noch ein wenig auf ihn warten …
Orpheu schien die Liste seinerseits auch ziemlich verdrängt zu haben, denn Luca fand ihn in romantischer Stimmung vor, versonnen mit einem weiteren Glas Wein und über ein leeres Blatt geneigt.
S’ielle saß auf einem Diwan in Justins Salon und las elfische Gedichte vor, während der Vampir seinerseits schläfrig dalag, den Kopf auf die Hände gebettet und ihr lauschte.
Luca hatte seine Chancen genutzt, gebadet und sich wieder in einen Zustand versetzt, in dem er wieder mit sich und der Welt zufrieden war. Ayco folgte ihm wohl oder übel, nach ihrem Spiel in den Laken, in das Bad, was Luca auch noch einmal für sich nutzte.
Ausgeschlafen und erholt fühlten sich beide nicht, aber in jedem Falle entspannt. Das bestätigte Tambren lautstark, als das Paar eintrat.
Nachdem Luca einen Blick über Orpheus Schulter geworfen hatte, seufzte er resigniert.
„Komm, mein Freund, geh zu Bett, oder nimm Ayco und mir hier nicht den Platz weg, in Ordnung?“
Der Hauptmann sah ihn fragend an.
„Warum?“
„Weil ich jetzt die Rüstliste schreiben will“, knurrte Luca.
„Wie, er hat sie noch nicht geschrieben?“, fragte Ayco. „Es ist fast Morgen.“
Luca hob die Schultern, verzog die Lippen und setzte sich Orpheu gegenüber nieder. Wortlos schob er Ayco ein weiteres Stück Pergament zu und stellte das Tintenfass zwischen sie beide.
Der schwarze Elf erhob sich, streckte seine verspannten Glieder und betrachtete dabei S’ielle. Aus dem Augenwinkel antwortete sie dem Blick. Über ihre Lippen huschte ein verheißungsvolles Lächeln. Scheinbar gefiel ihr der große, muskulöse Krieger.
„Zeigt mir bitte meine Unterkunft, meine Schöne.“
Galant trat er zu ihr und reichte ihr seine Hand.
„Sollte ich es wagen allein einem solchen Mann...“, begann sie, wurde aber barsch von Justin unterbrochen.
„Mach schon!“, befahl er.
„Eifersüchtig?!“, fragte sie spitz.
„Nein“, entgegnete Justin kurz angebunden. Sein Blick sagte anderes, doch das betraf nicht Orpheu und S’ielle.
S’ielle neigte ihr apartes Haupt und nahm nur zu gerne die ihr dargebotene Hand und damit auch die Einladung, mit Orpheu die Nacht zu verbringen.
Nachdem die Beiden den Salon verlassen hatten, sah Luca von seinem Blatt auf, blickte über die Schulter zu Justin und hob die Brauen. „Hab Nachsicht, alter Freund. Das sieht aus, als bräuchten die beiden bald einen Priester, der sie traut. So verliebt habe ich Orpheu noch nicht erlebt, seit ich ihn kenne.“
Justin erhob sich nun auch und gähnte.
„Ja einen Priester um sie zu trauen und eine Hebamme für die ersten Kinder“, lächelte er. „S’ielle hat es nicht ganz so sehr erwischt, aber der alte Orpheu ist im Liebestaumel. Das nenne ich Liebe auf den ersten Blick. Nea hat das bei ihm nicht geschafft.“
Ayco lachte. „Nea ist auch so charmant wie eine Axt!“
„Das ist richtig“, bestätigte Justin, streckte sich und machte eine Verneigung. „Ihr wisst ja, wo sich alles befindet. Ich entbiete euch also einen gute Nacht, ihr beiden Hübschen.“
Nachdem Justins Schritte auf der Treppe verklungen waren, hob Luca eine Braue. „Ob Orpheu heute allein sein Glück in den Armen S’ielles findet?“
„So eine ist sie nicht!“, wehrte Ayco bestimmt ab.
„Aber sie ist in Justin verliebt, seit er sie aufgenommen hat“, erklärte Luca.
„Hört auf zu spekulieren und zu lästern, ihr Waschweiber!“, zischte Goldy, die auf dem Diwan zusammengerollt lag, dicht an Tambren gekuschelt.
„Urteile nicht zu hart über sie“, spöttelte Tam. „Sie sind nur Humanoide, keine Drachen...“
Luca lachte leise.
„Schlaft weiter, ihr beiden!“
Bevor sich die Freunde, zusammen mit Tambren und Goldy auf den Weg zum Hafen machten, hinterließ Luca die Listen von Ayco und ihm im Palast des Prinzen.
Vermutlich würden sie binnen der nächsten drei Tage von Valvermont aus nach Sarina aufbrechen können, wenn Mesalla ihnen schnell genug Schiffe und Material stellen konnte.
„Wohin müssen wir im Hafen eigentlich?“, fragte Ayco, nun doch neugierig. „Das Areal ist unübersichtlich und groß.“
Luca lächelte nachsichtig. „Unser Heer hat dort ein eigenes Lagerhaus, in dem wir unsere Maschinen, Waffen und alles Material lagern, was wir nicht gerade für einen Heerzug brauchen.“
„Oh“, murmelte Ayco betroffen. „Liegt das daran, dass ihr keine gemeinsame Garnison habt?“
„Ja“, bestätigte Orpheu. „In der Stadt ist nur Platz für die regulären Truppen, die der Garde und den Wachen angehören, aber wir sind eine Art Persönliche Armee des Prinzen. Er rüstet uns selbst aus. Wir haben Zugriff auf seine Schmiede, Rüstungsmacher und Bogner, seinen Marstall und seine Alchemisten, die für uns Sprengpulver herstellen und für alles sorgen, mit dem wir größtmögliche Verwirrung stiften können.“
„Ah“, murmelte Ayco. „So etwas wie Rauch- und Farbpulver, die sich entzünden, wenn sie den Boden berühren, verstehe.“
Orpheu nickte. „Wenn du unser Lager siehst, bekommst du vermutlich erst einen Eindruck davon, wie diese Organisation funktioniert.“
Anhand der gehobenen Braue Aycos, zweifelte Luca daran, dass der Elf großes Interesse daran zeigen würde.
Ayco war ein Träumer, ein Dieb, aber vor allem ein Künstler.
Diese martialischen Schätze konnten ihn sicher kaum begeistern.
Ayco blieb der Anblick auch vorerst erspart. Noch am Rande des Künstlerviertels, direkt nach dem Großmarkt, auf ihrem Weg nach Westen, kam ihnen Thorn entgegen, blass, atemlos und erschöpft.
Er musste gerannt sein, aber nicht das hatte ihm alle Kraft entzogen. Der Halbzwerg blieb auf halbem Weg stehen und wischte sich über Augen und Stirn. Luca war sich sicher, dass er nicht nur schwitzte.
Ayco hatte seinen Schritt bereits beschleunigt und erreichte Thorn noch vor Orpheu und Luca.
Eilig wies der Halbzwerg in die Richtung aus der er kam, tiefer in das enge Gewirr aus Ziegelhäusern Bruchstein- und Fachwerkbauten. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Dennoch wussten Orpheu und Luca, was er sagen wollte. Nördlich von hier lag der Marstall von Ravens Schwiegervater.
„Lucretia?“, fragte Orpheu.
Thorn nickte nur still.
„Das was ich gestern sagte!“, erinnerte Tambren seinen Herren leise.
Etwas in Luca krampfte sich zusammen. Er spürte Trauer und Schmerz, schon weil er die schöne sanfte Lucretia immer gemocht hatte, aber auch tiefes Mitgefühl für Raven.
„Sie lebt noch“, stieß Thorn nun endlich hervor. „Sie will euch sehen!“
Der Treppenaufgang und die hölzernen Balkone waren bereits mit schwarzen Bändern umwoben und die Fenster verhängt. Im Innenhof befand sich niemand. Auch in den Stallungen schien niemand zu sein. Der sonst so lebendige, fröhliche Haushalt, der das Ganze, große Anwesen bevölkerte, konzentrierte sich auf die oberen Räume des Haupthauses. Orpheu, der hinter Thorn ging, kam kaum durch die engen Flure, in denen die Mägde, Stallburschen und Diener standen.
In diesem Haus hörte man nichts mehr als das leise Schluchzen der Frauen, gemurmelte Gebete und das Knarren des Holzes.
Jaquand stand neben der Tür zu Lucretias Schlafgemach. Er lehnte im Rahmen, aber gegen seine sonstigen Gewohnheiten, hingen seine Schultern herab. Seine aschfahle Haut und die tiefen, dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten, dass er kaum geschlafen haben konnte. Luca wurde schmerzhaft bewusst, wie viel Anteil die Gefährten Ravens wirklich nahmen. Freunde waren sie, gleich wie sehr sie sich gegenseitig anschrien und stritten. Obwohl sie Lucretia selten sahen, hing ihr aller Herz an der jungen Frau.
Als sie begann schwächer zu werden, hatte Luca mehrfach mit Justin gesprochen, damit er sie heilen könne. Damals hatte der Elfenpriester auch zugestimmt, sie gründlich untersucht und noch einmal zugestimmt, dass es gehen könnte, wenn er jeden zweiten Tag bei ihr wäre, um sie mit einem Gebräu zu versorgen, was ihr half und die Schmerzen nahm, aber sie hatte abgelehnt, lächelnd, stolz und bestimmt. Sie erklärte Justin, wenn ihre Zeit gekommen sei, würde sie ohne zu zögern abtreten und die Bühne einer anderen Frau überlassen, die Ravens Seite wärmte.
Der Magier erinnerte sich auch nur noch zu gut, dass Raven in dieser Nacht seinen Schmerz in Wein ertränkte.
Nun war der Tag gekommen.
Vorsichtig nahm er Tambren von seiner Schulter und schloss ihn in seine Arme. Ayco, der die ständig plappernde und streitende Goldy mit sich trug, tat es ihm gleich. Allerdings schwiegen nun beide Drachlinge. Tams Kopf lag schwer und träge auf Lucas Unterarm. Seine Lider senkten sich immer weiter über die Goldpupillen und mehrfach blinzelte der Kleine Tränen fort. Seine Finger lagen auf Lucas Hand und klammerten sich in den Stoff des schwarzen Hemdes. Der lange Schwanz lag um Lucas Nacken geschlungen, als wolle er ihn mit seiner Umarmung trösten. Goldy saß in Aycos Armen und lehnte mit dem Kopf an seiner Brust. Die kleinen Händchen lagen auf seiner Brust. Ihr Schwanz pendelte herab.
Die Trauer aller ergriff auch Ayco, ohne dass der junge Mann Lucretia jemals kennen gelernt hatte.
Still schob er sich vor Luca in den bereits überfüllten Schlafraum der Schönen.
Zuerst sah Luca nicht mehr als die geneigten Kopfe der Familie, ihrer Brüder und Eltern. Allerdings fiel Ravens schwarzer Bart und sein langes Haupthaar deutlich auf. Wie ihr Vater, kniete auch er neben dem großen Bett, in dem die blonde Schöne völlig verloren wirkte.
Ihr Blick war verschleiert von den Schmerzen, die Haut bleicher als jemals zuvor. Sie spannte sich eng um ihren Schädel. Lucretia war schon immer eine zierliche Frau gewesen, aber nun abgemagert bis auf die Knochen. Die Schatten und das flackernde Licht in dem Zimmer malten Ausdrücke auf ihr Gesicht, die unheimlicher kaum sein konnten. Das war keine lebenslustige Menschenfrau mehr, nur noch ein Schatten dessen.
Draußen, vor dem Haus, im Hof, hörte der Magier schwere Schritte. Ayco schien es auch nicht entgangen zu sein, denn er wendete sich zu Luca um und versuchte dann, einen Blick durch das Fenster nach draußen zu erhaschen. Er erstarrte und sah zu Luca zurück. Der Magier wollte jetzt nicht zu auffällig nach draußen sehen, zudem ahnte er, dass sich das gesamte Heer draußen sammelte. Manos schweren Schritt kannte er zu gut.
Der von den vielen Personen warme Raum kühlte plötzlich leicht ab, und eine Stimmung von Abschied und Verlust schlich sich in die Trauer und Erinnerungen. Luca brauchte Tambren nicht, um zu wissen, dass der Tod seine Finger nach ihr ausstreckte. Lorn war da, so still und verschwiegen, wie immer. Dieser Mann war weit mehr die Personifizierung des endgültigen Endes, als Aki Valstroem.
Fast schien es Luca, als würden ihm plötzlich die langsamen, schwachen Herzschläge bewusst, die Lucretias Brust hoben und senkten. Er spürte sie wie eine erdrückende Last, die ihm die Luft nahm. Die Krankheit. Wenn das ein Schatten ihren Leides war, wollte er lieber nicht wissen, wie sie die letzten Jahre erlebt haben musste und dennoch lachen konnte und in jedem Frohsinn säte.
Lucretia gab einen leisen Laut von sich. Ob es Schmerz war, oder ein Wort, konnte Luca nur erraten. Raven umklammerte ihre Hand nur fester und hielt sie in der seinen. Langsam senkte er seine Stirn herab und schmiegte sie an die Hand seiner Frau. Neben ihm, aus den Schatten, löste sich völlig unerwartet Justin. Aber der Anblick des Priesters war hier offenbar keine Besonderheit, ebenso wenig wie sein stilles Schattenwandern. Wortlos legte er dem Halbzwerg die Hand auf die Schulter und betrachtete Lucretia in ihren weißen Laken und dem großen, so massiven Holzbett.
Die junge Frau hob mühsam den Kopf. Über ihre Lippen huschte etwas, dass ein Lächeln sein sollte, aber einfach nur zu einer Grimasse gerann. Justin strich ihr sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. Einen Herzschlag lang erwachte sie zu neuem Leben, erblühte wieder. Ihr Gesicht wurde zu dem zauberhaften, sanften Mädchengesicht, die hellgrünen Augen klar, die Lippen rosig und voll. Goldene Locken wallten über die Kissen.
Sie lächelte. „Danke“, flüsterte sie, mit dem letzten Herzschlag.
Ayco lehnte an Lucas Brust und weinte stumm, als sie die Stufen zum Hof hinabstiegen. Orpheu ging hinter ihnen. Scheinbar hatte ihn Lucretias Tot wesentlich tiefer getroffen, als es den Eindruck machte. Plötzlich wendete er sich zu Justin um.
„Wäret ihr bereit S’ielle und mich zu vermählen, noch bevor ich nach Sarina aufbreche?“, fragte er.
Luca, der eben noch seinen eigenen Gedanken nachhing, seinen Erinnerungen, sah nun auch überrascht zu Orpheu.
Völlig überfordert starrte Justin den Hauptmann an.
„Wann hast du das denn beschlossen?!“, fragte er leise.
„Lucretia und Raven”, gestand Orpheu. „Das war auch Liebe auf den ersten Blick. Ich will nach Valvermont zurückkehren und ein Zuhause haben. Das war, was mir immer fehlte.“
Justin wollte etwas antworten, schwieg dann aber und starrte mit offenem Mund in den Hof hinab.
Orpheu und Luca drehten sich ebenfalls wieder um.
Das gesamte Heer hatte sich gesammelt. Alle Männer, die verheiratet waren, standen mit ihren Frauen und ihren Kindern da, still und abwartend, allen voran der riesenhafte Mano.
In den Schatten fand Luca auch die verhüllte Gestalt Sisikazevs und einige andere Freunde Ravens aus der Garde.
Luca verstand zu gut, was Orpheu meinte.
So traurig die Situation war, so unglaublich war das Gefühl, dass ihnen hier entgegen schlug.
„Wenn sie einverstanden ist, Orpheu, werde ich euch vermählen“, versprach Justin.
Über die Stunden hin wurden es immer mehr Personen, die sich im Gehöft und auf der Straße davor sammelten. Jeder wollte sich von Lucretia verabschieden, aber auch erfahren, wie es nun weiterzugehen hatte.
Lucretias Vater und Raven traten nach der Mittagsstunde allerdings erst in den Hof, gemeinsam. In den Gesichtern beider Männer lag immer noch fassungsloser Schmerz und der Unglaube, dass sie nie wieder ihr helles Lachen, ihre Nähe und Wärme haben würden.
Ihr Erscheinen ließ jedes geflüsterte Wort verstummen. Der alte Mann sah sich stumm um. Viele der Männer und Frauen waren seine Freunde, einige kannte er kaum oder gar nicht. Dennoch huschte der Schatten tiefer Dankbarkeit über seine Züge.
„Lucretia ist tot“, murmelte Raven. Sein Gesicht war die Grimasse hilflosen Schmerzes. Und es half ihm nicht auszusprechen, was er noch nicht wirklich realisiert hatte.
Er starrte lange nur zu Boden.
„Niemand wird sie mir je ersetzen können“, sagte er leise, eher zu sich selbst.
„Heerführer“, wendete sich der alte Mann an Orpheu. „Bitte vergebt mir, aber Raven wird nicht mehr an eurer Seite marschieren. Er hat sich entschieden hier zu bleiben, um den Marstall mit mir und meinen Söhnen weiterzuführen und um Lucretia nah zu sein.“
Er sah zu Raven, dessen Beherrschung bröckelte.
Auch der Alte musste sich zusammenreißen, um den Tränen nicht freien Lauf zu lassen.
„Im Leben konnte er ihr nicht nah genug sein, so nach ihrem Tot.“
So viel Kraft ihn diese Worte kosteten, es gelang ihm, sie noch auszusprechen, bevor er zusammenbrach.
Orpheu nickte. Dann sah er in den sonnigen, hellen, warmen Himmel. „Der Tag ist wie sie, er lacht sogar in der Stunde ihres Todes.“
An diesem Tag brachte Orpheu es nicht über das Herz, über ihren neuen Auftrag zu sprechen. Er beurlaubte seine Männer und gab ihnen bis zum kommenden Morgen frei, um dann Justin ins Labyrinth zu folgen. Aycos Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Er konnte die düstrere, erstickende Atmosphäre des Labyrinthes nicht ertragen und bat Luca noch ein wenig durch die Stadt zu gehen.
Der Magier ließ ihn den Weg bestimmen. Er spürte, dass Ayco den Abstand zu allen anderen suchte und sich lieber auf die Wege seiner eigenen Vergangenheit begeben wollte.
Im Gegensatz zu dem Magier hatte der junge Mann auch seine Erinnerungen vollständig zurück. Luca hingegen irrte weiter im Nichts herum und traf immer wieder auf vorübertreibende Fetzen dessen, was sein Leben war. Vielleicht würde Ayco ihm helfen, alle Fragmente wiederzufinden.
Der junge Mann ging dennoch eng an Luca gedrängt in seinem Arm.
Insgeheim war Luca dankbar darum, dass es in Valvermont viele gleichgeschlechtliche Paare gab und die Liebe unter Männern nicht verpönt war wie es in anderen Reichen der Fall zu sein schien.
In Rouijin, wusste er, dass es ein Grund zur Aburteilung und Hinrichtung war, was allerdings auch dazu führte, dass es im Heimlichen reichlich Bordelle von Frauen für Frauen und von Männern für Männer gab.
Sanft hielt er den Elf an sich gedrückt.
Ayco führte Luca auf diesem Wege tiefer in das Künstlerviertel, in das enge Straßenlabyrinth, in dem Gesang und Musik von den Wänden wiederhallte, und in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen ein akustisches Chaos anrichtete.
Die Männer und Frauen, die durch die Gassen strichen, schienen in ihrer ganz eigenen, fernen Welt zu sein. Auf dem Rand eines Brunnens, der dem Viertel Wasser gab, saß eine junge Frau, deren Schuhe auf den Stufen lagen. Sie hatte ihren Rock hochgerafft und unter ihrem Korsett festgeklemmt. Mit verbissenem Gesicht knetete sie ihren linken Fuß, nur um dann auf die steinerne Umfassung hinaufzusteigen und über gefährlichen Tiefen, ungesichert Drehungen und Sprünge zu üben.
Ein älterer Mann beobachtete sie. Er hockte auf den Stufen eines mehrgeschossigen Hauses, dass den Platz säumte und notierte in Abständen immer wieder etwas auf einem Pergament. Luca war sich nicht sicher, ob er ein Dichter, ein Schriftsteller oder Komponist war, aber er zeichnete sie zumindest nicht. Seinen schmalen, langen Fingern nach zu urteilen, zog der Magier am ehesten einen Musiker in Betracht. Das Mädchen dort war seine Inspiration.
Aus einem Fenster drang infernalischer Lärm. Jemand, der es nicht konnte, zog einen Bogen über die Seiten einer Fiedel.
Einen Herzschlag später erklang ein fleischiges Geräusch, als würde jemand eine Ohrfeige bekommen. Dann schimpfte eine Mutter ihr Kind aus. Sofort wurde der Lärm von dem Geschrei des Kindes abgelöst.
Luca fühlte sich auf unerklärliche Weise hier zu Hause. Das Sonnenlicht glühte hier in der Luft und ließ die Gassen in warmem Goldlicht flimmern. Die gelben Sandsteinwände atmeten Hitze und Freiheit. Auch wenn der Geruch hier ähnlich unangenehm war wie im Labyrinth, konnte der Magier hier durchatmen und fühlte sich erfüllt von dem Gedanken zu erschaffen, Träume zu weben. Sein bislang noch immer trauriges Herz öffnete sich den Gefühlen.
All das, was ihn Justin lehrte, verlor den düsteren Hauch der Vergessenen und wurde zu leuchtender Sehnsucht.
Allerdings begann Luca auch zu begreifen, was sein Freund aufgegeben hatte, um der Herr des Labyrinthes zu werden und die zu beschützen, die Mesalla aus der Gesellschaft ausstieß.
Justin war verurteilt zu einem Dasein in der ewigen Dämmerung und Verwesung, stammte aber aus dem hellen Licht, dass dieses Viertel erleuchtete.
Mitleid ergriff ihn.
Plötzlich blieb Ayco stehen. Der Magier sah ihn fragend an.
Einen Herzschlag lang nur verstand er nicht. Dann aber erkannte er das Haus, vor dem der Elf stehen geblieben war.
Das zweistöckige Gebäude aus Bruchsteinen und Fachwerk gehörte Lucas Großvater. Es war die Goldschmiedewerkstatt, an die er sich dunkel erinnerte. Sein Vater hatte ihm irgendwann alle Besuche bei dem alten Mann untersagt.
„Das ist mein Zuhause, Luca“, sagte der Elf leise. „Die Werkstatt deines Großvaters.“
Unwillkürlich blickte der Magier auf das Armband an seinem Handgelenk herab. Er hatte kurzzeitig verdrängt, dass Ayco eigentlich Goldschmiedemeister und der ehemalige Schüler seines Großvaters war. Versonnen lächelte er.
„Du lebst im Herzen des Künstlerviertels“, sagte er leise.
„Wenn du es willst, Luca, dann mit dir zusammen“, bat Ayco ihn. Seine Stimme bebte. „Vielleicht werden wir beide irgendwann zusammen hier leben können. Du bist doch nur Magier, weil dir nie die Wahl gelassen wurde. Wenn du könntest würdest du doch viel lieber musizieren, singen, tanzen, dichten oder zeichnen. Das war doch schon dein Wunsch, als du noch ein Kind warst... Weil du dann frei bist, wie wenn du deine Schwingen ausbreitest und fliegst...“
Stumm umschlang Luca Ayco und nickte.
‚Er hat nicht unrecht, Luca. Du bist kein Magier, weil du es willst. Und kein Krieger aus Bestimmung’, bestätigte Tambren still. ‚Wenn irgendwann alles vorüber ist, solltest du hier her zurückkehren und deinen Frieden finden.’
„Das will ich“, murmelte der Magier, völlig unbestimmt, ob er Aycolén oder Tambren beipflichtete.
Beruhigt schmiegte Ayco seinen Kopf an Lucas Wange. „Irgendwann ist das unser Heim“, flüsterte er. „Dann steht auch dein Name wieder außen und nicht mehr nur der meine.“
Aus einem Reflex heraus betrachtete er die Buchstaben, die auf einem Schild aufgemalt waren. Ursprünglich stand dort Veraldis und Amaro, Goldschmiedemeister. Allerdings hatte man den ersten Namen übermalt. Paradoxerweise stand das und noch von Aycos Nachnamen.
Luca empfand einen tiefen Stich in seinem Herzen. Er hatte den alten, gütigen Mann, den Vater seines Vaters, sehr geliebt. Die einstmalige Bewunderung für ihn, fand sich noch immer in Luca. Der Gedanke, dass sein Vater alles zerstörte, was der alte Mann über Jahrzehnte mit seinen Händen geschaffen hatte, weckte in Luca wieder die alte Wut.
Als ihm damals von Ihad mitgeteilt wurde, dass er seinen Namen und das Recht als Adeliger zu leben, verloren hatte, berührte Luca nicht so sehr, wie das Wissen, dass es auch seinen Großvater mit in den Untergang riss.
Auch die Nachricht über den Tot seines Vaters, erreichte sein Herz nicht mehr. Damals gefror er innerlich.
„Lass uns hinein gehen“, bat Ayco sanft.
Der Magier schluckte hart, nickte dann aber.
Schwerfällig erklomm er hinter Ayco die Stufen der Außentreppe hinauf zu dem Eingang der Wohnung, über der Werkstatt. Die Tore unten waren offenbar von innen verriegelt. Im Moment konnte er sich kaum besinnen wie es innen aussah. So viele Bildfragmente lagen vor ihm, aber die wenigsten konnte er sinnvoll zusammensetzen.
Ayco reckte sich unter die Balken der Überdachung an der Tür und fingerte nach etwas. Luca hörte ein leises klirren, als der Elf einen Schlüsselring unter Staub und Spinnweben hervor zog und die einzelnen Schlösser eines nach dem anderen öffneten und die Riegel zurück schob. Als die Tür aufschwang schlug ihnen unangenehm trockene und staubige Luft entgegen, die Beide zum Husten brachte. Es roch leicht vergammelt, nach nicht mehr ganz sauberem Bettzeug und schalem, saurem Wein.
Eilig hielt Ayco sich einen Ärmel vor Mund und Nase und trat ein. Zögernd blieb Luca unter der Tür stehen.
Er hörte den Elf in den Tiefen des Wohnraumes über die alten Dielen gehen, die unter seinem geringen Gewicht knarrten und an den Läden hantieren. Zwischendurch hustete der junge Mann, wenn ihm zu viel Staub in den Rachen geriet.
Auch ihn reizten die kleinen Körnchen leicht in der Nase und er musste niesen.
Tambren, der wie üblich in seinem Hemd gesessen hatte, zog den Stoff aus Lucas Hose und plumpste schwerfällig zu Boden. Im ersten Moment verschmolz der Drachling mit den Schatten, stand aber einen Herzschlag später in grellem Sonnenlicht, als Ayco endlich den scheinbar verklemmten Fensterladen aufgestoßen hatte. Der Raum war groß, mehr als die Hälfte der Hausfläche nahm er ein. Allerdings standen hier nur Tisch, Truhe, zwei Stühle, die Staffelei, ein Bett, indem ein alter Strohsack lag und eine Werkbank. Eine Stütze trug den Dachstuhl und überbrückte das Gewicht bis zu der Kaminwand. Dort fand sich auch eine Kochstelle, direkt neben einer Tür in den hinteren Raum.
Der Stein war nun Ruß geschwärzt und das Holz grau und versteinert. Trotz der Tatsache, dass Aycos persönliche Gegenstände sich lediglich auf Decke, Kissen, Malwerkzeug, Schmiedewerkzeug und ein paar Kleider beschränkten, herrschte hier ein optisches Chaos. Es entsprach allerdings dem jungen Mann.
Als Luca ein Kind war, hatte sein Großvater hier seinen Verkaufsraum und eine Theke. An den Wänden standen einst Regale und Vitrinen mit den prächtigsten Schmuckstücken, Auftragsarbeiten, die nie abgeholt wurden, sich aber sehr gut zur Präsentation eigneten. An den Wänden hingen Bilder, Gemälde des Prinzen und der Herrscherfamilie, die von Mesalla verbannt und auf ewig ins Exil geschickt wurde.
Die Schlafstatt beider Männer war einst hinten.
Dennoch hatte der Raum etwas, dass Luca Wärme gab.
Luca trat nun ebenfalls ein. Er hatte das Gefühl, als würde seine Erinnerung wie eine Woge über ihm zusammenschlagen.
Ayco mühte sich an einem anderen Fensterladen ab, scheinbar zerrte er so an den Hebeln und Riegeln, dass Goldy vorsichtshalber Reißaus nahm, bevor sie in hohem Bogen von seiner Schulter herabgeschleudert wurde. Nörgelnd verkroch sie sich auf dem Bett und ließ sich fallen. Scheinbar setzte sie sich so ungünstig, dass einige Strohhalme sie piekten. Eilig klopfte sie das Kissen mit ihrem Schwanz weicher, wirbelte aber so viel Staub auf, dass sie husten und niesen musste.
„So lieb du bist“, keuchte sie, als sie wieder etwas mehr Luft in ihre Lungen bekam, „aber du hast einen Saustall!“
Ayco wendete sich zu ihr um. „Kunststück, ich war mehr als vier Mondzyklen lang nicht hier!“
Behutsam schob Luca ihn zur Seite und versuchte den verquollenen Laden zu öffnen, murmelte aber schließlich einen Zauber, weil die Chance, das alte Holz zu zerstören weitaus zu hoch war. Licht und Musik fluteten den Raum, allerdings auch der Duft nach Aphrodisiaka und Wein, aus dem nahen Bordell.
Kommentarlos trat der Magier zu der Bettstatt Aycos, fischte Goldy von ihrem Sitzplatz und ließ sie sanft zu Boden. Die Kleine ersparte sich jeden Protest. Während der Magier das Bettzeug gründlich ausschüttelte und zum Lüften über die eilig abgestaubten Fensterbretter legte, ging Tambren dem Geruch nach dem vergammelten Essen nach.
„Hast du einen Besen?“, fragte Luca.
Verwirrt deutete Ayco nach unten.
„Im Lager...“, entgegnete er fahrig. „Was machst Du da eigentlich, Luca?!“
„Sauber“, entgegnete der Magier knapp.
„Ja, das sehe ich“, murmelte Ayco leicht verärgert.
Bevor Luca allerdings über die schmalen Leiterstiegen hinab in das Lager steigen konnte, huschte der Elf nach unten. Leise hörte der Magier seinen Freund unten fluchen, wenn er gegen etwas stieß oder er über etwas stolperte. Sein Blick strich zu Goldy, an deren Mimik er zu deutlich ihr Mitgefühl ablesen konnte. Immer, wenn Ayco sich stieß, verzog sie ihr Gesichtchen, als habe sie sich etwas getan.
„Dieb, wie?“, fragte Tambren spöttisch aus dem Nebenraum.
Luca zuckte hilflos mit den Schultern.
„Vielleicht hat er nie versucht sich selbst zu beklauen?“, erklärte er.
„Hab ihn!“, kam von unten und für Lucas Geschmack ziemlich erstickt.
Nach wenigen Augenblicken kroch Ayco zerzaust und staubig die Treppen wieder hoch, einen alten Reisigbesen in der Hand, der angeknabbert aussah.
Jetzt, im Licht, betrachtete sich der Elf die Reste genauer. Er stellte ihn neben sich ab und klopfte den Staub aus en Kleidern, die ihm Luca überlassen hatte.
„Scheinbar habe ich ein Rattenproblem hier“, sagte er nachdenklich, mit einem Blick zu dem Besen, den Luca sich bereits griff, um den Raum auszufegen.
„Eins stimmt nicht, Ayco!“, drang Tambrens Stimme aus dem Nebenraum. „Ich würde es mit einer Kolonie umschreiben!“
Die Ratten reagierten allerdings nicht ganz wie erwartet. Sie wuselten nicht in alle Winkel und versteckten sich. Ganz gegen alle tierischen Instinkte traten sie gesammelt Ayco und Luca gegenüber. Der Elf klammerte sich hilflos an die Stütze im Wohnraum, während Luca die kleinen Kerle der Reihe nach betrachtete. Einige von ihnen schienen einfache, recht dumme Tiere zu sein, andere allerdings kannte er aus der Kristallstadt.
„Das sind welche von Nicodemus’ Ratten, nur eben in klein“, erklärte der Magier und ging vor ihnen in die Knie. Er streckte seine Hand flach auf dem Boden aus, legte den Besen neben sich auf dem Boden ab und wartete, bis ein kleiner, weißer Kerl mit schwarzen Flecken und bebenden Schnurrhaaren sich aus der Menge löste und zögernd zu Luca krabbelte. Mehrfach blieb er stehen, richtete sich auf seine Hinterläufe auf und schnupperte in die Luft.
Die Ratte testete Lucas Geduld aus. Er brauchte ewig, bis er seinen Fingern auch nur so nah kam, um ihm behutsam, zögernd in die Fingernägel zu beißen.
Luca hob eine Braue. „Feigling!“, schimpfte er sanft. „Du weißt selbst gut genug, dass ich oft bei deinem Herren in der Kristallstadt bin!“
Leise klapperte die kleine Ratte mit ihren Zähnchen, protestierte wohl gegen den Feigling. Dann setzte er sich in Lucas Handfläche und schnupperte an ihm. Seine kleinen, feinen Schnurrhaare kitzelten leicht. Dann knabberte er vorsichtig an Lucas Haut, ohne ihn jedoch zu verletzen. Er erhob sich wieder auf seine Hinterläufe und begann sich zu putzen.
„Hat euch Nicodemus geschickt?“, fragte Luca leise.
Aber der Kleine ließ sich bei seiner Fellpflege erst mal nicht stören.
Tam konnte ihm leider auch nur verwaschene Gefühle des Tieres übermitteln. Das Bewusstsein des kleinen Kerlchens war weitaus weniger klar als das einiger anderer Lebewesen.
Der Drachling kletterte an Lucas Zopf bis zu seiner Schulter und ließ sich an seinem Stammplatz nieder.
Ayco beobachtete die Szenerie sehr misstrauisch.
„Wenn er sie geschickt hat, würde es mich interessieren, ob sie nur dazu da waren, meine Vorräte zu dezimieren, oder ob sie auch einen praktischen Zweck hatten.“
Luca sah zu ihm auf. „Du erinnerst dich also auch wieder daran, dass wir als Kinder manchmal bei Nico waren, oder?“
Der Elf nickte. „Und dass ich dich nie aus seinen Hallen mit den Büchern weg bekam.“
Nachdenklich senkte er den Blick.
„Dass ich ihn vergessen konnte. Nicodemus und Justin waren die Freunde und Helfer unserer Kindheit, Luca.“
Der Magier schmunzelte. „Wohl eher unsere Kindermädchen.“
„Lasst das meinen Vater nicht hören, Elf“, drang die lispelnde Stimme Sisikazevs von der Tür her. Wenig überrascht wendete sich Ayco zu ihr. Auch Luca wendete vorsichtig den Kopf.
Die Rattendame drängte sich durch den niedrigen Eingang in den Raum. Ihre Masse verdrängte die Sonne.
„Die Kleinen sind eure Wächter und Beschützer gegen Mesalla und jeden, der zu neugierig nach euren Schätzen wird, Aycolén.“
Der Elf legte den Kopf schräg.
„Ihr seid Mesallas Gardehauptmann, wie kann ich euch glauben?“, fragte er scharf.
Die kleine Ratte auf Lucas Hand sprang herab und eilte zu Sisikazev.
„Ich bin nur da, um Schaden von seiner Seite zu minimieren“, sagte sie leise. „Mesalla steuert schon seit langem euer Schicksal und das Lucas. Alles lief bisher nach seinen Wünschen. Ihr ward immer ein Trumpf gegen den ersten Ritter des Kaiserreiches. Kyle Trehearn in der Hand zu haben, wenn es darauf ankommt, und das mit seinem Sohn, ist wertvoll. Genauso lenkte er immer das Schicksal von den Veraldis. Nachdem er wusste, wen Lucas Vater ehelichte, war es klar, dass er im Wettstreit mit Ihad um ihn lag. Als er erfuhr, wie nah ihr Luca wart und welche außergewöhnlichen Fähigkeiten in euch wuchsen, von den künstlerischen mal ganz abgesehen, wurdet ihr zu einem genauso wichtigen und wertvollen Baustein im Gefüge der Stadt, dass er euch nicht mehr entbehren konnte. Nun, im Moment, kommt ihr ihm mit eurer Wahl bei Luca zu bleiben nur entgegen.“
Bevor Ayco etwas sagen konnte, erhob sich Luca. Er sah zu deutlich, dass Ayco kurz davor stand, in den Palast zu gehen und Mesalla einfach nur niederzuringen.
Sisikazev musterte das Paar neugierig. „Wenn das Gefüge eines Tages auseinander bricht, das, was mein Vater prophezeit hatte, wird Valvermont vernichtet werden. Und diese Zeit ist nicht mehr fern, Aycolén Amaro. Allerdings bin ich der Auffassung, dass es besser ist, wenn Mesalla herrscht und uns nutzt, den Frieden zu wahren, als wenn das Land brennt und das Leben versiegt.“
„Was kann ich schon für ihn bedeuten?!“, zischte Ayco wütend. Luca umfing ihn sanft.
„Ihr seid ein Dieb, ein Fälscher, ein Magier und ein Spion“, entgegnete Sisikazev. „Das was euch an schauspielerischen Fähigkeiten fehlt, macht ihr an Mut wett. Das was euch antreibt ist ein unsägliches, inneres Feuer. Dort, wo die Situationen es erfordern, findet ihr Kräfte in euch, die alles übersteigen, was ihr selbst für möglich haltet.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Sicher hat er bessere Diebe als euch, oder bessere Kundschafter, bessere Fälscher und bessere Magier. Aber ihr bietet ihm die gesamte Palette dieses Könnens in einer Person. Außerdem macht es den Eindruck als würden die guten Götter euch besonders lieben, denn bislang seid ihr aus jeder Situation lebend hervor gegangen.“
Ayco sah Luca aus dem Augenwinkel an.
„Die Götter?“, wiederholte er leise. „Die wohl nur bedingt.“
Luca drückte ihn sanft.
„Wenn ihr so hinter eurem Herren steht“, begehrte Ayco auf, „warum sollen mich dann diese kleinen Kerle vor ihm schützen?“
Sie machte eine Bewegung zum Bett. Ayco schauderte merklich in Lucas Armen und schmiegte sich enger an seinen Geliebten.
„Zwei Gründe“, erklärte sie. „Das, was ihr unter eurem Bett habt, das ganze Geld, was ihr gespart habt um einen Priester oder Magier zu bezahlen, damit er euch eure Erinnerungen wieder geben kann, die versiegelt waren.“
Luca hob erstaunt eine Braue. Dennoch war ihm zu gut verständlich, warum Ayco das getan hatte.
„Der andere Grund?“, fragte Ayco wiederwillig.
„Mesalla ist wie wahnsinnig nach euch. Er will euch für sich haben, weil ihr in euch dieselbe ungezügelte Wildheit habt, die er in seinen Katzen so liebt. Meine Freunde hier sollten seinen Ausspähungen nach euch vereiteln. Dafür sind auch viele von ihnen gestorben.“
Ayco sah zu dem kleinen Tieren, die zu Sisikazevs Füßen saßen.
Die Rattendame verneigte sich nun tief. „Beantwortet das eure Fragen, Elf?“
Verzagt nickte Ayco.
„Das heißt, ohne eure Hilfe wäre ich immer in Gefahr Mesalla zum Spaß zu gereichen?“, fragte er noch einmal nach. Sisikazev zwängte ihren massigen Leib gerade wieder aus dem Raum hinaus auf die Treppe.
„Ja“, hörte er sie noch sagen, bevor sie mit einem Satz die Stufen herabsprang und verschwand.
Luca beobachtete Ayco, der seit Sisikazevs Besuch sehr still geworden war und stumm vor sich hin räumte. Dem Magier blieb nichts, als stille Hilfe zu leisten und da zu sein, wenn Ayco reden wollte. Tambren wollte er nicht auf Aycos Gefühle ansetzen, auch wenn er wusste, dass der Drachling sie wahrnahm. Dem Magier war klar, wie sich sein Geliebter nun fühlen musste. Auch er war nichts als ein unfreies Rädchen in Mesallas System.
Luca reinigte still Tisch und Stühle, fegte den Kamin aus und wollte sich gerade mit einem Eimer auf den Weg zum Brunnen machen, als Ayco sich zum ersten Mal regte.
„Bitte lass mich hier nicht allein“, bat er leise.
Allein konnte der Elf nicht sein, dachte Luca, nicht mit rund dreihundert Ratten, die das Haus bewachten.
Leise stellte er den Holzeimer nieder und trat zu Ayco. Der Elf sprang ihm wortlos in die Arme und klammerte sich an dem Magier fest.
Sein Schmerz fand keine Ausdrucksform, die gereicht hätte. Hilflos krallte er sich in Haut und Haar Lucas und presste sein Gesicht an dessen Schulter.
Sanft hielt der Magier ihn, wiegte ihn, versuchte durch seine Nähe und Anwesenheit Halt für Ayco zu sein.
„Sind wir denn nichts als Gegenstände für Mesalla?“, wisperte Ayco erschöpft.
Liebend gerne hätte Luca dem widersprochen, aber er wusste es besser. Bis heute hatte er nie eine andere Erfahrung gemacht, als die des Leibeigenen.
Er schmiegte sein Gesicht in Aycos Haar.
„Wenn wir das mit uns dauerhaft machen lassen, werden wir nie frei sein“, sagte er leise. „Allerdings gerät dann wirklich das System ins Wanken.“
„Sind wir denn so wichtig?“, fragte Ayco leise.
Das war eine Frage, die sich Luca auch schon oft gestellt hatte. Immer kam er zu dem gleichen Ergebnis. Er, als einzelne Person war unwichtig, aber da er Einfluss auf duzende Anderer hatte, die ebenfalls Teil des Gesamtbildes waren, er sie teils steuerte, leitete und führte, geriet er wieder in die Position wichtig zu sein.
Nicht der einzelne als Individuum zählte, sondern die Gesamtheit, in der die Person unersetzlich werden würde.
Aber das konnte er Ayco so einfach nicht erklären, weil der junge Mann ganz anders dachte als Luca. Ungezügelt und chaotisch war der junge Elf, wenig gefasst und geordnet, gegensätzlich zu Luca.
Dennoch sah Luca zu deutlich, dass Ayco vor weitaus gewaltigeren Ruinen seines Lebens stand, als er selbst, denn Ayco würde sich niemals mit der Situation einfach so abfinden, er schon.
„Lass uns die Nacht hier verbringen, Luca“, bat der Elf, nachdem er sich beruhigt und gezwungenermaßen den Putzlappen geschwungen hatte. Der Magier konnte in der Ordnung nicht weniger streng sein als in der Disziplin bei seinen Studien.
Darin Ayco allerdings zuzustimmen, fiel Luca nicht schwer. Er tauschte gerne das prächtige Zimmer in Justins Villa gegen die nun saubere Handwerkshütte von Ayco und seinem Großvater.
„Allerdings sollten wir ein wenig einkaufen, um deine dreihundert Mitbewohner und unsere hungrigen Drachen zu füttern“, sagte er lächelnd. „Der Blick in deine Vorratskammer hatte mir deutlich gezeigt, warum die kleinen Ratten so wohl genährt aussahen.“
„Sie war leer?“, fragte Ayco überflüssigerweise.
„Leergeputzt bis auf das schimmlige Brot und den übersäuerten Wein“, erklärte Luca, der sich vorhin die Kammer vorgenommen hatte.
Ayco seufzte. Dann rückte er das Bett ab und schraubte mit einem Fleischmesser vorsichtig eine Diele aus dem Boden.
„Dein Schatz?“, vermutete Luca, der sich auf einem der Holzstühle niedergelassen hatte.
Das Klirren und der volle Ton der Münzen, verrieten dem Magier, dass Ayco wirklich einen kleinen Schatz dort unten hütete.
Mit dem kindlichsten und vergnügtesten Grinsen überhaupt, schöpfte er eine Hand voll Silberlingen aus Valvermont heraus.
„Das sollte für einen Großeinkauf langen, oder?“ fragte er überflüssigerweise.
Luca hob beide Brauen und pfiff durch die Zähne.
„Das ist nah an meinem Sold“, murmelte er. „Wie viel hast du gespart?“
Er konnte nicht ganz die Bewunderung aus seiner Stimme verbannen, schon weil das, was der Elf gerade in Händen hielt, reichte, um das Haus bis unter das Dach mit Nahrungsmitteln zu füllen.
„Ungefähr einhundertfünfzigtausend Goldmünzen sarinischer Währung, du verstehst?“, fragte Ayco. „Ich meine die große, die mehr wert sind als die aus Valvermont.“
Dieses Mal musste Luca husten.
„So viel?“, flüsterte er heiser. „Damit hättest du Ihad selbst beauftragen können!“
„Ja“, antwortete Ayco. Seine Stimme klang verächtlich. „Wäre er nicht der Grund gewesen, wegen dem ich diese Dienste gebraucht habe!“
Darin musste Luca ihm leider zustimmen.
„Was hält dich ab, das alles hier wieder aufzubauen und den Namen Amaro wieder rein zu waschen?“
Ayco schüttelte nur den Kopf.
„Wegen dir“, sagte er lächelnd, legte das Geld neben Luca auf dem Tisch ab und setzte sich auf den Schoß des Magiers. „Weil ich dich nie wieder verlassen werde. Wohin du gehst, gehe ich, verstanden?“
Luca umschlang ihn sanft und küsste ihn wortlos.
Die laue Nachtluft umstrich sie, milderte die Geschehnisse des Tages und erfüllte Luca mit der Sicherheit, dass es eine der schönsten Nächte überhaupt werden konnte.
Sie hatten gemeinsam mit den Drachen und den Ratten gegessen – ein zugeben ungewohntes Gefühl – was aber nichts Falsches an sich hatte und sich die Bilder angesehen, die Ayco gemalt hatte. Einige von ihnen trugen kleine Nage- und Bissspuren. Nun schlenderten sie durch die Stadt, Arm in Arm, verträumt, in der Illusion von Freiheit.
Unterschwellig aber spürte Luca einen stillen Ruf, eine unerfüllte Sehnsucht, der er folgte. Als sie die Grenzen des Patrizierviertels erreichten, wusste Luca, was ihn hier her zwang. Es war die Ruine, die Villa und der Park, die einst seiner Familie, seinem Vater, gehört hatte.
Etwas in ihm wollte damit abschließen. Dieser Ort war eine Last auf seiner Seele, die er nicht bemerkte, nur wenn er einsam war und daran dachte, dass er schon damals nichts als ein Gegenstand für seinen Vater war.
Bevor sie das Anwesen erreichten, hielt ihn Ayco zurück. „Willst du dir das wirklich antun, Luca?“
Der Magier sah ihm still in die Augen und nickte.
„Dann sollten wir es wagen“, sagte Ayco leise.
Von der hohen Mauer und dem breiten Tor war nichts mehr zu sehen. Efeu hatte den Stein bezwungen. Ein Baum, dessen Wurzeln sich durch die Ziegel nach außen gezwängt hatten, brachen das Gefüge auf. Der Magier sah sich um. Um dieses Anwesen standen Villen, die sich in ihrer Pracht weit von den Ruinen abhoben. Warum Mesalla das alte Veraldis-Haus nie hatte niederreißen lassen, konnte Luca nicht sagen. Vielleicht sollte es als Mahnmal hier stehen bleiben, die Leute erinnern, was ihnen geschah, wenn sie sich dem Prinzen nicht beugten.
Behutsam berührte er den Efeu und tastete tiefer, bis er den feuchten, schimmligen Stein fühlte. Etwas krabbelte über seinen Handrücken, aber Luca zuckte nicht zurück. Der Mörtel bröckelte unter seinen Fingern weg und hinterließ feuchten Sand auf seiner Haut.
Luca sog den Geruch des Alters ein, der Feuchtigkeit und des grünen, frischen Laubes.
„Mein Heim“, flüsterte er.
„Fühlst du dich hier zu Hause?“, fragte Ayco leise und legte Luca seine Hand auf die Schulter.
Der Magier sah zu ihm.
„Immer wenn du da warst und in den Nächten bei mir eingebrochen bist, war es das, ja. Deine Nähe hat mir mein Zimmer zu einem Zuhause gemacht, Ayco.“
Die Jadeaugen füllten sich mit Trauer. „Du warst unglücklich dort, nachdem ich dich nicht mehr besuchen durfte, Luca. Dein Vater hat dich eingesperrt und vor den Augen der Öffentlichkeit fern gehalten. Du warst lange noch ein Seraph, konntest dich nicht in einen Menschen verwandeln. Das war der Grund, warum er dich hier einsperrte, und weil er...“ Ayco ballte die Faust. „Weil er deine Mutter verraten hatte. Er hat zugesehen, wie der Mob sie umbrachte, weil sie ein Seraphin war.“
Lucas Herz krampfte sich zusammen. Er hatte verdrängt, dass er seine Mutter als kleines Kind verloren hatte. Wäre Ayco nicht gewesen, der ihn damals vor dem wütenden Mob verbarg, so wäre auch er verbrannt worden.
Sein Vater hatte wirklich nichts unternommen, um seine Frau zu retten, die er doch so sehr geliebt und verehrt hatte – dieser Lügner und Heuchler!
Ein feiner Schmerz zog sich von seinen Fingerspitzen hinauf in seine Hand.
Es dauerte seine Zeit, bis Luca realisierte, dass er die Nägel tief in das alte Gestein gegraben und sie sich abgebrochen hatte.
Tambren setzte vorsichtig eine Pfote auf seinen ausgestreckten Arm, erhob sich langsam und legte den Kopf schräg.
„Wenn du deinem Vater nicht vergibst, wirst du nie deinen Frieden finden.“
Der Magier sah ihn an. Er wusste, dass sein kleiner Freund recht hatte, konnte aber rein gar nichts gegen diese hilflose Wut in sich tun.
Er erinnerte sich sehr gut daran, dass er als Junge Glück empfunden hatte, von seiner Mutter und seinem Vater geliebt wurde und Ayco ständig bei ihm sein konnte. Klar waren die Bilderfetzen nicht, aber wenigstens von ihrem Gefühl her sehr schön. Sie vermittelten ihm eine Wärme, nach der er sich immer gesehnt hatte.
Ayco umarmte ihn sanft von hinten, drückte sich an ihn und umschlang Lucas Taille. Der Magier spürte den warmen Atem seines Freundes, der über seinen Nacken strich und einen Herzschlag später seine Wange, die er gegen Lucas Kopf lehnte.
Plötzlich fuhr Ayco zusammen, löste sich rasch von Luca und sprang mit der Grazie einer Katze, auf den Mauerkamm hinauf. Einen winzigen Augenblick stand der Magier still und verwirrt da, bis Tambren ihn warnte, sich zumindest unsichtbar zu machen.
Beinah zu spät erkannte Luca die patrouillierenden Wachen, die um eine Ecke bogen. Dieses Mal hatte ihn seine Wachsamkeit im Stich gelassen.
Lautlos verschwand er. Seine Gestalt hatte nur ihre Sichtbarkeit verloren. Körperlich stand er immer noch an der gleichen Stelle, löste sich nun aber vorsichtig, um weiter zurück zu gleiten, sich umzudrehen und mit dem Rücken gegen die Wand zu lehnen. Als er das Efeu hinter sich berührte, raschelten die Blätter leise. Zu allem Unheil war beide Stadtwachen verhältnismäßig aufmerksam.
Der ältere der beiden, ein kleiner dünner Mann mit schütterem Haar und einer nicht ungefährlich aussehenden Hellebarde, spähte nun angestrengt in Lucas Richtung. Der Magier gewann fast den Eindruck, dass ihn der Soldat sehen konnte.
„Hast du nicht auch was gehört?“, fragte er seinen jüngeren, weitaus größeren und breiteren Gefährten.
Der brachte seine Hellebarde in Position.
„Nicht nur gehört, auch gesehen“, bestätigte er. „Da ist etwas an der Mauer.
Auch wenn sich Luca sehr sicher war, dass weder der eine, noch der andere ihn wirklich sehen konnten, machte ihn die Situation nervös. Er hatte nicht vor sich hier erwischen zu lassen, davon abgesehen würde es auch ziemlichen Ärger mit Mesalla geben, würde der Prinz selbst ihn aus dem Gefängnis der Stadtgarde holen müssen.
Außerdem wusste er zu gut, dass er nur unsichtbar, aber nicht unverwundbar war. Die Hellebarde des jungen Soldaten bewegte sich in seine Richtung und stach immer wieder gefährlich nah und zumeist nur eine Hand breit neben ihm in das Efeu an der Mauer.
Vorsichtig, so leise er mit seinen hohen, schweren Stiefeln konnte, wich er immer weiter seitlich aus und entglitt den Stichen.
Nach einer Weile gaben die beiden Soldaten auf.
„Vielleicht ein Tier?“, schlug der jüngere Mann vor. „Wenn dem so ist, haben wir beiden uns ganz schön zum Idioten gemacht.“
Sein Kollege wiegte den Kopf. „Wenn uns jemand von einem der Häuser aus gesehen hat, ist mir die Erklärung, dass die Villa bespukt wird und wir einem Geist gefolgt sind, lieber“, lächelte er.
Während er sich umsah, hinter vorgehaltener Hand gähnte und sich dann streckte, nahm auch endlich sein Gefährte die Waffe herunter und betrachtete die Mauer und das die Zinnen des Hauses, das tief in dem verwunschenen Park lag.
Er deutete auf den Bogen, der das Tor einst einfasste.
„Du hast doch sicher noch miterlebt, wie das hier passiert ist“, fragte er seinen älteren Freund. „Und was da über dem Tor stand.“
Nachdenklich wiegte er den Kopf und strich sich den Bart glatt.
„Das ist eine seltsame Geschichte“, murmelte er. „Der Besitzer der Villa war ein von Mesalla geadelter Mann, reich, einer der Händler, denen es immer gut ging. Er hatte eine schöne Frau gefunden und sie lebten einige Jahre glücklich. Dann aber wurde bekannt, dass sie keine Menschenfrau sondern eine Dämonin war. Sie hat ihn wohl mit ihren Reizen bezaubert und für ihre Zwecke genutzt. Damals wechselte oft das Personal hier in der Villa. Männer und Frauen verschwanden und tauchten nie mehr auf...“
„Komm, du übertreibst!“, wehrte der junge Mann lachend ab. Luca allerdings sah die Unsicherheit in den Augen des Soldaten.
„Nein, das tue ich nicht“, beharrte der ältere Wächter. „Damals verschwanden mehrere Zofen der Herrin und der Hausdiener kam auf seltsame Weise zu Tode.“
Dem jüngeren Mann lief offenbar ein Schauer über den Rücken. Er sah wieder zu den Zinnen hinauf und dem fahlen knochenbleichen Licht des großen Mondes, der das Haus in seiner verfallenen Pracht zu neuem, unheimlichem Leben füllte.
„Wie ist das passiert, und woher weißt du davon?“ fragte er. Angst schwang in seiner Stimme mit.
„Eines der verschwundenen Mädchen war meine Tochter“, entgegnete die Wache angespannt.
Sein junger Gefährte erbleichte.
Luca senkte nachdenklich den Blick. Er erinnerte sich daran, dass sie wenig Personal hatten, als er klein war. Nur die Lieblingszofe seiner Mutter, die sich das Bett seines Vaters erschlich und die er auch später zum Weib nahm, stand noch klar vor seinem inneren Auge. Damals war sie auch fröhlich und sehr lieb zu Luca gewesen, hatte oft mit ihm gespielt und ihn oft scherzhaft „Hühnchen“ oder „Geflügel“ gerufen. Aber das änderte sich, als sie seinen Vater umgarnte.
Ihm war auch entfallen, dass sie mehrere Mägde und eine alte, dicke Köchin hatten, die gutmütig und sehr beredt war. Oft war sie konspiratives Mitglied in der Verschwörung gegen Lucas Vater und half Ayco mehrfach in das Haus, oder versorgte die Jungen mit Essen, wenn sie ausrissen.
Sie hatte den Status einer geliebten Großmutter für den damals noch recht jungen Luca.
Auch der strenge Hausdiener, der runde Kutscher, der Gärtner mit seinem Gehilfen und der dürre Hauslehrer waren Personen, die ihm entfallen waren. Bis auf den Hauslehrer mochte Luca auch alle sehr. Sie waren seine Freunde. Wirklich einsam war er nie dort. Dennoch fühlte er sich so, wenn Ayco nicht bei ihm war. Der Elf bedeutete damals schon das Zentrum seiner Welt.
Aber ihm war nie bewusst gewesen, dass die Menschen, die für seinen Vater arbeiteten, verschwanden. Vielleicht war das noch vor seiner Geburt gewesen.
„Man sagte, sie habe ihre Seelen gefressen“, erklärte gerade der alte Wachmann.
Stumm verdrehte Luca die Augen. ‚Seelen fressen, was sind wir, Succubi und Inccubi?!’, fragte er Tambren. ‚Ein wenig Lebensenergie brauchen wir, aber nur selten und auch nur, wenn wir kurz vor dem Tot stehen.’
‚Mach das den einfachen Bürgern klar, Luca. Für sie seid ihr Seraphin dämonische Unglücksboten. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob du ein normaler Seraph-Menschen-Mischling bist’, äußerte der Drachling seinen Verdacht.
‚Unsinn. Meine Mutter war ein Seraph, mein Vater ein Mensch’, widersprach er.
‚Du hattest in den Höhlen weiße Schwingen und weiße Haut. Das bedeutet, dass in dir nicht nur das Blut der schwarzen Engel ist, sondern auch das eines Celestial.’
Luca schob den Gedankengang von sich. Er war sich sicher, dass einzig die Magie ihn so verändert hatte. Außerdem interessierte ihn das Gespräch der Wachen zu sehr.
„Als bekannt wurde, dass er eine Dämonin geehelicht hatte, zwang unser Prinz ihn dazu, sich von ihr zu trennen. Das tat er aber nicht. Da sammelten sich die bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, große Ordensführer, Priester, Gildenoberhäupter und Ratsherren, um über sie zu Gericht zu sitzen. Diese Verhandlung war nicht von unserem Prinz erbeten, aber sicher in seinem Sinn.“
„Was passierte dann?“, fragte der junge Mann atemlos.
„Mesalla zwang das Gericht, eine Woche zu warten. Er schwor, dass, würde sich der alte Verald...“, er unterbrach sich. „Der Hausherr, nicht zu den guten Göttern bekehren lassen und sein Weib verstoßen, er ihm Namen und Titel nehmen, sein Geschäft, sein Geld und ihn in die tiefsten Verließe verstoßen würde. Daraufhin passierte einen Zehntag nichts. Dann ging das Gerücht, die Hausherrin habe einen Zauber über ihn gewoben um ihn zu zwingen, ihr allein zu huldigen. Die Stadt, der Rath, alle, erhoben sich, stürmten das Anwesen und befreiten den armen Mann.“
„Und wie?“, fragte der junge Soldat etwas dümmlich.
„Indem sie das Weib erschlugen, sie zerrissen und verbrannten, junger Narr!“, zischte er.
Luca spürte in sich kochende Wut aufsteigen. Er erinnerte sich dumpf an den Tag, an das Abschlachten. Jeder der sich dem Mob in den Weg stellte, wurde niedergetrampelt oder erschlagen. Ihnen war es damals völlig gleich, wen sie umbrachten. Das ganze Haus stand für sie im Bann des Bösen.
Sein Herz brannte.
„Aber wie konnte er dann, geläutert, wieder in Ungnade fallen?!“, fragte der junge Mann nun weiter.
„Jahre lang verbarg er ein Kind von ihr unter seinem Dach. Dieses Unglücksbalg hat dafür gesorgt, dass sein Geschäft schlechter wurde. Seine Schiffe wurden von Piraten beraubt und zerstört. Was dieses Pack nicht schaffte, gelang dem Wetter. In einigen Häfen zerdrückte das schnell heraufziehende Eis die Rümpfe, oder das Meer verschlang sie. Ihm blieb nichts. Mesalla stellte ihn wieder vor die Entscheidung. Was dann allerdings geschah, weiß keiner, denn das unheimliche Dämonenkind wurde nie gefunden. Vielleicht hat er es selbst in diesen Mauern getötet, und sein Geist geht hier um!“
‚Nein, er hat mich an den Orden verkauft, um seinen Leumund rein zu halten und seine desolaten Kassen und Truhen zu füllen’, dachte Luca wütend.
„In jedem Fall starben er und sein zweites Weib arm in den Kerkern Mesallas. Seine einzige Tochter, sein armes Kind, wurde verkauft in die Sklaverei. Das alles hat er diesem Dämonenpack zu verdanken!“
„Lass uns endlich hier verschwinden!“, drängte der junge Mann. „Du machst mir Angst!“
„Nun weißt du, warum ich sage, dass wir Geister hier jagen“, erklärte der alte Soldat und deutete zu der Villa. „Das ist ein verfluchter Schandfleck in dieser schönen Stadt.“
Für einen winzigen Moment spielte Luca mit dem Gedanken, direkt vor ihnen zu erscheinen, als Seraph, düster und zornig, aber er wusste nur zu gut, dass diese kindische Rache kaum das Unrecht an seiner Mutter gut machen konnte.
So wartete er still, bis die beiden Wachen weiterzogen und die Schatten sie verschlangen.
Er ließ seinen Zauber fallen. Ayco landete lautlos neben ihm und richtete sich geschmeidig auf.
„So sehen die Anderen uns also“, stellte er tonlos fest.
Luca nickte schwach. Sein Blick streifte Ayco.
„Den Namen Veraldis kann zumindest ich nie wieder rein waschen“, sagte er leise. „Dank Mesalla.“
Ayco lehnte sich an Lucas Schulter. „Warum hat Mesalla das getan?“
„Wenn er einen Seraph in seinen Diensten hat, hat er sicher Vorteile.“
Der Elf hob kurz den Kopf, verzog die Lippen und ließ sich wieder an Lucas Seite sinken.
„Na, welch ein Zufall, dass wir Seraphin sind und er uns in seinen Klauen hält!“
Ruhig lag das Meer, schimmerte graublau, reflektierte das Sonnenlicht so hell, dass Luca die Lider schließen musste.
Das Sonnenlicht sorgte im Moment zusammen mit dem Geruch nach Salz und Schweiß für ein unbezwingbares Gefühl von Übelkeit. Sein Gemüt hatte sich seit der vergangenen Nacht nicht wirklich beruhigt. Noch immer fühlte er sich schlecht und seine Gedanken drehten sich zu deutlich um die Angst, dass Aycos und seine Natur irgendwann verraten werden konnten. Jaquand, Raven, Thorn und Orpheu kannten dieses Geheimnis. Und zumindest dem Zwerg-Orc-Mischling traute Luca zu, dass der irgendwann ausplauderte, was sie waren.
„Aus dem Weg!“, rief ein Hafenarbeiter.
Luca hob die Lider und sah zu dem bulligen Mann, der einen Ochsenkarren mit mehreren Kisten beladen, führte.
Fast ein wenig widerwillig trat er zur Seite, in den Schatten des Lagerhauses, was Orpheu für sein Heer nutzte.
Einige Gefährten saßen bereits hier auf dem Boden, warteten geduldig und entspannt. Ayco trat gerade aus dem Schatten eines großen Lastenseglers, in seinen Händen ein breites Holztablett, auf dem gebackener Fisch lag.
Einige der Männer setzten sich nun auf und winkten ihn herbei.
„Und, was gab es?!“, rief Jaquand, der sich langsam vom Boden erhob und die steifen Gelenke streckte.
Ayco antwortete erst, als er seine Gefährten erreicht hatte.
„Mach die Augen auf, dann siehst du es“, knurrte er den Schützen an.
Der hob die Braue. „In welchem Monat bist du denn schwanger?!“, fragte er. „Wohl mit dem falschen Bein aufgestanden?“
Ayco bedachte ihn mit einem Blick, der Sarina mit einer Packeisschicht überziehen konnte.
Jaquand beachtete ihn gar nicht, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann neugierig die Auswahl an kleinen Fischen in Salzkruste zu inspizieren.
Bevor er seine Finger nach einer besonders schön durchgebackenen Sardelle ausstrecken konnte, schoss ein flinker, roter Drachenschwanz unter Aycos offenem Haarmantel hervor und ergriff den Fisch.
„Mistvieh!“, knurrte Jaquand. „Den hatte ich mir ausgesucht!“
Luca musste lächeln, trat nun aber auch näher heran, weil das Knurren von Tambrens Magen ihn langsam störte.
„Lecker, Fisch!“, schnurrte der Drachling, drehte seinen langen Schlangenhals hinab und schnupperte über den Fischen. „Das ist so herrlich...“ Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, da schnappte er auch schon nach einer kleinen Garnele, die sich Jaquand gerade nehmen wollte. Sofort zog der Mann die Finger zurück.
„Klar, behalt sie, Vielfraß. Drachensabber will ich nicht an meiner Garnele!“, knurrte er.
Der Drachling ließ sich auch nicht dabei stören.
Scheinbar war der Schütze heute zu wählerisch, denn seine Gefährten, Aycolén inklusiv, schnappten sich diverse Leckerbissen vor seiner Nase weg. Zu Ende begnügte sich Jaquand mit einem Stück Forelle, was ihm Mano übrig ließ.
Luca lief das Wasser im Mund zusammen. Der Duft des Fisches weckte bei ihm bohrenden Hunger. Aber er untersagte es sich. Askese und Genügsamkeit waren eine der Direktiven, den er sich immer beugen musste. Dennoch grenzte das Festmahl für ihn an seelische Grausamkeit, besonders weil Tambren auffällig gerne neben seinem Ohr schmatzte und kaute.
Er versuchte sich abzulenken, indem er sich die ganzen ausländischen Diplomatenschiffe betrachtete, die Flaggen, die unterschiedlichen Typen und die teils sehr schönen Galionsfiguren und Rammsporne.
Aber irgendwie funktionierte es nicht ganz so gut, wie er sich erhoffte. Einzige - etwas hämische - Rettung war der Gedanke, dass seine Freunde binnen kürzester Zeit nach Wasser verlangen würden.
Allerdings zog sich für ihn die Zeit, bis Orpheu und die letzten, noch fehlenden Männer endlich erschienen.
Der Hauptmann schien weitaus besserer Laune zu sein als an dem Vortag, an dem jedem noch der Tot Lucretias nachging.
Er rief seine, um das Lagerhaus versprengte Gruppe zusammen und erklärte entspannt und gelassen, dass sie von Mesalla alles gewünschte Material gestellt bekamen.
Offensichtlich musste der Prinz schon jetzt etliche Waffen und Rüstungen geliefert haben, denn Orpheu bat sie alle in das Lagerhaus, um sich von der Passgenauigkeit und Qualität zu überzeugen.
Luca kannte den großen Raum bestens. Durch die Oberlichter fiel helles Sonnenlicht und ließ Staubkörner in der Luft tanzen. An der Nordwand waren voneinander abgetrennte Verschläge, hoch gefüllt mit Kisten und Netzen, in denen sich Waffen, Rüstzeug und Kleidung befanden. Fast automatisch steuerte Luca seinen kleinen Bereich an, blieb aber stehen, als er bemerkte, dass Ayco vollkommen ratlos, aber auch ziemlich beeindruckt von dem schweren Kriegsgerät, den Rammböcken, Spornen, Ballistren und Pferderüstungen, verharrte.
„Das ist unfasslich“, murmelte er. „Wann wird das eingesetzt?“
„Bei Feldzügen“, erklärte Luca und trat hinter ihn.
Sanft zwang er den jungen Mann zu einem Alkoven, nah dem seinen.
„Das sind deine Sachen“, erklärte er, während Ayco ihn fragend musterte.
„Du hattest meine Rüstliste geschrieben“, sagte er unsicher. „Meinst du, Mesalla ist auf alles eingegangen, was du für mich bestellt hast?“
„Schau einfach nach“, forderte Luca ihn auf. „Ein Rapier und eine Lederrüstung, kann er kaum verwehren.“
Der Elf neigte sich dicht zu Lucas Ohr.
„Aber all die anderen Sachen, meine ich“, wisperte er.
Luca hob eine Braue. Dann zog er eine große Rolle herab.
Es war eine vollständige Schlafausrüstung mit mehreren Decken und einer Bastunterlage.
„Die hast du schon mal“, lächelte der Magier.
Neugierig griff Ayco nach einem Beutelchen, das nicht nennenswert größer als ein Geldbeutel war. Mit fliegenden Fingern öffnete er das Lederband und betrachtete mit leuchtenden Augen den Inhalt.
„Rauchkugeln“, strahlte er.
Luca nickte. Anderes hatte er kaum erwartet.
Sorgsam schnürte der junge Mann den Lederbeutel wieder zu und legte ihn behutsam auf die Schlafrolle.
In einem weiteren Beutel fand er winzige Glasballons, in denen sich die gewünschten Schlafgase befanden. In einer schlanken Truhe lag ein fein gearbeitetes und wunderschön verziertes Rapier, in dessen Griff ein rotgoldener Stein eingelassen war. Als Ayco es bewundern streichelte und aus der Kiste hob, musste Luca sich ein glückliches Lachen verkneifen, denn er hatte bei Mesalla um eine besondere Waffe gebeten.
Vorsichtig testete Ayco die Waffe auf ihre Ausgewogenheit von Klinge zu Griff und hob es dann dich vor sein Gesicht.
„Das ist ein Traum“, flüsterte er.
„Versuche, wie es bei einigen Probeschlägen in deiner Hand liegt, Liebster“, forderte Luca ihn auf.
Der Elf trat einige Schritte zurück und begann einen eleganten Schwertwirbel. Luca sah, wie der Stein aufglühte und die feine Klinge flammende Ornamente in die Luft zeichnete, die den Schlägen folgten.
Ayco stieß einen leisen Schrei aus, hielt die Waffe dann ruhig und betrachtete sie neugierig. Eine sanfte Lohe umgab die Schneide und verlosch.
„Was... Luca!“, er hob den Blick und sah seinen Geliebten an. „Das ist ein magisches Rapier!“
Bevor Luca auch nur ein Wort sagen konnte, sprang Ayco ihm in die Arme und umklammerte ihn fest.
„Das ist das schönste und Wertvollste, was ich je besessen habe!“, rief er.
Luca lachte nun glücklich. Mit seiner Auflistung hatte er Mesalla gebeten seinen Sold einzubehalten und einen seiner Flammenzauber, den er speziell dafür abgeschrieben hatte, in die Waffe einarbeiten zu lassen.
Insgeheim war der Magier sehr dankbar, dass der Prinz darauf eingegangen war.
Er drückte Ayco fest an sich.
Rapier und Scheide waren sein persönliches Geschenk für seinen Geliebten.
Ayco legte die Waffe auch sofort an.
Allerdings erwarteten den jungen Mann noch etliche Überraschungen. Mesalla hatte ihn auch ausgestattet mit Seilen, Haken, Keilen, Wurfdolchen und Pfeilen, neuer Kleidung, wie Luca zugestehen musste Gewandungen bester und edelster Qualität und Parierdolchen. Hinzu kamen Roben und Material seitens des Ordens.
Scheinbar konnte der junge Mann kaum seinen Augen trauen, denn er strahlte und staunte mit jedem Paket und jeder Kiste, die er inspizierte, mehr.
Orpheu räusperte sich irgendwann. Scheinbar war er der Ansicht, dass seine Männer sich genügend an den neuen Waffen ergötzt hatten.
„Hört mir zu“, begann er. „In zwei Tagen werden wir Valvermont verlassen und nach Sarina aufbrechen.“
Leise beschwerten sich einige seiner Männer, viele, weil sie kaum Zeit für ihre Frauen und Kinder hatten.
„Ihr wisst was unser Auftrag ist. Genauso ist bekannt, dass Raven nicht mit uns zieht. Er wird bis auf weiteres hier in Valvermont bleiben.“
Die Stimmung sank mit Orpheus Worten. Jeder spürte noch das Echo des Schmerzes.
„Morgen wird Lucretia zu Grabe getragen. Ich verlange von euch, dass ihr dieser Frau die letzte Ehre erweist.“
Diesem Befehl würden sich alle beugen, das wusste Luca zu gut, mochten doch die Meisten Raven sehr.
Ihm würde der fröhliche Trickser und Falschspieler sehr fehlen. Raven war immer Teil des Heeres gewesen, und Luca dachte mit viel Schmerz wieder an die wundervolle Hochzeit des Paares.
Orpheu hob die Hände. „Morgen, bei Sonnenuntergang sammeln wir uns im Hof von Lucretias Vater und geleiten sie bis zum Grabhügel hinauf.“
Schweigen und Trauer antwortete ihm.
„Übermorgen werden wir bei Sonnenaufgang von hier Aufbrechen. Unsere Schiffe werden hier vorne ankern“, führte er aus. „Es sind die beiden bewaffneten Küstensegler Rangar und Zara. Die Kapitäne erwarten uns und laufen eine Stunde nach Sonnenaufgang aus.“
„Was ist mit dem Weibsvolk?“, fragte einer der Männer. „Schleppen wir die mit?“
Orpheu nickte. „Kione, Linnette, Ria und Nea nehmen wir bis zur kaiserlichen Hauptstadt mit uns.“
„Sind wir dann die Weiber wieder los?!“, rief Mano.
„Ria würde ich gerne dabei behalten!“, knurrte Thorn. „Sie kann heilen und zuhauen. Das ist für eine Frau eine gute Mischung!“
Der Höhlentroll rollte mit den Augen. „Nea ist auch eine gute Kriegerin, aber ich mag ihre giftige Art nicht!“
Orpheu atmete tief durch. „Haltet die Klappe!“, schrie er.
„Wir geleiten die Frauen bis nach Sarina. Wenn sich Ria uns anschließen will, so kann ich mir seitens Mesalla keine Einwände dagegen vorstellen. Sie ist fähig und robust. Nea ist ebenfalls eine brauchbare Kriegerin. Wir haben einige Männer verloren und nur zwei neue dazu bekommen. Lorn und Ayco sind in ihrem Bereich mit ziemlicher Sicherheit unschlagbar, aber ich brauche wirklich mehr Männer oder Frauen, die kämpfen können und meinen Befehlen bedingungslos Folge leisten.“
„Was ist mit der hübschen Kione?“, fragte ein anderer Soldat.
„Marcellino, du denkst mit deinem...“, begann Orpheu lachend, wurde aber von dem gismondischen Krieger barsch unterbrochen.
„Sag’s nicht Hauptmann. Mein Weib und meine Kinder haben das selten Talent immer das zu hören, was sie nicht sollen!“
„Hier, im Hafen bist du sicher“, beruhigte Orpheu ihn spöttisch. „Sie ist im Handwerksviertel. Von da aus müsstest du schon quer durch die Stadt brüllen, und sie dich hören!“
Marcellino lachte. „Das bringt die auch fertig!“
Orpheu lachte, beruhigte sich dann aber. „Nein, Kione werde ich kaum mitnehmen, auch nicht für euer aller Befriedigung. Ein Weib mit zwanzig unterschiedlichen Bälgern brauche ich nicht in meinem Heer!“
„Linnette können wir ja dann mitnehmen. Sie ist doch Amme!“, rief Jaquand.
„Danke!“, wehrte Orpheu ab. „Wirklich nicht. Wir hätten sie vielleicht bei deinem Weib lassen sollen. In neun Monden braucht sie eine Hebamme, oder?!“
Jaquand zuckte grinsend mit den Schultern. „Man tut was man kann!“
Unmerklich hatte sich Lorn weiter nach vorne geschoben. Die Männer wichen vor ihm zurück und schlossen sich wieder hinter ihm, ohne mehr zu bemerken, als den Todeshauch, den er ausatmete.
„Wie verteilen wir uns auf den Schiffen?“, fragte er leise.
Orpheu nickte. „Stimmt, das hätte ich fast vergessen. Wir teilen uns so auf, dass auf dem Schiff mit unserer besonderen Fracht die ganzen Magier und ihr, Priester reist. Das heißt, ihr seid zusammen mit Ayco und Lysander auf der Zara. Das gilt auch für Ria, Sjorn und Jaquand. Ansonsten werde ich euch ziemlich gleichmäßig verteilen.“
Luca spürte Lorns Blick auf sich. Er empfand allerdings weder Abscheu noch Abneigung im Gegensatz zu den anderen Söldnern.
„Die Wachen werde ich so verteilen, dass Aycolén jeden Tag Zeit findet, seine magischen Studien mit Lysander voranzutreiben. Und um dem vorzubeugen, dass die anatomischen Studien vertieft werden“, schob Orpheu nach, „wird Meister Lorn euren Raum teilen.“
Luca ahnte, dass kein anderer seine Kajüte mit dem Priester teilen würde.
Enttäuscht seufzte Ayco.
„Dann haben wir gar keine Zeit für uns?“, flüsterte der Elf.
„Wenig“, nickte Luca.
Er betrachtete Lorn, konnte aber aus seiner Mimik nichts herauslesen. Lediglich seine Augen schienen etwas heller als zuvor. War das seine Art Freude zu zeigen? Der Magier begann sich für den stillen Priester immer mehr zu interessieren. Lorn war sicher ein Mann, der viel verbarg, denn das Gefühl, dass seine stille und oft ausdruckslose Art nicht aufgesetzt war, sondern er wirklich Geheimnisse hatte, die er anders nicht zu schützen wusste, wurde Luca nicht mehr los.
„Er ist mit Sicherheit ein guter Mann“, flüsterte Luca und lächelte Ayco aufmunternd zu.
„Klar, das dachte ich auch nicht“, entgegnete der Elf. „Allerdings bezweifele ich, dass wir auch nur eine Nacht ruhig schlafen werden. Bei seiner Aura läuft mir immer ein Schauer über den Rücken.“
„Lorn, Lysander und Aycolén, ihr wechselt euch in der Wache immer mit Sjorn ab“, befahl Orpheu.
Luca nickte nur still. Auch Lorn deutete seine Zustimmung an. Ayco allerdings sah Orpheu an.
„Diese Frau wird sich sicher nicht gerne von einem Schüler der Magie bewachen lassen“, gab er zu bedenken.
„Das wird sie aber müssen“, betonte Orpheu.
Ayco zuckte die Schultern und sah unbehaglich zu Luca.
„Hoffentlich geht das alles gut“, murmelte er. „Und hoffentlich lässt mich Lea in Ruhe.“
„Hast du sie in letzter Zeit gesehen?“, fragte Luca leise.
Der junge Mann schüttelte leicht den Kopf. „Sie hasst mich vermutlich jetzt. Aber ich ertrage ihre Nähe auch einfach nicht mehr, Luca. Soll sie bei Justin bleiben. Dann kann sie keinen Schaden mehr anrichten.“
Orpheu räusperte sich. „Auch wenn ihr Magier seid“, rief er. „Haltet den Mund, wenn ich rede, klar?!“
Das Paar verstummte.
Mit einem breiten Lächeln wendete sich der Hauptmann an seine Söldner. „Dann verschwindet nun! Wir sehen uns morgen Abend!“
Als Luca das Lagerhaus verließ, fiel ihm bei Orpheu etwas auf. Der schwarze Hauptmann trug ein rotes Seidenband mehrfach um sein Handgelenk gewickelt.
Dieses Mal bedurfte es keiner Worte dazu. S’ielle hatte seinen Antrag angenommen. Orpheu musste ihr in der vergangenen Nacht das Heiratsversprechen gegeben haben. Nun würde er mit viel mehr Vorsicht an alles herangehen, denn die Trauung wollte er sicher in einem Stück und gesund erleben.
Beschwingt und fröhlich über das Glück seines Freundes trat Luca zusammen mit Ayco den Rückweg an.
Die Nacht verlief für Ayco und Luca sehnsüchtig und lustvoll. Erst in den frühen Morgenstunden schliefen sie Arm in Arm und vollkommen erschöpft voneinander ein.
In die schönen Träume, die Luca von Ayco hatte, wob sich allerdings der Beigeschmack von Gefahr.
Langsam, unwillig, dämmerte der Magier aus seinem Schlaf in die Wirklichkeit. Die letzten Bildfetzen wollte er am liebsten gar nicht abschütteln und viel lieber wieder tief hinein versinken. Allerdings weckte ihn ein plötzlicher Rippenstoß Aycos sehr unsanft. Gähnend hob der Magier die Lider und konnte gerade noch den Kopf zur Seite drehen, bevor seine Stirn mit der des Elfs kollidiert wäre. Dennoch rammte Ayco Lucas Kiefer. Der junge Mann stöhnte leise, als habe er Schmerzen. Sein silbrig weißes Pony klebte an seinem schweißnassen Gesicht. So sehr er schwitzte, so kalt war auch sein Körper. Er zitterte leicht und keuchte wieder. Tränen quollen unter seinen geschlossenen Lidern hervor und rannen über seine blassen Wangen.
„Nicht...!“, presste er hervor. „Lass ihn! Nein! Gib ihn mir wieder...!“
Plötzlich gellte ein fast unmenschlicher Schrei, der seine ganze Angst und seinen Schmerz zusammenfasst, aus seiner Brust.
Seine Lider flatterten kurz, bevor er die Augen aufriss und einen Herzschlag später die Besinnung verlor.
„Ayco!“
Luca rollte sich sofort über ihn und legte ihm seine Finger auf die Brust. Das Herz des Elfs raste noch immer.
Im ersten Moment hatte Luca die unglaubliche Angst gespürt, Ayco zu verlieren. Aber der Elf lebte und es ging ihm zumindest so weit gut, dass sein Herzschlag sich auch zusehends beruhigte. Dennoch musste er etwas so furchtbares geträumt haben, dass er davon erwachte und zugleich ohnmächtig wurde.
„Tam, Goldy“, rief Luca. „Kommt her!“
Die Drachlinge, die in den Deckenbalken gelegen und geschlafen hatten, sahen beide zu ihm hinab.
Er erhob sich und fingerte seine Hosen vom Boden auf.
„Bleibt bei ihm!“, befahl er, während er sich rasch anzog. „Ich hole Wasser.“
Bevor Luca allerdings nach draußen stürzte, wob er mehrere Zauber und ließ sie als schwarze Schmetterlinge aufsteigen, die sich in Aycos Haar und auf seine Decke setzten.
Ungeschützt würde er seinen Geliebten nie zurück lassen.
Als Luca die Goldschmiede wieder betrat, saß Ayco auf seinem Bett, die beiden Drachen fest in seinen Armen und weinte haltlos.
Der Magier stellte den Eimer auf dem Boden ab, suchte einen sauberen Tonbecher heraus und füllte ihn mit dem klaren Wasser.
„Ayco, Liebster“, flüsterte er und kniete vor dem Elf auf dem Boden nieder. „Hier, trink“, bat er.
Der junge Mann hob den Kopf und sah Luca aus roten, verquollenen Augen an. Im ersten Moment fand Luca tiefe Erleichterung darin, dann aber wechselte sein Blick zu Wut. Er schlug Luca den Becher aus der Hand.
Das Tongefäß fiel zu Boden, zerbrach zwar nicht, aber bekam einen Riss und das Wasser ergoss sich auf den Dielen.
„Wie konntest du weggehen?!“, schrie er Luca an. Seine Lippen zitterten vor Angst und Zorn.
Ayco ließ Luca nicht die Zeit für eine Antwort.
„Ich dachte du wärest tot!“
Geduldig legte Luca seine Hand auf Aycos und sah ihm in die Augen.
„Du hast dein Bewusstsein verloren“, sagte er leise. „Ich musste Wasser holen …“
Ayco stieß einen leisen Schrei aus und umfing Luca. Die Drachlinge konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen, bevor sie von dem jungen Elf erdrückt wurden.
„Lass mich nie mehr allein!“, schluchzte Ayco. „Bitte!“
Er klammerte sich mit unglaublicher Gewalt an Luca und grub seine Nägel tief in die Haut des Magiers, als wolle er sich vollkommen in ihm verkriechen.
„Was ist denn nur gewesen?“ fragte Luca leise.
„Dein Tot. Ich habe davon geträumt, wie du vor meinen Augen stirbst. Zugleich habe ich gesehen, dass Gregorius etwas machte, etwas zerstörte. Steinsplitter stoben in alle Richtungen. Im selben Moment bist du zu meinen Füßen tot zusammengebrochen!“
Sanft strich der Magier Ayco über den Rücken.
„Du meinst, er hat das steinerne Herz zerstört?“, fragt er.
„Ja, ich denke schon“, murmelte Ayco undeutlich.
Der Magier schüttelte sanft den Kopf.
„Das wird nicht passieren. Lorn hat seinen sterblichen Leib vernichtet. Vermutlich braucht er lange, um sich zu regenerieren. Und das Herz ist in deinem Besitz. Du hast es doch noch, oder?“
Ayco schluchzte heiser, atemlos, nickte dann aber.
„Ja, das Herz habe ich immer noch, Luca.“
Der Magier schmiegte seine Wange an die Aycos und küsste sanft sein Ohr.
„Dann kann nichts passieren, Liebster.“
Ayco hob den Blick. Immer noch rannen Tränen über sein Gesicht. „Aber der Traum war so furchtbar und real“, wisperte er.
Still streichelte Luca Ayco, neigte sich dann zu ihm und küsste seine Tränen fort. Auch wenn der Magier es nicht gerne zugab, so alarmierte ihn der Traum doch.
‚Tam, kann es sein, dass Gregorius wieder einen Körper hat?’, fragte er stumm.
‚Es ist sogar sehr sicher, dass er sich regeneriert hat’, entgegnete der Drachling.
Luca spürte, wie sich eine eisige Klammer um sein Herz schloss. Dann war Ayco in großer Gefahr!
Offensichtlich hatte Tam dieses Gefühl, den undeutlichen Gedankengang von Luca aufgenommen.
‚Nicht er, sondern du’, verbesserte Tambren. ‚Gregorius sieht aus irgendeinem Grund in dir die Gefahr. Er ist darauf aus dich erneut zu vernichten. Das Herz, Luca, es ist Dein Schwachpunkt, und ich denke, er weiß, dass Ayco es hat. Vielleicht ist es sogar besser bei dir aufgehoben, mein Freund. Oder du solltest es Justin geben. Er ist machtvoll genug, um es zu schützen. Aber in jedem Fall ist Gregorius so weit, dass er auf irgendeinem Weg in Aycos Träume zu dringen vermag. Vielleicht, weil er den Anhänger von dem kleinen Feuerkopf hat, das Sonnenamulett von Lyeth, seiner Mutter.’
Luca atmete tief durch.
‚Wenn das stimmt’, erwiderte er nachdenklich, ‚könnte es nicht auch sein, dass er mitbekommt, was Ayco sieht, hört, fühlt, sagt? Ist denn dann nicht die Gefahr, dass wir in jedem Fall von ihm bespitzelt werden?’
‚Nach dem, was wir bisher von ihm mitbekommen haben, ist er durchaus in der Lage dazu’, bestätigte Tambren.
‚Aber sicher sein können wir nicht. Es ist nicht gut unseren Gegner zu unterschätzen, aber ihn zu überschätzen kann auch fatal sein.’
‚Mag sein, Luca, aber das lässt sich herausfinden. Wenn wir ihm einen Hinweis geben, wo das Herz sein kann, wird er vielleicht dorthin aufbrechen und es nicht finden. Aber können wir einen anderen so in Gefahr bringen?’
Innerlich sträubte sich der Magier allein gegen die Idee. Allerdings fiel ihm auch nichts sinnvolles ein.
‚Dann bleibt uns nichts, als abzuwarten.’
„Luca, was ist?“, fragte Ayco besorgt.
Einen Moment zögerte Luca ob es klug war ihn in Kenntnis zu setzen, wenn Gregorius wirklich Aycolén als Verbindung nutzte, dann bat er Tam doch, seinem Geliebten grob zu übermitteln, was sie vermuteten.
Würde die Vermutung stimmen, könnten sie die Verbindung vielleicht sogar in die entgegengesetzte Richtung nutzen.
Ayco beruhigte sich nur sehr schwer wieder. Der Traum und die Worte Tambrens verunsicherten ihn mehr denn je und er wollte Luca nun mit aller Macht beschützen. Das Gefühl übermittelte Tambren vollkommen ungefiltert. Scheinbar war die Angst Aycos, Luca ein weiteres Mal zu verlieren so massiv, dass sie ihm unsäglichen Löwenmut verlieh.
Obgleich der Tag schlecht angefangen hatte, und Aycolén unkonzentrierter denn je war, versuchte Luca ihn davon zu überzeugen, dass es nun erst recht gut war, mit den Studien der Magie fortzufahren.
Bis zum Mittag allerdings hatte der Elf nicht mehr in sich aufgenommen als die semantischen Gesten für die meisten Grundlagenzauber. Die Bewegungen glichen sich, innerhalb des gleichen Zauberpfades sehr. Dennoch gelang es Ayco nicht, sich wirklich zu sammeln. Luca tadelte ihn mehrfach, allerdings nie wirklich bösartig.
Erst als er Ayco begreiflich machte, dass es einer der Wege war, sich vor Gregorius zu schützen, zwang sich der Elf, konzentrierter zu arbeiten.
Gegen Nachmittag suchten sie gemeinsam das Badehaus im Künstlerviertel auf und reinigten sich für den Trauerzug zu Lucretias Ehren.
Allerdings war Ayco die ganze Zeit sehr einsilbig. Seine Gedanken drehten sich die ganze Zeit scheinbar um den Traum. Er konnte nicht von sich schieben, was ihn so sehr bedrängte. Aber gleichsam zu seinem Schweigen nahm auch der Wunsch nach Lucas Nähe immer mehr zu. Er klammerte sich in vielen Situationen eng an den Arm des Magiers, suchte seine Wärme, seinen Körper und seine Lippen. Der Zustand der Angst veränderte Ayco sehr.
Selbst auf dem Totenacker drängte es ihn in die Arme Lucas. Dieser eigentlich friedvolle Ort des ewigen Schlafes machte ihn zusätzlich nervös. Auch der Kreis der Gefährten und der stumme Schutz von Justin und Lorn gaben ihm keine Sicherheit.
Luca hingegen fand sich in der Situation des Gejagten, aber zugleich konnte er keine Angst fühlen. Auch wenn er es nicht gerne zugab, so machte ihn Lorns Anwesenheit ruhiger und sicherer denn je.
Seine Sorge galt Raven und Lucretias Familie. Sie alle hatten die vergangenen Tage nur mit viel Leid und Schmerz verbracht. Der Schlafmangel zeigte sich in ihren grauen, eingefallenen Gesichtern und die Trauer in den geröteten Augen. Raven hatte deutlich an Gewicht verloren. Er trug im Moment die Last des zurückgebliebenen Gemahls auf seinen Schultern. Dieses Gewicht, dass ihn niederdrückte, beugte seine Schultern und sein Haupt.
In dem schwarzen, sonst so schimmernden Haupthaaren hatten sich feine Silbersträhnen eingeschlichen. Er ging mit Lucretias Vater an der Spitze des Zuges. Die beiden Männer trugen den eigentlich prachtvoll geschmückten Sarg an erster Stelle, gefolgt von den vier Brüdern der jungen Frau. Mutter und Großmutter schritten dahinter, die Augen voll Tränen. Nachbarn, Freunde, Verwandte, sogar Prinz Mesalla, wohnten der Grablegung bei. Jaquands Frau, Thorns Tochter, war aus Night’s End gekommen, zusammen mit ihren Kindern, und viele andere, die Raven kannten ebenso. Sogar zwei andre Gemahlinnen des Halbzwerges aus der Hafenstadt Maiden Haven, begleiteten Lucretia auf ihrem letzten Weg.
Justin und Lorn vollzogen das Ritual du die Segnung.
Konzentrierter denn je sprach der Elfenvampir seine Zauber über das Grab und die dunklen Totengesänge begleiteten die Seele Lucretias mit dem Wunsch, sie möge ein neues Leben finden, schöner und friedvoller als ihre altes.
In dieser Nacht fand Ayco lange keine Ruhe. Er wollte nicht schlafen. Viel mehr suchte er erneut Lucas Körper und begann von sich aus ein ausgiebiges, erschöpfendes Liebesspiel. Der Magier ging nur zu gerne darauf ein. Er konnte nichts anderes für Ayco tun. Das war die einzige Möglichkeit, ihn von seinen Ängsten zu befreien.
Am kommenden Morgen fühlten sie sich beide unausgeschlafen und matt. Aber es war der Tag der Abreise. Ayco schien nervöser denn je. Mehrfach sah er unter seinem Hemd in den Brustbeutel, in dem er das Steinherz verbarg. Goldy, die sich offenbar dazu entschieden hatte, der Gemütlichkeit des Labyrinthes abzuschwören, um dieses Mal mit Aycolén auf Abenteuer zu ziehen, lag genau wie Tambren bei Luca, unförmig zusammengerollt in dem Hemd ihres neuen Herren und schützte zusätzlich den Schatz, den Ayco als den für sich wichtigsten ansah.
Mit ausreichend Geld und Angst im Herzen verließen beide Männer die Goldschmiede. Ayco übergab das Haus wieder in die sichere Obhut der Ratten aus der Kristallstadt.
Luca allerdings beschloss, wegen Aycos Alptraum, mit Lorn zu sprechen.
Auf dem Weg zu den Lagerhäusern spähte Ayco nervös in jede, vom Morgennebel verhangene Gasse und nahm seine Hand gar nicht mehr aus dem Korbgriff seines Rapiers.
Luca sah, dass der junge Mann so überreizt war, dass sogar eine Katze oder ein Hund ihn an einen Hinterhalt denken lassen würden.
Dennoch steckte ihn nun langsam diese innere Unruhe an. Er spürte selbst, wie er in jedem Schatten einen Gegner vermutete.
Bis zu den Ausläufern des Hafenviertels, zu den ersten Spelunken, die immer noch Betrieb hatten, begleitete sie ausnahmslos Stille. Selbst die Meeres- und Küstenvögel schwiegen im Moment. Mattes Rot beleuchtete die grauschwarzen Nachtwolken, die in die samtige blaue Finsternis übergingen und sie langsam, mühsam, Stück um Stück zurückdrängten.
Die Straßenkatzen hielten sich scheinbar auch aus der Nähe der beiden Magier, weil sie spürten, welche nervöse Angst sie ausatmeten.
Langsam schlugen Ayco und Luca den Weg durch die sonst so belebten, breiten Hafenzubringer ein. Weiter vor ihnen ging eine Person, die erste, der sie begegneten, seit sie die Goldschmiede verlassen hatten.
Ayco zog das Rapier ein Stück weit aus der Scheide, ließ es aber erleichtert wieder zurückgleiten, als er den Mann unter einer Laterne als Orpheu erkannte, der mit seinem Gepäck ebenfalls zum Hafen auf dem Weg war.
Beruhigend legte Luca Ayco die Hand auf die Schulter.
„Mir passiert schon nichts, Liebster.“
Der Elf antwortete nicht. Trotz seines Lächelns sah der Magier die Angst in den Augen Aycos, die Angst vor etwas, dass er offenbar für unvermeidlich hielt.
Ayco ging schneller, wobei sich Luca, der etwas schwerer mit seinen Waffen bepackt war, als sein Geliebter, schon Schwierigkeiten hatte, mit dem flinken Elf Schritt zu halten. Aber offenbar hatte sich Ayco in den Kopf gesetzt auf Gedeih und Verderb Orpheu einzuholen, bevor sie das Pier erreichten.
Luca beeilte sich, mit dem jungen Mann auf einer Höhe zu bleiben. Aber die Müdigkeit und die Anspannung ließen ihn schon zeitweise zurückfallen.
Dennoch gelang es ihnen den Hauptmann einzuholen, der scheinbar ihre Schritte gehört hatte und nun auch auf sie wartete.
„Was ist denn mit euch los?!“ fragte er tadelnd, als Ayco atemlos vor ihm stehen blieb. „Ihr müsst nicht so rennen. Noch haben wir ein wenig Zeit. Vermutlich werden wir ohnehin die Ersten am Hafen sein.“
Ayco ging nicht darauf ein. „Schön dich zu sehen, Orpheu“, lächelte er.
Der schwarze Elf hob eine Braue. „Seit gestern bist du ein wenig verstört, oder Ayco?“, fragte er spöttisch. „Sonst kann ich doch gar nicht weit genug weg sein, weil ich dir dein Schäferstunden mit Lysander zunichtemache.“ Er blickte kurz zu Luca, schmunzelte dann aber. „Nichts gegen euch, Magier.“
Luca tat seine Worte mit einem schrägen Lächeln und einem leichten Schulterzucken ab.
„Nein, es ist alles in Ordnung, Orpheu“, beeilte sich Ayco zu sagen.
Der zweifelnden Miene nach, glaubte der Hauptmann Ayco kein Wort, beließ es aber dabei.
Langsam gingen sie weiter.
„Na dann“, lächelte er. „Auf in das Abenteuer mit Sarina und den Diplomaten.“
„Lieber ein Heer Monster und Untote, als diese verlogenen Diplomaten!“, entschied Luca.
Orpheu nickte zustimmend.
„Da habe ich es auch lieber mit einer Übermacht zu tun, als in die Heimat der Ränke und des Meuchelmordes zu fahren.“
Bei der Erwähnung des Worte Mord, schauerte Ayco merklich.
Orpheu überging es, Luca aber streichelte seinem Geliebten sanft über die Wange.
„Habt ihre nicht Freunde in Sarina, Lysander?“, fragte Orpheu nun.
„Ja, einige“, gab Luca zurück. „Eeliath Nyravielle, ein elfischer Diplomat am Hofe des Kaisers und seine Familie, allerdings auch Kyle Trehearn, der dir sicher bekannt ist, Orpheu.“
Der Hauptmann nickte widerwillig. „Der erste Ritter des Reiches“, sagte er mit einigem Abscheu. „Man sagt, er sei Jahrhunderte alt und habe schon dem vormaligen König gedient, der Familie McGregor.“
Mit einer Handbewegung machte er klar, was er von Kyle hielt.
„Wenn ich einem Herren mit Leib und Seele diene, kann ich mich nicht nahtlos dem Usurpator, der das Reich an sich reißt, meine Treue schwören. Trehearn ist vielleicht ein ausgezeichneter Ritter, aber er ist auch eine niederträchtige Ratte!“
‚Und mein Halbbruder’, dachte Luca.
Ayco war stehen geblieben, blass vor Wut.
„Überlege dir, was du sagst, Orpheu! Trehearn ist mein Vater!“, zischte der Elf. „Und egal was ich von ihm halte, er ist ein Mann von großer Ehre!“
Orpheu wiegte den Kopf. „Blut ist eben dicker als Wein“, lächelte er. „Ich sage ja nichts gegen sein Können. Seine Heereszüge sind eine Legende! Seit 600 Jahren bestimmt er das Geschick von Sarina mit seinem Kriegskönnen. Es gibt keinen besseren Ritter.“
„Das wollte ich auch meinen!“, rief Ayco erbost.
„Aber es ist unschön, dass er so ohne zu murren seit drei Jahrhunderten für den Kaiser arbeitet“, fuhr Orpheu unbeirrt weiter.
„Schweig einfach!“, verbot ihm Ayco das Wort.
„Wie ihr wünscht, Prinz Trehearn“, spottete Orpheu.
„Hauptmann, es reicht!“, fuhr Luca verärgert dazwischen. „Ayco liebt seinen Vater. Das kannst du ihm nicht verbieten.“
„Das will ich auch nicht“, verteidigte sich Orpheu. Sah dann aber in das verletztes Gesicht des jungen Elfs.
„Entschuldige, Ayco“, sagte er leise.
Tief atmete dieser durch und schloss wieder auf, dieses Mal dicht an Lucas Arm geklammert. Mit Orpheu wollte er scheinbar nicht mehr reden.
Im Hafen wurden die beiden prächtigen Küstensegler beladen. Eifrige Arbeiter schleppten Waffen und Gepäck an Bord und unter Deck, während die Besatzungen die Takelage und die Segel ein weiteres Mal überprüften, Vorräte laden ließen und bereits die ersten Männer an Bord holten.
Kione und Linnette standen etwas hilflos neben einem Seemann, der sie offenbar nicht an Bord lassen wollte, bis Orpheu ihm zurief, dass die Mädchen zu seinem Heer gehörten. Nea stand bereits an Deck und redete lautstark mit einem Maat, während Ria sich von einer der Kneipen etwas Fisch gekauft hatte und diesen gemütlich verzehrte. Dabei tat sie wirklich alles, um jedem Lagerarbeiter im Weg zu sein.
Die dunkle Gestalt Lorns, löste sich aus den Schatten, als Luca ihn entdeckte. Zum ersten Mal kam der Priester von sich aus zu ihm. Anhand des schnellen Schrittes blieb in Luca kein Zweifel, dass es sich um etwas wichtiges handeln musste.
Zugleich gewahrte der Magier in einer entfernten Ecke Lea, die scheu zu Ayco blickte.
Goldy machte den jungen Elf leise darauf aufmerksam, doch Ayco weigerte sich, zu seiner Schwester zu sehen.
Luca fand viel Schmerz in den Zügen Leas.
Stumm forderte er sie auf, dass sie zu ihm kam, damit sie sich wenigstens voneinander verabschieden konnten.
Einen winzigen Moment zögerte sie, vermutlich wegen Lorn, der gefährlich für sie werden konnte, eilte dann aber zu Luca.
‚Es tut mir leid!’, flüsterte sie wortlos.
‚Du hast dem Verrat selbst getraut, Kleines’, entgegnete Luca. ‚Irgendwann wird dir Ayco vergeben, Lea. Und vielleicht, wenn wir wieder hier sind, kannst du ihm richtig unter die Augen treten, als lebendige Elfe. Justin hatte es ja angeboten. Ich bin sicher, er hält sein Versprechen, mein Kleines.’
Leas Augen füllten sich mit Tränen, kleine, jadegrüne Edelsteine, die hernieder fielen und auf dem Boden zerbarsten.
Luca konnte nicht ermessen, wie schwer Lea der Abschied fiel, aber scheinbar tat es ihr mehr denn je weh. Sie wollte sich nicht von Ayco trennen. Scheinbar überwog doch ihre Liebe jedem Trotz und Zorn.
‚Ich will leben, und ich werde Priesterin!’, rief sie. Dann verwehte ihr Bild wie Nebel im Wind, der vom Meer her aufzog.
‚Sie tut mir Leid, Tam’, sagte der Magier still zu seinem Freund.
‚Nicht nur dir. Sie wird gerade eben von allen verlassen, die ihre Existenz bestimmt haben.’
Behutsam Hob der Magier seinen Vertrauten aus dem Hemd und drückte ihn liebevoll an sich. ‚Hoffentlich findet Lea irgendwann ihr Glück.’
Der Platz vor den Lagerhallen füllte sich mit den Gefährten.
Viele Familienmitglieder einzelner Söldner wollten sich verabschieden. Sogar der noch vom Schmerz gezeichnete Raven kam.
Auch Justin und S’ielle hatten den langen Weg aus dem Labyrinth hier her angetreten.
Der Hauptmann ließ sein Gepäck fallen und eilte auf seine Braut zu.
Luca beobachtete das Paar. Als Tambren sich auf seinen Stammplatz in Lucas Nacken nieder ließ, lächelte er.
„Das wird noch eine sehr eigenwillige Ehe, Luca.“
Der Magier nickte.
Orpheu war ganz offensichtlich zutiefst traurig, dass sie sich wieder trennen mussten, aber S’ielle schien immer noch nicht sicher zu sein, ob sie Orpheu wirklich mehr zugetan war, als Justin. Dennoch umfing sie ihn unheimlich leidenschaftlich und intensiv.
Justin löste sich von ihrer Seite und trat zu Ayco und Luca.
„Warum habt ihr beiden euch nicht noch einmal bei mir blicken lassen?!“, fragte er verärgert.
Seine Wut wurde in einer engen Umarmung Lucas erstickt. Der rothaarige Elf umklammerte seinen ehemaligen Geliebten und barg seinen Kopf an Lucas Schulter.
„Ich bin dir nicht böse“, versprach er zärtlich. „Dazu liebe ich dich zu sehr, Luca.“
Er tastete mit einer Hand nach Ayco, der dicht hinter Luca stand. Der Magier löste sich von dem Priester und sah, wie dieser Ayco nun eng umschlang. „Dich liebe ich auch, mein Kind“, sagte Justin sanft und drückte ihn fest. „Ich will euch bald gesund wieder bei mir sehen!“
„Oh Justin!“, keuchte Ayco. Die aufgestaute Angst brach sich erneut Bahn. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Völlig aufgelöst erzählte er dem Vampir von seinem Traum.
Luca hörte mit deutlichem Schauern zu. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass Ayco Recht hatte. Dass er sterben würde, bald schon.
‚Ayco macht dich nervös, das ist nicht gut’, warnte Tam. ‚Aber es stimmt. Ich spüre die Vorboten dessen.’
Die Worte des Drachlings und die nüchterne Logik darin erschreckten Luca nur noch mehr. Er spürte, wie seien Knie zitterten und sein Herz raste. Kalter Schweiß brach ihm aus und er glaubte fast körperlich zu spüren, wie Gregories Hand in seine Brust griff und sich um sein Herz krampfte.
In seine Ängste mischte sich die eisige Todeskälte Lorns. Dieses Mal musste sich Luca nicht umdrehen um zu wissen, dass der hünenhafte, düstere Menschenmann direkt hinter ihm stand. Dennoch beruhigte ihn seine Anwesenheit wieder unheimlich, so sehr, dass er glaubte frei zu sein und zu fliegen.
„Gebt mir das Steinherz“, bat er leise. „Ich werde es bald für euch brauchen, Lysander.“
Der Magier wendete sich sanft lächelnd zu ihm um.
„Ayco trägt es bei sich.“
Lorn nickte.
„Gregorius wird euch töten, Luca“, sagte er, wobei er den vertrauten Vornamen des Magiers verwendete. „Wenn die Sonne aufgeht werdet ihr durch ihn sterben. Aber ihr seid zu wichtig um tot zu sein. Er ist der Verrat. Man hat euch geschaffen, um ihm zu widerstehen; mit mir zusammen.“
Ayco und Justin verstummten angesichts der Worte des Priesters.
Unbeirrt sprach Lorn weiter.
„Die, die für euch wichtig sind, sind bereits versammelt, Luca. Das Leben, das Feuer und der Tod. Vertraut uns, und ihr werdet es schaffen, selbst wenn ihr sterbt.“
Luca nickte stumm, in sich völlig gefasst. Lorn gab ihm Kraft und Hoffnung.
Ayco hingegen bebte vor Angst und Entsetzen.
„Was redet ihr da, Lorn?“, verlangte er zu wissen.
Der Priester sah zu dem Elf. „Flammenkind“, sagte er leise. „Zügele deine Hitze. Du wirst deine Kraft bald brauchen.“
Justin deutete ein Nicken an. „Mehr als Aki ist er der Tod“, flüsterte er. „Und er hat recht, Ayco. Wir drei können Luca helfen.“
„Sollen wir darauf warten, dass sich Gregorius das Herz holt?“, fragte Ayco. Seine Stimme bebte vor Zorn. „Ich lasse nicht zu, dass er Luca etwas tut!“
Der Totenpriester sah ihn still an. Offenbar überlegte er sich die Situation.
„Gibt es etwas anderes, was euch schaden könnte?“ fragte Lorn, an Luca gewandt.
Aycos Blick ging unwillkürlich zum Himmel. Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Himmel.
Einen Herzschlag vor Ayco spannte sich Tambren an.
‚Es geht los!’
Plötzlich schrie der junge Elf entsetzt auf und presste beide Hände gegen seine Schläfen.
„Er ist in Night’s End!“, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Was kann euch Schaden!“, drängte Lorn, ohne auf Ayco zu achten.
Luca fuhr zusammen. Er erinnerte sich wieder an das, was er in I’Eneels Haus gesehen hatte. Das Bild der Geburt, seiner Geburt und seines Todes in dem Dorf.
„Ich weiß es!“, wisperte er.
Zu deutlich stand das Bild seines Traumes wieder vor seinen Augen. Der Findling!
Endlich begriff Luca diesen seltsamen Alptraum.
‚Luca, du bist nicht geboren worden!’ wisperte Tambrens entsetzte Stimme in seinem Kopf. Der Schrecken des Drachlings erfasste nun auch den Magier, denn er verstand wirklich. So paradox es war, so klar ihm auch das Bild seiner Mutter vor Augen stand, deren Tod und der Untergang der Veraldis, er war nie geboren worden, sondern aus diesem Stein heraus erschaffen.
Durch die Schreie hatten sich alle Leute am Hafen in einer engen Traube um sie gesammelt und beobachteten das Schauspiel.
Dumpf hörte Luca Orpheus rufe, nahm Bilder wahr, die an Bedeutung verloren.
Ein einziger Gedanke aber beherrschte ihn noch. Er wollte zurückkehren und Ayco zur Seite stehen. Ayco war seine Bestimmung und der Schlüssel für das wirkliche Geheimnis um diese Welt.
‚Du wirst leben! Du musst! Luca, ohne Dich sterbe ich auch!’ flehte Tam verzweifelt.
Aycos Haut war aschfahl, seine Augen weit und körperlicher Schmerz verzerrte sein schönes Gesicht zu einer Grimasse des Grauens. Wieder weinte er. Aus seinen Augen rannen jadegrüne Tränen, die – wie bei Lea – zu Perlen wurden und zerbrachen, sobald sie auf das Pflaster schlugen.
Der Elf war auf die Knie herabgesunken, erstarrt.
„Er vernichtet den Findling!“, hauchte er.
„Ich bin das Steinkind“, wisperte der Magier einen Herzschlag später.
Zugleich zerriss ein greller Schmerz sein Bewusstsein.
Er spürte nichts mehr, nur noch die atemlose, erstickende Kälte des Steins, aus dem er gemacht worden war, und mit dem sein Leben in winzige Bruchstücke zersprengt wurde.
Ende des ersten Buches
A
Äos
Name der Welt
Avatar
Personifikation eines Gottes auf Äos
B
Bertrand-Anwesen
Einer der düstersten Orte von Äos, stark Fluchbeladen und Auslöser für Justin D’Arcs Dasein in den Schatten.
Blutberge
Bewaldete Sandsteinberge im Osten und Norden um Valvermont. Die Berge haben ihren Namen wegen des roten Gesteins in der Sonne.
C
Celestial
Engelartige Geschöpfe, denen man eine gewisse Heiligkeit nachsagt.
D
Drachen
Drachenprinzen
Die Drachenprinzen des Nordens sind zumeist silberne oder weiße Drachen, deren Blut vermischt ist mit einer anderen hohen Rasse wie den Elf oder Orcs.
Die Drachenprinzen des Südens sind schwarze Drachen und haben sich ausschließlich mit schwarzen Elfen gepaart. Aus jeder Mischung entstammen besondere Männer und Frauen, deren Stärken in der Kriegsführung, Diplomatie oder Magie liegen. Das allein adelt sie unter ihresgleichen und gibt ihnen Anrechte auf die Regentschaft.
Drachlinge
Kleine Drachen, die stark magisch/ psyonisch veranlagt sind und die Fähigkeiten haben, sich mit einem Zauberer zu einer geistigen Vereinigung zu zwingen. Durch diese Partnerschaft weiß ein Teil des Gespanns immer, was der andere denkt, fühlt oder macht, selbst über Entfernungen hin.
Drachlinge teilen sich farblich unterschiedlich auf. Weibchen haben rotgoldene Schuppen, Männchen grüngoldene, Neutren blausilberne. Die Neutren haben die Veranlagung sehr schnell extrem Dick zu werden, fressen auch mehr als ihre Artgenossen, besitzen aber auch das stärkste magische Potential. Sie sind extrem selten.
In der Größe sind sie gleich zu einer normalen Hauskatze und haben noch einmal genauso lange Schwänze und Hälse, die ein Drittel ihrer Körperlänge ausmachen. Die Flügel tragen sie immer nur kurze Zeit. Im Gewicht liegen sie zwischen 2 und 7 Kilo.
E
Eisenberge
Kaltes, sehr weitläufiges Hochgebirge, in dem viel Erze abgetragen werden können. Viele Völker haben dort kleine Dörfer, in denen Erze abgebaut oder verarbeitet werden können. Zu einem sehr großen Teil gehört diese ertragreiche Gegend dem Norden.
F
Feline
Katzenlykantropen, die nur geboren werden können, eine eigenständige Art also, die aber aus magischen Zusammenkünften zwischen Humanoiden und Katzenrassen entstammen.
Freistadt
Weder an das Kaiserreich, noch an andere Reiche gebundene Städte, die eine eigene Regierung haben.
G
Gismonda
Warme, aber politisch sehr schwache Insel im Meer, auf einer Höhe mit Valvermont und einem Teil der nördlichen Ausläufer des Kaiserreiches.
Glauben
Götter
Graue Pentakel
H
Halbdrachen
Halbelfen
Halborcs
Halbzwerge
Hierarchien
I
J
K
Kaiser
Kalifate
Kristallstadt
L
Labyrinth
M
Magie
Arkane Magie: Formulare, erlernte Zauberei, die nichts mit natürlicher, eigener Magie einzelner Rassen zu tun hat. Anhand von Büchern, mathematischen Formeln, Bannkreisen und Materialkomponenten kann jeder, dessen Intelligenz dazu ausreicht, sich die Worte, Gesten und "Zutaten" zu merken, Magie aus der Umwelt, der Welt, den Elementen und den Lebewesen gewinnen und für sich nutzen.
Grundvoraussetzung allerdings ist, dass man lesen und schreiben kann.
Einigen, wenigen Rassen ist es nicht möglich aus sich heraus Magie zu gewinnen und zu nutzen. Für sie war der ursprüngliche Gedanke der Orden.
Leider nutzen zu viele die eigentlich sehr einfache Option des Lernens, ohne zu realisieren, dass sie damit die in sich existente Zauberkraft zerstören können. Das Formulare Anwenden geht gegen jede natürliche Entstehung eines Zaubers und macht es nach einer Zeit sogar unmöglich noch eigenständig Magie zu nutzen.
Die arkane Magie greift auf feste Schulen zurück, die sich stark untereinander abgrenzen.
Nekromantie, Beschwörung, Kampf, Illusion, Erkenntnismagie, etc.
Natürliche Magie: Das Gegenteil der Formularen Magie. Aus der Rasse ergibt sich die Art des Bindens der Magie in eine bestimmte Form. Elfen, Seraphs, Celestial, Zwerge, Trolle, Drachen und Orcs sind Rassen, die aus sich heraus zaubern können. Die Magie findet anhand dessen, was die Person kennt, erlernt hat und wie sie denkt und fühlt, eine Ausdrucksform, die sich manchmal stark von der Formularen Zauberei unterscheidet, schon weil sie vereinfacht wird, verkompliziert, ohne Komponenten funktioniert, dafür aber mit mehr Gesten. Der Beitritt in einen Orden kann die Magie einer Person vollkommen vernichten und derjenige lernt etwas, das gegen seine Natur geht.
Bei natürlicher Magieanwendung verwischen die Schulen der Zauberei und bilden ganz eigene und neue Mischformen.
Luca hat daraus seine Zauberträger erschaffen, die schwarzen Schmetterlinge, die sich auf seinen Wunsch oder Befehl hin gegen seine Gegner erheben.
Naturzauberei: Darunter fasst sich die ganze Palette der druidischen oder kräuterkundigen Magie zusammen. Die Personen, die so naturverbunden sind, dass sie mit Hilfe von Erde, Tieren und Pflanzen Zauber wirken können, sind mehr als selten und leben zurückgezogen in der Einöde oder Wildnis. Solche Männer und Frauen sind zumeist sehr einfach und beherrschen weder das Lesen noch das Schrieben. Aber ihre Sinne sind wesentlich wacher und offener für das Wesentliche, das Leben und das Land. Sie erlangen ihre Kräfte zumeist, weil sie selbst mehr ein Teil der Wildnis sind und die Zivilisation meiden.
Priesterliche Magie: Die Zauber hängen von den Dreizehn Göttern und den fünf Elementen ab. Zumeist unterseht die Art der Magie mit dem Avatar eines Gottes. In vielerlei Form sind es Gebete, Wünsche, Ritaulgesänge und Tänze. Alle bewegt sich stark im Rahmen dessen, was der Gott und sein Avatar vorgeben. Einige Überschneidungen zu der Naturzauberei und der natürlichen Magie gibt es allerdings. In ihrem grundsätzlichen Wesen aber unterscheidet sich die priesterliche Magie Grundlegend von der arkanen und der natürlichen. So zum Beispiel hat ein Priester auch nicht immer einen gleichbleibenden Zufluss von Magie zu erwarten. Es hängt vieles davon ab, wie gut er seinem Gott dient, sich den Regeln und Rieten unterwirft und welche Erfolge er im Volk zu verzeichnen hat, wenn er die Interessen seiner Kirche vertritt.
Priester sind im Generellen sehr von den Launen ihrer Götter abhängig.
Psi-Kräfte: Lediglich eine Hand voll Personen besitzt die erweiterten geistigen Fähigkeiten, die vollkommen Wortlos sind, keine Komponenten brauchen und keine Zauberkreise. Einzig die Drachlinge haben diese Fähigkeiten natürlich angeboren. So können sie untereinander kommunizieren, ohne zu sprechen, die Elemente aus sich und ihrer Umwelt ziehen und sich sogar gegen die Götter zur Wehr setzen.
Magie des Landes: Drachen nutzen diese Art der Zauberei sehr gerne, weil es einfacher ist und sie nicht schwächt. Leider laugt es die Welt stark aus und macht blühende Länder zu Wüsten. Kalesh ist das Beispiel schlechthin für die Ausbeutung der Erdkräfte.
Ein Ort, wenn er von sich aus, oder durch bestimmte, sehr schwerwiegende Ereignisse eine hohe magische Konzentration besitzt, ist ein starker Anzugspunkt für Drachen. Sie nutzen diese Kräfte weidlich aus, bis der Platz zerstört ist.
Zaubersänger/ Zaubertänzer:
Sie sind eine Abspaltung natürlicher Magier, die ihre Formeln in ihren Gesang oder Tanz zu binden vermögen. Aber im Gegensatz zu den Magiern haben sie die Möglichkeit den Geist anderer zu beeinflussen, Könige zu Bettlern zu degradieren und der Schönheit in allen Formen zu huldigen. Ihre Grazie und ihre Anmut beeinflusst die Kraft ihrer Zauber stark. Je schöner und edler ein Vortrag ist, desto perfekter stellt sich das Ergebnis ihrer Zauber ein. Justin ist ein Meister dieser Zauberart. Allerdings liegen auch Lucas Stärken eher darin. Gesang und Tanz, das Spiel von Flöte und Laute besitzt bei ihm weitaus mehr Kraft als die Formulare Magie. Die Idee der Schmetterlinge stammt aus solch einem Prinzip.
Maiden Haven
Kleine Hafenstadt an der Westküste, sehr dicht an den Grenzen Valvermonts. Durch die klimatischen Veränderungen der freien Handelsstadt schwer von Flutwellen und Stürmen gebeutelt.
N
Nekromantie
Night’s End
Kleines Dorf in den Blutbergen, das eine sehr zentrale Rolle im Geschehen der Welt spielt
Nordlande
Zusammenschluss der gesamten stark zerrütteten Nordregion aus Elfen, Orcs, Trollen und Drachenvölkern.
Aki Valstroem, einstmalig erster Ritter des Reiches, heutiger Avatar des Todes, ist die derzeitige Königin
O
Orden der Magie
P
Pantheon
Paresh
Stark magisches, sehr dekadentes Südreich
Pfade der Priester
Prinzen
Q
R
Rassen
Celestial: Engelartige Geschöpfe, denen man eine gewisse Heiligkeit nachsagt. sie sind eine sehr seltene Rasse.
Seraphin: schwarze Engel, denen man Nachsagt, sie seien Unglücksboten. Seraphs unterscheiden sich in nichts außer ihrer Hautfarbe gegenüber Celestial, zählen dennoch aber zu den Dämonen unter den Lebewesen von Äos. Sie unterteilen sich in gefiederte und lederflüglige Seraphs. Der Unterschied liegt lediglich darin, ob sie aus den Tälern oder aus den Gebirgen stammen. Bei Mischlingen ist es so, dass sie zuerst in der geflügelten Form geboren werden, aber schnell lernen, sich der anderen Gestalt zurecht zu finden. Sie beherrschen Magie zumeist aus sich heraus. Da sie sich vor den meisten anderen Rassen verbergen müssen, um Massnhinrichtungen zu verhindern, "Hexenjagden" und Standgerichte, verbergen sie sich hinter Zaubern und in anderen Gestalten. Man kann nie sagen, wie viel Seraphs wirklich noch leben.
Allerdings ein Seraph "erkennt" einen anderen.
Menschen: Schau in den Spiegel ;)
Menschen haben den Vorteil, dass sie in allen Richtungen lernen können, sie in keiner Form ihrer Zauberei und ihres Glaubens beschränkt sind und überall leben können.
Elfen: Sie sind, adäquad den Menschen und den Orcs, fast überall auf Äos vertreten. Sie unterscheiden sich aber in einzelne Rassen. Zumeist benennen sie sich nach Halbedelsteinen. Ayco ist ein Jadeelf. Grund dafür ist die Farbe seiner Augen. Justin ist ein Opalelf. Seine Haut hat die Farbe eines irisierenden Mondsteins. S'ielles schwarze Haut ist nach dem Basalt ihrer Heimat benannt, etc. Sie unterteilen sich nicht in Kasten, wie es bei Orcs der Fall ist. Elfen können, je nachdem wo und in welchem Umfeld sie aufgewachsen sind, Bettler, aber auch Könige sein. Allerdings fehlt ihnen die Naturverbundenheit anderer Rassen. Sie bevorzugen das Umfeld fester Städte und sind weder besonders gute noch besonders schlechte Wesen. Ihre Art zeichnet sich ebenfalls durch ihr Umfeld aus. Allerdings unterscheiden sie sich in ihrer Langlebigkeit zu den Menschen und Trollen, genauso auch in ihrer Größe, die im mindesten Fall bei 1,70 m liegt und im höchsten bis ca. 2,50 m gehen kann.
Anhand ihrer Magie und der natürlichen Grazie, die ihnen zueigen ist (es gibt keine dicken Elfen), werden sie zumeist Künstler, Schauspieler, Diebe, Barden oder Attentäter.
Zwerge: Aufgrund ihrer Kraft und der geringen Größe, sind Zwerge zumeist benachteiligt, wenn es um das Bardengeschäft geht, aber die besten und mitreißendsten Balladen (mit Tendenz zum Gassenhauer) stammen aus den Federn der Zwerge. Auch sagt man, sie seien keine guten Diebe. Das stimmt allerdings nicht ganz. Einige sind hervorragende Langfinger und ihre Qualitäten im Versetzen von Waren ist auch nicht zu unterschätzen. Allerdings arbeiten die meisten von ihnen in angesehenen Berufen als Handwerker, Händler oder Soldaten. Sie sind in ihrem Denken und Handeln oftmals wesentlich naturverbundener als Elfen, die sich gerne von der Dekadenz tragen lassen. Unter ihnen finden sich oft auch in Dörfern Bauern, Viehzüchter und Dorfvorsteher. Ihnen steht die Magie auf besondere Weise offen. Sie zaubern wie Priester, erwirken aber etwas Magierartiges als Effekt.
Sie sind freundlich und rau in ihrem Wesen und leben gerne mit anderen Rassen zusammen, allerdings meiden sie Seraphin.
Orcs: Das einzige, was diese Orcs mit dem üblichen Bild des ungehobelten Ungeheuers gemein haben, sind die Unterkieferfänge. Allerdings stammen die Orcs und die Elfen aus den gleichen Urrassen ab. Orcs allerdings unterscheiden sich dadurch, dass sie zumeist kräftiger sind, bodenständiger in ihrem Denken und Handeln und sich einzig durch ihr Kastensystem binden. Severin sind die höchste Kaste, womit sie die Adelsschicht und die Geistlichen stellen. Selten arbeitet ein gebürtiger Severin, selbst wenn die Familie so verarmt ist, dass sie lediglich ihren Titel hat, um noch an ein Stück Brot zu kommen.
Die anderen beiden Kasten werden durch Arbeiter und Handwerker, bzw. durch Philosophen und Wissenschaftler (auch Magier), bestimmt. Ein Orc, der sich auf seine Kaste beruft, ist übrigens für seine Handlungen auch vor Gericht nur immer im Rahmen seiner Kastenordnung zur Verantwortung zu ziehen. Da das Handwerk des Attentäters gleichgesetzt wird mit dem des Bestatters, ist ein solcher Mörder fast nicht dingfest zu machen. Aber er muss in der entsprechenden Kaste sein.
Darüber hinaus liebt der Adel Schmuck. Man sagt, dass es eine Severin gibt, eine Schauspielerin und Sängerin, die sich über die Kasten erhoben haben soll und auf alten Darstellungen wird sie fast wie eine Heilige verehrt (denn nicht jeder will sich dem System unterwerfen). Darauf findet man sie nackt, wie die Götter sie schufen, aber von Kopf bis Fuß mit Schmuck behängt, wie ein lebendes Kunstwerk.
Oger: Wenige von den Riesen leben noch auf Äos, und zumeist findet man sie in der Gesellschaft der Drachen. Sie waren einst die Herren der Berge, starke und Machtvolle Zauberer, die sich weit über die Künste und das Wissen ihrer kleineren Cousins, die Trolle, erhoben. Aber die Legenden sagen, dass sie den Göttern zu nah kamen und sie fast vollkommen von der Welt getilgt wurden.
Trolle: Die vermutlich größten Lebewesen auf zwei Beinen, abgesehen von den Ratten. Sie haben ein unglaublich zurückgezogenes Leben, vorwiegend in den Bergen und den Grenzländern zwischen den Nordlanden und Valvermont. Sie bewahren das Geheimnis um die Oger tief in den Legenden ihres Volkes. Sie gelten als Humanoidenfresser, sind aber in vielen Fällen sogar Vegetarier. Die Trennung zu den anderen Völkern Forcieren sie stärker denn je, weil die Dekadenz der Zivilisation ihren Glauben stark angreift und sie den Gedanken leben, dass die Existenz in Städten den Fluss ihrer natürlichen Magie stark hemmt. Sie stellen viele Druiden, Hexen und Naturpriester, aber genauso viele starke natürliche Magier, die in ihrer konzentrierten Lebensweise meist weitaus effektiver als arkane Zauberkundige sind. Die Weisheit des Volksglaubens ist nicht zu unterschätzen. Hat auch einmal ein Troll einem anderen Wesen seine Treue geschworen, so wird keine Macht der Welt diesen Bund je wieder lösen können. Leider werden diese Geschöpfe selten älter als 50 bis 80 Jahre alt.
Feline: Katzenlykantropen, die nur geboren werden können, eine eigenständige Art also, die aber aus magischen Zusammenkünften zwischen Humanoiden und Katzenrassen entstammen.
Rattenmenschen: Rasse von riesenhaften, nahezu unsterblichen, humanoiden Ratten, die auf den Betrachter den Eindruck machen, als seien sie mit etwas anderem gekreuzt worden.
Mischlinge: Das, was die Welt am meisten bevölkert, sind Mischlinge zwischen den Rassen. Wenige sind noch reinrassig. Die meisten Orcs vermeiden Mischlinge, aber auch da fällt der eine oder andere mal in das falsche Bett. Mensch-Elf und Mensch-Zwerg-Mischlinge sind sehr oft vertreten. Vereinzelt findet man auch Mischungen zwischen Orcs und Elfen, bzw. Orcs und Menschen. Zwerge vermischen sich auch selten mit Orcs. Drachen und Elfen harmonieren sehr gut (dank ighrer Magie) miteinander, aber auch Seraphin und Menschen oder Elfen. Allerdings wissen die Nicht-Seraphs im seltensten Fall von ihrem "Glück", bis der Nachwuchs da ist.
Ritter
Drachen
Drachenprinzen:
Die Drachenprinzen des Nordens sind zumeist silberne oder weiße Drachen, deren Blut vermischt ist mit einer anderen hohen Rasse wie den Elfen oder Orcs.
Die Drachenprinzen des Südens sind schwarze Drachen und haben sich ausschließlich mit schwarzen Elfen gepaart. Aus jeder Mischung entstammen besondere Männer und Frauen, deren Stärken in der Kriegsführung, Diplomatie oder Magie liegen. Das allein adelt sie unter ihresgleichen und gibt ihnen Anrechte auf die Regentschaft.
Drachlinge: Kleine Drachen, die stark magisch/ psyonisch veranlagt sind und die Fähigkeiten haben, sich mit einem Zauberer zu einer geistigen Vereinigung zu zwingen. Durch diese Partnerschaft weiß ein Teil des Gespanns immer, was der andere denkt, fühlt oder macht, selbst über Entfernungen hin.
Drachlinge teilen sich farblich unterschiedlich auf. Weibchen haben rotgoldene Schuppen, Männchen grüngoldene, Neutren blausilberne. Die Neutren haben die Veranlagung sehr schnell extrem Dick zu werden, fressen auch mehr als ihre Artgenossen, besitzen aber auch das stärkste magische Potential. Sie sind extrem selten.
In der Größe sind sie gleich zu einer normalen Hauskatze und haben noch einmal genauso lange Schwänze und Hälse, die ein Drittel ihrer Körperlänge ausmachen. Die Flügel tragen sie immer nur kurze Zeit. Im Gewicht liegen sie zwischen 2 und 7 Kilo.
Rouijin
Größtes und höchst diszipliniertes Südreich
S
Schulen der Magie
Schwarze Schmetterlinge
Lucas Art Zauber, die er vorbereitet, in eine Gestalt zu binden, die er beherrschen, leiten und jederzeit aktivieren kann
Sarina
Kaiserliche Hauptstadt
Seraphin
T
Totenpriester
Trolle
U
Usurpator
V
Valvermont
Die Freistadt Valvermont liegt an der westlichen Küste, zwischen dem Kaiserreich und den Nordlanden. Nördlich und östlich wird sie umfasst von den Blutbergen, die in die Eisenberge übergehen. Ein großer Teil der beiden Gebirge ist Hoheitsgebiet des Nordens, geht aber in den Südausläufern in das Gebiet des Kaisers über. Im Umkreis von 100 Meilen gehört das Land und die Orte noch zu Valvermont.
Night’s End, dass östlich in den Gebirgswäldern der Blutberge liegt, ist noch Teil von Valvermont.
Die Stadt ist unter der Regentschaft von Prinz Mesalla, der sie vor etwas über 150 Jahren in seinen Besitz brachte, indem er die Nachfahren des damaligen Königs kurzerhand absetzen ließ und via Notstandsgesetzen die Regentschaft übernahm. Das vormalige, durch Inzest kränkelnde Herrscherhaus würde in ein dauerhaftes Exil auf die Halbinsel Gismonda verbannt.
Seit Mesalla, der einer der schwarzen Drachenprinzen aus Kalesh ist, die Herrschaft übernahm, brachte er die zerrüttete und finanziell schwache Stadt zu neuem Glanz und Wohlstand.
Er führt die Stadt eiserner Hand, aber auch gewitzt und diplomatisch perfekt taktierend.
In Valvermont sammelten sich, durch den plötzlichen Wohlstand, viele Magierorden, die Mesalla nur zu bereitwillig zu seinem Gesamtkonzept hinzufügte. Mit Hilfe der Zauberei aller Arten, hält er ein ausgewogenes Klima, in dem alles an wichtigen Früchten und Getreide wächst und gedeiht.
Die Stadt selbst, teilt sich unterschiedliche Bezirke auf.
Südstadt, Universitätsviertel, Hafen, Patrizierviertel (Oberstadt), Handwerkerviertel, Künstlerviertel, Labyrinth. Alles ist um den Großmarkt und den Regierungspalast, bzw. das Theater angeordnet.
Jeder einzelne Stadtteil hat noch einmal eigene, kleinere Marktplätze und die Meisten haben Sammelbrunnen, aus denen sie ihr Trinkwasser beziehen. Allerdings haben der Palast und die Oberstadt eigene Pumpenanlagen, um direkt aus der großen, unterirdischen Kaverne unter der Stadt ihr Wasser in die Häuser hinein zu verlegen.
Unter dem Labyrinth, dem Ort der Ausgestoßenen und Verbrecher, gibt es die unterirdische Kristallstadt.
Dass die Stadt eigentlich von drei Männern regiert wird, ist außerhalb Valvermonts nicht bekannt.
Mesalla beherrscht die Stadt in ihrer Gesamtheit, Justin D’Arc ist der Herr des Labyrinths und Nicodemus der Herrscher der Kristallstadt. Mesalla verlässt sich sehr auf die Meinung der beiden Männer. Gemeinsam bilden sie die Regierung Valvermonts.
W
X
Y
Z
Tanja Meurer . Zietenring 12 . 65195 Wiesbaden
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Tag der Veröffentlichung: 26.08.2015
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