Ihr hysterisches Lachen verklang in einem Röcheln. Die darauf folgende Stille versetzte Oliver in Panik. Lediglich das entsetzliche Geräusch von Metall und Fleisch drang zu ihm. Im ersten Moment setzte Olivers Verstand unter den furchtbaren Eindrücken aus. Die Vorstellung, dass seine Mutter gerade vor seinen Augen erstochen wurde, hallte mit grauenhafter Gewalt in ihm nach. Hilflos, wie er war, hatte er es nicht verhindern können. Eis und Feuer rannen durch seine Adern. Entsetzt kauerte er in der Küche auf den kalten Fliesen. Der Schock saß tief in ihm. Sein Herz raste. Für endlose Sekunden wagte er nicht, den Blick zu heben, um ins Wohnzimmer zu spähen. Was er gesehen hatte, rann zähflüssig in seinen Verstand. Trotzdem konnte er es nicht verstehen.
Ihr Blut auf dem weißen Teppich war so irreal!
Oliver biss sich auf die Lippe. Er musste fort!
Der Gedanke weckte seine Angst. Leben kam in seinen schreckensstarren Körper. Rasch hob er den Blick und sah in den weitläufigen Raum hinüber. Am Rande seines Sichtfeldes entdeckte er den zusammengesunkenen Körper seiner Mutter. Wie ein monströser Schatten kauerte sein Vater über ihr. Blutspritzer bedeckten Boden und Gardinen. Panik verdrängte jedes andere Gefühl. Er bebte. Mit einem einzigen Satz federte Oliver unter der Küchenbar hervor. Er überwand den Abstand zur Tür in Sekundenbruchteilen. Kopflos rannte er auf den Flur hinaus. Der Ausgang schien ihm unendlich weit entfernt. Flucht war seine einzige Chance, wenn er überleben wollte! Er sprintete über die kalten Fliesen, vorbei an der Treppe, die nach oben führte. Ihn trennten vielleicht noch fünf oder sechs Meter von der Haustür, als das leise Weinen seiner Schwester in sein hysterisches Bewusstsein drang. Elli! Er musste seine Brüder und Elli beschützen. Für einen Moment bohrte sich dieser neue Gedanke mit erbarmungsloser Gewalt in sein Bewusstsein. Die Panik wich in einen verborgenen Winkel zurück. Abrupt änderte Oliver seine Richtung. Er rutschte weg. Mit rudernden Armen kämpfte er um sein Gleichgewicht, allerdings war es zu spät. Er stürzte schwer auf das rechte Knie. Sein Herz raste vor Angst. Hinter sich hörte Oliver einen fast unmenschlichen Schrei. Hass und Verzweiflung lagen darin. Der Laut berührte seine Seele und brannte sich unwiderruflich in seine Erinnerung. Die Stimme klang so fremd in seinen Ohren. Oliver schauderte. Er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Sein verletztes Knie gab unter der Belastung seines Körpers nach. Der scharfe Stich, der durch sein Bein jagte, trieb ihm im ersten Moment die Tränen in die Augen. Oliver biss die Zähne zusammen. Einen Herzschlag später polterten wuchtige Schritte aus dem Wohnzimmer hinaus. Die Tür schlug gegen die Wand. Oliver hörte, wie das schwere Glas zersprang und sich über die Kacheln ergoss. Splitter knirschten unter Sohlen. Oliver glaubte zu spüren, wie seine Nerven bis in die Fingerspitzen elektrisierten. Sein Verstand verlor jeglichen Halt. Mit aller Macht klammerte er sich an die Vorstellung seiner vier jüngeren Geschwister. Der Druck, der sich in ihm aufbaute, gab ihm zusätzliche Kraft. Er spannte sich an. Mit einem Ruck stieß Oliver sich vom Boden ab. Schmerzen explodierten in seinem Knie. Irgendetwas war passiert. Er konnte nicht genau sagen, ob er sich das Gelenk verdreht hatte. Oliver schob den Gedankensplitter von sich. Er biss die Zähne zusammen und raste den schmalen Treppenschacht hinauf. Mit beiden Händen zog er sich am Geländer hoch. Sein Atem ging hektisch. In seiner Seite brannte stechender Schmerz. Hinter sich hörte Oliver Schritte näher kommen. Aus seiner Angst heraus erhöhte er noch einmal seine Geschwindigkeit. Sein Bein protestierte. Er versuchte es zu ignorieren. Etwas schrie ihm eine Warnung zu. Er konnte hören, wie der Abstand stetig schmolz. In seinem Nacken stellten sich feine Härchen auf. Etwas Kaltes streifte seinen Rücken. Oliver wusste nicht, was. Das Adrenalin in seinem Körper behinderte seine Empfindungen. Er durfte nicht langsamer werden. Oliver konzentrierte sich auf die Stimme seiner Schwester. Er verdrängte alle anderen Eindrücke so gut es ging. Der Schmerz sank ein wenig herab. Ihm kam ein Gedanke – eine Art Plan. Er wollte sich an dem Treppenlauf herum reißen und seinem Verfolger die Füße vor die Brust stoßen. Ihm war klar, dass er weitaus weniger wog, als ein ausgewachsener Mann, der nur aus Muskeln bestand. Trotzdem versuchte er es.
Mit den letzten drei Stufen, die er auf einmal nahm, versuchte er herumzuwirbeln. Seine Kniescheibe protestierte heftig. Verletzung und Sprung kosteten Oliver viel von seinem Schwung. Er verfehlte seinen Verfolger.
Strauchelnd taumelte er und fing sich im letzten Moment. Metall blitzte am Rande seines Sichtfeldes auf. Scharfer Schmerz sengte durch sein Bewusstsein. Vielleicht rettete ihm seine Ungeschicklichkeit das Leben. Die Klinge streifte ihn nur an der linken Schulter.
Halb auf den Stufen eingesackt, aber sprungbereit lauerte sein Gegner. Der massige Mann hob sich als drohender Schatten gegen das fahle Licht aus dem Erdgeschoss ab. Er füllte das schmale Treppenhaus aus. Es war das Gefühl, einem Raubtier gegenüber zu stehen. Sein Widersacher spannte sich.
Olivers Gedanken rasten. Was würde passieren, wenn er oben ankam? Er wollte sich davon keine Vorstellung machen. Seine einzige Möglichkeit lag in einem Angriff. Er musste Zeit schinden, um zu seinen Geschwistern zu kommen!
Der Mann duckte sich. Ein unmenschliches Grollen drang aus seiner Brust.
Wie konnte ein Vater nur so grausam sein?!
Olivers Gefühle kochten. Lang würde dieses Monster nicht mehr warten. Erschrocken bemerkte er die Lichtreflexion auf der Klinge des schweren Jagdmessers, als sein Vater es leicht in den Fingern drehte. Anhand des Winkels, konnte der Mann nur von unten zustoßen und Oliver vom Bauch bis zur Brust aufschlitzen. In dem Moment wurde ihm der lange, blutige Schnitt in seiner Schulter erst wirklich bewusst. Bisher hatte das Adrenalin die eigentlichen Schmerzen verdrängt. Er musste sich wieder in den Griff zu bekommen! Oliver schob alle störenden Eindrücke von sich und fokussierte seinen Vater. Die Klinge zuckte in seine Richtung! Gleichzeitig zog sich Oliver am Geländer hoch und rammte ihm beide Füße vor die Brust. Betäubender Schmerz schoss durch Bein und Schulter. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als er aufkam, zwang er das dunstige Rauschen in seinen Ohren zurück. Hinter seinen Lidern flimmerte grauer Nebel, der sich kaum wegblinzeln ließ. Langsam gewann die Wirklichkeit wieder Konturen. Sein Vater musste gestrauchelt sein. Das Messer lag auf einer der Stufen unter ihm. Der Abstand zwischen ihnen hatte sich erheblich vergrößert. Sein Gegner klammerte sich verbissen an dem Handlauf fest und kämpfte um sein Gleichgewicht. Olivers Angriff war nicht umsonst! Er nutzte die Sekunden, die er dadurch gewann. Hektisch wirbelte er herum, sprang in den Flur im ersten Stock und warf die Tür ins Schloss. Als er nach dem Schlüssel greifen wollte, fuhr ihm eiskalter Schrecken durch alle Glieder. Der Schlüssel … er fehlte!
„Olli?!“
Entsetzt zuckte er zusammen und wirbelte um seine Achse. Einer der Zwillinge stand auf dem Gang. Der zehnjährige Junge rieb sich die tränenverquollenen Augen. Mit zwei humpelnden Schritten erreichte Oliver seinen Bruder und stieß ihn unsanft in sein Zimmer zurück. Gegen das Licht der Straßenbeleuchtung erkannte er die Silhouette des anderen Zwillings.
„Klettert aus dem Fenster!“, befahl er. Die Augen des Jungen weiteten sich fragend. Es war Chris. Oliver erkannte ihn an der ausdrucksvollen Mimik.
Hinter ihnen polterte es im Treppenhaus. Panik rann weißglühend durch seine Adern.
„Flieh mit Micha! Ruft die Polizei!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er die Tür des Zimmers hinter sich zu und stürzte in den Nebenraum. Elli kam ihm weinend entgegen gelaufen. Seine kleine Schwester klammerte sich an ihn. Oliver befreite sich unsanft. Er warf hinter sich die Tür ins Schloss. Aus dem Zimmer der Zwillinge hörte er qualvolles Stöhnen und leise Flüche. Das Fenster wurde geöffnet. Einen Augenblick später folgte ein Schmerzensschrei aus dem Garten. Chris und Micha konnten fliehen! Erleichtert atmete er auf. Nun musste er nur noch Marc und Elli nach draußen bringen. Bevor er den Gedanken in die Tat umsetzten konnte, hörte er bereits die Schritte seines Vaters näher kommen. Panisch tastete Oliver nach dem Schlüssel.
Entsetzt bemerkte er, dass dieser auch hier fehlte! Mit beiden Händen umklammerte Elli seinen Oberschenkel. Sie krallte sich in seine Hose und rieb ihr fiebriges, feuchtes Gesicht an seinem Bein.
„Elli, weg!“, schrie er sie an. Er versuchte sich von ihr zu befreien. Gehorsam ließ sie los, starrte ihn aber unverständig an. Für Erklärungen fand er keine Zeit. Oliver schob sie grob zur Seite, um die Wickelkommode von Marc vor den Eingang zu rücken. Er kam nicht dazu. Das Türblatt wurde nach innen gedrückt.
Entsetzt stellte er sich vor sie.
„Nimm deinen Bruder und versteck’ dich“, hauchte er.
Elli schüttelte vehement den Kopf. Sie klammerte sich an seine Hose. Tränen rannen über ihre Wangen. Oliver blieb nicht die Zeit, etwas zu unternehmen. Holz splitterte. Aus dem Augenwinkel sah er seinen Vater. Der Anblick des blutigen Riesen raubte ihm allen Mut. Das war der letzte Tag seines Lebens!
Wie gelähmt starrte er seinen Vater an.
Oliver musste ihn aufhalten, um seine Geschwister zu retten! Marc und Elli waren Kleinkinder!
Seine Schwester schrie panisch auf. Oliver wirbelte herum und drückte sie von sich, aus der Reichweite seines Vaters.
Eine Hand griff in seine hellen, langen Locken und verkrallte sich darin. Stechender Schmerz zuckte durch seine Kopfhaut in seinen Nacken. Brutal riss sein Vater ihn herum und stieß ihn zu Boden. Oliver wurde schwindelig und schlecht vor Schmerzen. Ein Faustschlag traf ihn mit Urgewalt zwischen den Schulterblättern. Er hörte ein ungesundes Knacken, während alle Luft aus seinen Lungen getrieben wurde. Oliver nahm nur noch wenig durch die wirbelnden Nebel seiner Erschöpfung wahr. Alle Empfindungen sanken zu einem betäubenden Nichts herab. Konnte man sich an Schmerzen gewöhnen? Der Gedanke entglitt ihm. Schwach bemerkte er, wie sich Elli an ihn krallte. Ihre Stimme krähte heiser … warum schrie Marc nicht?!
Kleine, heiße Kinderhände suchten nach Halt. Sie wagte nicht, irgendeinen Laut zu verursachen. Oliver zog sie näher an sich heran. Er versuchte, sich vor seine Schwester zu rollen. In der Sekunde drang die Klinge in sein gebrochenes Schulterblatt. Haut und Muskeln zerrissen unter dem brutalen Angriff. Oliver schrie auf. Es klang fremd in seinen Ohren. Ellis dünnes Weinen mischte sich in seine Stimme.
Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Dennoch wollte er nicht aufgeben. Verlieren durfte er nicht!
Sein Vater zerrte ihn an seinen Haaren hoch. Oliver klammerte sich an Elli. Er wollte sie vor diesem Schicksal bewahren.
Mit dem Bild seiner toten Mutter, der Todesangst seiner Schwester und der Agonie, die in seinem Körper explodierte, warf er sich nach vorne. Er fühlte seine Haare büschelweise ausreißen. Diese Art des Schmerzes nahm er nicht mehr wirklich war. Er fiel hart zu Boden, wobei er Elli halb unter sich begrub. Seine Schwester schrie panisch.
Das Messer traf ihn wieder. Nicht tief, allerdings platzten Haut und Gewebe über den Knochen auf.
Vor Olivers Augen tanzten flackernde Blitze. In seinen Ohren rauschte sein Blut. Das Geräusch war so laut, dass es Elli übertönte und ihn in einen grauen Strudel aus Erinnerungslosigkeit reißen wollte. Sein Vater zog das Messer aus seinem Körper. Eine Woge betäubender Erleichterung raste durch seinen Verstand, nur um erneut in Agonie zu explodieren. Er glaubte, die Schmerzwellen zu fühlen, die durch seine Nerven bis in seine Fingerspitzen schossen. Seine Welt versank in blutigen Schleiern und panischer Angst, während er Elli unter sich barg.
Seine Schwester schrie und weinte nun ungehemmt. Oliver hörte schwach ihren rasselnden Atem. Der Gedanke, dass er ihr die Rippen gebrochen haben musste, manifestierte sich. Verzweifelt rang Elli unter ihm nach Luft. Mit ihren kleinen Ärmchen kämpfte sie gegen Olivers erdrückendes Gewicht an. Mühsam zog er die Beine an den Leib. Es kostete ihn unendlich viel Kraft. Sie bekam dadurch etwas mehr Freiraum.
Sein Vater durfte ihr nichts tun. Der Gedanke bohrte brennend hinter seiner Stirn. Wenn er schon seine Mutter nicht retten konnte, so wenigstens Elli und Marc. In seinem umnebelten Verstand klammerte er sich an diese schale Hoffnung. Ihm fehlte die Kraft, die Wirklichkeit zu akzeptieren. Sie waren alle so gut wie tot.
Sein jüngster Bruder lag vollkommen ungeschützt in seinem Bettchen. Er war ein leichtes Opfer.
Olivers Finger umklammerten das Holzgitter und berührten Marcs winzige Füßchen. Er war ihm so nah, zugleich aber unendlich weit entfernt!
Oliver erschrak, so weit es seine Erschöpfung noch zuließ, über die taube Bewegungslosigkeit seines kleinen Bruders.
Warum schrie Marc nicht? Warum strampelte er nicht …?
Oliver konnte diesen Gedanken nicht festhalten. Sein Verstand versank in einer Welt aus Schmerzen und Blut. All seine Empfindungen stumpften ab. Der letzte Gedanke galt seinem Vater: Warum tat ihr Vater ihnen so etwas an?
Wind bewegte die Gardine vor seinem Fenster. Er sah in den Park hinaus. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab. Trotzdem wurde es nun Herbst. Oliver fror in seinem T-Shirt. In den vergangenen Tagen sanken die Temperaturen. Trotz des schönen Wetters wusste er, dass der Sommer vorbei war. Die Blätter verfärbten sich. Einige Bäume in den Anlagen der Reha-Klinik entlaubten bereits. Draußen kratzte eine Harke über den Asphalt. Der Gärtner legte die Wege frei. Oliver mochte das Geräusch, etwas Beruhigendes ging davon aus.
Frau Richter redete gerade mit ihm. Oliver hörte seiner Psychologin nicht zu, er spürte, wie seine Gedanken abdrifteten.
Es war bereits Ende September, seit knapp drei Monaten befand er sich hier. Mit seinen fünfzehn, knapp sechzehn Jahren war er der Jüngste in der Rehabilitation. Manchmal fühlte er sich unter den überwiegend alten Menschen fehl am Platz. Dennoch mochte er viele von ihnen und freundete sich mit ihnen an.
Die ersten Tage nach Erwachen aus seinem künstlichen Koma erschienen ihm jetzt bizarr und fern. Bereits im Krankenhaus versuchte er, so gut er konnte, wieder auf die Beine zu kommen, doch sein entkräfteter Körper weigerte sich, die einfachsten Handgriffe anzunehmen. Selbst eigenständig zu trinken war ihm schwer gefallen. Innerhalb der letzten sieben Monate gelang es ihm, sich wieder bis zu seinem früheren Zustand hochzuarbeiten. Trotzdem fühlte er sich nun leer und erschöpft. Er wusste, dass er bald entlassen werden sollte. Die eigentlich positive Nachricht hatte ihm viel von seinem Enthusiasmus geraubt. Er fühlte sich seither erschöpft und demotiviert. Möglicherweise lag es daran, dass Marc und Elli die Nacht nicht überlebt hatten. Der Verlust und die Schuldgefühle belasteten ihn sehr. Christian und Michael verurteilten ihn dafür nicht. Aber er hatte das Gefühl, dass sein Großvater ihm die Schuld an dem Tod seiner Tochter gab. Ob bewusst oder unbewusst, konnte Oliver nicht sagen. Der alte Mann wich ihm aus, blieb unpersönlich und fremd. Der Gedanke nun mit den Zwillingen bei Walter zu leben, behagte ihm gar nicht.
Jeder andere behandelte ihn offener, herzlicher und freundlicher als sein Großvater.
Alle möglichen Menschen bemühten sich um ihn. Neurologen und Psychologen besuchten ihn alle paar Tage. Ein Ergotherapeut kümmerte sich beständig um die Entwicklung seiner Motorik. Vor Kurzem hatte ihn sein Therapeut überzeugt, wieder Sport zu treiben, um seine neu gewonnene Beweglichkeit beizubehalten und zu steigern. Körperlich ging es ihm gut. Außer den hässlichen Narben auf Brust, Rücken und Schultern war nichts von den vielen Stichen und Schnitten zurück geblieben. Ein paar Bewegungen fielen ihm jetzt schwerer, auch konnte er seinen linken Arm nicht mehr vollkommen schmerzfrei nutzen, aber sein vor kurzem noch so entkräfteter Körper setzte rasend schnell Muskeln an. Für ihn stand fest, dass er in jedem Fall wieder anfangen würde zu boxen, sobald er es konnte. Vielleicht wäre er dann in der Lage, seine letzten physischen Schwächen aufzufangen. Allerdings war es ihm noch wichtiger seine beiden noch lebenden Brüder effektiver zu verteidigen.
Verteidigen? Olivers Gefühle versanken in dumpfer Wut und heißem Schmerz, sobald er an seine Familie dachte.
Die Stunden in der Trainingshalle und den Krafträumen halfen Oliver, nicht ständig in seiner Vergangenheit zu verweilen. Trotzdem überfielen ihn spätestens in den Nächten die düsteren Gefühle. Er nutzte den Zorn und Hass auf seinen Vater – Tom Hoffmann, der Dank diverser Klatschblätter eine Weile in aller Munde war - um seinen Körper vollständig zu stählen. Sollte dieses Monster je wieder aus dem Gefängnis kommen, wollte Oliver all die, die er liebte, schützen können. Das dumpfe Gefühl der Schmerzen veränderte sich mit jedem Tag und jedem Fragment seiner Erinnerung mehr zu blankem Hass. Selbst die Nachricht von der Verurteilung seines Vaters beruhigte ihn nicht. Oliver hielt diese Gedanken allerdings tief in sich verborgen. Er vermutete, dass seine Psychologin bereits wusste, was wirklich in ihm vor sich ging, aber er vertraute ihr nicht genug, um sich ihr vollständig zu öffnen.
Jeden Tag fragte sie nach seinem Befinden, seinen Ängsten und Gefühlen. Zumeist antwortete er nicht direkt darauf.
Wenn ihn Michael und Christian besuchten, wurde ihm jedes Mal erneut bewusst, dass diese Nacht nicht spurlos an ihnen vorbei gegangen war. Im Gegenteil. Sie kamen ihm unnatürlich gealtert vor. Michael zog sich noch mehr in seine eigene, stumme Welt zurück. Er drückte sich zumeist nur durch Gesten aus. Olivers Nähe bedeutete ihm jetzt mehr als alles sonst. Christian klammerte sich an seine Freunde. Seine extrovertierte Art half ihm. Er wurde von jedem bemitleidet und geliebt. Für die Zwillinge waren fast neun Monate ohne Oliver vergangen. Sie hatten ihren elften Geburtstag für ihn sogar in der Klinik gefeiert. Oliver sollte daran Teil haben. Die Geste berührte ihn. Eine völlig neue Nähe entstand zwischen ihnen. Er wusste, dass sie einander helfen mussten, um den Verlust ihrer Eltern und ihrer jüngeren Geschwister zu überwinden. Eine wirkliche Familie existierte nicht mehr. Lediglich ihr Großvater erbot sich, den Jungen ein Heim zu geben. Doch der einundneunzigjährige Mann hegte wenig Interesse an seinen Enkeln. Walter Markgraf lebte in seiner eigenen Welt. Ihm bedeuteten seine Bücher und seine Buchhandlung alles. Darin gab es keinen Platz für minderjährige Kinder. Oliver kannte seinen harschen, unfreundlichen Großvater gut. Walter Markgraf war nicht in der Lage Liebe und Nähe zu geben. Vielleicht lag darin auch das Geheimnis, weshalb Oliver ihn in der ganzen Zeit nur drei Mal zu Gesicht bekam. Unter der mangelnden Aufsicht des alten Mannes erwuchs aus Michael geduldige Stärke, die sich in seinen ernsten, traurigen Zügen niederschlug, während Christian jünger, anhänglicher und liebesbedürftiger zu werden schien. Am Ende eines jeden Besuchs lag mehr Trennungsschmerz in den Gesichtern der beiden Jungen, als zuvor. Die Nachricht seiner Entlassung löste bei den Zwillingen Erleichterung und Freude aus.
Für Oliver war es wie ein Zwang, sich zu besinnen. Er dachte oft und intensiv nach. Nach einer Weile erschien es ihm, als tauche er aus einem schützenden Kokon in die wirkliche Welt ein. Es war wie das Gefühl zu erwachen.
Erwachen? Wofür stand dieses Wort? Diese Nacht und all ihre grausamen Details gehörten in die Welt der Alpträume. Wenn er in diese Momente eintauchte, waren sie irreal und fremd. Ihm war klar, dass es solche Fälle durchaus gab. Die Medien berichteten immer wieder davon. Das passierte überall, aber nicht hier, in seiner Realität.
In seiner Wirklichkeit gab es vielleicht einen brutalen Vater, der gern und oft zuschlug. Der Ausgleich war seine liebevolle Mutter, die zeitweise aus ihren fernen Himmelreichen herab stieg und ihm - ihnen - eine wunderschöne Zeit bescherte. Der Gedanke, dass sie nicht mehr lebte, drang in seinen Verstand, nicht aber in sein Herz. Für Oliver war sie nur wieder auf Reisen und für längere Zeit fort. Manchmal erwartete er, sie nachmittags durch die knochenbleiche Tür seines Krankenzimmers kommen zu sehen. Er wünschte es sich so sehr, dass sie ihn überraschte, seinen Namen rief, oder ihm von hinten die Augen zuhielt. Doch da war nichts. Lediglich die Zwillinge besuchten ihn.
Erwachen bedeutete auch, sich der neuen Situation mit seinem Großvater zu stellen.
Dank der Erzählungen von Chris, der wahrscheinlich maßlos übertrieb, bekam Oliver ein vages Bild von dem dauerhaften Zusammenleben mit seinem Großvater. Er konnte verstehen, dass es die Zwillinge nach Hause zurückzog. Für sie, besonders für Chris, war das neue Leben die Hölle. Er beschrieb Oliver seine Eindrücke des großen Mietshauses und der alten Wohnung in den düstersten Farben. Insgeheim stimmte Oliver ihm zu. Der Bau stammte aus der Jahrhundertwende und besaß etwas erdrückend Unheimliches. Vielleicht lag es daran, dass das Haus vollkommen verlebt war. Chris, der Technik und Geld gewohnt war, konnte sich natürlich nicht damit arrangieren. Fernsehen ging vielleicht noch, aber kein Internet, keine Konsolenspiele oder DVDs.
Michael nahm alles hin. Er litt nicht so sehr unter dem sozialen Rangverlust wie Christian. Trotzdem war Oliver klar, wie stark sein Bruder den Komfort vermisste. Ihre Eltern hatten sehr gut verdient. Auch wenn ihr Vater oft zuschlug, gab es keinen Luxus, den er seinen Kindern versagte. Gleichgültig ob Technik, Spielzeug, Bücher, Kleidung, Sportverein oder irgendwelche Kurse, sie konnten alles von ihm haben.
Oliver war der Komfort egal. Er galt ohnehin als rebellisch und unfähig sich unterzuordnen. Ihm bedeutete ein Fernseher so wenig wie Markenkleidung. Lediglich seinem Laptop und seinen darauf gespeicherten Geschichten trauerte er hinterher.
Oliver wusste, dass es keine Chance gab, je wieder in ihr altes Leben zurück zu kehren. Er konnte nur hoffen, dass Walter lang genug lebte, damit die Zwillinge und er nicht auch noch getrennt wurden. In seinem Alter lag es noch nicht in seiner Entscheidungsgewalt, wie er leben konnte. Etwas mehr als zwei Jahre musste er noch durchhalten. Trotzdem bezweifelte er, dass seine Volljährigkeit alle Probleme lösen konnte.
Oliver schob den Gedanken von sich. Er vermutete, dass ihm ohnehin noch eine ausführliche Rechtsbelehrung von Herrn Rüttgers, dem Anwalt seines Vaters, bevorstand. So viele Punkte waren ungeklärt. Nach seiner Entlassung würde er sich damit befassen müssen.
„Oliver?“, fragte die sanfte Stimme Frau Doktor Richters in seinen Geist. „Wo bist du gerade?“
Er sah von den Mustern auf dem Boden in ihr Gesicht. Die Psychologin war eine hübsche, freundliche und geduldige Frau. Er mochte ihre Art. Vielleicht bildete sie das Ideal, was er sich unter einem führsorglichen Mensch vorstellte. Sie besaß viel Taktgefühl. Wärme umgab sie und verlieh ihr eine besondere Schönheit.
Sie saß ihm gegenüber. Auf dem Tisch vor ihr stand eine Tasse Kaffee. Ihre Hände lagen lose auf den Lehnen. Dunkle Locken fielen in ihre Stirn und unter den Rahmen ihrer Brille. Sie sah etwas derangiert aus. Er fühlte sich von ihr beobachtet.
„Noch hier …“, flüsterte Oliver. Mit einer Hand fuhr er sich über seine Stirn. Er strich sich das lange Haar über die Schulter und spielte mit den Haarspitzen. Etwas in ihm sog ihn wieder in seine innere Welt. Dieses Mal gestattete er sich nicht, so weit aus der Wirklichkeit abzurücken. Es strengte ihn an, insbesondere weil er nicht wusste, was er ihr antworten sollte, wenn er seine Gedanken schützen wollte. Müde ließ er sich zurück sinken und schloss die Lider.
„Sollen wir morgen weiter machen?“, fragte sie.
Oliver dachte einige Sekunden über diese einfache Frage nach. „Nein“, entgegnete er entschlossen. „Ich will nach Hause.“
„Glaubst du so weit zu sein?“, fragte sie ruhig, während sie sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte. Er kannte die Bewegung. Damit intensivierte sie die Wirkung ihrer Worte. In ihrer Stimme schwang etwas Hypnotisches mit. Die Frage zwang ihn zu einer klaren Aussage.
Er spürte, dass sie ihn ansah. Nachdenklich erwiderte er ihren Blick.
„Selbst wenn nicht“, sagte er leise. „Ich muss für Chris und Micha da sein.“
„Bist du sicher, dass du das aushältst?“
Oliver war sich ganz und gar nicht sicher. Aber er hielt die Trennung von seinen Brüdern nicht mehr aus. „Ja. Davon abgesehen muss ich wieder zur Besinnung kommen. In der Reha bleibt für mich alles wie ein irrealer Alptraum, aus dem ich nicht heraus komme. Ich muss mich der Welt da draußen stellen. Sie hier zu bereden ist nicht anders als theoretisch Auto fahren zu können.“
Sie atmete tief durch. Etwas in ihrer Mimik änderte sich. Eine ihm unbekannte Härte zuckte um ihre Mundwinkel. „Du weißt, dass ich dich nur hier behandeln kann?“
„Ich kann täglich herkommen …“, begann er, doch sie unterbrach ihn.
„Das bezahlt die Versicherung nicht. Du musst dir einen Psychologen außerhalb der Klinik suchen …“ Sie klang wie knirschendes Glas. Sie schien bemerkt zu haben, dass Oliver seinen Entschluss nicht mehr ändern würde. Mit veränderter Stimme fuhr sie fort: „… aber ich kann dir helfen, jemanden zu finden, mit dem du auskommst.“
Oliver schluckte. Sein Mund fühlte sich trocken an. Eine weitere Person, die diese Geheimnisse aus ihm heraus zwingen wollte? Der Gedanke bereitete ihm beinah körperliches Unwohlsein. Von den emotionalen Wünschen abgesehen, gab es bei ihm auch vollkommen rationale Gesichtspunkte. Er musste einfach in das normale Leben zurückkehren, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Davon abgesehen fehlten ihm auch seine Klassenkameraden und Freunde. Die Karten auf seinem Nachttisch häuften sich zwar, aber seit er in der Reha war, kam kein einziger vorbei, nur einige seiner Lehrer richteten Grüße aus, wenn sie ihn gelegentlich besuchten. Wahrscheinlich lag es an der langen Strecke von Wiesbaden nach Bad Schwalbach. Die Fahrt im Krankenwagen dauerte schon eine gefühlte Ewigkeit. Mit dem Überlandbus würde es nur noch langsamer gehen. Bis auf die Zwillinge nahm keiner freiwillig eine Stunde einfacher Strecke auf sich. Er hasste die Situation. Möglicherweise halfen seine Freunde ihm mehr, als Frau Richter. Oliver senkte den Kopf und wich dem Blick der Psychologin aus. Sicher war er sich nicht. Schließlich hatte er seit rund drei Monaten keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Er würde es herausfinden!
Die unterschwellig hypnotische Frage der Psychologin hallte noch immer in seinen Gedanken nach. „Mein Entschluss steht fest“, bekräftigte er.
*
Die Wohnung roch nach Alter und schlechter Luft. Bislang kannte Oliver diese Räume nur von Besuchen. Auch wenn er manchmal einen Teil seiner Ferien hier verbracht hatte, löste der Schritt über die Schwelle ein seltsames Gefühl in ihm aus. Erstickende Endgültigkeit ging von diesem Moment aus. Diese Räume boten ihm kein Versteck. Er fühlte sich fremd. Es gab vermutlich nichts mehr, was er noch sein Heim nennen konnte. Insgeheim wünschte er sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Er wollte alles vergessen was geschehen war und sich in seinem Zimmer verkriechen. Was würde wohl aus dem Haus seiner Eltern werden? War es vielleicht immer noch für Ermittlungszwecke gesperrt? Eine unerklärliche Sehnsucht paarte sich mit dem Gefühl des Verlustes. Oliver wollte zu seinem Elternhaus, gleichgültig, was dort geschehen war. Am liebsten wäre er sofort losgelaufen.
Ihm fiel es schwer, den Impuls zu unterdrücken.
Oliver schloss die Augen. Die Bitterkeit dieses Gedankens riss eine Barriere kalter Gleichgültigkeit in ihm ein. Bisher war er der Ansicht, die Mauern, hinter denen sich seine Schmerzen und Ängste verbargen, seien hoch genug und massiv wie ein Gebirge. Keine Lüge konnte so viel Bestand haben, wie diese schreckliche Wahrheit.
„Oliver!“, der alte, gebeugte Mann blieb auf dem staubigen, ausgetretenen Flurläufer stehen. Langsam drehte er sich um. Farblose Strähnen hingen in seine zerfurchte Stirn. Das kantige, grobe Gesicht erinnerte Oliver an einen Nussknacker. In dem Gewirr tieferer und feinerer Falten lagen hellblaue Augen, die fremdartig wach und jung auf Oliver wirkten. Solang er seinen Großvater kannte, sah der alte Mann nie anders aus. Oliver fühlte sich bei ihm an einen verwitterten Stein erinnert, der sich nur in Jahrhundertschritten veränderte. Der alte Mann verströmte Strenge. Insbesondere jetzt fühlte sich Oliver in seiner Nähe eher unwohl.
Er sah auf. „Wo sind Micha und Chris?“, fragte er.
Ihm fehlte die lebendige Präsenz der Zwillinge.
„Sie sind in der Schule“, tadelte Walter ihn.
Oliver stöhnte innerlich. In den vergangenen Wochen war ihm jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Er legte seine Tasche im Flur ab und trat langsam an die Seite seines Großvaters. „Wann geht es für mich wieder los?“, fragte er vorsichtig.
„Nach den Herbstferien“, antwortete der alte Mann einsilbig, wobei er Oliver in die unordentliche Wohnküche führte. Schulbücher lagen auf der Sitzbank, Hefte, ein Geodreieck und viele Stifte auf dem Tisch. Dazwischen standen verkrümelte Bretter, benutztes Besteck und leere Kaffeebecher.
Oliver kniff entnervt die Augen zusammen. Wie auch zu Hause begann er das Chaos seiner Brüder zu sortieren.
„Opa, lass das nicht durchgehen“, schimpfte er. „Chris muss lernen, Ordnung zu halten!“ Er stapelte die Bretter und stellte sie in die Spüle und nahm sich einen Lappen, um die Wachstischdecke abzuwischen.
Walters raues Lachen riss ihn aus seiner Arbeit.
„Ich glaube, du übernimmst die Erziehung der Jungs!“
Die Worte klangen sehr viel ernster, als es den Anschein hatte. Betroffen blieb Oliver stehen. Genau genommen verhielt es sich nicht anders wie zuvor. Er war Ersatz für Vater und Mutter.
Bei den Zwillingen empfand Oliver es damals als noch nicht so schlimm. Seine Mutter befand sich zwar ständig auf Reisen zwischen Frankfurt, Berlin, London und Kairo, aber sein Vater war abends meistens zu Hause. Erst später, als Michael und Christian in den Kindergarten kamen, arbeitete auch er wieder lang und war über Tage nicht da. Oliver wusste, dass er zu jener Zeit erwachsen geworden war. Damals zog sich seine Mutter Silke von der Familie zurück. Die Aggression seines Vaters nahm zu. Er schlug seine Söhne bei den geringsten Fehlern und vergrub sich in seiner Arbeit. Oft war er über Wochen nicht zu Hause. Ein Zusammenleben gab es nur noch selten. Zumeist eskalierte es in Streit und der Verteilung von Hausarrest.
Oliver war viereinhalb, knapp fünf Jahre älter als die Zwillinge. Der Unterschied reichte, um für die beiden Jungen zur Respektsperson zu werden. Er – auf sich allein gestellt – beobachtete die Familien seiner Freunde und versuchte das auf die Kleinen anzuwenden. Vermutlich war ihm seine eigene Kindheit entglitten, bevor er sie ausleben konnte. Es war schwer, vernünftig zu sein, die Verantwortung zu tragen und alle Entscheidungen zu treffen. Trotzdem lebte er diese Rolle und er hasste sie!
„Was ist mit dir los?!“, fragte Walter. Er setzte sich an den Tisch, faltete die Hände auf der Platte und wies mit dem Kopf auf einen der Stühle. Oliver zögerte.
Diesem Gespräch wollte er entgehen. In den vergangenen Wochen hatte ihn die Psychologin mehrfach ausgefragt, analysiert und ihn fast bedrängt.
„Ich kann es dir nicht erklären“, antwortete er, während er sich langsam zur Spüle umdrehte. „Willst Du Kaffee?“, fragte er seinen Großvater, um zu unterstreichen, dass er mit ihm nicht darüber reden würde.
Der alte Mann seufzte. „Ich kann ja verstehen, dass du verwirrt und verletzt bist …“ Seine Stimme klang emotionslos.
„Kannst du das?!“, fragte Oliver lauernd. Er verstand nicht, warum er auf seinen Großvater so aggressiv reagierte. Vielleicht lag es an der Art zu Sprechen, dem Thema oder der Tatsache, dass Walter nicht nachvollziehen konnte, was Oliver gesehen hatte.
Sein Großvater knurrte unwirsch. Als Oliver seinem Blick begegnete, las er darin blanken Vorwurf.
Er war nicht in der Lage sich bei Walter zu entschuldigen. Viel mehr machte sich Wut in seinem Herzen breit. Der alte Mann kümmerte sich nicht richtig um seine Enkel und interessierte sich in den letzten Monaten nicht für Oliver. Warum nahm er nicht zumindest Rücksicht darauf, dass die drei Brüder gleichzeitig ihre Familie verloren hatten? Oliver atmete tief durch. Mühsam verdrängte er seinen Zorn. ‚Konnte man in dieser Situation überhaupt normal reagieren?’, überlegte er. Aber was war normal?!
Er wusste es nicht.
„Verdammt, Oliver, jetzt hab’ dich nicht so!“, donnerte Walter. Seine Mimik verhärtete sich. Der Blick, der Oliver traf, stach tief in sein Herz. „Ich wollte nur wissen, was mit dir los ist!“ Walter gestikulierte mit beiden Händen wahllos in der Luft. „Du musst lernen, das alles nicht an dich heran kommen zu lassen!“
„Was?“, fragte Oliver leise. „Dass unsere …“
„Dass die Kinder und Silke tot sind und dein Vater so schnell nicht mehr aus dem Gefängnis kommt!“, unterbrach ihn sein Großvater. Oliver schnappte nach Luft. „Werde hart, Junge. Ansonsten zerstören dich deine eigenen Gefühle, verstanden?!“
Die Vorstellung einfach darüber hinweg gehen zu können, so kalt zu sein und nicht einmal die Chance zu erhalten, die Toten zu betrauern, traf Oliver. Aus Erzählungen und Berichten wusste er, was mit seiner Schwester passiert war. Er schauderte bei dem Gedanken, dass sie bei den ersten Stichen noch nicht tot war. Das Martyrium Ellis ging ihm näher als der Tod seiner Mutter und Marcs. Dieses Kind war sein unbestrittener Liebling gewesen. Er vergegenwärtigte sich ihr Bild, ihr lachendes, hübsches Gesicht und die Liebe, die sie ihm für jeden Moment der Aufmerksamkeit schenkte.
Tränen brannten in seinen Augen. Er fühlte, wie sich ein harter Kloß in seinem Hals bildete, der ihm das Atmen erschwerte. In seinen Schläfen dröhnte es. Er fühlte sich elend unter dem kalten Blick Walters. Der Druck, der sich in seinem Kopf aufbaute, wurde zu brennendem Schmerz.
Brüsk drehte er sich um und verließ die Küche.
*
Er flüchtete sich über den Dachboden zu den Kaninchenställen und dem Taubenschlag seines Großvaters. Der strenge Tiergeruch brachte Oliver wieder zur Besinnung. Kalte Herbstluft umwehte ihn. Er fror in seinem dünnen Shirt. Trotzdem tat die Ruhe gut. Von hier aus sah er weit über Wiesbaden. Es war sein Rückzugspunkt.
Er atmete tief durch, bevor er in seiner Hosentasche nach dem zerdrückten Zigarettenpäckchen suchte, was er sich von einem der Pfleger erbeten hatte. Nach Sekunden fand er es. Staniol raschelte unter seinen Fingern, als er es gegen seinen Finger schnippte.
Er nahm die Zigarette zwischen seine Lippen und entzündete sie. Gierig inhalierte er. Es war seine erste seit langem. Der Rauch brannte in seiner Kehle. Hustend nahm er einen weiteren Zug. Trotzdem besserte sich der Geschmack nicht. Er wischte die Glut an der Umfriedung des Daches ab und schob die Zigarette in das Päckchen zurück.
Oliver fühlte sich schrecklich. Er konnte mit keiner anderen Person darüber sprechen. Es würde bedeuten, die Dämonen erneut zu beschwören. Mit Walter zu reden und zu wissen, dass seine Aufmerksamkeit nur reine Höflichkeit war, verletzte ihn. Das Verhalten und die Kälte Walters stießen ihn ab. Sein Großvater musste wissen, dass Oliver den Verlust seiner Familie nicht einfach so verkraftete. Er konnte nicht einmal bei der Beerdingung von Elli, Marc und seiner Mutter Abschied nehmen.
Brennend heiß schossen Oliver Tränen in die Augen. Das, was er bisher vermieden hatte, überkam ihn nun mit Urgewalt.
Stumm sank er zusammen, die Hand auf die Augen gepresst.
Seine Kehle war trocken. Um sein Herz lag ein stählerner Ring, der sich immer fester zog. Erstickt schluchzte er.
Oliver drehte sich mit dem Rücken zu der Umfassung. Er lehnte sich gegen den kalten, schmutzigen Stein.
Ungehindert rannen die Tränen über seine Wangen. Er spürte den vollen Umfang des Verlustes. Marc fehlte ihm. Sein freches Lachen würde er nie wieder hören. Sogar sein Quengeln und seine Wutausbrüche vermisste Oliver. Es tat weh zu wissen, dass seinem jüngsten Bruder alle Möglichkeiten geraubt worden waren. Er wurde nur drei Jahre alt. Die Erinnerung an Elli schmerzte noch mehr. Im Gegensatz zu ihrem sonnigen, charmanten und oft unbeherrschten Bruder war sie sanft und schutzbedürftig. Oliver dachte an die vielen Nächte, in denen die Kleinen von ihm gefüttert und neu gewindelt wurden, oder die Monate, in denen sie beide in seinem Bett schlafen wollten, weil sie sich in ihrem Zimmer vor der Dunkelheit fürchteten …
Olivers Herz krampfte sich zusammen. Er rang nach Atem. Der Schmerz wollte nicht aufhören. Seine Seele blutete.
Selbst nach Minuten gelang es ihm nicht, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Seine Gefühle, durch die Tränen in Aufruhr gebracht, wirbelten in aggressivem Chaos durch seinen Geist. Tausend Eindrücke, Erlebnisse und Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Sein Schädel dröhnte. Er fühlte, wie er sich immer stärker in den Strudel seiner Gedanken hineinziehen ließ. Oliver war nicht einmal in der Lage, sich der relevantesten Frage zu stellen: was mit ihm passierte, wenn er sich über all seinem Schmerz selbst vergaß. Dennoch spürte er eine leise Warnung hinter seiner Stirn. Er brauchte eine Art Rettungsanker …
„Olli?“
Er fuhr zusammen, als er Michaels Hand auf seinem Arm spürte. Die leise, ruhige Stimme seines kleinen Bruders drang langsam in sein Bewusstsein.
Er hob den Blick. Das Bild Michaels verschwamm vor seinen Augen. Es löste sich in facettenreiche Tropfen auf.
Mit unbeholfenen Bewegungen und kleinen, liebevollen Gesten tupfte Michael ihm die Tränen von den Wangen. Trotzdem rannen sie unaufhörlich nach. Wortlos griff Oliver nach der Hand seines kleinen Bruders und zog ihn fest in seine Arme. Oliver fühlte sich matt, aber sein Herz raste, als wäre er die Treppen hoch gerannt. Die Wärme des schmalen Kinderkörpers versetzte ihm einen erneuten Stich. Ihm wurde bewusst, wie stark ihm Michael und Christian gefehlt hatten.
Mit aller Kraft drückte er seinen Bruder an sich.
Michael keuchte, umklammerte Oliver aber mit derselben Inbrunst.
Nach Minuten versiegten Olivers Tränen. Auf seiner Zunge machte sich ein schaler Geschmack breit. Er rang nach Atem und lockerte zugleich seinen Griff. Michael befreite sich, um ein Stück zurückzuweichen. Oliver fühlte den aufmerksamen Blick seines Bruders.
In der Mimik des Jungen hatte sich viel verändert. Er wirkte noch gefasster. Die Augen waren nicht mehr die eines Elfjährigen. Oliver beobachtete einen Erwachsenen, der stumm litt und seine Gedanken für sich behielt, um anderen nicht zur Last zu fallen.
Michael hielt seine Tränen zurück, um seinen großen Bruder zu trösten. Oliver streichelte ihm sanft über die Wange. Nun war es an der Zeit sich zu fassen. Er wollte ihn entlasten. Vielleicht wurde das Leid schwächer, wenn sie es gemeinsam still und einvernehmlich trugen.
„Ich bin wieder da“, sagte er leise.
Gegen Mitternacht saß Oliver immer noch wach in seinem Zimmer auf dem Fußboden. Neben ihm brannte eine Kerze. Er mochte den einsamen Schimmer in der Dunkelheit, der sich in einer winzigen, goldenen Korona auf schwarzen Dielen abzeichnete. Für sein Empfinden lag darin etwas sehr Tröstliches.
Sein Blick verlor sich an einem Punkt neben dem Licht. Auf seinen untergeschlagenen – vom langen Sitzen tauben - Beinen lag sein Schreibblock. Er lehnte an der Wand unter der Dachgaube. Seine Finger spielten mit den Fransen des abgenutzten Teppichs.
Während des Schreibens war sein Geist abgedriftete. Oliver verlor sich in verschiedenen Überlegungen. Er musste Frau Dr. Richter zustimmen. Der Zeitpunkt in den Alltag zurück zu kehren, war unglücklich gewählt. Zurzeit empfand er die Menschen, die keine Rücksicht auf seine Situation nahmen, als störend. Ihm war die Ungerechtigkeit dieses Gedankenganges wohl bewusst, aber entweder fühlte er sich zu unwillig oder zu phlegmatisch, um auf die Sorgen anderer einzugehen. Die Reaktion seines Großvaters erschütterte ihn immer noch zutiefst. Oliver brachte kein Verständnis dafür auf. Ihm war bewusst, dass Walter kein Ausbund an Gefühlen war, trotzdem konnte Oliver nicht begreifen, wie man so brutal alle Gefühle abstreifen konnte. Vergessen war keine Taktik. Sein Großvater verletzte damit nicht nur ihn, sondern auch seine Brüder.
Vor wenigen Stunden hatten sich die ersten unangenehmen Nebenwirkungen des neuen Zusammenlebens gezeigt. Die Wiedersehensfreude der drei Brüder war in der beleidigten Stille ihres Großvaters erstickt. Walter reagierte immer noch verärgert auf Oliver. Schlimmer noch, er bezog die Zwillinge mit ein. Der alte Mann sah keine Veranlassung für eine Entschuldigung. Um die Situation zu entspannen, hatte Oliver den Schritt auf ihn zu gewagt, was in einer hitzigen Debatte endete, die durch Christians heißes Temperament nicht unbedingt zugunsten der drei Jungen endete. Schließlich waren sie alle in verbissenes Schweigen verfallen. Die erdrückende Stille hielt an, bis der alte Mann zu Bett ging. Oliver glaubte zu wissen, weshalb Walter so reagierte. Er war es nicht gewohnt, so viele Menschen um sich zu haben, auf die er achten musste. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten verliehen jeder brisanten Situation Nährstoff. Walter sah in Michael, Christian und Oliver auch keine Kinder, sondern Störfaktoren. Sicher litt auch der alte Mann unter dem Verlust seiner Tochter und seiner Enkel. Gesellschaftlich konnte ihm der Vorfall nur noch wenig anhaben. Oliver war in der Lage sich eine vage Vorstellung von den verborgenen Empfindungen Walters machen. Zumindest hoffte er, dass unter dem Eispanzer ein Herz verborgen lag, das litt.
Chris, den diese unausgesprochenen Gefühle und Walters Wut besonders trafen, wagte erst zu fragen, was geschehen war, als die Brüder unter sich waren. In knappen Worten erklärte Oliver die Situation. Obwohl er seinen Großvater nicht begriff, versuchte Oliver ihnen die Gefühlswelt des alten Mannes möglichst menschlich darzustellen. Aus irgendeinem Grund wollte er die Reaktionen seines Großvaters vor den Zwillingen entschuldigen, gleichgültig wie verletzend sie für ihn selbst waren.
Beide Jungen zweifelten Olivers Erklärungen nicht an. Trotzdem bemerkte er an Tonfall, Gestik und Mimik seiner Brüder, dass Walter ihnen vor längerer Zeit einen ähnlichen Vortrag gehalten haben musste. Ihr Großvater unterband bei ihnen die Möglichkeit, Zeit zum Trauern zu finden. Warum ging Walter so über die Gefühle seiner Enkel hinweg? Oliver dachte, nachdem die Zwillinge schlafen gegangen waren, lang über diese Frage nach. Eine Antwort fand er nicht. Bisher sah er in Walter einen rauen, etwas unpersönlichen, aber gutmütigen Mann. Jetzt wirkte er hart und kalt. Oliver klammerte sich an die einzig logische Erklärung. Walter trauerte um seine Tochter. Allerdings verstand er nicht, warum er in den Augen Walters keinen Schmerz las, sondern nur Vorwurf.
Leises Klopfen riss Oliver aus seinen Überlegungen.
„Ja?“, fragte er, während er den Collegeblock auf seine Matratze warf und sich schwerfällig aufrichtete. Seine eingeschlafenen Beine kribbelten unangenehm. Er streckte sie aus. Im ersten Moment weigerte sich sein Körper zu tun, was er verlangte, gab schließlich aber nach. Leise schoben sich die Zwillinge in das kleine Zimmer. Chris schloss die Tür hinter sich.
„Morgen müsst ihr wieder zur Schule“, erinnerte Oliver, während er seine verspannten Nackenmuskeln massierte.
„Wir haben Fragen an dich“, sagte Michael, ohne auf den Kommentar seines Bruders einzugehen. In Olivers Vorstellung breitete sich ein Spektrum unangenehmer Themen aus. Sonderlich Lust heute noch ausführliche Antworten zu geben, hatte er nicht. Dennoch deutete er auf die Matratze, die ihm als Bett diente und setzte sich.
Michael entspannte sich etwas. Er fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare. Seine Nervosität warnte Oliver, dass ihm die Fragen nicht gefallen würden.
Chris schob den Block zur Seite und ließ sich in Decken und Kissen fallen. Michael rückte auf der Kante, die sich unter ihm zu Boden neigte, hin und her.
Beide zögerten merklich.
„Was wollt ihr mich fragen?“, hakte Oliver nach. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme barsch klang. Christian setzte sich auf und tauschte einen unsicheren Blick mit Michael. Oliver erkannte, wie sehr die Unsicherheit auf ihren Seelen lastete.
„Na los“, forderte er beide auf.
Michael zögerte einen Moment. „Du hast alles miterlebt“, begann er vorsichtig. Seine Stimme bebte. Im Licht der flackernden Kerze wirkte seine Mimik noch bewegter und unsicherer. „Was ist in der Nacht passiert?“
Christian, offenbar mutiger durch Michael, fügte rasch hinzu: „Gab es zwischen unseren Eltern Streit?“
Oliver atmete tief durch und schloss die Augen. Diese Fragen hatte er befürchtet. Seinen Brüdern gegenüber konnte er sich nicht so geben, wie Fremden. Die Zwillinge hatten alles Recht zu wissen, was geschehen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu antworten. Trotzdem wehrte sich Etwas in ihm gegen die Erinnerung an den Moment. „Ja“, entgegnete er langsam. „Sie haben sich gestritten.“
„Worum ging es?“ Die Stimme seines kleinen Bruders klang gehetzt.
Oliver seufzte und hob die Schultern. „Um Elli“, erklärte er.
„Wie eigentlich immer“, murmelte Michael. Seine Stimme zitterte leicht. Er fasste sich. „Meinst du, Papa ist deswegen so durchgedreht?“
Oliver nickte. „Unsere Mutter hat ihn so sehr provoziert, dass er die Nerven verloren hat.“
„Aber was wurde gesagt? Was geschah?“, drängte Christian.
Nachdenklich nagte Oliver an seiner Unterlippe. Er versuchte sich den genauen Ablauf wieder in Erinnerung zu rufen. Die Bilder waren sofort wieder präsent, aber einige Zusammenhänge fehlten. Möglicherweise lag es daran, dass er damals versucht hatte, der Unterhaltung nicht zu genau zuzuhören.
„Ich habe nicht alles mitgehört“, erklärte er. „Schließlich war ich in der Küche und habe alles nur durch die Durchreiche verfolgen können.“
„Sag’ schon!“, bettelte Chris.
Oliver rieb sich den Nasenrücken. Er fühlte sich erschöpft. Der Gedanke daran ließ ihn bereits schaudern.
„Sie stand im Wohnzimmer, an der Terrassentür und rauchte“, sagte er leise. Für einen Moment sah er seine schlanke, hochgewachsene Mutter, die wie ein Geist in ihrem weißen Kleid aussah. Der Aschenbecher lief bereits über. Es war der beste Indikator für ihre Nervosität. Das goldgelbe Licht des Deckenfluters tauchte sie in Schatten. Ihr schulterlanges, blondes Haar schimmerte. Das Wohnzimmer roch nach Rauch, Parfum und dem Badezusatz, den sie benutzt hatte. Sie sah seltsam abgespannt aus.
Oliver schüttelte das Bild ab. „Ich glaube, wir sollten den Tag rekonstruieren“, murmelte er. „Lasst uns unsere Erinnerungen zusammentragen.“
Michael nickte leicht. „Ich habe den ganzen Tag gelesen“, sagte er, fügte aber nach einer winzigen Pause an: „Das waren die Comics, die Mama mir mal aus Berlin mitgebracht hatte.“
„Manu und David waren da. Wir haben gezockt!“ Chris machte eine Bewegung, als wolle er auf einem Gamepad die Tasten drücken. „Manus Vater hatte ihm doch das neue FIFA 12 für die Playstation mitgebracht. Von Mama habe ich nichts mitgekriegt.“
„Gegen Mittag kam unsere Mutter vom Frankfurter Flughafen nach Wiesbaden“, sagte Oliver scharf. „Das hast du ja wohl mitbekommen.“
Chris nickte ungeduldig. „Schon, Blödmann!“, entgegnete er patzig.
Oliver versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Kopf. „Bist du wohl brav!“
Chris verzog das Gesicht. „Sie hat hallo gesagt, aber wenigstens hat sie mich diesmal nicht vor meinen Freunden abgeschlabbert. Das ist voll peinlich!“ Er verstummte und sank in sich zusammen. Sein Blick drückte plötzlich Betroffenheit aus. Chris schien zu realisieren, dass seine Mutter ihn nie wieder vor seinen Freunden küssen würde. Er rieb sich die Augen und kroch näher zu Oliver. „Ich wünschte, sie hätte mich geküsst“, flüsterte er. Oliver strich seinem kleinen Bruder durch das strubbelige, weiche Haar. Er wusste, wie sich Chris fühlte. „Ich weiß, Kleiner“, sagte er leise. Michael rollte sich neben seinem großen Bruder in die Decke ein. „Sie hatte schlechte Laune, als sie bei mir war.“
„Leider“, murmelte Oliver. „Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, uns alle richtig zu begrüßen.“
Die Erinnerung löste bei ihm eine breit gefächerte Palette unterschwelliger Empfindungen aus, die von Trauer bis Verärgerung reichten und sich zu einem dumpfen Gefühl einten.
„Viel haben wir nicht geredet, nachdem ich ihre Koffer auf ihr Zimmer gebracht hatte“, erklärte er. „Wir haben uns nur kurz wegen des Essens abgesprochen. Sie hat mich kochen lassen.“
„Irgendwie war sie an dem Tag sehr seltsam“, sagte Michael leise. „Ich habe gehört, wie sie ins Bad ging. Da blieb sie so unheimlich lang. Ich glaube, sie war fast vier Stunden da drin.“
„Sie war doch oft lang in der Wanne!“, fuhr ihm Christian dazwischen.
„So lang?“, fragte Oliver. Er fing den Blick seines kleinen Bruders ein und schüttelte den Kopf. Verzagt ließ sich Chris zurück sinken. „Ich meine ja nur …“ Er klopfte sich Olivers Kissen zurecht und rollte es unter seinem Hinterkopf zusammen.
„Danach war sie in ihrem Büro. Ich hörte sie telefonieren und tippen“, erklärte Michael. „Elli wollte rein, weil was mit Marc war. Er fühlte sich nicht gut. Mama hat sie aber nicht rein gelassen.“
„Ich weiß, Elli war schließlich bei mir unten, in der Küche“, bestätigte Oliver. „Sie meinte, Marc sei es schlecht. Als ich mit ihr hoch ging, lag er in seinem Bettchen und schlief. Seine Stirn hat geglüht. Aber das ist bei ihm ja nichts Ungewöhnliches gewesen. Ich habe ihn geweckt und ihm seinen Fiebersaft gegeben. Er war ziemlich fertig und ist gleich wieder eingeschlafen. Zum Essen habe ich versucht ihn zu wecken, aber es ging ihm schlechter.“ Oliver rieb sich die Schultern. „Danach wollte ich eigentlich Vater bitten, den Arzt anzurufen.“
Beide Brüder schmiegten sich an ihn. Oliver schlang seine Arme um die Zwillinge. „Vater lief wie ein Tiger im Käfig herum“, sagte er leise. „Das mit Marc bekam er gar nicht richtig mit. Er hörte mir auch nicht zu. In der ganzen Zeit versuchte er ein Gespräch mit Mutter zu provozieren. Auch er war unheimlich gereizt. Seine ganze Konzentration lag auf unserer Mutter, nicht mehr auf Marc oder uns. Die Tatsache, dass sie nicht mit ihm reden wollte, musste seine Wut im Vorfeld bereits angeheizt haben.“
„Du hast doch später mit Papa geredet. Hat er dir gesagt, was mit Mama los ist?“, fragte Chris.
„Was meinst du?“ Aufmerksam betrachtete Oliver seinen Bruder.
Hilflos hob Chris die Schultern. „Ich weiß nicht. Ich war zwar beschäftigt, aber dass Papa auf Mama wütend war und dann Elli und dich angeschrien hat, habe ich mitbekommen. Ging es dabei nicht um Marc?“
Oliver nickte. „Nachdem er mich ignoriert hatte, habe ich erst mal abgeräumt und etwas Zeit verstreichen lassen. Irgendwann kam er zornig in die Küche. Er wollte wohl etwas Abstand, um wieder ein wenig ruhiger zu werden. Ich habe eine Weile gewartet. Er saß stumm am Tisch und starrte vor sich hin. Plötzlich kam Elli herein kam. Sie war völlig aufgelöst, weil sich Marcs Zustand verändert hatte. Vater wollte, dass ich mit ihr hoch gehe und nachsehe. Als wir beide wieder runter kamen, stritt er sich schon wieder mit unserer Mutter. Es ging um die beiden Kleinen. Bei der Erwähnung Marcs warf Mama mir dabei einen so hasserfüllten Blick zu …“ Schaudernd drängte Oliver die Erinnerung von sich.
„Er hat Elli nicht gemocht, weil er nicht ihr Vater war, oder?“, fragte Michael leise.
Zögernd nickte Oliver. Eigentlich war es Unfug, es zu leugnen. Tom Hoffmann hatte das liebenswerte, hübsche Mischlingsmädchen genauso sehr gehasst, wie er Marc liebte. Eleonore war ein nicht zu vertuschender Fehltritt ihrer Mutter; das Ergebnis einer Liaison in Ägypten. Selbst Marc, der kaum etwas verstand, hatte ihre Fremdartigkeit bemerkt. In den knapp fünf Jahren von Ellis Leben ließ ihr Vater an keinem Tag die Frage offen, dass sie dankbar sein musste, von ihm als Tochter anerkannt zu werden. Oliver verdrängte die noch so lebendige Erinnerung an Elli.
„Marc war natürlich der Auslöser des Streits, aber bald ging es um Elli und das Thema untreu zu sein“, murmelte Oliver. „Es drehte sich um die Tatsache, dass unsere Mutter oft und lang nicht in Wiesbaden gewesen war.“
Michael nickte. „Sagte er oft: von wegen die Nachbarn, die reden, dass es ihm vor den Kollegen peinlich ist und er uns aufziehen muss. Sein Lieblingsspruch war, dass er kein Privatleben mehr hätte“, zählte er auf.
„Ja, all das. Nachdem Elli und ich noch einmal versucht hatten, mit ihm zu sprechen, schrie er uns an. Ich habe Elli hochgescheucht und ins Bett gebracht. Dann war ich noch einmal bei Marc. Sein Fieber sank wohl. Er war aber viel zu ruhig und atmete sehr flach. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.“ Er fühlte die feuchte Haut Marcs noch immer unter seinen Fingerspitzen. „Ich habe von Vaters Büro aus den Arzt angerufen, doch der war nicht zu Hause. Also habe ich den Notarzt gerufen. Es hieß, dass ein Wagen binnen der nächsten Stunde käme.“
„Davon haben wir nichts mitbekommen“, sagte Chris bedrückt. „Aber es kam tatsächlich ein Notarzt … als alles schon zu spät war.“
Oliver seufzte. „Schon klar“, murmelte er. „Als ich ins Wohnzimmer zurück kam, eskalierte die Situation langsam. Er hielt sie am Arm fest. Sie schüttelte ihn ab. Die beiden gingen sich auf eine Weise an, die unerträglich war. Vater brüllte nur noch. Er titulierte sie auf eine Weise …“
„War nicht zu überhören“, unterbrach ihn Christian. „Wir konnten nicht schlafen. Aber auf Ärger hatten wir auch keine Lust. Deshalb sind wir oben geblieben.“
Oliver atmete tief durch. „Völlig verständlich.“
„Was hat Mama denn Schlimmes gesagt?“, fragte Michael.
„Unsere Mutter hat ihn gereizt. Sie sprach von Elli und ihrem leiblichen Vater. Für sie schien fest zu stehen, dass sie uns verlassen wollte.“
Michael drängte sich stumm an Oliver, während Chris auffuhr. „Sie wollte weg?!“, schrie er.
Oliver zog ihn wieder an sich und gab ihm einen leichten Klapps auf den Kopf. „Leise, du weckst Opa!“, mahnte er ihn. Chris ließ sich nicht beirren. „Das heißt, dass sie nicht mehr wieder kommen wollte?!“
Oliver rollte mit den Augen. „Sie hat es nicht gesagt, aber davon kann man wohl ausgehen. Unsere Eltern haben sich schon lange nicht mehr verstanden. Davon abgesehen hat sie deutlich gemacht, wie viel ihr Elli im Gegensatz zu Marc bedeutete.“ Er schluckte. Was er wirklich gehört hatte, konnte er nicht wiedergeben. Dafür waren die beiden noch zu jung. Das Ansehen ihres Vaters war ohnehin schon schwer lädiert. Gewalt und Mord sollten für die Zwillinge ausreichen. Sie mussten nicht wissen, dass Marc gegen den Willen ihrer Mutter entstanden war.
„Sie sagte“, flüsterte Oliver. „er sei unfähig zu lieben.“
Er versuchte sich den Streit wörtlich in Erinnerung zu rufen. Allerdings gelang es ihm nicht. Der Gegensatz von seiner höhnischen, kalten Mutter zu seinem impulsiven, zornlodernden Vater blieb als Essenz zurück. „Ich weiß noch, dass sie ihm vorhielt wie stark er sich verändert habe. Sie sprach davon, dass Liebe und Hass eins sind.“ Für Oliver stand fest, dass seine Mutter ihren Mann als einen anderen Mensch kennengelernt hatte. Vor vielleicht einem Jahr hatte sie sich mit Oliver darüber unterhalten. Für sie war er ein Paradox in sich. Einerseits liebevoll, andererseits gewalttätig und perfide. Tom Hoffmann war gegenüber Außenstehenden ein charismatischer, charmanter und hochintelligenter Mann. Oliver kannte ihn von den Geschäftsreisen, auf denen er seinen Vater manchmal begleitet hatte. In Baustellenbesprechungen bewies Tom, wie beeindruckend er war. Jeder hörte ihm zu. Dank seines klaren, logischen Verstandes stellte er sicher, dass kein anderer Ingenieur seine Ideen und Anweisungen anzweifelte. Im Kreis seiner Freunde lebte er auf. Seine Beliebtheit kannte keine Grenzen. Er trat als perfekter Gentleman auf, weltgewandt, elegant, umsichtig und vorausschauend: der ideale stellvertretende Geschäftsführer eines Baukonzerns. Von seiner cholerischen Seite bekam niemand sonst etwas mit. Doch ein falscher Ton reichte aus, um ein Monster aus ihm zu machen.
„Wusste sie denn nicht, was passiert, wenn sie ihn so reizt?“, fragte Chris. Seine Stimme bebte. „Uns hätte er dafür halb tot geschlagen.“
Oliver seufzte und nickte. „Allerdings hat er sie nie geschlagen.“
„Da muss mehr passiert sein“, überlegte Michael.
Oliver hob die Schultern. Etliche Teile der Unterhaltung waren ihm entgangen. Er erinnerte sich allerdings noch gesehen zu haben, dass sich Silke zu ihrem Mann geneigt und ihm etwas zugeflüstert hatte. Das war der Auslöser für den Mord gewesen. Von einem Moment zum anderen riss sein Vater eines seiner Jagdmesser von der Wand. Er war wie von Sinnen gewesen. Nie zuvor hatte Oliver seinen Vater in einem solch unkontrollierbaren Zustand gesehen. Wahnsinn, Hass und Leidenschaft hatten sich in seinen weit offenen Augen und seinem fahlen Gesicht vereint. Die Emotionen einer zwanzigjährigen Beziehung hatten sich ihren Weg gebrochen. Liebe und Hass waren unter seinen Händen zu dem vernichtenden Blutbad geronnen.
Oliver hörte noch jetzt das Gelächter seiner Mutter. Sie verstummte erst, als sie unter den Stichen starb. In der Retrospektive verstand Oliver ihr Lachen nicht. Wollte sie Tom zu diesem Schritt treiben? Die Frage, ob sie das unter einer Trennung verstand, drängte sich ihm auf. Aber warum? Es ergab keinen Sinn!
Er konnte Chris und Michael davon nichts sagen. Schließlich verscheuchte er die Erinnerungen und beschloss, sich später intensiver mit dem Mysterium zu befassen.
„Ihre letzten Worte haben ihn so weit gebracht“, murmelte Oliver. „Aber ich habe keine Ahnung, was sie sagte.“
„War die Polizei nicht bei dir in der Klinik?“, fragte Chris halblaut. Er richtete sich auf. Oliver schüttelte den Kopf. „Als unser Vater verurteilt worden war, war ich doch noch nicht einmal bei Bewusstsein.“
„Deine Aussage wäre mehr wert gewesen als unsere“, erklärte Michael ernst.
„Mag sein“. Nachdenklich nickte Oliver. „Weshalb die Polizei sich noch nicht bei mir gemeldet hat, kann ich mir auch nicht …“ Eine böse Ahnung ließ ihn verstummen. „Vielleicht wissen sie es von meiner Psychologin!“, knurrte er.
Er bezweifelte es eigentlich. Trotzdem bestand die Möglichkeit, dass sie die ärztliche Schweigepflicht gebrochen hatte. Vielleicht gehörte sie sogar zu der polizeilichen Ermittlergruppe. Misstrauen gegen Frau Richter keimte auf. Er hatte mit ihr auch über sehr persönliche Dinge gesprochen, die niemand anderen etwas angingen. Er schauderte bei dem Gedanken.
Die Zwillinge sahen ihn verständnislos an.
Oliver presste die Kiefer aufeinander. Er brauchte Sicherheit! „Habt ihr die Telefonnummer des ermittelnden Kommissariats?“
Michael nickte. „Er hat uns allen seine Karte gegeben. Wir sollten uns melden wenn etwas Außergewöhnliches passiert.“
Oliver legte die Stirn in Falten. „Außergewöhnlich?“, fragte er nachdenklich. Worauf spielte der Kommissar an?
Die Vorstellung ließ Oliver nicht mehr los. Ruhelos warf er sich auf seiner Matratze hin und her. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken um das Gespräch mit seinen Brüdern. An Schlaf war für ihn in der Nacht nicht zu denken. Schließlich stand er in den ersten Morgenstunden auf, zog sich an und verließ das Haus. Er versuchte in der Wohnung, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen.
Erst auf der Straße, in der kühlen, klaren Nachtluft, begann er sich zu entspannen. Leichter Wind trug aus einiger Entfernung die Glockenschläge heran. Oliver zählte mit. Es war zwei Uhr. Er schob – zur Bestätigung - den Ärmel seines Pullis zurück und sah auf seine Uhr. Vom Sonnenaufgang war er noch weit entfernt. Oliver hatte vor, zurück zu sein, bevor seine Familie erwachte. Er rannte los.
Genaugenommen wusste er gar nicht, warum er sich nach draußen geschlichen hatte. Oliver folgte nur seiner Intuition. Einen festen Plan gab es nicht. Seine innere Unruhe trieb ihn. Oliver war bewusst, dass ihm die Nummer, die ihm seine Brüder von diesem Oberkommissar Roth gegeben hatten, jetzt nichts nutzte. Um diese Uhrzeit würde sich der Beamte sicher kaum mit der Arbeit befassen wollen. An sich war es für alles zu früh. Den Geheimnissen auf eigene Faust auf den Grund zu gehen, war also seine einzige Möglichkeit.
Unter den hohen, alten Bäumen blieb er im Licht einer Straßenlaterne stehen, um seine Gedanken zu ordnen. Er musste sich überlegen, was er zunächst machen wollte. Seine Muskeln schmerzten von dem kurzen Stück, das er gerannt war. Olivers Lungen pfiffen. Sein Herz raste. Das Seitenstechen zog sich bis in seine Brust. Ihm fehlte jede Kondition.
Mit einer Hand stützte er sich an dem kalten Metall ab und versuchte seine Atmung zu kontrollieren.
Wohin wollte er? Was konnte er um zwei Uhr in der Früh erreichen?
Oliver wusste es nicht. Bis auf ihn schien der größte Teil von Wiesbaden zu schlafen. Das schwache Rauschen von vereinzelten Fahrzeugen klang von der Rheinstraße herüber. Die Stille hatte etwas Bedrohliches. Ein Schauer rann über seine Wirbelsäule in seinen Nacken hinauf, als starre ihn jemand aus dem Verborgenen an. Er fühlte sich belauert. In seinem Körper spannte sich alles. Eilig sah er sich um. Das fahle Licht der Laterne blendete ihn. In den Schatten der alten Häuser, den verwilderten Vorgärten, unter Büschen und in Torfahrten konnten alle möglichen Schrecken lauern. Eilig stieß er sich von der Laterne ab. Im Schutz der Dunkelheit, außerhalb des Kegels aus Helligkeit, fühlte er sich sicherer. Dennoch … Olivers Blick huschte über die niedrigen Mauern und schmiedeisernen Zäune, hinauf zu den unbeleuchteten Fenstern, die wie aus leeren Augenhöhlen auf ihn hinab starrten. Oliver kannte normalerweise keine Scheu vor der Dunkelheit. Dieses Mal erfasste ihn Angst, die sein klares Denken vollkommen verdrängte. Panik flutete seinen Verstand. Er spürte, wie jeder Muskel elektrisierte, ständig bereit, sich sofort einem Kampf zu stellen oder zu fliehen. Er konnte das Gefühl eines Beobachters gar nicht mehr aus seinem Kopf verdrängen. Plötzlich flackerte in einem geparkten Wagen ein Feuerzeug auf. Einen Herzschlag später glomm die Spitze einer Zigarette rot. In dem schwachen Schein erkannte er ein blasses, schmales Gesicht. Die riesigen, dunklen Augen richteten sich starr auf ihn!
Olivers Herz machte einen Satz. Ungeachtet des Seitenstechens rannte er los.
*
Im Nachhinein konnte Oliver nicht einmal sagen, ob er einen Mann oder eine Frau gesehen hatte. Ihm war es auch nicht mehr möglich, den Wagen zu beschreiben. Vielleicht war sein Erlebnis vollkommen gegenstandslos, das konnte er nicht sagen. Aber seine Angst verdrängte sein klares Denken. Ohne sich eine Pause zu gönnen, hastete er weiter. Seine Lungen brannten wie Feuer. Schweiß rann ihm trotz der Kälte über den Rücken. Er fühlte sich schon nach einem knappen Kilometer ausgelaugt. Schließlich verfiel er in einen Kräfte schonenden Sprint. Trotzdem bekam er kaum noch genug Luft, als er die Auffahrt seines Elternhauses erreichte. Oliver wusste nicht, ob er verfolgt wurde. In seiner Panik war er einfach losgerannt. Mit etwas Abstand betrachtet, verhielt er sich albern wie ein kleiner Junge. Ihm fielen etliche Gründe ein, weshalb jemand um diese Uhrzeit in einem Auto saß. Die meisten klangen sogar recht plausibel. Möglicherweise wartete jemand auf einen Kollegen, der zur Schichtarbeit fahren wollte, oder er hatte ein Paar aufgeschreckt. Vielleicht beobachtete die Polizei auch das Haus seines Großvaters … aber das erschien ihm zu weit hergeholt. Der Raucher hatte in einem Fahrzeug gesessen, das in der Adelheidstraße, rund einen halben Kilometer entfernt von dem Buchantiquariat seines Großvaters, geparkt war.
Allein von dem Gesichtspunkt her war es schon undenkbar, dass der Zwischenfall etwas mit ihm zu tun haben konnte. Dennoch wurde Oliver das ungute Gefühl nicht los. Sein Blick huschte über die Schulter. Nichts regte sich zwischen den Einfamilienhäusern. Die Gärten konnte er natürlich nicht einsehen. Auf seinen Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut. Er spürte eine lauernde Gefahr. Schaudernd zog er sich tiefer in den Schatten seines Elternhauses zurück, bis er mit dem Rücken an die Rauputzwand stieß.
Das Gebäude atmete Kälte aus. In seinem Geist manifestierte sich das Bild des Hauses als riesiger, steinerner Leichnam. Die Mauern waren so tot wie ihre Bewohner. Ein unheimliches Gefühl, dachte er. Es schien von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt zu sein.
Er sah auf. Sein Blick strich über den verwilderten Vorgarten und die leere Auffahrt. Unkraut wucherte aus den Ritzen zwischen den Betonplatten. Die herunter gelassenen Rollläden und der verwaiste Platz vor der Doppelgarage bewiesen, dass hier sicher noch keine neue Familie lebte.
Sehr viel mehr konnte Oliver nicht erkennen. Er war dankbar dafür. Allein die wenigen Details, die er wahrnahm, riefen bereits unangenehme Erinnerungen wach. In ihm bohrte die Frage, was er hier wollte. Dieser Ort war nicht mehr sein Heim. Hier gab es nichts außer einem leer stehenden Haus.
Selbst wenn er Informationen auf all die kleinen Ungereimtheiten suchte, so war er sicher, dass die Polizei sie bereits gefunden und als Indizien ausgewertet hatte. Allerdings war er sich nicht sicher, ob die Beamten die passenden Querverbindungen ziehen konnten. Sein Vater saß im Gefängnis. Er würde über viele Jahre nicht mehr frei sein. Das allein zählte doch!
Leider erreichte Oliver mit diesem Gedanken das Gegenteil von innerer Zufriedenheit. Ein Gefühl von hilfloser Wut überkam ihn. Die Polizei hatte nicht mit ihm gesprochen. Er war der einzige Mensch, der diese Szene miterleben musste und sie wiedergeben konnte!
Oliver ballte die Fäuste, bis seine Fingernägel in seinen Handflächen schmerzten. Er sah an dem Einfamilienhaus hoch. Hier lag seine Vergangenheit, mit der er abschließen musste, wenn er ein neues Leben anstrebte.
Sein Herz zog sich zusammen. Er fühlte sich elend und schwach. Ihm wurde bewusst, dass er seine Mutter, Elli und Marc für immer verloren hatte. In seinen Augen brannten Tränen, die er versuchte zurückzudrängen. Die Konsequenzen der momentanen Situation wollte er noch gar nicht durchdenken. Allein das Gefühl, nur noch Michael, Christian und seinen Großvater zu haben, raubte ihm die Kraft. Zweifel an seiner inneren Festigkeit erwachten. Oliver fühlte sich hilflos. Diesen Gedanken konnte er sich nicht erlauben. Er rieb sich mit beiden Händen über die Augen.
Der Motor eines Wagens summte leise. Oliver verdrängte seine düsteren Gedanken. Er hatte die Szene aus der Adelheidstraße nicht vergessen. Automatisch spannte er sich und lauschte. Anhand des sonoren Motorengeräuschs vermutete Oliver, dass es sich um ein Oberklassemodell handelte; vielleicht einen Mercedes, BMW, Audi oder einen Jaguar. Der Laut erinnerte ihn an das schwere Fahrzeug seines Vaters. Er löste sich vorsichtig von der Wand und spähte zur Straße hinüber. Das Scheinwerferlicht, was er erwartete, blieb allerdings aus.
Oliver reckte sich, um mehr erkennen zu können. Ein unbeleuchteter Wagen hielt auf der anderen Straßenseite vor einer Einfahrt. Das Motorengeräusch erstarb. Die Straßenlaternen waren viel zu weit entfernt, um Details auszumachen. Er fand sich allerdings im Fahrzeugtyp bestätigt. Es handelte sich um einen neuen Jaguar. Die Person am Steuer tat ihm nicht den Gefallen, auszusteigen. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, welcher Marke der Wagen in der Adelheidstraße war. Es fiel ihm nicht ein. Oliver konnte nicht mal sagen, ob es sich um einen Kleinwagen oder ein Mittelklassefahrzeug gehandelt hatte. Dafür war der Schreck, den ihm der Raucher eingejagt hatte, viel zu groß.
Vorsichtig zog er sich wieder ein Stück zurück, bis er sich neben der geschwungenen Eingangstreppe in die Schatten kauern konnte. Keine Sekunde zu spät, wie er entsetzt bemerkte! Er hörte, wie die großen, schweren Terrassentüren seines Elternhauses aufgeschoben wurden. Von seiner Position an der rechten Stirnseite des Hauses konnte er nicht sehen, wer heraus kam. Oliver vernahm Schritte auf dem Kiesweg, der sich dicht an der Buchsbaumhecke und den Pflanzsteinen zur Straße wand.
Eine große, breitschultrige Person in einem schwarzen Ledermantel trat aus dem kleinen Tor hinaus auf das Trottoire. Mit raschen Schritten überquerte der Fremde die Straße. Leises elektrisches Surren der Fensterheber erklang. Leider sah Oliver nur den Rücken des Mannes – zumindest vermutete er anhand der Figur, dass es sich nicht um eine Frau handeln konnte.
Er zog etwas aus der Tasche und warf es wortlos in das Wageninnere. Der Dieb wendete sich ab, während die Scheibe sich wieder hob und der Motor des Wagens ansprang. Oliver versuchte das Kennzeichen zu erkennen. Seine Augen hatten sich an das schwache Licht gewöhnt. Um besser sehen zu können, musste er sein Versteck verlassen. Allerdings stand der Fremde noch auf der Straße und sah dem unbeleuchteten Fahrzeug nach. Oliver fluchte stumm. Erst als das Motorengeräusch verklang, wendete sich die Person zum gehen.
*
Als der Dieb außer Sicht war, wagte Oliver sich aus seinem Versteck. So leise er konnte, schlich er bis zu der Umfriedung des Nachbargrundstücks. Aus seiner Deckung heraus spähte er um die Ecke. Erschrocken fuhr er zurück. Der Mann stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er wendete Oliver den Rücken zu. Ein dünner Rauchfaden stieg auf. Offenbar zündete er sich eine Zigarette an. Oliver presste sich gegen die Betonmauer. Allerdings war es zu spät. Der Fremde sah sich um. In dem schwachen Licht der Straßenlampen wirkte er noch jung, aber zugleich ungeheuerlich. Kurze, helle Strähnen fielen in seine Stirn. Er wirkte ungepflegt. Bartstoppeln überzogen sein markantes Kinn bis hinauf zu seinen Wangenknochen. Die tiefliegenden, hellen Augen fixierten Oliver. Wie bei einer Raubkatze verengten sie sich zu Schlitzen. Er zog die Brauen zusammen. Auf seiner Stirn entstand eine steile Falte. Das Gesicht des Diebes verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse. Die Lippen zogen sich zurück. In einer fließenden Bewegung zog der Mann eine Pistole. Gleichzeitig ging er einen Schritt auf Oliver zu.
Heißkalt rann Olivers Angst durch seine Adern. Der Gedanke der Flucht erfüllte seinen Geist. Mit einem heiseren Aufschrei stieß er sich ab und wirbelte herum. Ohne darauf zu achten wohin, rannte Oliver los. Vergessen war seine Erschöpfung. Trotzdem forderte sein Körper schon nach den ersten Metern Schonung. Die eisige Luft brannte in seinem bereits angegriffenen Hals. Zugleich spürte er jeden Muskel. Seine Waden verhärteten sich zu einem kurzen, heftigen Krampf. Entsetzt sah Oliver über die Schulter. Der Fremde setzte zur Verfolgung an. Die Angst nahm ihm alle Blockaden. Oliver war überrascht, wie leicht seine Glieder sich anfühlten. Fast schien es, als fülle sich sein Körper mit neuer Stärke. Adrenalingesteuerte Euphorie durchströmte ihn. Zu seiner Linken flogen die Autos vorüber. Buchsbäume und Jägerzäune verwuschen zu Schemen in seinem Augenwinkel. Der Schein einer rasch näher kommenden Laterne malte bleiches Licht auf den Asphalt. Oliver war schnell. Dennoch hörte er hinter sich rasche Schritte. Der rasselnde Atem des Diebes klang so nah …! Eisiger Schrecken zuckte durch seinen Körper.
Sein Verfolger holte auf! Oliver spürte plötzlich wieder seine Erschöpfung. Alle Glieder wurden lahm. Er hatte die Grenzen seines geschwächten Körpers erreicht. Verzehrende Angst bohrte in ihm. Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Blut rauschte heiß in seinen Ohren. Schweiß troff von seiner Stirn und rann ihm in die Augen. Jeder Muskel in seinen Waden verkrampfte sich schmerzhaft. In seinen Lungen erwachte gleißende Pein. Unter seinen Füßen stieg der Boden an. Die Steigung der Naumann-Straße nahm zu. Oliver wusste im gleichen Augenblick, dass er verloren hatte. Schwung und Geschwindigkeit nahmen mit jedem Schritt ab. Gleich würde ihn der fremde Mann erreichen. Oliver spürte seine Gegenwart. Resignation flutete seine Glieder. Er strauchelte. Der Moment, den er brauchte, um sich wieder zu fangen, reichte aus …!
Eine kräftige Hand packte ihn am Pullover.
Oliver wollte sich losreißen, doch der Stoff hielt. Der Kragen zog sich um seinen schmerzenden Hals zusammen. Allein der Druck gegen seinen Kehlkopf zwang ihn, stehen zu bleiben.
Einen Herzschlag später schlug etwas gegen seine Schläfe. Der grelle Schmerz explodierte hinter seinen Lidern und betäubte ihn fast. Benommen stolperte er. Einen Moment später krallte sich eine Hand in seine langen Locken. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. Ihm war klar, dass der Kerl nicht schießen konnte. Das Geräusch würde alle Nachbarn aus ihren Häusern rufen. Mit aller verbliebenen Kraft stemmte er sich gegen den Griff. Der Fremde packte fester zu und wand sich Olivers Haar um Hand und Handgelenk. Der Schmerz verklang in dem dumpfen Pochen hinter Olivers Stirn. Sein rasender Atem brannte in seiner Kehle. Er spürte, wie jeder Luftzug seinen Körper noch mehr zum Beben brachte. Sein Herz sprengte schier seine Brust.
Schließlich ergab Oliver sich dem Griff, bis er sich wieder ausreichend gefangen hatte. So sah zumindest sein Plan aus. Der Dieb ließ ihm die Möglichkeit nicht. Mit dem Kolben seiner Waffe schlug er auf Olivers Wangenknochen. Haut platzte auf. Oliver keuchte. Das Geräusch ging in einem Röcheln unter, als der Mann mit einem harten Ruck Olivers Hals überdehnte. Panisch griff er nach den Händen, die ihn so brutal hielten. Mit aller Kraft versuchte er die Finger des Fremden zu lösen. Er spürte, wie seine Nägel über die Haut kratzten, ohne jedoch viel auszurichten. Seine Hilflosigkeit verwandelte sich in Wut. Trotz der unglücklichen Position gab er nicht auf. Blind versetzte Oliver dem Dieb einen Ellenbogenstoß. Der Hieb war ungezielt und kraftlos, reichte aber aus, um seinen Gegner zu irritieren. Der Griff ließ nach, während der Fremde aufkeuchte.
Olivers zugreifenden Hände bekamen irgendetwas zu fassen. Er krallte seine Finger mit aller Gewalt hinein. Gleichzeitig trat Oliver nach hinten aus. Von einem Moment zum nächsten kam er frei. Oliver taumelte. Einen Herzschlag später stieß ihm sein Gegner eine Faust in den Rücken. Der Schlag traf ihn unvorbereitet zwischen den Schulterblättern. Luft entwich seinen Lungen. Keuchend stolperte er einige Schritte voran. Er strauchelte und rang nach Atem. Oliver fand kaum Zeit, gezielt zu handeln. Instinktiv reagierte er. Aus dem Einknicken heraus federte er voran. Betäubender Schmerz zuckte durch sein linkes Fußgelenk. Er zwang sich, das Gefühl zu ignorieren. In seinem erschöpften Zustand wäre der nächste Fehltritt das endgültige Aus. Taumelnd eilte er weiter. Ihm war vollkommen schleierhaft, wohin ihn sein Weg führte, oder ob er überhaupt seine geringe Chance nutzen konnte. Der unterdrückte Wutschrei seines Verfolgers ließ ihn zusammenzucken.
In der Sekunde hörte Oliver einen Wagen, der die Naumann-Straße hinauf fuhr. Er musste das Auto anhalten!
Stolpernd schob er sich an den geparkten Fahrzeugen vorbei auf die Straße. Oliver hatte sich gar keine Gedanken über mögliche Folgen gemacht. Die Lichtkegel eines Autos strichen über den Asphalt. Der Wagen fuhr schnell! Oliver blieb mitten auf der Fahrbahn stehen und hob beide Hände. Aus dem Augenwinkel sah er das entsetzte Gesicht des blonden Mannes, der sich sofort in die Schatten hinter den geparkten Fahrzeugen duckte, als die Scheinwerfer ihn zu erfassen drohten.
Oliver sah das grelle Licht. Reifen quietschten. Die Bremsen gaben ein widerlich metallenes Geräusch von sich. Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite. Das Auto schlingerte auf der Fahrbahn an ihm vorüber, direkt auf die Verkehrsinsel in der Mitte der Straße zu. Oliver kniff die Augen zusammen, in der festen Erwartung eines Aufpralls. In der Luft lag der Gestank verbrannten Gummis. Allerdings blieb der Lärm aus. Lediglich der Motor verstummte.
Oliver hob vorsichtig die Lider. Der Wagen stand keinen halben Meter von der Verkehrsinsel entfernt. Hinter dem Steuer regte sich etwas. Einen Herzschlag später flog die Fahrertür auf. Ein bulliger Mann stieg aus. „Du selten blöder Penner!“, fauchte er, während er auf Oliver zueilte. „Dir werde ich zeigen …“
Erschöpft erwartete Oliver ihn. Der Fahrer verstummte, als er bis auf einen Meter an Oliver heran kam. Seine Wut verrauchte schnell.
„Du bist verletzt!“, rief er besorgt. Oliver sah ihn verständnislos an. Verletzt?
Die Zornesröte des Mannes wich fahler Blässe. Schweiß perlte auf seiner Stirn und überzog sein rundes Gesicht mit einer glänzend feuchten Schicht. Er kniff die Augen zusammen. Sein aufmerksamer Blick huschte von Oliver fort durch die Schattenzonen zwischen den Einfahrten.
„Komm mit“, sagte er. In seiner Stimme lag Anspannung. Seine dichten, dunklen Brauen zogen sich zusammen.
Mit einer Hand griff er nach Olivers Arm. „Ins Auto“, sagte er barsch.
Oliver sah ihn verwirrt an. Was wollte der Mann von ihm? Gab es eine Verbindung zu dem bewaffneten Dieb?!
Ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Der Fremde gab ihm einen Stoß zu seinem Auto. Der Wagen war kein Jaguar sondern ein kleinerer Audi.
„Los“, drängte der Mann gehetzt. „Hier bist du nicht sicher, Oliver!“
„Woher kennen Sie meinen Namen?!“, rief Oliver alarmiert. Sein Retter beachtete ihn gar nicht. Wortlos setzte er sich hinter das Steuer seines Wagens, warf die Tür zu und startete den Motor. Sein Blick irrte über die Häuserfronten. Oliver zögerte. Auch ihm entging nicht, dass hinter einigen Fenstern Licht aufflammte. Wenn ihm dieser Mann irgendetwas antunt wollte, wäre jetzt seine letzte Möglichkeit, von seinen ehemaligen Nachbarn Schutz zu erhalten. Er musste nur rufen.
„Steigst du endlich mal ein?!“, zischte sein Retter.
Oliver sah ihn erschrocken an.
„Der Kerl, der dir die Wunden beigebracht hat, ist sicher noch in der Gegend!“
„Woher …“, begann Oliver, wurde aber sofort unterbrochen.
„Ich bin Hauptkommissar Bernd Weißhaupt!“, knurrte der Mann verärgert. Mit einer Kopfbewegung deutete er zu einem kaum erkennbaren Aufkleber in seiner Windschutzscheibe. Oliver erkannte das Symbol der Polizeigewerkschaft.
Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und warf die Tür zu. Ohne zurückzusehen, stieß Weißhaupt zurück. Nicht weniger grob legte er den ersten Gang ein und umrundete die Verkehrsinsel. Der Audi schoss in halsbrecherischem Tempo die Naumann-Straße hoch. Oliver wurde in der Kurve von der Zentrifugalkraft Richtung Mittelkonsole getragen. Keuchend klammerte er sich an den Türgriff. Auf Höhe der amerikanischen Kirche fing sich der Wagen.
Sie rasten auf die Kreuzung zur Lahnstraße zu. Oliver wusste, dass um die Uhrzeit kaum ein Auto unterwegs sein würde, kannte aber auch die Tücke dieser Straßenecke: sie war fast unmöglich einsehbar. Weißhaupt aber beschleunigte seinen Adi auf 70 Stundenkilometer hoch.
„Vorsicht!“, rief Oliver. In seinen Ohren klang er hysterisch.
„Weißhaupt trat instinktiv auf die bremse. „Was?!“, fauchte er.
„Die Kreuzung“, stieß Oliver erschrocken hervor. „Sie ist schwer einsehbar.“
Der Polizist knirschte mit den Zähnen. „Okay“, sagte er gezwungen ruhig. Sein Blick strich über das abgeschaltete Navigationsgerät in der Mitte seiner Lenkkonsole. „Wo lang muss ich eigentlich, wenn ich aus dem Viertel heraus will?“
*
Oliver entspannte sich erst wieder, als sein Retter mit ihm in die Notaufnahme des Paulinenstifts fuhr. In dem kalten Licht des Empfangs sah Weißhaupt beeindruckend aus. Er war nicht dick, sondern einfach nur sehr groß und muskulös. Sein rundes Gesicht wirkte etwas Konturlos und Fremd. Trotzdem wirkte er freundlich. Mit dem dunklen, millimeterkurz rasierten Haar und seinem sauber geschnittenen Oberlippenbart besaß er eine gewisse militärische Strenge, die sich in seinen fröhlichen Augen auflöste. Oliver schätzte ihn auf vielleicht Anfang oder Mitte vierzig. Ihm fiel der goldglänzende Ehering auf, den der Beamte trug. Aus irgendeinem Grund achtete er bei Weißhaupt auf dieses Detail. Möglicherweise lag es daran, dass er nach der erste Begegnung für Oliver bereits das Idealbild eines Familienvaters verkörperte: stark, rau, freundlich und gutmütig. Er kannte Weißhaupt nicht. Möglicherweise verbarg er seine persönlichen Untiefen, die Oliver nach dem ersten Eindruck kaum ausloten konnte einfach nur gut genug. Aber die berechnende Kälte fehlte in seinem Blick. Daran orientierte er sich bei dem Beamten. Er beobachtete Weißhaupt, als dieser mit dem Pförtner sprach. Sorge lag in der tiefen, dialektgefärbten Stimme des Kommissars. Er vermittelte Wäre, Schutz und Nähe. Olivers Herz wurde schwer. Einen solchen Vater hatte er sich immer gewünscht.
Oliver bemerkte, dass er dabei war, seinen Schock bereits zu überwinden. Sein Blick schwang zu einer der spiegelnden Pflanzkästen. Besorgt studierte er sein Gesicht, was verzerrt wiedergegeben wurde. Seine rechte Gesichtshälfte war geschwollen und blutig. Unter seinem Kinn zeichneten sich tiefe Kratzer ab. Seine Locken hingen zerrauft aus seinem Zopf. Blut trocknete in dem verfilzten Chaos. Nacken und Hals schmerzten nicht weniger als Gesicht und Rücken. Wenigstens konnte er wieder normal atmen.
So, wie er jetzt aussah, würde musste er sich zu Hause auf unangenehme Fragen vorbereiten. Wie er seinen Großvater einschätzte, zog Olivers nächtlicher Ausflug viel Ärger mit sich. Er rechnete mit einer Fortsetzung ihres Streites. Walter würde zukünftig kaum tolerieren, dass Oliver noch einmal auf eigene Faust etwas unternahm. Seine Brüder würden sich Sorgen machen.
Das einzig Positive, was er aus dieser Nacht ziehen konnte, waren seine Beobachtungen. Möglicherweise half es der Polizei.
Sein Blick streifte Weißhaupt. Woher kannte der Beamte seinen Namen? Roth hieß der Ansprechpartner in dem Mordfall Hoffmann.
Unsicherheit erwachte in ihm. Oliver schloss die Finger um den Zettel mit der Telefonnummer von Kommissar Roth, der in seiner Hosentasche steckte. Sobald er nach Hause kam, musste er diesen Mann anrufen.
*
„Hey, Junge!“
Oliver zuckte zusammen.
„Was?“, fragte er erschrocken.
„Beweg’ dich!“ Weißhaupt wies geradeaus einen Flur hinunter. „Die Ambulanz ist da vorne.“
Anhand des entnervten Untertons in der Stimme musste der Polizist ihn bereits mehrfach angesprochen haben.
Vorsichtshalber folgte er Weißhaupt in zügigem Tempo.
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte er.
Die Brauen seines Retters zogen sich zusammen. „Ich kenne die Akte Tom Hoffmanns auswendig“, antwortete Weißhaupt. Er blieb stehen. Ein lauernder Ausdruck schlich sich in seine Augen. Oliver sah ihn verwirrt an.
„Was ist?“, fragte er vorsichtig.
Der Beamte überlegte kurz, entspannte sich dann aber.
„Du hast davon ja nichts mitbekommen.“ Weißhaupt sprach eindeutig nicht zu Oliver, sondern eher zu sich selbst. Er rief sich irgendwelche Punkte in Erinnerung. Allerdings ließ er Oliver nicht an seinen Gedankengängen Teilhaben.
„Ich dachte, der Fall sei abgeschlossen, nachdem mein Vater ins Gefängnis gekommen ist“, sagte Oliver vorsichtig.
„Wie?“ Weißhaupt sah ihn überrascht an.
„Der Fall meines Vaters …“
„Ist nicht abgeschlossen“, verneinte der Beamte. „Er ist zwar des Mordes an deiner Mutter und deinen Geschwistern überführt worden, aber das ist ja nur die Spitze des Eisbergs.“
Oliver schnappte erschrocken nach Luft. „Da gibt es noch mehr?!“, fragte er impulsiv.
„Schalte mal einen Gang zurück, Kleiner!“, dämpfte Weißhaupt ihn.
Fassungslos starrte Oliver den Beamten an.
„Wovon reden Sie?“
„Das ist ja der Grund, warum ich wieder zu dem Fall hinzugezogen wurde.“
Weißhaupt winkte Oliver in den Warteraum der Ambulanz.
„Ich bin Hauptkommissarin Berlin“, erklärte er. „Meine Dienstelle hat mich Oberkommissar Roth ausgeliehen. Zurzeit bin ich als Berater an dem Fall. Nachdem mich Roth heute anrief, dass Du endlich aus der Reha raus bist und uns Dein Psychologenhausdrache nicht ständig auf Abstand zu dir hält, war das die Gelegenheit, endlich persönlich mit dir zu sprechen.“
Oliver lachte auf. „Frau Richter hat verhindert, dass sie mit mir reden?“
„Verhindert?“, fauchte Weißhaupt. „Die stellt sich sogar richterlichen Anordnungen quer!“
Insgeheim leistete Oliver Abbitte bei seiner Psychologin. Die abweisende Art der Frau musste für die Beamten wie eine unüberwindbare Mauer gewesen sein.
„Davon abgesehen, dass mich brennend interessiert, was sie mit der Spitze des Eisberges meinten, bin ich auch mal gespannt, wie sie mitten in der Nacht in die Naumann-Straße kamen“, sagte Oliver leicht belustigt.
Weißhaupt zog eine Grimasse. „Mich in dem blöden Wohngebiet verfahren, in dem du mir vors Auto gerannt bist!“, knurrte er. „Das gibt es echt nicht! Ich komme aus der größten Stadt Deutschlands und verfahre mich in einem Kaff wie Wiesbaden!“ Im ersten Moment wusste Oliver nicht, ob er lachen sollte. Diese Situation war bizarr. Zugleich kam sie ihm auch eigenartig vor: ein Beamter, der ausgerechnet mit dem Fall betraut war, rettete ihn vor einem gewalttätigen Einbrecher. Gab es solche Zufälle überhaupt?
Oliver bezweifelte es fast.
„Was ist ihre Aufgabe?“, fragte er. Irritiert sah Weißhaupt ihn an. „Was hat die Berliner Polizei mit uns Wiesbadenern zu tun?“, definierte Oliver.
Weißhaupt senkte die Lider. Offenbar überlegte er sich seine Antwort gründlich. Bei Oliver erwachte ein mulmiges Gefühl, was sich nicht verdrängen ließ.
„Ich hatte schon einmal mit deiner Familie zu tun“, sagte er zögernd. Er ließ Oliver spüren, dass er nicht gewillt war, über dieses Thema zu reden.
„Und was?“ Oliver fing seinen Blick ein. Er wollte sich nicht hinhalten lassen. Ihm war schleierhaft, wie ein leitender Bau-Ingenieur, eine Museumskuratorin und Geschichtswissenschaftlerin, sowie fünf Kinder in den Fokus der Berliner Polizei rücken konnten.
Weißhaupt schwieg.
„In welcher Weise?“, fragte er mit mehr Nachdruck. Die Heimlichkeiten störten ihn massiv. „Hat meine Mutter irgendwann eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten?“, fragte er spöttisch. Seine Worte kamen bei Weißhaupt falsch an. Die Mimik des Beamten verhärtete sich. „Lass die dummen Sprüche, Junge!“, mahnte er. „Ich bin beim LKA4 ermittelnder Kommissar, Organisierte Kriminalität und Qualifizierte Kriminalität.“
*
Oliver schloss die Augen und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Organisiertes Verbrechen? In seinem Herz erstarrte etwas zu Eis. Die Ahnung in einer Lüge gelebt zu haben, floss in sein Bewusstsein. In seinem Innersten wünschte er sich, alles um ihn sei ein Alptraum. Automatisch versuchte Oliver, sich selbst zu überzeugen, dass Weißhaupts Worte nicht zutrafen. Sein Vater war ein Choleriker, manchmal vielleicht auch berechnend, aber nach außen der perfekte Gentleman und ein vorzeigbarer Familienvater. Eine leise Stimme wisperte: Er ist ein Mörder. Solche Menschen sind zu allem Fähig!
Oliver verdrängte den Gedanken, bevor er richtig Gestalt annehmen konnte. Trotzdem gelang es Oliver nicht ein „Unmöglich!“ hervorzubringen. Irgendeine perfide Stimme in seinem Kopf wisperte von all den Möglichkeiten! Seine Eltern waren nahezu nie zu Hause. Wie sollte er also sagen können, was sie taten, wenn sie herum reisten?
Sein Blick glitt an Weißhaupt vorbei ins Leere. Für einige Sekunden konnte er nicht sprechen. Er brauchte Zeit, um sein Gefühlschaos zu ordnen.
Schließlich stand er auf. Er wusste nicht wohin er wollte. Das Gefühl kam der Rastlosigkeit gleich, die ihn aus dem Haus getrieben hatte.
Aus dem Haus … er musste mit seinem Großvater sprechen. Ahnungslos war der alte Mann sicher nicht! Würde Walter ihn wieder ignorieren, oder einen Streit als Ablenkung nutzen?
Ihm blieb nicht die Möglichkeit, sich in diesen Gedanken hinein zu steigern.
„Oliver Hoffmann!“, rief eine Ärztin.
Er sah kurz zu dem Polizist, der ihm mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen gab, dass er der Frau folgen solle.
*
Nachdem der Arzt Olivers Wunden verbunden und ihn gründlich untersucht hatte, gab er ihm Beruhigungstabletten, die er zu Hause nehmen sollte. Nachdem er aus dem Behandlungszimmer in den Wartesaal zurück kam, fühlte er sich nur noch ausgelaugter und verunsicherter. Das Gefühl gar keinen Platz im Leben zu haben wuchs. Es erstickte ihn fast.
Weißhaupt bot sich an, ihn nach Hause zu fahren, doch Oliver lehnte ab. Die knapp eineinhalb Kilometer konnte er auch laufen. Die widerstrebende Einwilligung des Polizisten entging ihm nicht.
Oliver überlegte, ob Weißhaupt vorhin die Flucht seines Angreifers mitbekommen hatte. Offenbar sorgte sich der Beamte um ihn. Möglicherweise war er tatsächlich noch in Gefahr. Oliver wusste es nicht. Er bezweifelte, dass der Polizist ihn aus den Augen lassen würde. Allerdings brauchte er Zeit, um über alles nachzudenken, was in dieser Nacht passiert war. Abgesehen davon musste er sich darüber klar werden, wie er seinem Großvater begegnen wollte.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, war der alte Mann bereits wach.
Obwohl Oliver kein kleines Kind mehr war, stand er seinem Großvater oft hilflos gegenüber. Ihm war klar, dass er sich vor Walter nicht fürchten musste. Trotzdem hielt sich das mulmige Gefühl in seinem Magen.
Mit langen Schritten eilte er nach Hause. Niemand begegnete ihm. Auf den letzten hundert Metern begann es zu regnen. Oliver rannte los. Auf die Entfernung sah er bereits Licht durch die Rollläden der Buchhandlung schimmern.
Er wunderte sich nicht wirklich. Viel mehr beschleunigte er seinen Schritt eher noch ein wenig.
Atemlos und durchweicht huschte er die Stufen hinauf und pochte gegen den Fensterladen. Langsam begann Oliver zu frieren. Er rieb sich mit beiden Händen über die Arme.
Der Regen prasselte nun massiv auf das Straßenpflaster. In dem Rauschen gingen nahezu alle anderen Geräusche unter. Dennoch glaubte er, gedämpfte Stimmen zu hören. Er legte das Ohr an die Lamellen. Leider erreichte er damit eher einen gegenteiligen Effekt. Durch den Hohlraum zur Tür entstand eher ein Rauschen, was es ihm unmöglich machte, Details zu verstehen.
Er hämmerte erneut mit der Faust gegen den Rollladen.
Rasche Schritte entfernten sich, während seine Großvater schleppend zur Tür trat.
Jemand – der nicht gesehen werden wollte - war bei seinem Großvater! Für einen Moment überlegte Oliver, ob er zur Haustür gehen sollte, um herauszufinden, wer gerade das Geschäft verließ. Allerdings war es dafür zu spät. Walter zog bereits den Rollladen hinauf. Oliver trat eine Stufe hinab.
Das Gesicht seines Großvaters schien versteinert. In dem kalten Neonlicht vertieften sich die harten Linien um Walters Mund. Er legte die Stirn in Falten. Oliver konnte lediglich Zorn aus den Zügen des alten Mannes lesen. Unwillkürlich erwartete er, dass Walter seinem Ärger Luft machte, doch sein Großvater beobachtete ihn nur. Für einen winzigen Moment sah Oliver, hinter die raue Fassade des alten Mannes. Freundlichkeit gab es keine. Er fragte sich, ob er die Person vor sich überhaupt kannte. Walter war ihm gänzlich fremd. Aus einem Impuls heraus trat Oliver noch einen Schritt zurück.
„Komm herein!“, befahl Walter, ohne jede Modulation in der Stimme.
Zögernd folgte Oliver der Aufforderung. Offensichtlich ging es Walter nicht schnell genug. Seine Hand schloss sich fest um Olivers Arm. Der alte Mann zerrte ihn in den Verkaufsraum. In Oliver kochte Wut hoch. Mit einer zornigen Bewegung schüttelte er Walter ab. „Was soll das?!“, zischte er. „Ich kann allein gehen!“
Im gleichen Moment, in dem er die Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie. Dieser Mann war sein Großvater, nicht sein Vater. Er konnte nichts für all das, was geschehen war …
Walters Brauen zogen sich drohend zusammen. Sein Gesicht versteinerte endgültig. Oliver sah die Kiefermuskeln, die unter der faltigen, wächsernen Haut hervortraten. Walters blassblaue Augen verengten sich zu Schlitzen. Er schwieg. Aber die Stille reichte, um Oliver zu verunsichern. Er wich einen Schritt zurück. Tief in ihm regte sich sein rebellischer Widerspruchsgeist.
Warum sollte er jetzt zu Kreuze kriechen?! Wie konnte Walter Respekt einfordern, wenn er ihn sich nicht verdiente?!
„Wo warst du?!“, presste sein Großvater zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Oliver straffte sich. „Zu Hause“, entgegnete er ohne Umschweife.
Walter zog die Brauen zusammen. „Das ist jetzt dein Heim!“
„Das wird es nie!“, entgegnete Oliver bitter. Unerwartete Wut und Widerspruchsgeist beherrschten ihn, sobald er die ausdruckslose Haltung Walters sah.
„Vielleicht. Das wird sich zeigen!“, sagte der alte Mann unbestimmt.
Sein Großvater schnappte nach Luft. Oliver ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Jemand ist dort eingebrochen. Der Kerl hat mich verfolgt und angegriffen. Bis eben war ich in der Notaufnahme des Paulinenstifts.“
Für einen winzigen Moment blitzte Zorn in Walters Blick auf. Doch dieser Eindruck verwusch sich. Das Gesicht des alten Mannes nahm milde Züge an.
„Geht es dir gut, Junge?“, fragte er mit gefühlvoller Stimme. Die Freundlichkeit erreicht Walters Augen nicht. Oliver musste schlucken. Ihm war die Veränderung nicht entgangen. Der alte Mann war kein guter Schauspieler.
Schließlich nickte Oliver nur. ‚Eine schwache Reaktion’, dachte er verärgert.
„Warum hast du das getan?“, fragte Walter. In seine Stimme schlich sich wieder ein vernehmbar schärferer Ton. „Du hättest doch auch heute hingehen können.“
„Ich musste raus“, entgegnete Oliver gezwungen. Sein Hals fühlte sich trocken an.
„Warum?“
Irrte er sich, oder klang Walters Stimme lauernd?
Oliver spannte sich innerlich. Eine Welle von Widerwillen bäumte sich in ihm auf. „Brauchst du darauf eine Antwort?!“, fragte er scharf.
Walters Lippen zuckten. Seine Mimik verschloss sich wieder. Zurück blieb die distanzierte Härte.
Verstand denn der alte Mann gar nichts?! Oliver spürte, dass er mit seinem Großvater anders umgehen musste als zuvor. Der alte Mann war nicht mehr sein Freund!
„Wer war hier, als ich geklopft habe?!“, fragte Oliver ärgerlich.
Walter schien sich bestens zu kontrollieren. In seinen steinernen Zügen regte sich kein Hauch von Überraschung. „Wovon redest du?“, fragte er. Seine Stimme klang ausdruckslos.
„Davon, dass du mich nicht ernst nimmst und belügst!“, zischte Oliver. „Ich habe dich reden hören, als ich vor der Tür stand.“ Er war sich nicht sicher, ob diese Feststellung in der momentanen Situation klug war. Aber er brauchte Antworten. „Dann ging jemand“, fuhr er fort. „Sehr hastig, würde ich sagen.“
„Und was weiter?“, fragte Walter. Seine Stimme klang herablassen. „Du bist übermüdet!“
„Nein!“, stieß Oliver hervor. „Ich bin sogar sicher, dass diese Person noch im Haus ist!“ Diese Theorie konnte er zumindest belegen, da er das Zuschlagen der Eingangstür nicht gehört hatte.
„Ach!“, stieß Walter böse hervor. „Dann beweise es!“
Offenbar trafen ihn die Anschuldigungen durchaus. Oliver merkte, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Zugleich empfand er selbst erstickende Wut. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er Walter zornig an, stürzte dann aber an ihm vorüber zu der stählernen Hintertür in das Treppenhaus. Noch während er sie aufriss, ahnte er schon, dass sich niemand auf der anderen Seite befand. Sein Großvater blieb viel zu ruhig.
Tatsächlich empfing ihn nur finstere Stille jenseits des Ladens. Trotzdem schaltete Oliver das Licht ein und spähte den Treppenschacht hinauf. In den oberen Etagen regte sich nichts, so weit er das beurteilen konnte. Schließlich lief er die wenigen Stufen zum Hinterhof hinab. Überrascht stellte er fest, dass die verquollene, alte Holztür einen Spalt offen stand. Oliver spannte sich. Er erwartete automatisch einen Angriff. Mit den Fingerspitzen tippte er die Klinke an. Allerdings schwang die Tür nicht auf. Durch die Witterung hatte sich das Holz offenbar verzogen. Oliver drückte nun fester dagegen. Tatsächlich saß sie fest. Ein scharfes Kreischen sagte ihm, dass hier sicher niemand hinaus gelaufen sein konnte.
Seufzend drehte er sich um. Einen Herzschlag später traf ihn eine Dampframme in den Magen.
*
Die Wucht trieb Oliver alle Luft aus den Lungen. Hilflos rang er nach Atem. Endlose Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah.
Schwach erkannte Oliver den Schatten seines Gegners vor sich. Es war jener blonde, ungepflegte Mann, der in das Haus seiner Eltern eingebrochen war!
Er stand im Schutz der Kellertür. Keuchend sog Oliver sein Aroma ein. Der Mann stank nach Schweiß und dem Leder seines Mantels. Offensichtlich lauerte er. Die Szene erinnerte Oliver an jene Nacht, in der er seinem Vater gegenüber stand. Schaudernd befreite sich Oliver von dem Gedanken, bevor er sich lähmend in seinem Bewusstsein breit machen konnte. Alles in Oliver spannte sich. Während ihres letzten Zusammentreffens hatte Oliver die Skrupellosigkeit des Diebs zur Genüge kennen gelernt. Das Wissen, dass die Kellertreppe hinter dem Fremden steil nach unten abfiel, vermittelte Oliver das ungute Gefühl, dass sein Gegner dieses Detail jederzeit zu seinen Gunsten nutzen würde, wenn er nicht vorher zuschlug. Der Dieb ließ ihm keine Zeit, den Gedanken in eine Strategie umzusetzen. Aus der gespannten Haltung heraus versetzte er Oliver von unten einen Hieb. Der Schlag kam nicht vollkommen überraschend. Oliver lenkte aus einem Reflex heraus die Faust ab und leitete sie in die Leere. Sein Gegner setzte mit Links sofort nach. Der Schlag in die Niere kam schnell und hart. Oliver sah ihn kommen, konnte aber nicht mehr ausweichen. Betäubender Schmerz, zuckte durch seinen Körper. Einen Moment kämpfte Oliver gegen zuckende Lichtblitze und diffusen Finsternis hinter seinen Lidern. Tränen schossen ihm in die Augen. Sein Blut rauschte laut in seinen Ohren. Die Agonie flaute nicht ab. Hinter nebligen Schleier erkannte er die ruckartige Bewegung seines Gegners. Instinktiv drehte Oliver sich weg. Sein Körper reagierte schwerfällig. Trotzdem reichte es, um den nächsten zwei Angriffen zu entgehen. Oliver fing sich wieder. Im Verein musste er ähnliche Hiebe einstecken.
Trotzdem verwusch das Bild des Mannes vor seinen Augen. Hektisch blinzelte er die Tränen weg. Blind rammte er seine Rechte in die grobe Richtung, wo er seinen Gegner vermutete, streifte aber nur Stoff. Jetzt wusste er, wo sich der Angreifer befand! Mit der Linken zog er sofort nach. Sein gerader Hieb traf. Nach dem unartikulierten Gurgeln zu urteilen, hatte er getroffen. Der Erfolg verdrängte Olivers dumpfe Erschöpfung. Langsam reagierte sein Körper wieder wie er sollte. Er durfte seinem Kontrahent keine weitere Chance bieten. Der Mann war stark. Vermutlich lag Olivers einziger Vorteil in seinen flinken Ausweichmanövern und vereinzelten, gezielten Schlägen. Ein Geräusch rann in sein Bewusstsein.
Das elektrische Ticken kündigte an, dass sich die Treppenhausbeleuchtung gleich abschalten würde. In vollkommener Finsternis würde er alle Vorteile verlieren! Mit einer raschen, eigentlich viel zu schwachen Kombination aus Hieben attackierte er den Mann. Dieser Blockte hart. Olivers untrainierte Gelenke protestierten. Zwei Schläge konnte sein Gegner abwehren, allerdings traf ihn der dritte am Kinn. Mit rudernden Armen kämpfte er um sein Gleichgewicht. Lediglich ein Schritt zurück konnte ihm noch helfen. Der Fremde reagierte schnell. Rasch setzte er zwei Stufen hinab. Gerade als er taumelnd nach Halt suchte, verlosch das Licht.
Oliver nutzt den Moment, um die metallene Kellertür zuzuschlagen. Dröhnend fiel sie ins Schloss. Einen Schlüssel besaß er nicht. Trotzdem versuchte er zu verhindern, dass der Kerl so einfach entkam. Er wirbelte um seine Achse. Mit aller ihm verbleibender Kraft riss er die Hoftür auf. Gerade noch rechtzeitig. Mit unglaublicher Gewalt traf das stählerne Türblatt des ehemaligen Luftschutzkellers das verquollene Holz. Oliver wurde durch die Wucht zurück gedrängt. Allerdings verkeilten die beiden Türen sich ineinander.
Durch einen schmalen Spalt konnte er den etwas helleren Schatten seinen Gegner ausmachen. Der Mann atmete schwer. Sein Geruch war widerlich.
Oliver wich zurück.
Regen fiel in den Hausflur. Von dem Lärm geweckt, kamen die ersten Nachbarn aus ihren Wohnungen.
„Was soll das?!“, fauchte ein Frauenstimme weit über Oliver.
Das Echo brach sich hohl in dem Treppenhaus.
Er strich sich die langen, verschwitzten Locken aus dem Gesicht. Dann sprang er mit zwei Sätzen die Stufen zum Laden hoch.
Sollte sich die verdammte Polizei um den Rest kümmern!
*
Schweigend erwartete ihn Walter. Seine Haltung drückte Wut aus. Unbeeindruckt begegnete Oliver seinem Blick. Er war nicht weniger zornig. Für ihn lag Verrat in der Luft. Er fühlte sich von dem alten Mann belogen.
„Was sollte das?!“, zischte Oliver Die Wunden auf seiner Wange brannten höllisch. Unwillkürlich hob er die Hand und tastete über die festgeklebte Kompresse.
Walter schwieg.
Oliver beschloss, sich später mit dem Problem zu befassen. Mit raschen Schritten eilte er in das Büro und zog sich das Telefon heran. Rasch tippte er den Notruf. Bevor allerdings die Polizeidienstelle antwortete, hörte er, wie Walter die Hintertür des Ladens zuwarf. Oliver fuhr herum. Dieser wahnsinnige Alte ließ doch wohl den Schläger nicht aus seinem Gefängnis?!
„Feuerwehrleitstelle“, meldete sich eine recht junge Männerstimme.
„Moment!“, rief Oliver in den Hörer, warf ihn auf den Tisch und rannte aus dem Raum. Er war allein im Laden …
Schrecken zuckte durch seine Glieder.
Sofort wirbelte er zum Eingang. Im gleichen Moment schlug jemand mit der Faust gegen den Rollladen.
„Oliver?!“
Die Stimme gehörte zu Weißhaupt! Erleichtert eilte Oliver zur Tür.
*
Oliver fragte den Beamten erst gar nicht, warum er ausgerechnet jetzt hier her kam. Er ließ ihn ein und wies mit einer Kopfbewegung auf die Hintertür.
„Eben hat mich der Kerl von vorhin wieder angegriffen. Er war hier.“
Weißhaupt riss die Augen auf.
„Wo?!“, stieß er hervor.
Oliver deutete zur Hintertür. „Ich habe ihn im Keller festgesetzt.“
Ohne auf weitere Informationen zu warten, sprintete Weißhaupt aus dem Laden.
„Er ist gefährlich!“, rief ihm Oliver hinterher. Allerdings bezweifelte er, dass der Beamte noch jemand im Keller vorfand. Er ging davon aus, dass Walter den Mann freigelassen hatte.
Oliver verfluchte seinen Großvater. Wie konnte er diesem Menschen je so viel Vertrauen entgegen bringen?! Ihm wurde klar, dass er nicht hier bleiben konnte! Seine Brüder und er waren in diesem Haus nicht sicher.
Die Frage lautete: wohin? Es gab keinen Ort, den sie noch ihr Heim nennen konnten.
Hilflose Verzweiflung ergriff ihn. Mühsam drängte er sie zurück. Er konnte sich jetzt nicht irgendwelchen Gefühlen hingeben, die seinen klaren Verstand beeinträchtigten!
Energisch straffte er sich und folgte Weißhaupt auf den Flur.
*
Oliver fuhr zusammen. Direkt hinter der Tür stand sein Großvater. Erschrocken wich Oliver einen Schritt zurück. Walter erschien ihm wie ein Monster. In den tief liegenden Augen flammte unverhohlener Zorn. Die bleiche, faltige Haut spannte sich wie trockenes Pergament um den Schädel des alten Mannes. Er entblößte seine gelben Zähne. Speichel sammelte sich in den Mundwinkeln. Alle Menschlichkeit war aus dem alten Mann gewichen.
Oliver roch seinen schlechten Atem. Eine Mischung aus Kaffee, Tabak und Medikamenten schlug ihm entgegen. Er schauderte.
Bevor er oder sein Großvater etwas sagen konnten, trat Weißhaupt keuchend in das Licht, was aus dem Laden fiel. Regen troff aus seinen kurzen dunklen Haaren über sein Gesicht. Offensichtlich hatte er den Fremden verfolgt oder zumindest gesucht und verloren.
„Er ist fort“, meldete der Polizist atemlos.
Walter blitzte den Beamten an. Weißhaupt bemerkte es gar nicht. Er konzentrierte sich auf Oliver. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das nasse Haar und schüttelte sie aus.
„Sind Sie ihm in den Hof gefolgt?“, fragte Oliver, der seinen Großvater ebenfalls ignorierte.
„Ja. Die Hoftür stand weit offen“, entgegnete der Polizist.
„Vielleicht ist er noch im Keller“, schlug Oliver vor und drängte sich an Walter vorbei.
Der alte Mann ergriff den Arm seines Enkels. Mit erstaunlicher Gewalt, die Oliver seinem Großvater gar nicht zugetraut hätte, packte Walter ihn am Handgelenk. Tränen schossen ihm in die Augen, als die Knochen aneinander rieben. Oliver blieb stehen.
„Lass los!“, zischte er. Leider klang seine Stimme eher jämmerlich.
„Nein!“, entgegnete Walter gepresst.
Olivers Blick begegnete dem seines Großvaters. Blanker Hass schlug ihm entgegen.
„Was ist?“, fragte Weißhaupt, als er Olivers Mimik bemerkte. „Wenn der Kerl noch da ist, hat er alle Chancen abzuhauen!“
Der Griff wurde härter. Oliver biss die Zähne zusammen. Mit einer einzigen Bewegung entwand er seine Hand
„Weiß ich!“, stieß er hervor wobei er Walter ansah.
Über die Lippen des alten Mannes kam ein wütender Laut.
Oliver beachtete ihn nicht mehr.
Während er sein Gelenk rieb, folgte er Weißhaupt.
*
„Was ist mit dem alten Mann?“, fragte der Polizist, als er sich außer hörweite wähnte. Offenbar war ihm das Schauspiel nicht entgangen.
„Er deckt diesen Kerl“, knurrte Oliver, bis ihm bewusst wurde, dass der Polizist kaum erraten haben konnte, um wen es sich bei der Person handelte. „Das war der, wegen dem ich Ihnen vor das Auto gelaufen bin“, fügte er erklärend hinzu.
„Dachte ich mir“, entgegnete Weißhaupt, während er nach dem Lichtschalter tastete. Einen Moment später flackerte die Lampe auf. Der fahle Schimmern hinter dem verstaubten, von Spinnweben überzogenen Lampenglas, tauchte den Keller in stumpfe Farblosigkeit. Die feuchten Backsteinwände rochen nach Schimmel. In der Luft lag ein Hauch des allgegenwärtigen Rostes von Geländer und Treppen. Weißhaupt ging die Stufen in den Keller hinab.
Oliver folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Was, wenn sein Großvater sie in eine Falle lockte oder sie hier einschloss? Vorsichtig spähte er über die Schulter. In den Schatten meinte er die Gestalt des alten Mannes ausmachen zu können, aber er regte sich nicht.
„Hören Sie, Herr Weißhaupt“, begann Oliver. „Ich weiß nicht, was der Kerl mit meinem Großvater zu tun hat, aber ich bin mir sicher, dass meine beiden Brüder in Gefahr sind, solang sie hier wohnen.“
Der Kommissar wendete sich auf den Stufen um. „Ich kann mit meinem Kollegen Roth sprechen. Er würde euch vorläufig in einem Heim unterbringen können. Unter den gegebenen Umständen sollte das eigentlich nur eine Formalität sein. Allerdings kann Markgraf Einspruch erheben und gerichtlich erwirken, euch zurück zu bekommen. Offenbar hat er das Sorgerecht.“
Oliver deutete ein Nicken an. Der Blick seines Großvaters stach in seinen Rücken. Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Er schauderte. Wahrscheinlich hörte er jedes Wort, was sie sprachen. Er verdrängte den Gedanken. Weißhaupt wendete sich wieder dem steilen Schacht zu. Oliver folgte ihm bis auf die Kellerebene.
Insekten flohen vor ihnen über den Boden.
Instinktiv spähte Oliver über die Schulter. Er wollte sich vergewissern, dass sich niemand unter dem Treppenlauf verbarg.
Er fuhr zusammen. Irgendetwas schien sich in den Schatten zusammenzukauern. Die massige Silhouette regte sich nicht. Zögernd trat er näher heran, darauf gefasst, angegriffen zu werden.
In dem Alkoven standen alte Farbeimer aufgetürmt, halb verdeckt von einer Plane. Oliver atmete auf. Langsam wendete er sich Weißhaupt zu. Die Schatten der verzweigten Gänge schluckten bereits die Gestalt des Kommissars.
Rasch folgte Oliver ihm, wobei er versuchte, mit seinem Blick die Dunkelheit in den Verschlägen und Fluren zu durchdringen.
Manchmal glaubte er Bewegungen hinter den Bretterwänden wahr zu nehmen. Nervös blieb er jedes Mal stehen und fokussierte die Räume. Seine Unruhe gaukelte ihm Leben vor.
Mühsam rief er sich zur Ordnung. Er musste sich konzentrieren! Tatsächlich beruhigte Oliver sich. Wenn er helfen wollte, musste er sich nach offensichtlichen Zeichen eines Einbruchs umsehen. Sein Blick strich über die Vorhängeschlösser und Riegel. Leider waren die Verschläge, an denen er vorüber kam, alle unbeschädigt.
„Wie verschachtelt ist dieser Keller?“, fragte Weißhaupt leise in seine Beobachtungen hinein.
Unbestimmtes Rauschen von Wasser mischte sich in seine Worte. Er kannte das Geräusch von seinen seltenen Besuchen hier unten. Allerdings hatte er es leiser in Erinnerung. Hier unten gab es einen direkten Zugang in den Abwasserschacht.
Weißhaupt blieb stehen und lauschte.
Oliver fing den alarmierten Blick des Kommissars ein.
„Gibt es von hier aus einen Weg in die Kanalisation?“
Oliver nickte, während er sich langsam sich in die Richtung des Lärms wendete. Ihm fielen die Alkoven unter einem gemauerten Bogen auf. Leicht versetzt schmiegten sich zwei Abstellkammern in den Schatten. Im Gegensatz zu allen anderen Räumen standen beide leer. Schlösser gab es nicht. Oliver trat näher. Im schwachen Licht sah er in dem linken Verschlag eine Bodenluke, die einen Spalt weit offen stand. Rechts befand sich gegenüber der Tür eine Mauer. Oliver bemerkte, dass diese Wand in den Raum hinein versetzt worden war. Einige poröse Ziegel lagen auf dem Boden. Mörtelreste mischten sich mit Salpeter und Spinnweben. Es roch eigenartig muffig in der Zelle.
Weißhaupt schob sich an Oliver vorüber und betrat den linken Verschlag. Oliver beachtete ihn nicht weiter. Etwas trieb ihn. Die innere Unruhe nahm zu. Er folgte diesem Gefühl und betrat die rechte Seite.
Als er den Fuß in die Kammer setzte, wirbelte Staub auf.
Die winzigen Partikel reizten Augen, Hals und Nase. Oliver versuchte dennoch nicht zu husten. Der Niesreiz ließ sich allerdings kaum unterdrücken. Er presste den Ärmel seines Shirts gegen Mund und Nase.
Zugleich stieg ein anderer, penetranter Geruch auf: Schimmel, feuchter Putz und ein fremder, fahler Gestank, den er nicht einordnen konnte. Woher kam die Feuchtigkeit, wenn der Boden so trocken war, dass der Staub bis zu seinem Gesicht aufwirbelte?
Mit den Fingern fuhr er über die zugemauerte Öffnung. Zwischen einigen Steinen rann brackiges Wasser in den Mörtel und weichte ihn auf. Oliver sah hinauf. Über ihm neigte sich ein dickes, schwarzes Tonfallrohr aus der Wand. Es verlief Schräg durch die Mauer und verschwand darin. Stinkendes Wasser rann aus einer Muffe in den Stein. Oliver zog die Brauen zusammen. Hinter der Wand gab es also einen Hohlraum!
„Herr Weißhaupt?“
Oliver drehte sich um. In der Kammer neben ihm kniete der Kommissar auf dem Boden und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in den Schacht hinab.
„Was?“, fragte er. Der Beamte schien viel zu sehr von seiner Entdeckung abgelenkt und eingenommen, um Oliver ernstlich gehör zu schenken.
„Hier ist etwas …“, entgegnete Oliver.
Der Polizist hob kurz den Blick. „Er könnte über die Kanäle abgehauen sein!“, rief er. „Das lässt sich aber schwer heraus finden.“
Oliver zog die Brauen zusammen. Er konzentrierte sich wieder auf seine Entdeckung. Vorsichtig drückte er mit der flachen Hand gegen die Vermauerung. Er spürte, wie sich der Mörtel zersetzte. Die Steine sackten etwas ein. Er konnte mit etwas Kraft die Ziegel lösen! Oliver überlegte, ob er einfach mehr Druck ausüben wollte. Aber was würde er finden? Vielleicht war es nur der Schacht des Abwasserfallrohrs.
„Nicht!“, zischte die heisere Stimme seines Großvaters.
Oliver fuhr zusammen. Die schleppenden Schritte des alten Mannes mussten ihm vollkommen entgangen sein!
„Was?!“, fragte er lauernd, ohne sich umzusehen. „Was finde ich hinter der Wand?!“
„Nichts“, antwortete Walter tonlos.
Oliver wollte ihm keinen glauben zu schenken. Der alte Mann wich wie ein nebulöser Geist zurück. Oliver sah ihn an. Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung mischten sich mit bitterem Zorn in den Zügen seines Großvaters. Oliver wendete sich ab und atmete tief durch, bevor er mit aller Kraft gegen die Steine drückte und nach hinten federte. Knirschend sank die Wand ein. Staub wirbelte auf. Feier Kalk stob in einer Wolke durch den Raum. Ein bestialischer Geruch mischte sich in den Nebel, der sie für einen Moment erfasste. Er war scharf, chemisch und Übelkeit erregend. Oliver würgte und musste husten. In seinen Augen brannte der Dreck.
„Was ist passiert?“, rief Weißhaupt alarmiert. Oliver hörte den Beamten herüber kommen.
Als sich die Staubwolken legten, kniff Oliver die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Er wedelte mit der Hand und hielt sich den Arm vor Mund und Nase. Langsam trat er näher. Hinter dem Durchbruch gähnte feuchte Schwärze. Weißhaupt drängte an seine Seite. Mit seiner Stablampe leuchtete er in den freigelegten Raum. Keuchend fuhr Oliver zurück. In dem weißen Lichtkegel, der über Boden und Wände huschte, blitzten Knochen auf.
*
Für Oliver stand außer Frage, sich an den anlaufenden Ermittlungen beteiligen zu wollen.
Sein Großvater stand unter akutem Tatverdacht. Anhand Walters befremdlichen Verhaltens und der Tatsache, dass er einen Verbrecher deckte, sowie des Fundes im Keller, konnte Oliver ihm gar nichts mehr glauben. Der alte Mann war in etwas verstrickt, dessen Muster Oliver noch nicht erkennen konnte.
Wenn Chris, Michael und er je wieder normal leben wollten, mussten sie sich selbst aus diesem Wirrwarr an Ereignissen und Lügen befreien.
Zu Anfang beobachtete Oliver Weißhaupt und seine Wiesbadener Kollegen, insbesondere den etwas schwerfälligen, betagten Herrn Roth, bei der Arbeit. Die Spurensicherung und – wie Oliver annahm – die Gerichtsmedizin verscheuchten ihn und die Kriminalbeamten.
Weißhaupt bezog in Walters Wohnküche sein Quartier. Etliche seiner Kollegen, darunter auch Roth, vernahmen den alten Mann und verschiedene Nachbarn. Auch Christian, Michael und Oliver wurden – getrennt voneinander – in das Wohnzimmer gebeten.
Am frühen Vormittag saßen die Brüder zusammen mit Bernd Weißhaupt, der an seinem Notebook saß und tippte, in der Küche. Oliver sah den Zwillingen an, dass sie reden wollten. Dennoch brachten sie kein Wort über ihre Lippen. Schock und Verwirrung saßen viel zu tief. Olivers innere Unruhe trieb ihn dazu, immer wieder aufzustehen und durch die Küche zu laufen, aufzuräumen, Kaffee und Tee zu kochen oder sich wieder hinzusetzen.
Die Sehnsucht nach einer Zigarette wuchs ins Unermessliche. Allerdings wollte er auch den Raum nicht verlassen, um zu erfahren, was nun mit seinem Großvater und ihnen geschah.
Walter saß bereits seit mehr als einer Stunde mit Roth im Wohnzimmer.
Weißhaupt erhob sich kommentarlos und betrat das Vernehmungszimmer.
Oliver spannte sich an. Was würde nun geschehen?
Sein Blick huschte zu seinen beiden Brüdern. Chris drehte nervös seine leere Kaffeetasse in den Fingern. Sein Fuß wippte unablässig, sodass der Saum der Tischdecke in Bewegung geriet und die Bank wackelte. Michael starrte an Oliver vorbei zu einem Punkt, weit außerhalb der Realität. Die Reglosigkeit machte Oliver Angst. Er spürte, dass unter der ruhigen Fassade ein verzehrendes Höllenfeuer brannte. Die Fragen bohrten in Michael.
Vielleicht war es klug, die Zwillinge vorsichtshalber darüber aufzuklären, dass sie nicht länger hier bleiben konnten. Allerdings ließ er den Gedanken sehr schnell wieder fallen, als Weißhaupt auf den Flur trat. Elektrisiert sprang er auf. Der Berliner Kommissar betrat nachdenklich die Küche. Er wich Olivers Blicken aus. Schwer ließ er sich neben Michael auf die Bank fallen. Er hob seine Tasse vom Tisch auf und hielt sie Oliver hin.
„Hast du noch einen Kaffee für mich?“, fragte er.
Oliver griff nach der Kanne, aber Christian löste sich und kam der Bitte nach. Besorgt beobachtete Oliver seinen Bruder. Chris’ apathisches Verhalten war untypisch.
„Worauf müssen wir uns jetzt einstellten?“, fragte Oliver nervös. Seine Stimme bebte leicht.
„Schwer zu sagen“, entgegnete Weißhaupt schleppend. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, ließ es aber auf die Tischplatte sinken. Mit seiner schweren Hand begrub er es beinah. Langsam führte er die Tasse an die Lippen, zögerte kurz, als denke er über etwas nach, nahm schließlich aber einen Schluck. Oliver zog die Brauen zusammen.
„Was hat unser Großvater gesagt?“, bohrte er ärgerlich.
Weißhaupt sah auf. „Du und ich wissen, dass er bis zu den Knien im Dreck steckt. Er lügt. Allerdings hat Roth nicht miterlebt, was ich von seinem Drohen und seinem Lauern mitbekommen habe. Jetzt muss ich – als involvierter Beamter – zu Protokoll geben, was ich gesehen habe, seit du mir vor den Wagen gesprungen bist.“ Seine Stimme klang belegt.
„Ist das gut oder schlecht?“, fragte Oliver unsicher.
Weißhaupt zog eine Zigarette aus dem Päckchen und sie an. Olivers sehnsüchtigen Blick ignorierte er.
„Kann ich nicht sagen. Wenn ich mich zu stark in die Sache hinein hänge, kann es sein, dass ich als Berater abgezogen werde und mein Kollege Habicht hinzugezogen wird.“
„Habicht?“, fragte Oliver verwirrt.
Weißhaupt nahm einen tiefen Zug. „Er arbeitet mit mir zusammen an dem Fall, in den eure Mutter involviert war“, erklärte er.
„Unsere Mutter?!“, fragte Chris. Seine Stimme überschlug sich. Es war das Erste, was er an diesem Morgen überhaupt sagte. In seinen hellen Augen verhärtete sich der Blick.
Beruhigend legte Michael ihm die Hand auf den Arm, zog aber zweifelnd die Brauen zusammen. „Unsere Mutter war doch in nichts Illegales verstrickt, oder?“, hakte er nach.
Weißhaupt begegnete seinem Blick. In der Mimik des Polizisten zuckte es. Langsam hob er seine Tasse an die Lippen und blies hinein, bevor er einen Schluck Kaffee trank. Oliver fiel heute zum wiederholten Mal auf, dass Weißhaupt damit unangenehme Antworten verzögerte. Offenbar war das die bevorzugte Taktik des Beamten um Zeit zu gewinnen. „So kann man das nicht sagen“, entgegnete Weißhaupt schließlich ausweichend.
„Was sonst?!“ Oliver platzte der Kragen. Mit beiden Händen schlug er auf die Tischplatte. „Verdammt, Herr Weißhaupt! Wir haben alle drei keine Ahnung, wovon sie reden. Ihre Andeutungen machen meine Brüder nur nervös und mich stinksauer!“
Der Polizist sah ihn vorwurfsvoll an. Oliver taten seine Worte in keiner Weise Leid. Seine Wut richtete sich nun gegen den Kommissar.
„Tacheles bitte!“, verlangte er. „Ich will endlich wissen, in was wir gerade hinein rutschen!“ Er ballte die Fäuste. Seine Nägel bohrten sich in seine Handflächen. Den Schmerz ignorierte er.
„Wir kamen einfach nicht zum Reden“, sagte Weißhaupt ausweichend. Offenbar fiel es ihm schwer, das Thema zu ergreifen.
„Dann reden Sie!“, forderte Oliver ihn barsch auf. Im ersten Moment wollte der Kommissar Oliver offenbar eine entsprechend scharfe Antwort geben, besann sich aber. Er atmete mehrfach tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Nachdenklich senkte Weißhaupt den Blick. Er zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch aus. Schweigend beobachtete Oliver ihn. Seine Gefühle kochten noch immer tief in ihm. Er hasste es, wie ein Kind behandelt zu werden. Trotzdem versuchte er, sich zusammen zu nehmen.
„Silke Hoffmann wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten von unserem Dezernat überwacht …“
„Was ist ihr Dezernat?“, unterbrach Chris ihn.
„Momentan ist unsere Abteilung zusammengesetzt aus Beamten des LKA 1 und 4“, erklärte er geduldig. „Das heißt, wir sind Beauftragte aus den Abteilungen für Delikte an Menschen und der Organisierten Kriminalität.“
„Was soll das heißen?!“, fragte Chris. In seiner Stimme schwang bereits wieder ein aggressiver unterton mit.
Oliver warf ihm einen strafenden Blick zu. Sein Bruder rutschte tiefer in das durchgesessene Polster der Eckbank. Beleidigt schob er die Unterlippe vor. Oliver sah zu Weißhaupt. „Heißt das im Klartext: Mord und Maffia?“, fragte Oliver vorsichtig nach.
Weißhaupt nickte.
„Unmöglich!“, stieß Michael impulsiv hervor. „Unsere Mutter hatte nie etwas mit Kriminellen zu tun!“
Oliver erhob sich. Er trat zu seinem kleinen Bruder und schloss ihn in die Arme. Michael schmiegte sich an ihn. Möglicherweise half seine direkte Gegenwart, damit Chris und Michael ruhiger wurden.
„Lasst mich mal zwischen euch“, bat er. Michael rückte ein Stück zur Seite, um Oliver Platz zu machen. Neugierig sah Chris zu seinem großen Bruder auf, als dieser sich in ihre Mitte setzte. Wortlos legte er um beide Jungen seine Arme und zog sie an sich. Michael kuschelte sich fest an, während sein Zwilling die Füße auf die Bank stellte und mit dem Rücken gegen Oliver sinken ließ. Er wollte Weißhaupt offensichtlich nicht aus den Augen lassen.
Zögernd nahm Weißhaupt das Thema wieder auf. Oliver sah ihm die Unsicherheit an. Für den Beamten war es offenbar schwerer Kindern Rede und Antwort zu stehen, als Verbrecher dingfest zu machen.
„Sie unterhielt Verbindungen zu uns bekannten Personen des organisierten Verbrechens und war nachweislich an vielen verschiedenen Transaktionen beteiligt.“
Oliver presste die Kiefer aufeinander, als erwarte er einen Angriff. Für ihn waren die Worte wie ein Tiefschlag. Die Zwillinge spannten sich ebenfalls an.
„Unsere Mama?!“, fragte Chris. „Erzählen Sie das anderen, aber nicht uns. Wir kannten sie im Gegensatz zu Ihnen!“
„Chris!“, mahnte Oliver. Der Junge wendete den Kopf. In seinen Zügen arbeitete es. Wut und Angst kämpften um die Vorherrschaft. „Wenn du mal die Klappe hältst, kann Herr Weißhaupt erklären, was er meint!“
„Danke Oliver“, gab der Polizist zurück. Er klang genervt.
Er zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch Mund und Nase aus. „Eure Mutter hat mehrfach kleine, ägyptische Kunstgegenstände nach Deutschland eingeführt, die wenig später als verschollen galten oder durch gut gemachte Repliken ersetzt wurden. Dafür tauchten bei Auktionen jene Artefakte im Kunst- und Antikhandel wieder auf …“
„Sie hat die Sachen geschmuggelt?!“ Chris fuhr auf und sprengte den Griff Olivers.
„Ja, genau“, bestätigte Weißhaupt ruhig. „Silke Hoffmann hat aber auch verschiedene Gegenstände bereits in Ägypten duplizieren lassen und vor dem Transport ausgetauscht. So kam von Anfang an die Fälschung in Deutschland an.“
„Wurde das nicht noch mal auf Echtheit geprüft?“, fragte Oliver.
„Weißhaupt lächelte wissend. „Die Zertifizierung der Echtheit wurde generell von ihr und zwei weiteren Kunsthistorikern bestätigt. Wir sind der Sache auf den Grund gegangen, nachdem ein von uns bestellter Historiker zusammen mit zwei Chemikern die Fälschungen in den Berliner Ausstellungen ausmachen konnte. Damals kam das Museum auf den Gedanken, Anzeige zu erstatten. Eure Mutter geriet unter Verdacht, konnte sich davon aber immer wieder befreien, weil sie die Zertifizierung über die Echtheit der Artefakte in Kairo bereits vorgenommen hatte. Die dort ansässigen Chemiker, die sie unterstützten, legten uns überzeugende Nachweise dar.“ Er zuckte mit den Schultern. „Logisch sind da die echten Gegenstände überprüft worden. Aber vor dem Versand nach Deutschland und England wurden die Lieferungen ausgetauscht.“
„Wer wurde dafür verantwortlich gemacht?“, fragte Oliver.
„Zuerst das Wachpersonal und die Arbeiter im Kairoer Museum. Ein paar Leute wurden entlassen, die Sicherheitsfirma gewechselt, aber unsere Kollegen aus Nordafrika haben wenig gesteigertes Interesse an praktischer Hilfe.“
„Korruption?“, vermutete Oliver.
Mit einem Nicken bestätigte Weißhaupt. „Die Fäden laufen bei einer der reichsten ägyptischen Familien zusammen. Da sich der alte Aboutreika dezent zurück hält und Deutschland nie besucht, kann man ihm nichts anhaben. Seine Söhne sind da schon wieder ein anderes Thema.“
„Aboutreika …“, Oliver überlegte. Bei dem Namen klingelte etwas. Er hatte ihn das eine oder andere Mal gehört. Sein Vater war mit einem Ägypter – seinem vorgesetzten Geschäftsführer - eine Zeit lang eng befreundet gewesen. Oliver erinnerte sich an ausgedehnte Abende mit beiden Familien. Hieß dieser Mann Aboutreika? Sicher war er sich nicht.
Allerdings erinnerte er sich auch, dass diese Freundschaft zerbrach. Möglicherweise lag es an der Beziehung von seiner Mutter zu diesem Ägypter in Kairo. Einmal hatte er sie zusammen gesehen. Allerdings erinnerte er sich nur bedingt an diesen Abend. Während er versuchte seine Erinnerungen zu durchforsten, erwachten lediglich verzerrte, unscharfe Bilder. Es war wie verhext! Je stärker er sich darauf konzentrierte, desto blasser wurden seine Eindrücke.
„Unser Vater war der stellvertretende Geschäftsführer eines Bauunternehmens“, erklärte Oliver. „Sein Chef war ein Ägypter. Aber ich habe vergessen, wie er hieß.“
Er sah zu seinen Brüdern. „Wisst ihr das noch?“
Chris schüttelte den Kopf.
„Ammon, Amman oder so?“, entgegnete Michael.
„Amman Aboutreika ist sein Name“, verkündete Weißhaupt. Er ist der Sohn jenes von mir erwähnten Mannes; der älteste Sohn.“
Entsetzt starrte Oliver ihn an. Seine Kehle war plötzlich trocken. „Dann … kannten sie sich?“
Weißhaupt hob die Schultern. „Aboutreika ist ein vorbildlich sauberer Geschäftsmann. Wir haben seine Geschäftsräume in Berlin und Frankfurt durchsuchen lassen. Gefunden wurde nichts. Trotzdem liegt der Verdacht gegen ihn auf der Hand.“
„Das heißt, er ist vielleicht der Mann im Hintergrund?“
Weißhaupt zog an seiner Zigarette und drückte den Stummel aus. „Kann sein. Silke Hoffmann hatte mit allen möglichen anderen Leuten Kontakt, nur selten mit ihm.“
„Sie hatten unsere Mutter gut im Blick, oder?“, fragte Oliver düster.
„In den letzten Monaten vor dem Mord an ihr, wurden die Informationen über sie immer spärlicher. Ich hatte den Eindruck, dass sie aufhören wollte.“
Oliver zog die Brauen zusammen. „Aufhören? Welchen Grund hatte sie?“
Der Beamte hob die Schultern. „Wahrscheinlich wusste sie, dass sie überwacht wurde.“
„Du, Olli?“, fragte Chris. „Warum hat sie das gemacht?“
Nachdenklich streichelte Oliver seinen kleinen Bruder. „Ich weiß es nicht. Vielleicht wurde sie ja erpresst?“
Seine Worte richteten sich an den Beamten, der erneut mit den Schultern zuckte. „Das wissen wir nicht.“
Oliver atmete tief durch. „Ein paar Fragen habe ich noch.“ Er sah dem Polizisten in die Augen. „Wie sind beispielsweise die Originale dieser Antiquitäten außer Landes gebracht worden?“
„Einfache Sache“, erklärte der Beamte. „Sie wurden wie simple Souvenirs verpackt und im Handgepäck durch den Zoll gebracht.“
Fassungslos starrte Oliver ihn an. „Bitte was?“
„Das geht einfach so?“, fragte Michael nervös.
„So lang es sich um kleine Statuetten, Kruken und Miniaturen handelt, geht das durchaus“, bestätigte Weißhaupt. „Schmuck kann eine Frau sogar an ihrem Körper schmuggeln. Bei dem Schrott, den es heute gibt, kann sie mit dem auffälligsten Kram durch den Zoll, ohne dass es auffällt.“ Weißhaupt unterbrach sich.
„War sie die, die alle Sachen schmuggelte?“, fragte Oliver.
Der Beamte schüttelte den Kopf. „Nein. Da gab es noch ganz andere Leute. Zumeist waren es unauffällige Reisende, denen die Sachen als Andenken untergeschoben wurden. Von einigen der Personen haben unsere Kollegen von der Dienstelle Raub auch Einbruchsanzeigen erhalten. Es wurden generell alle möglichen Wertgegenstände mitgenommen, aber auch diese …“ erzögerte. „… Souvenirs.“
„Dann waren diese Leute unbeteiligt?“, fragte Oliver.
„Bei genauer Überprüfung rund achtzig Prozent von ihnen.“
„Und die anderen zwanzig?“, wollte Oliver wissen.
„Museumspersonal“, erklärte er. Leute, die Silke Hoffmann begleiteten. Unter Verdacht gerieten alle. Aber das ist bereits alles entkräftet. Eure Mutter hat uns ohnehin lang an der Nase herum geführt. Aufmerksam wurden wir erst vor einigen Jahren auf sie; als mein Kollege Habicht und ich hinzugezogen wurden.“
Bevor Oliver ihn fragen konnte, sprach Weißhaupt weiter. „Wir haben uns hinter die gesammelten Informationen geklemmt und alles noch einmal überprüft. Durch ein paar widersprüchliche Aussagen und den Tod verschiedener beteiligter Menschen konnten wir die Verdächtigen einschränken. Der Rest war Observation und Geduldsarbeit.“
Nachdenklich begegnete Oliver seinem aufmerksamen Blick. Es kam ihm vor, als sei diese Eröffnung nur die Spitze des Eisberges. In dem Gesicht des Beamten zuckte es. Offenbar war er mit seinen Erklärungen noch lange nicht am Ende. Die warmen Hände von Olivers Brüdern klammerten sich in den Stoff seines dünnen Pullis. Michael vergrub sein Gesicht in Olivers offenen Haaren. Sein kleiner Bruder weinte nicht. Wahrscheinlich dachte er nach und zog seine eigenen Schlüsse. Christians Proteste versiegten in seiner Unsicherheit, dicht unter der Oberfläche seiner Persönlichkeit gärte. Nervös drängte er sich an seinen Bruder. Oliver senkte die Lider. Er versuchte das Ausmaß von Weißhaupts Erzählung zu begreifen. Im ersten Moment kam er sich belogen und verraten vor. Doch langsam sickerte ein böser Verdacht in sein Bewusstsein: Er sah eine Verbindung zwischen dem Mord an seiner Mutter und seinen Geschwistern. So schrecklich es auch war, er brachte - in Anbetracht dieser Neuigkeiten – sogar Verständnis für die Situation seines Vaters auf. Wahrscheinlich wusste Tom Hoffmann die ganze Zeit über die Machenschaften seiner Frau bescheid. Umso schlimmer musste es für ihn sein, Elli als lebenden Beweis für ihre Verbindungen vor sich zu sehen. Seine kleine Schwester trug keinerlei Schuld an dieser Situation. Im Gegenteil war sie sogar nur das Opfer zweier furchtbarer Menschen. Nur konnte Oliver nicht mehr allein seinem Vater die Schuld an allem geben. Er musste sich eingestehen, dass seine Mutter kein bisschen besser gewesen war.
„Was hat das alles mit dem Typ, der im Haus unserer Eltern herum geschlichen ist, oder mit den Skeletten im Keller zu tun? Was ist mit dem seltsamen Verhalten unseres Großvaters?“ Oliver sah ihn herausfordernd an.
„Die Knochen sind sicher schon sehr alt. Wo da der Zusammenhang liegt, weiß ich nicht“, erklärte Weißhaupt. „Allerdings wollte euer Großvater es verheimlichen und er hat sich zuvor schon reichlich auffällig verhalten. Von daher wird es eine Untersuchung geben.“
Oliver nickte matt. „Was geschieht mit Micha, Chris und mir?“ Seine Stimme schwankte.
Weißhaut zögerte. „Das ergibt sich noch.“
*
Wortlos begann Oliver mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Er konnte seine innere Anspannung nicht abschütteln. Ruhig sitzen und Abwarten kam für ihn nicht in Frage. Er wollte mehr zu seiner Mutter und seinem Vater erfahren, doch Weißhaupt saß nach ihrem Gespräch stumm am Tisch und bearbeitete hektisch sein Notebook. Offenbar vergaß der Beamte sogar seinen Kaffee. Konzentriert tippte er seinen Bericht.
Michael zog sich offenbar in seine eigene Welt zurück. Nach Olivers Erfahrung war das kein sonderlich gutes Zeichen bei seinem kleinen Bruder. Die Unruhe Christians gefiel ihm auch nicht. Nachdem der Junge einige Sekunden in einer Mischung aus verletzten Gefühlen und Wut zu Weißhaupt gestarrt hatte, sprang er auf und verließ die Küche.
„Chris?“, rief Oliver ihm nach. Der Junge antwortete nicht. Mit langen Schritten folgte Oliver ihm. Er sah gerade noch, wie sein Bruder im Hinausgehen seinen dunklen Kapuzenpulli überstreifte.
Fluchend lief er Chris hinterher. Normalerweise störte es ihn nicht, wenn Chris sich draußen Luft machte, aber sein namenloser Angreifer war immer noch auf freiem Fuß. In seiner Fantasie konnte sich Oliver lebhaft ausmalen, was passierte, wenn Christian ihm begegnete?!
Er folgte ihm in das Treppenhaus. Mit einigen raschen Sätzen holte er seinen Bruder ein.
„Chris!“, rief er.
„Was?!“ Der Junge sah ihn verärgert an. „Was willst du?!“
Oliver wollte nach seiner Schulter greifen, aber Christian entzog sich ihm. Er wusste, dass sein Bruder Zeit zum Nachdenken brauchte.
„Bitte blieb hier“, sagte er leise. „Da draußen rennt so ein Irrer rum. Ich glaube nicht, dass er mit dir sanfter umgeht, als mit mir.“ Oliver wies auf seine Verletzungen.
Chris schluckte. Bislang hatte Oliver seine Begegnung mit dem blonden Mann nur grob umrissen.
„Wie kam das eigentlich alles zustande?“, fragte Chris.
Oliver wies mit der Hand zur Wohnung. „Das erzähle ich oben, in Ordnung? Weißhaupt will sicher auch mehr erfahren als das, was er sich aus meinem Gefasel von vorhin zusammenreimen kann.“
*
Dampf stieg auf, als Oliver das Nudelwasser abgoss.
Während des Kochens hatte er Weißhaupt und seinen Brüdern alles erzählt, was zwischen seinem Aufbruch aus dem Haus und dem Auffinden der Toten im Keller passiert war.
Schweigend hörten die Zwillinge zu. Sie unterbrachen ihn keine Sekunde. Weißhaupt hingegen stellte zu etlichen Punkten Fragen; insbesondere zu der Unterhaltungen mit Walter.
Er schrieb sich etliches mit und speicherte zwischen. Schließlich erhob er sich und verließ kommentarlos die Küche. Chris warf einen neugierigen Blick auf den Monitor.
„Nicht“, mahnte Oliver.
Er sah dem Beamten hinterher. Der Weißhaupt klopfte an der Wohnzimmertür. Einer der Assistenten von Herrn Roth öffnete. Sie tauschten sich kurz aus. Allerdings blieb Weißhaupt auf dem Flur stehen, während sein Kollege sich wieder zurück zog. Einen Moment lang hörte Oliver, dass es in dem Raum unruhiger wurde. Dann trat der bärtige, alte Kommissar nach draußen und schloss sehr sorgsam die Tür hinter sich. Im schwachen Licht schimmerte seine Halbglatze wie poliertes Elfenbein. Die Beamten redeten leise miteinander. Schließlich nickte Roth und folgte seinem Kollegen in die Küche.
Seine kleine, untersetzte Erscheinung stand im Gegensatz zu dem muskulös massigen Weißhaupt. Er schob seine Brille zurecht, als er sich vor den Rechner setzte und die Notizen überflog. Ehrfürchtig rutsche Michael von ihm fort. Obwohl Roth eher aussah wie ein Weihnachtsmann in Zivil, verströmte er eine Präsenz, die auch Oliver verdeutlichte, es mit einer Respektsperson zu tun zu haben. Er strich sich über seinen weißen Vollbart.
Oliver wendete sich von ihnen ab. Sorgsam räumte er Geschirr aus dem Schrank und stellte die Gewürze zurück.
Michael nahm ihm die Teller ab, um zu decken.
„Wollen Sie und Ihre Kollegen auch etwas essen?“, fragte Oliver.
Roth hob kurz den Blick. „Ja, danke“, entgegneter er abwesend.
„Markgraf deckt den Kerl, der Oliver verfolgt hat“, merkte Weißhaupt an. Roth legte die Stirn in Falten.
„Oliver?“, fragte er.
„Was ist?“ Oliver trat an den Tisch und blieb neben den beiden Kommissaren stehen.
„Warum bist Du eigentlich zu deinem Elternhaus gegangen?“
Im ersten Moment wusste Oliver keine Antwort. Ein weiteres Mal hinterfragte er sein Handeln.
„Ich will die Wahrheit wissen“, entgegnete er schließlich ernst. „Viel von den Informationen, die wir von Herrn Weißhaupt haben, waren uns neu …“ Er zögerte kurz. „Eigentlich war alles neu. Wie es aussieht, kannten wir unsere Eltern nicht wirklich.“ In seine Stimme schlich sich Bitterkeit. Roth beobachtete ihn. Oliver fühlte sich automatisch unwohl.
„Spiel bitte nicht Detektiv“, bat der Oberkommissar nach einigen Sekunden.
Oliver schluckte. Er fühlte sich ertappt. Trotzdem wollte er sich dafür nicht entschuldigen. „Dieser Kerl war im Haus unserer Eltern und hat einem anderen Mann etwas gegeben. Das nennt sich – wenn ich mich nicht irre – Einbruch.“
„Deine Beobachtung ist auch ziemlich wertvoll. Allerdings bist du ein Minderjähriger …“ Roth sah Oliver an. Er unterbrach sich.
„Schön“, entgegnete Oliver ungerührt. „Dann gehen Sie Ihrer Arbeit nach.“ Er wies auf Bernd Weißhaupt. „Offenbar ist dieser Mann seit längerer Zeit mit der Aufgabe der Überwachung unserer Mutter betraut gewesen. Weshalb also konnte es zu ihrem Tod kommen?!“
Roth und Weißhaupt tauschten undeutbare Blicke miteinander.
„Du brauchst Zeit, alles zu verarbeiten“, begann Weißhaupt beschwichtigend. „Allerdings solltest du uns die Arbeit überlassen. Wir wissen eher mit einem Verbrechen klar …“
„Ganz ehrlich?“, unterbrach Oliver den Kommissar.
Weißhaupt begegnete seinem Blick mit einiger Wut im Blick.
„Was?“, fragte er mühsam gefasst.
„Das ist mir im Augenblick egal!“, entgegnete Oliver. „Ich will nie wieder einen Menschen, den ich liebe sterben sehen, nur weil die Polizei unfähig ist!“
Er wusste, dass die Worte ungerechtfertigt waren, trotzdem konnte er die sengende Enttäuschung nicht mehr länger zurück halten. Er war bereit für Chris und Michael gegen die ganze Welt zu kämpfen. Sie bedeuteten Familie, Wärme und Liebe. In ihnen fand Oliver die einzigen Personen mit denen er seine Erinnerungen teilen konnte. Sie zu beschützen war sein einziger Wunsch.
In der Mimik des älteren Mannes spiegelte sich Ärger wieder. Trotzdem schien er mehr Verständnis für Oliver aufbringen zu können, als Weißhaupt, dem der Kragen platzte.
„Bist du wahnsinnig?!“, fauchte der Berliner, wobei er in seinen Stadtdialekt verfiel. „Du weißt nicht, wovon du redest! Ohne uns wäre keiner von euch am Leben!“
Michael, der bislang auf der Bank gesessen hatte, rutschte nervös auf der Stelle herum, er fühlte sich unwohl. Zumeist zog er sich in der Situation zurück. Allerdings gab es hier für ihn keine Fluchtmöglichkeit. Sein Blick irrte durch die Küche. Um seinen Bruder zu beruhigen, legte Oliver ihm eine Hand auf den Unterarm und machte eine knappe Kopfbewegung aus der Küche.
„Geht erst mal auf den Boden und füttert die Tiere“, sagte er leise. Der Anblick seiner Brüder machte ihm klar, wie sehr die beiden Jungen unter der Situation litten. Sie fürchteten jedes Resultat aus einem Streit.
„Warum verschwinden Micha und Chris?“, fragte Weißhaupt verwundert. Oliver schüttelte nur genervt den Kopf. „Ist das nicht klar?!“, knurrte er, während er wieder zum Herd ging, um die Teller aufzufüllen. „Nach dem letzten Streit, gab es drei Tote.“
Weißhaut seufzte. „Scheiße!“
„Bernd, sei ein wenig nachsichtiger“, bat Roth.
Die verspätete Einfühlsamkeit des Kommissars ärgerte Oliver nur noch mehr.
„Was soll nun geschehen?“, fragte er dumpf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
„Bis zur Klärung der Knochenfunde im Keller und einer Überprüfung eures Hauses werdet ihr in einem Heim untergebracht“, erklärte Roth.
„Was ist mit unserem Großvater?“ Oliver balancierte mit einigen gefüllten Tellern in seinen Armen zum Tisch zurück. Während er sie absetzte, streifte sein Blick die beiden Beamten. Leider konnte er aus dem Minenspiel beider Männer keine Informationen ziehen.
„Er steht unter Verdacht“, entgegnete Roth. „Allerdings können wir ihn ohne handfeste Beweise nicht festnehmen.“
„Dann ist das Heim zu unserem Schutz?“, fragte Oliver skeptisch.
„Ja“, antwortete Roth.
„Wir werden also auch von Beamten bewacht?“ Oliver beobachtete ihn.
„Ich habe ohnehin einen Mann da“, bestätigte der Polizist. Ob zum Schutz oder zur Überwachung, dieser Zustand gefiel Oliver gar nicht. „Was können wir tun, um zu helfen?“
„Nichts“, fuhr Weißhaupt auf. „Hast du noch nicht genug? Dein Vater sticht auf dich ein und ein Fremder versucht dich zu erwürgen! Zurzeit siehst du aus, als hättest du einen Boxkampf verloren.“
Oliver spürte, wie sich seine Kiefermuskeln spannten. In ihm kochte noch immer das verzehrende Feuer.
Trotzdem ging er nicht darauf ein. „Bekommen wir Nachricht vom aktuellsten Ermittlungsstand?“
Roth zögerte, nickte dann aber.
„Sicher.“
Oliver senkte den Kopf und seufzte. Alle Kraft wich aus ihm. Die Strapazen der vergangenen Nacht zollten ihren Tribut.
„In Ordnung. Wann sollen wir uns fertig machen?“
„In zwei Stunden werdet ihr abgeholt“, versprach der Oberkommissar.
Die drei Brüder saßen auf dem Rücksitz von Kommissar Roths BMW. Oliver beobachtete, wie sich Chris’ Finger um die Träger seines Rucksacks krampften. Er zitterte am ganzen Körper. Oliver legte seinen Arm um ihn. Behutsam zog er seinen Bruder an sich. Chris entspannte sich ein wenig. Wortlos schmiegte Oliver seine Wange in die blonden Haare, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Normalerweise hätte sich sein Bruder mit Händen und Füßen gewehrt, allerdings gehörte die aktuell angespannte Situation zu einem Ausnahmefall. Oliver zog auch Michael an sich und drückte ihn liebevoll. Sein Bruder sah zu Oliver auf und lächelte. „Uns kann nichts passieren, so lang wir zusammen sind“, sagte er leise. Für Oliver klang es nach Zwangszuversicht.
Trotzdem nickte er. „Macht euch erst mal keine Sorgen.“
‚Schrecklich, wie schal eine Lüge klingt!’, dachte Oliver bitter. Um den großen, hellen Kinderaugen nicht begegnen zu müssen, sah er hinaus.
Der Wagen stand an einer Ampel. Regen prasselte auf Dach und Motorhaube. Das Wetter verschlechterte sich drastisch. Die Welt um ihn verwusch in braugrauer Dämmerung, durch die weiße und rote Lichter flammten. Oliver spürte, wie sich die graue Weltuntergangsstimmung auf sein Gemüt nieder schlug. Er fühlte sich noch hilfloser. Die Ereignisse des Vortages und der Nacht hatte ihm bewiesen, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Nun riss er Chris und Michael mit sich.
Bleigrau, aber spiegelnd fiel die Straße unter ihnen hinweg, als Roth anfuhr. Er wurde rechts von einigen Wagen überholt. Wasserfontainen spritzte auf die Windschutzscheibe. Die Wischerblätter hinterließen in Bögen feine Spuren, die sofort von großen Tropfen fortgespült wurden.
Der BMW fuhr parallel zur Fußgängerzone. Prächtigen Altbauten fielen hinter ihnen zurück, während sie die Steigung der Schwalbacher Straße hinauf fuhren.
Zügig fuhr der Kommissar über die nächste große Kreuzung, bevor die Ampel wieder auf rot umsprang. Die Steigung nahm zu. Sie hatten die Platter Straße erreicht. Es war eine der Ausfallstrecken aus der Stadt heraus. Oliver kannte ihr Ziel vom Hörensagen: das Johannesstift war ein ehemaliges Kinder- und Jugendheim, was sich jetzt Jugendhilfezentrum nannte. Ihm fehlte jedwede Vorstellung von dem, was ihn dort erwartete. Er konnte nicht einmal sagen, ob er von seinen Brüdern getrennt wurde. Offenbar lag Christians hauptsächliche Angst darin begründet. Die Unsicherheit setzte seinen beiden Brüdern zu. Er schauderte bei dem Gedanken, sie vielleicht nicht um sich zu haben.
Allerdings brütete fern der Angst ein kleiner Teil seines Bewusstseins über einer Lösung aller Rätsel, deren Auswirkungen er nicht überblicken konnte.
Oliver brauchte Antworten, war aber nicht fähig Roth und Weißhaupt die passenden Fragen zu stellen. Spätestens der Oberkommissar würde seinen Informationsenthusiasmus sehr schnell unterbinden.
Oliver wollte alles wissen! Für ihn stand außer Frage, dass er sich seine Antworten von nun an selbst suchen würde.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Michael leise. Sein Hinterkopf lag an Olivers Schulter, während er aus dem Seitenfenster des Wagens den nachmittäglichen Verkehr beobachtete.
„Nichts Spezielles“, murmelte Oliver. „Ich versuche mich eher wieder etwas zu sammeln.“
Er folgte dem Blick seines Bruders. An dem unerträglichen Bleigrau der gesamten Welt hatte sich nichts geändert. Nur die Art der Gebäude wandelte sich in Abschnitten. Oliver kannte die Gegend leidlich gut. Sie gefiel ihm nicht. Gegenüber dem Prunk der Innenstadt nahmen die Klassizismus- und Historismusbauten ab. Zuerst wurden sie schäbiger, renovierungsbedürftiger und schließlich moderner. Hier oben in der Platter Straße mochte es durch die Bundesstraße recht laut sein, aber die Wohndichte wich zurück. Ein Park, eine Kirche und breite, von Bäumen gesäumte Straßen lockerten das Bild auf. Zwischen den Häusern aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren gab es Grünflächen und Vorgärten. Oliver sah durch Torbögen auf begrünte Innenhöfe und Wiesenstücke.
Das Flair der Vorkriegszeit … Der Nordosten der Stadt fühlte sich für ihn fremd an.
Roth fuhr langsamer. Irritiert blinzelte Oliver. Erst jetzt fasste er die vielen, etwas höheren Gebäuden, links neben sich richtig in den Blick. Offenbar waren sie am Johannesstift. Der Komplex lag gegenüber des alten Friedhofes.
Der Kommissar blinkte sich in die spitz zulaufende Torfahrt.
Hinter Olivers Schläfen erwachte ein unangenehmer Druck. Dieses Heim war nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg.
Sein Blick glitt nach Rechts. Der BMW wurde von mehreren Autos und Motorrädern überholt. Im schwachen Dämmerlicht glaubte Oliver die Gestalt des blonden Mannes hinter dem Steuer eines Kleinwagens zu erkennen. Das Gefühl elektrisierte ihn. Hecktisch richtete Oliver sich auf um besser sehen zu können. Allerdings reihte sich der Wagen bereits in die Kolonne ein, die über die Bundesstraße nach Taunusstein unterwegs waren. Vielleicht täuschte er sich und vermutete hinter jedem Mann der ihm entfernt ähnelte, seinen Gegner der letzten Nacht.
Oliver reckte sich. Das Kennzeichen konnte er nicht erkennen, aber zumindest den Fahrzeugtyp: ein Golf. ‚Was für ein Merkmal’, dachte Oliver. Frustriert sank er zurück. Insofern seine Befürchtungen stimmten, mussten sie sich also vor einem hellhaarigen, großen Mann mit einem Golf in acht nehmen. Das war eine Beschreibung die auf jeden fünften oder sechsten Mann in der Stadt passte.
„Was ist?“, fragte Chris leise. Was sollte er antworten? In der Gegenwart Roths konnte er ihn nichts erzählen. Innerlich fluchte er. „Später.“
*
Oliver packte seine Tasche nicht aus, sondern stopfte sie in den Kleiderschrank. Nachdem er die Türen verschlossen hatte, drehte er sich um. Er sah sich skeptisch in dem nichtssagenden Raum um. Das Zimmer erinnerte ihn an eine Jugendherberge. Der Ort war trostlos und einsam. Wenn er das Gefühl, was ihn ergriff, genauer umschreiben wollte, so fiel ihm nur das Wort „anonym“ ein. Hier war es weder besonders anheimelnd, noch abstoßend. Der Raum war sauber, aber nicht klinisch rein. Die Ordnung resultierte aus dem Mangel an Gegenständen. Schreibtisch, Stühle und Bett bestanden aus dem typisch nichtssagenden Hellholz, was man wahrscheinlich in allen Jugendeinrichtungen fand. Bettwäsche und Gardinen nahmen eine etwa gleichwertig austauschbare Position ein. Der Geruch nach Sagrotan und vergammeltem Obst lag in der Luft. Fast rechnete er damit, in einer Ecke oder Schublade verschimmelte Nahrungsmittel zu finden, doch dafür war es wieder zu sauber.
Vermutlich bewohnten normalerweise Kinder und Jugendliche diese Räume über eine längere Zeit und gaben ihnen ihr eigenes Gesicht. Die Einstichstellen in der weißen Raufasertapete sprachen von vielen Postern, die seine Vorgänger hier aufgehängt hatten. Oliver fühlte sich in diesem Raum fremd. Er seufzte. Wie lange würden sie hier verbringen?
Bei ihrer Ankunft erzählte die Heimleitung in knappen Worten, dass das Johannesstift kein Kinderheim mehr war, sondern eine Einrichtung für schwererziehbare Jugendliche. Hier kamen minderjährige Mütter und Kinder aus Familien mit Sozialproblemen unter. Das Stift besaß Schul- und Ausbildungseinheiten. Obwohl Oliver seine Familie auch schon vor einem Jahr als sozial schwierig definiert hätte, war ihm klar, dass sie hier völlig falsch untergebracht worden waren. Früher oder später würde sich das Jugendamt einschalten. Aus dieser Sicht konnte ihr Aufenthalt nicht von Dauer sein. Trotzdem scheute er vor der weiter führenden Schlussfolgerung zurück. Seine Chancen mit den Zwillingen zusammen bleiben zu können, sank mit jedem Moment.
Oliver schob den Gedanken von sich. Das geringe Bisschen Hoffnung wollte er sich nicht zerstören lassen!
Er trat zur Tür und schaltete das elektrische Licht aus. Diffuses Grau verdichtete die Schatten unter dem Schreibtisch und in den Ecken. Im Zwielicht nahm der Raum erträglichere Dimensionen der Neutralität an.
Stumm setzte er sich in den Bürostuhl. Die Sitzfläche erschien ihm hart und durchgesessen. Während er sich zurück lehnte, entdeckte Oliver auf dem Schreibtisch ein Zeitplan. Nachdenklich hob er den laminierten Zettel auf. In dem schwachen Licht verschwammen die Buchstaben leicht. Wirkliches Interesse hatte er daran nicht. Sein Interesse für neue Regeln schwand im gleichen Maß wie sein Wunsch, sich in keinem Fall anzupassen wuchs. Trotzdem ließ er kurz den Blick darüber gleiten und merkte sich zumindest die Zeiten der Kantine, bevor er ihn wieder auf die Tischplatte zurück warf.
Was sollte er an einem Ort wie diesem tun? Ihm war bewusst, dass diverse Ämter über sie entscheiden würden. Bis dahin konnte er nur abwarten. Er rutschte in dem Stuhl nach unten. Sein Schädel brummte. Müde rieb er sich die Schläfen.
Was brachte es, hier herum zu hocken und zu grübeln? Seine Gedanken drehten sich seit einer Weile nur im Kreis.
Mit einer angestrengten Bewegung stemmte Oliver sich hoch. Er wollte nach seinen Brüdern sehen. Wenn sie sich unterhielten, ergaben sich vielleicht neue Perspektiven.
*
Als Oliver sein Zimmer verließ, standen einige Jungen in seinem Alter auf dem Flur, nah seiner Tür. Bis zu diesem Moment schienen sie noch miteinander diskutiert zu haben, doch sein unvermitteltes Erscheinen brachte sie zum schweigen. Neugierige, aber auch abschätzende Blicke trafen Oliver. Ihm fiel auf, dass sie alle sehr locker gekleidet waren. Die meisten trugen Baggy Pants und T-Shirts. Nur ein junger Mann fiel Oliver besonders auf. Er war mit großem Abstand der Älteste. Oliver schätzte ihn auf mindestens achtzehn ein. Allerdings wirkte sein hageres, kühnes Gesicht weitaus älter. Möglicherweise war er bereits über zwanzig. Er überragte Oliver um einen halben Kopf. Wahrscheinlich maß er über einen Meter neunzig. Seine wirren, langen Haare hingen in giftgrünen und signalroten Strähnen in Stirn und Nacken. Er trug enge Jeans, die mit Buttons und Sicherheitsnadeln verziert waren. Ein Kettengürtel hing in einer Schlaufe. Dank der Tatsache, dass er kein Hemd trug, präsentierte er seinen muskulösen Oberkörper und die sehnigen, tätowierten Arme.
Oliver rechnete fast automatisch mit einem verbalen Angriff von ihm. Aber der Punk lächelte nur freundlich.
Für einige Sekunden blieb Oliver stehen und begegnete den Blicken der Jungen. Schließlich löste er sich von der Tür und trat ihnen entgegen. Verwirrt stellte er fest, dass der große, muskulöse Junge nicht ihr Wortführer war. Er hielt sich eher im Hintergrund, während ein brünetter Junge nach vorne trat. Obwohl er kleiner war, schätzte Oliver ihn auf vielleicht ein oder zwei Jahre älter ein. Herausfordernd baute der Junge sich vor ihm auf. Während er die Arme vor der Brust verschränkte, reckte er den Kopf, um größer zu erscheinen. Er roch nach Zigaretten und billigem Deo. In seinen Haaren und am Rand seiner Wangen befanden sich kleine Spritzer von weißer Wandfarbe. Offenbar hatte sich nicht alles davon abwaschen lassen. Seine Wangen und sein Kinn waren noch von der Rasur gerötet. Oliver vermutete, dass der Junge gerade erst aus dem Bad gekommen sein musste. Wahrscheinlich gehörte sein Gegenüber zu den Lehrwerkstätten im Stift.
„Du bist Oliver Hoffmann, oder?“, fragte der Junge. Seine Stimme klang rau und dumpf. Der Geruch nach Tabak nahm Oliver den Atem. Er nickte. Nachdenklich beobachtete er die Mimik des Jungen. Entschlossenheit lag in seinem Blick. Er schien gewohnt zu sein, dass alle nach seiner Pfeife tanzten. Oliver beschloss für sich, nicht darauf einzusteigen. Er fing den Blick seines Gegenübers ein. Die hellen Augen verengten sich zu schlitzen.
„Noch ein Freak hier“, kommentierte er Olivers Äußeres.
„Das kann dir egal sein“, entgegnete Oliver ruhig. „Ich will nichts von dir.“
Der Junge legte die Stirn in Falten. Er räusperte sich. Mit einem Blick in die Runde versicherte er sich die Unterstützung seiner Freunde. Oliver empfand die Anzahl der Jungen als beunruhigend. Es waren viele fremde Gesichter und unterschiedliche Menschentypen. Allerdings vertraute er auch auf seine Selbstsicherheit. Er schob die Hände in die Hosentaschen.
„Wer seid ihr?“, fragte Oliver ruhig.
Der Junge zog die Brauen zusammen. Offensichtlich missfiel ihm die direkte Art. Nachdenklich musterte er Oliver. Sein Blick strich ein weiteres Mal auf und ab. Offenbar überlegte er sich eine neue Taktik, mit der er beeindruckender wirkte. Schließlich entspannte er sich.
„Ich heiße Kai.“ Freundlich klang er nicht, fand Oliver. „Ich habe das Zimmer neben dir“, fügte Kai mit erhobenem Tonfall hinzu. Offenbar war es etwas Besonderes neben ihm zu wohnen, überlegte Oliver spöttisch. Bevor er seine Gedanken in Worte fasste, biss er sich auf die Zunge. Wie ratsam war es, gleich am ersten Tag in Probleme zu schliddern? Andererseits: wie lang würden er und seine Brüder an diesem Ort bleiben?
Oliver beschloss, sich zurückzuhalten. Er nickte lediglich. Sein Blick löste sich von Kai. Er betrachtete die anderen eingehender. Trotz der anfänglichen Neugier der Jungen, verschlossen sich die Minen. Oliver hob die Schultern, er hatte weder Lust noch Zeit, sich diese Idioten anzutun! Es lief ohnehin nur darauf hinaus, wer das Ruder in der Hand hielt.
Zumindest trat keiner von ihnen zur Seite. Oliver warf seinem neuen Nachbar einen geringschätzigen Blick zu. Langsame nervte ihn die Situation. Oliver änderte sein Konzept.
„Schön Kai, dann pfeif’ mal dein Gefolge zusammen. Ich will nicht auf dem Gang stehen bleiben.“
Kais Kiefer mahlten. Oliver wusste dass er den Bogen überspannt hatte. Allerdings schätzte er den Jungen nicht so ein, dass er sein Gesicht riskieren und jetzt einen wilden Aufstand proben würde. Dazu war Kai zu klug; zumindest schätzte Oliver ihn so ein.
Nach einigen Sekunden entspannte sich der Junge und lächelte Oliver an. Die Wut schimmerte heiß in seinen Augen.
„Danke“, entgegnete Oliver. Er konnte sich eine weitere Spitze nicht verkneifen. „Ich kann ja bei dir klopfen, wenn ich mit irgendetwas nicht klar komme“, sagte er, während er sich an Kai vorbei schob und durch die Gruppe drängte.
„Du bist nicht wirklich in der Lage einen auf dicke Hose zu machen“, zischte ein anderer Junge. „Ansonsten wärst du nicht hier.“
Oliver wendete sich zu ihm um. Er war einer jener Menschen, deren Gesicht in der Masse unterging. Seine Erscheinung drückte seine Mittelmäßigkeit aus: weder sonderlich groß, noch übermäßig klein, nicht dick, aber auch nicht athletisch oder dünn. Möglicherweise war der Junge sonst sehr nett, aber Oliver hatte seinen Anführer, das Alphamännchen der Gruppe, angegriffen. Trotzdem war ihm bewusst, dass dieser Junge mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Mit Ironie in der Stimme versuchte Oliver seine Worte abzuwehren.
„Richtig“, antwortete er. „Danke dass du mich daran erinnerst.“
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte der Punk unvermittelt. Seine raue, tiefe Stimme war die eines Mannes, der viel rauchte und schon eine Weile kein Kind mehr war. Oliver musterte ihn erneut. Vielleicht war er einer der Sozialpädagogen in der Einrichtung. Das Lächeln auf den Lippen des Punks war ehrlich. Es erreichte seine Augen. Sympathie für diesen jungen Mann erwachte in Oliver. Trotzdem wollte er sich von ihm und den anderen fern halten.
„Das ist nur übergangsweise“, antwortete er ausweichend.
„Klar!“, lachte der Punk. „Ist es bei allen.“
Oliver sah ihn verwirrt an. Plötzlich begriff er. Natürlich hatte der Punk recht! Die Frage war nur, wie sich der Zeitraum von „übergangsweise“ für den Einzelnen definierte.
Ohne es zu wollen, antwortete Oliver auf seine Frage. „Das Jugendamt muss erst über meine Brüder und mich entscheiden“, erklärte er dumpf. Er verschwieg, dass vieles von seinem Großvater und den polizeilichen Ermittlungen abhing.
Der Punk zog die Brauen zusammen, als würde er überlegen. „Du bist doch der aus der Zeitung“, sagte er. Etwas in Stimme und Haltung verriet Oliver, dass der Punk log. Misstrauen erwachte in ihm. „In der Bild habe ich ein Foto von dir gesehen“, fügte der Punk hinzu. Oliver erschrak. Bislang war ihm gar nicht bewusst gewesen, welche Kreise die Morde gezogen haben musste. ‚Logisch!’, dachte er. Schließlich kannten sie seinen Namen.
„Ja, bin ich …“ Oliver sah ihn – wie er hoffte – ärgerlich an. Lächelnd betrachtete ihn der Punk. Er ignorierte einfach Olivers düstere, drohende Art weg. Dieser Mann irritierte ihn. „Und weiter?“, fauchte Oliver.
Sein Gegenüber reagierte nicht wie erwartet aggressiv oder ausweichend. Er blieb einfach nur stehen und grinste debil.
„Lässt du mich vorbei?!“, fragte Oliver gereizt.
„Klar.“ Der junge Mann trat beiseite und gab Oliver den weg aus der Gruppe frei.
Wortlos ging Oliver den Flur bis zu den Treppen durch. Er spürte die Blicke der anderen Jungen im Rücken. Allerdings ließ er sich davon nicht nervös machen.
Auf den Stufen hörte er rasche Schritte hinter sich. Seine Hand legte sich fester um den Handlauf. Er rechnete damit einen Stoß in den Rücken zu bekommen. Passieren konnte nicht viel. Er würde lediglich die Treppe hinauf stolpern.
Allerdings blieb der Aufprall aus. Neben ihm schloss der erwachsene Punk auf.
„Ich bin Schnodder.“ Oliver blieb stehen und zog fragend die Brauen zusammen. Er wusste, dass die meisten Punks irgendwelche Spitznamen verwendeten, die sich auf Erlebnisse und persönliche Eigenarten bezogen. Schnodder mochte bei dem Punk vielleicht hinhauen, aber Oliver würde ihn wohl nie so ansprechen wollen. Der Mann erwiderte seinen Blick unverständig. Doch offenbar ging ihm plötzlich ein Licht auf. „Daniel Kuhn“, fügte er hinzu.
Oliver nickte. „Hast du auch ein Zimmer neben meinem?“, fragte er ironisch. Daniel schüttelte den Kopf. „Nee.“
Langsam ging Oliver die Treppe hinauf. Er wollte sehen, was Daniel von ihm wollte. Tatsächlich folgte der junge Mann ihm.
„Du bist einer von den Straßenpunks aus der Stadt?“, fragte Oliver. Seine Vermutung basierte auf den Beobachtungen, die er an Daniel gemacht hatte. Offenbar verbrachte der Punk viel Zeit draußen. Seine Haut war sonnenverbrannt, ledrig und vernarbt. Oliver nahm an, dass etliche von Schlägereien und Messerstechereien stammten. Seine Nägel waren kurz geschnitten, allerdings hatten sich Schmutz und Nikotin in seine Fingerspitzen gefressen, dass auch ein Vollbad nichts ausrichten würde. Offenbar investierte Daniel sein Geld generell eher in Zigarette und Bier. Oliver fiel auf, dass die Farbe in seinem verstrubbelten Haar an einigen Stellen stark ausgeblichen war. Die Ansätze wuchsen dunkel nach.
„Klar, wenn ich nicht irgendwo unter komme“, lachte Daniel. Es klang ehrlich. Oliver misstraute ihm trotzdem.
Der Punk schien prinzipiell gegen keinen Menschen etwas zu haben. Möglicherweise kiffte er auch. In einer solchen Stimmung sah die Welt sicher ständig rosarot aus. Allerdings waren Daniels Augen hellwach und klar. Wenn er ein Junkie war, bemerkte Oliver nichts davon. Dieser Punk war seltsam, aber auch sehr angenehm. Daniels Art erreichte Oliver. Ihm gefiel die Offenheit des Punks. Er verströmte menschliche Wärme. Oliver musste über seine neuste Errungenschaft grinsen.
„Sag’ mal, bist du nun mein Gefolge, mein Leibwächter oder mein Schoßhund?“, fragte er.
Daniel zuckte mit den Schultern. „Was hältst du davon, wenn ich erst mal ich bin?“, fragte er. In seiner Stimme lag Ernsthaftigkeit. Eine ähnliche Antwort hatte Oliver bereits erwartet. „Ist okay.“
*
Daniel blieb an Olivers Seite, bis er an der Tür seiner Brüder klopfte. Michael öffnete. Der Anblick des großen Punks verunsicherte ihn.
„Das ist Daniel“, erklärte Oliver. Michael zögerte dennoch, die Tür weiter zu öffnen.
„Hey, ich mag Kinder, aber ich schaff kein ganzes.“, kommentierte Daniel spöttisch. Oliver warf ihm einen strafenden Blick zu. Er fand diesen Witz nicht lustig.
„Wo hast du den denn aufgetrieben?“, fragte Michael, trat aber von der Tür zurück um Oliver und Daniel einzulassen.
„Offenbar ist Daniel der einzig umgängliche Mensch auf dem gesamten unteren Flur“, entgegnete er.
Michael beobachtete Daniel skeptisch. Oliver ignorierte den Blick. Neugierig sah er sich in dem Raum um. Das Zimmer glich seinem, nur dass sich hier zwei Betten befanden. Christian lag in einem davon, die Decken über den Kopf gezogen.
„Was ist denn mit Chris los?“, fragte Oliver besorgt.
„Er will hier weg und nach Hause“, murmelte Michael tonlos.
Oliver hörte aus seiner Stimme heraus, wie schwer Michael die aktuelle Situation nahm. Allerdings würde sein Bruder es nicht zeigen, schon um Christians Willen. Liebevoll strich er Michael über die Wange und legte seinen Arm um dessen Schultern. Sein kleiner Bruder drückte sich eng an ihn.
Schließlich löste Oliver sich und trat zum Bett. Er kniete davor nieder. Behutsam zog er die Decke zurück. Chris lag mit dem Gesicht zur Wand. Sein gesamter Körper bebte. Vermutlich weinte er.
Sachte streichelte Oliver über den Nacken seines Bruders. „Wir kommen hier raus, werden zusammen bleiben und wieder ein Zuhause haben“, versprach er. Seine Stimme zitterte leicht. Die Stärke, die er sich vermitteln wollte, blieb aus. Chris schwieg. Reglos blieb er liegen. Oliver beschloss, abzuwarten um zu signalisieren, dass er da war. Still kraulte er Chris weiter.
„Was ist denn eigentlich passiert?“, fragte Daniel. Seine ernsten, klaren Worte klangen übermäßig laut im Raum. Oliver sah über die Schulter. Der Punk lehnte am Schreibtisch, die Beine übereinander geschlagen und die Hände in den Hosentaschen.
„Was stand in den Zeitungen?“, fragte Oliver widerwillig. Eigentlich wollte er nicht darüber reden.
„Na ja, das mit dem Mord“, entgegnete Daniel.
Olivers Blick glitt zu Michael. Er setzte sich neben Chris auf die Bettkante.
„Warum interessiert dich das?“, erkundigte sich Oliver. Seine Stimme klang brüsk. Daniel stieg nicht darauf ein. Er blieb sachlich ruhig. „Weil ich neugierig bin“, antwortete er ehrlich. Nachdenklich atmete Oliver durch. Es lag ihm fern all das zu erzählen, was passiert war. Er kannte Daniel nicht. Trotzdem las er Interesse und Anteilnahme in den Augen des Punks.
„Also gut …“
*
Obwohl Oliver alle Punkte nur vage umriss, schien Daniel sich damit zufrieden zu geben. Manchmal stellte er definierte Zwischenfragen, beschränkte sich aber zumeist auf das Zuhören. Das Bild des schnodderigen Punks wich einem ganz anderen. Daniel war aufmerksam und beobachtete genau, während er zuhörte. Scheinbar nahm er Olivers Eindrücke auf und verband sie mit der Stimmung, die aus den Worten mitschwang. Spannung lag in seiner Haltung. Oliver nahm die Eindrücke mit Verwunderung auf. Daniels Verhalten, hätte er eigentlich eher bei Roth und Weißhaupt erwartet.
Während Oliver sprach, überlegte er, doch noch einmal zu seinem Elternhaus zu gehen. Vielleicht gab es dort keine Hinweise oder Unterlagen, die ihn auf die richtige Spur brachten. Möglicherweise lag bereits alles Polizei und Gericht vor. Aber der fremde Einbrecher hatte etwas aus dem Haus mitgenommen und weiter gegeben. Möglicherweise gab es doch noch Details, die die Polizei übersehen hatte. Einen Versuch war es wert.
Davon abgesehen wollte er sich auch in der Wohnung Walters gründlicher umsehen. Ihn ließ der Gedanke nicht los, dass die Gebeine in dem Kellergewölbe etwas mit dem Tod seiner Familie zu tun haben konnten. Wenn er dafür Beweise fand, gab es vielleicht eine Lösung für das Rätsel. Während seiner Erzählungen verfing er sich in diesem Gedanken. Er unterbrach sich. Konzentrieren konnte er sich ohnehin nicht mehr auf die einzelnen Details.
„Daniel?“, fragte Oliver. Der Punk sah ihn an. „Gibt es eine Möglichkeit das Gebäude zu verlassen und wieder zu betreten, ohne dass es jemand mitbekommt?“
Daniel wiegte unsicher den Kopf. „Schon …“ Er richtete sich auf. Seine Augen verengten sich misstrauisch. „Was hast du vor?“, fragte er.
„Sich wieder in Gefahr bringen!“, zischte Michael ärgerlich.
Daniel legte den Kopf schief. „In Gefahr bringen?“, wiederholte er. „Was meinst du damit?“
Oliver warf seinem Bruder einen beschwörenden Blick zu, den Michael allerdings ignorierte.
„Er ist schon zwei Mal von dem gleichen Mann angegriffen worden“, antwortete Michael. „Sieh dir sein Gesicht und seinen Hals mal an. Total zusammengehauen.“
Daniel hob die Brauen. „Bist wohl ein ziemlicher Draufgänger“, scherzte er. Allerdings klangen die Worte fremd. Daniels besorgter Blick strich über Olivers Gesicht. Offenbar zog der Punk eigene Schlüsse.
Ärgerlich zog Oliver die Brauen zusammen. Ihn nervte die lose Art nichts ernst zu nehmen ganz gewaltig.
„Nein verdammt, und es ist auch nicht lustig!“, zischte er.
„Aber du bist unbelehrbar und machst einfach mal weiter“, ergänzte Daniel.
Ärgerlich wendete Oliver sich von ihm ab.
„Mag sein“, gab er schließlich zu. „Aber ich lasse nicht zu, dass irgendwelche Irren in meiner Familie dafür sorgen, dass mir Chris und Micha weggenommen werden!“
Mühsam rollte sich Christian herum und sah Oliver aus verweinten Augen an. Er legte seine Arme um Olivers Taille. Stumm zog er sich an seinen großen Bruder. Die Kraft, mit der sich Christian an ihm fest hielt, raubte Oliver fast den Atem.
„Lass mich leben!“, keuchte er. Chris lockerte seinen Griff etwas.
„Ich verstehe“, sagte Daniel gefasst.
Überrascht sah Oliver ihn an.
Der Punk wirkte wieder vollkommen gefasst. Aus seinen Augen wich auch das letzte bisschen Humor.
Er setzte sich hinter Oliver auf die Bettkante und legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Ich helfe dir und deinen Brüdern.“
*
Die Luft kühlte durch den Regen merklich ab. Wind drang durch Olivers dünne Jacke. Fröstelnd rieb er sich über die Oberarme. Der Rauch seiner Zigarette zuckte von seinen Lippen auf.
„Kalt?“, fragte Daniel, der dicht neben ihm ging.
Oliver nickte stumm.
„Ich kann dir meine Jacke geben und du gibst mir deine“, schlug Daniel vor.
„Lass gut sein“, murmeltet Oliver undeutlich. Er hatte keine Lust, sich in den paar Sekunden des Wechsels alles abzufrieren. Wie Daniel trug er nur ein T-Shirt unter seiner Kapuzenjacke.
„Dummkopf“, tadelte Daniel ihn, drängte sich Oliver aber nicht mehr weiter auf.
Der Wind pfiff empfindlich kalt zwischen den Kindergärten und der Rückseite der Diltey-Schule. Durch den schmalen Weg, die engstehenden Bäume und Hauswände entstand ein Windkanal. Oliver kam es so vor, als seien die Temperaturen bereits nahe Null grad.
Rauch trieb in seine Augen. Oliver blinzelte die Tränen weg. Wortlos zog Daniel seine abgewetzte, ausgeblichene Lederjacke aus und legte sie Oliver über die Schultern. „Daniel du …“
„Schon okay“, lächelte der Punk.
„Danke“, murmelte Oliver.
Obwohl er ihm vor wenigen Stunden noch misstraut hatte, fühlte er sich jetzt in Daniels Nähe sicher.
Nachdenklich musterte er den Punk, der mit hochgezogenen Schultern und in den Hosentaschen vergrabenen Händen neben ihm ging. Daniel rückte merklich näher. Er suchte Olivers Wärme. Trotzdem machte es nicht den Anschein, als würde er seine Jacke zurücknehmen wollen.
‚Was für ein eigenartiger Mensch’, dachte Oliver. In den vergangenen Wochen wurden alle Menschen, die ihm begegneten, zu Schatten, die sein Leben nur noch streiften. Wahrscheinlich verhielt es sich mit Daniel nicht anders. Ein Verlustgefühl begleitete den Gedanken. Oliver wollte Daniels Freundschaft. Aus irgendeinem Grund mochte er den jungen Mann. Er war bereit, ihm einen Weg in seinen Leben zu öffnen.
Oliver verstand sich selbst nicht mehr! Bisher igelte er sich ein und wehrte jeden, der mit Fragen in ihn drang, ab. Daniel wollte er sich anvertrauen. Verband sie das Außenseiterdasein so sehr? Möglicherweise lag es daran, dass der Punk zwar älter war, aber nur wenige Jahre. Er verstand und war zugleich der Ältere, der Oliver vorbehaltlos Rückendeckung gab. Daniel ließ sich nichts befehlen, er wollte auch nicht gebeten werden, etwas zu tun. Seine Entscheidungen traf er frei aus einem Gefühl heraus. Die rebellische Einstellung mochte Oliver. Verwirrt stellte er fest, dass ihm Daniels Sympathie und Freundschaft wichtig war. Diesen Mensch wollte er nicht wieder aus seinem Leben verschwinden sehen.
Hinter der Schule neigte sich der Weg hinab zur Naumann-Straße. Hier war es klug, vorsichtiger zu sein. Er ging nicht davon aus, dass einer der Nachbarn gegen Mitternacht unterwegs war. Trotzdem wollte er kein Risiko eingehen.
Für einen Moment verharrte er an der Ecke eines betonumfriedeten Gartens und spähte die Straße hinauf. Daniel ging ein paar Schritte weiter, blieb dann aber stehen. Nicht einmal ein Wagen fuhr um diese Zeit in der Woche hier durch.
Oliver entspannte sich. Er sog an seiner Zigarette. Die Spitze glühte rot auf. Während er den Rauch ausstieß, warf er den Stummel weg und trat ihn aus. Seine Nervosität nahm automatisch zu.
„Du hast echt nett gewohnt“, murmelte Daniel, während er sich die ausladenden Grundstücke mit ihren Ein- und Mehrfamilienhäusern betrachtete. „Anhand der Artikel habe ich mir so etwas schon gedacht.“
Oliver seufzte. „Kapitalist, schon klar“, knurrte er verhalten. Daniel ging gar nicht auf seine Worte ein. „Du passt mit deiner Art und deinem Aussehen nicht in diese Gegend.“
Oliver schloss zu ihm auf.
„Ach, wirklich?“, fragte er zweifelnd.
Daniel zuckte mit den Schultern. „Zusammenfassend würde ich sagen, dass du eigensinnig, stur, sensibel und ziemlich elitär bist.“ Oliver beobachtete Daniel aus dem Augenwinkel. Die Einschätzung des Punks stimmte erschreckend gut.
„Und du meinst, dass das nicht in die Gegend passt?“, fragte er zweifelnd.
„Hier wohnen Spießer und Ja-Sager in Anzug und Markenklamotten“, erklärte Daniel. Um seine Theorie zu bekräftigen wies er auf Oliver. „Du hast hüftlanges Haar, Ohrringe, läufst in alten, durchgescheuerten Cargo Pants herum und trägst grellbunte Batikshirts …“, er zögerte kurz. Es war eine rhetorische Phrase. „Nein“, sagte er schließlich betont. „Du bist nicht, was ich hier erwarten würde.“
„Erweitere deinen Horizont und nimm es hin“, konterte Oliver leicht spöttisch. Er beschleunigte seinen Schritt.
Nach einer knappen Minute bogen sie in die Einfahrt seines Elternhauses ein. Oliver warf einen Blick auf seine Uhr. Die Zeit zwischen Mitternacht und den ersten Frühaufstehern um vier reichte hoffentlich, um nach Informationen zu suchen.
Er zog den Haustürschlüssel heraus. Oliver huschte die Stufen der Eingangstür hinauf und tastete mit den Fingerspitzen über den Rahmen. Ein winziges Stück oberhalb des Schlosses fühlte er eine Art Aufkleber, der sich bis zum Rahmen spannte. Oliver zog die Brauen zusammen. Ein weiteres Mal tastete er über den Aufkleber. Daniel ließ sein Feuerzeug aufflammen.
„Das ist ein Polizeisiegel“, erklärte er.
„Verdammt“, flüsterte Oliver. Eigentlich hatte er mit etwas Derartigem gerechnet. Insbesondere nach der letzten Nacht mussten die Kollegen von Herrn Roth hier gewesen sein.
„Gibt es einen anderen Weg hinein?“, fragte Daniel gedämpft.
Oliver kniff die Augen zusammen. Wenn der Einbrecher über die Terrasse kam, gab es vielleicht einen Trick, die Tür aufzuhebeln. Leider kannte er ihn nicht. Möglicherweise besaß der Dieb auch die passenden Werkzeuge.
Er wies zum Vorgarten. „Der Kerl ist über die Veranda aus dem Haus gekommen.“
Daniel nickte knapp. „Sehen wir nach“, schlug er vor.
*
Oliver ging die lange Fensterfront mehrfach ab. So weit es das schwache Licht der Straßenbeleuchtung zuließ, achtete er auf Spalten, lose Fugen und defekte Angeln. Allerdings fand er nichts. Alles schien dicht verschlossen zu sein. Lediglich der dunkle Handabdruck eines Menschen zog sich über die Zentralscheibe hinab. Es war das geronnene Blut seiner Mutter. Olivers Herz zog sich zusammen. Niemand hatte sich innerhalb dieser ganzen Monate die Mühe gemacht, das Haus zu reinigen? Ihm wurde schlecht. Seine Knie bebten. Er spürte, wie ihm heiß und kalt wurde.
„Alles okay?“, fragte Daniel besorgt.
Oliver schwieg. Er konnte nicht antworten. Daniel legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Das ist im Moment zu viel für dich“, flüsterte er.
Oliver nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
„Egal“, murmelte er. Etwas in ihm gefror. Seine Gefühle sanken zurück in diffuse Schwärze. „Bis heute hat mich nahezu jeder belogen, Daniel. Ich will mir nun selbst Klarheit verschaffen. Hier läuft etwas, das auch der Polizei entgeht!“
Der Punk betrachtete ihn eingehend. Seine Züge nahmen wieder diesen ungewohnten Ernst an.
„Über den Garagen ist ein Fenster gekippt“, erklärte er ruhig. „Kommst du da rein, wenn ich dir helfe, hoch zu klettern?“
Oliver nickte. Das Zimmerfenster von Michael stand also immer noch ein Stück weit offen!
„Mit Sicherheit.“
*
Olivers Zuversicht sank, als er vor dem Fenster auf dem Garagendach kniete. Wasser stand auf der moosüberwucherten Dachpappe. Der Belag knackte immer wieder leicht unter seinem Gewicht. Oliver war kein Leichtgewicht wie seine Brüder. Durch die Jahre im Boxverein und seine Pubertät war er so groß und schwer wie ein ausgewachsener Mann.
Behutsam verlagerte er sein Gewicht und kroch näher an die Scheibe heran. Er kam sicher hinein. Das beängstigte ihn nicht. Aber was erwartete ihn in diesem Geisterhaus?
Unter sich sah er Daniel im Schatten stehen. Der Punk ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Oliver wendete sich dem Fenster zu. Er griff durch den Spalt und tastete, bis er den Hebel unter seinen Fingern spürte. Das Metall war eiskalt. Von innen entstand ein kalter Zug. Der Wind musste das Haus ausgekühlt haben. Langsam drehte er den Griff. Das Fenster klinkte sich aus seinem Schloss. In einer einzigen Angel schwang es nach innen.
Oliver zögerte einen Moment, bevor er sich in die Schatten gleiten ließ.
*
Die Mauern atmeten Kälte aus. Feuchtigkeit schien sich in die Wände gesetzt zu haben. Oliver kamen die Schatten zwischen den ihm vertrauten Möbeln dunkler vor. Etwas schien hier auf ihn zu lauern. Wahrscheinlich lag es nur an dem Wissen, über den gewaltsamen Tod von drei Menschen. Diese Erklärung dämpfte Olivers Ängste nicht im Mindesten. Das Haus war fremd und böse. Jetzt verstand er die Bedeutung dieser Worte, die er so oft in Büchern gelesen hatte.
Der Geruch nach Feuchtigkeit, der sich über alles gelegt hatte, manifestierte sich in seiner Fantasie zu etwas unvorstellbarem: einem Übergang in das Totenreich.
Oliver schloss die Augen. Diese Gedanken halfen ihm in keiner Weise! Seine Kiefer mahlten. Er versuchte, an etwas anderes zu denken.
Daniel wartete, dass Oliver ihn ein ließ … Er musste die Terrassentüren öffnen!
Am Rande seines Sichtfeldes bemerkte er eine Bewegung. Eisiger Schrecken fuhr ihm durch die Glieder. Vielleicht war er nicht allein?! Olivers Herz setzte einen Moment aus, bevor es umso heftiger weiter schlug. Panisch sah er sich um. Kurzzeitig dachte er daran, sofort umzukehren. Alles drängte ihn zur Flucht.
Er sah sich um. Noch immer bewegte sich die Zimmertür leicht. Seine Angst fühlte sich erstickend real an. War der Fremde hier? Oliver ballte die Fäuste. Seine sensibilisierten Sinne nahmen das Knarren von Holz wahr. Ging nicht jemand unten über die Fliesen?!
Oliver atmete tief durch. Er dürfte sich nicht so gehen lassen! Einige Male atmete er tief ein und aus. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam. Schließlich glaubte er, sich weit genug im Griff zu haben, um nicht vor der leisesten Bewegung zurück zu schrecken. Trotzdem blieb er in Alarmbereitschaft: ständig auf einen Angriff gefasst.
Oliver wagte nicht, das Kinderzimmer von Elli und Marc zu betreten. Aus irgendeinem Grund war er sicher, dass dort die Geister seiner beiden kleinen Geschwister auf ihn lauerten. Angst und Schuldgefühle rannen ineinander. Oliver fühlte sich schäbig. Er lebte, aber Elli und Marc waren tot.
Für ihn warteten sie in der Dunkelheit auf ihn, hinter den Spiegeln und in den schattigen Ecken. Immer wieder huschte etwas am Rand seines Bewusstseins. Aus den Augenwinkeln sah er Bewegungen und glaubte kleine Kindergestalten wahr zu nehmen. Türen knarrten leise. Olivers Blut gefror in seinen Adern. Diese Art der Angst kannte er nur aus seiner Kindheit. Rasch schritt er aus. Plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen etwas Schweres, Weiches! Sein Herz setzte aus. Strom schien durch seine Nerven zu rasen. Er spürte, wie sich die feinen Härchen auf seinen Armen aufrichteten! ‚Was ist das?!’, zuckte es durch seinen Kopf. Er war nicht bereit, es herauszufinden! Mit einem Satz sprang er darüber hinweg und rannte die Treppe hinab.
Erst als er den Flur im Erdgeschoss erreichte, beruhigte er sich wieder etwas. Vorsichtig sah er sich um.
Die nicht entfernten Markierungen der Spurensicherung konnte er auf den weißen Fliesen schwach ausmachen. Er erkannte das zersprungene Glas der Wohnzimmertür und die blutigen Abdrücke der Stiefel, die sein Vater in jener Nacht getragen hatte. Der Mord an seiner Mutter …
Einige Sekunden starrte er hinab. Er erinnerte sich noch genau an die Jagd. Schwäche kroch durch seinen Körper. Seine Knie bebten wieder. Übelkeit ließ ihn schwindeln.
Oliver biss die Zähne aufeinander. Das alles war zu viel für ihn. Er fühlte sich elend. Schlimmer … er musste diesen Spuren ins Wohnzimmer folgen, bis zu der Stelle, an der sein Vater sie getötet hatte.
Grauen und Widerwillen mischte sich in seine Angst. Langsam folgte er den Spuren. Als er das Wohnzimmer betrat, knirschte Glas unter den Sohlen seiner Turnschuhe.
Bei dem Geräusch rannen ihm eisige Schauer über den Rücken. Die Narben spannten. Er glaubte, den verletzten Arm nicht mehr bewegen zu können. Obwohl Oliver wusste, dass es nur Einbildung war, konnte er die Phantomschmerzen kaum abschütteln.
Er richtete den Blick zu der Terrassentür. Daniels Silhouette zeichnete sich hinter den Vorhängen ab. Leben! Es gab außer Oliver noch andere Lebewesen hier!
Rasch durchquerte er das Wohnzimmer. Als er den Sicherungsgriff umlegte, drückte Daniel bereits mit der Schulter gegen das schwere Glas. Die Tür glitt auf.
„Was hat denn so lang gedauert?“, fragte er leise. Seine Zähne schlugen vor Kälte aufeinander. Oliver antwortete dem Punk nicht. Rasch zog er die Lederjacke aus und reichte sie Daniel zurück. Der Punk legte sie sich über und verschloss die Tür.
Mit zitternden Fingern strich Oliver sein Haar aus der Stirn. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Haut von einem klebrigen Schweißfilm bedeckt war. Daniel sah ihn an. In seinem Gesicht zuckte ein Muskel. Er wirkte nervös.
„Wo sollen wir anfangen?“
Bislang wollte Oliver nur in das Haus. Er hatte sich darüber gar keine Gedanken gemacht, wie er weiter vorgehen wollte. Ihm war nicht einmal klar, wonach er suchte.
„Wahrscheinlich wäre es am klügsten, im Büro meines Vaters anzufangen“, sagte er unsicher.
„Meinst du nicht, dass die Bulle alles mitgeschleppt haben, was sie für wichtig gehalten haben?“, warf Daniel vorsichtig ein.
„Vermutlich hast du recht“, stimmte Oliver zu. „Allerdings gibt es vielleicht ein paar Dinge, die sie nicht für wichtig gehalten haben.“
Daniel trat näher zu ihm. Oliver wich nicht aus.
„Wenn du mir sagst, auf was ich achten soll, kann ich Dir vielleicht auch helfen.“
*
Oliver wagte nicht das Licht einzuschalten. Er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt noch funktionierte. Wahrscheinlich hatten die Stadtwerke den Strom abgestellt. Trotzdem erkannte er gleich, dass der PC seines Vaters, seine Notebooks und diverse seiner Speichermedien in dem geräumigen Büro fehlten. Trotzdem ging er zu dem gläsernen Schreibtisch. Unter der schweren Platte stand ein metallener Container. Oliver zog die Laden auf. Sie waren – bis auf einige Stifte, Lineale und einen Taschenrechner leer. Ärgerlich knirschte er mit den Zähnen.
„Daniel, schau bitte in den Wandschränken nach“, bat er.
Der Punk nickte knapp, schüttelte aber gleich nach dem ersten Blick hinter die weiß furnierten Türen den Kopf.
„Nur ein paar Bücher.“ Daniel entnahm eines und hielt es Oliver hin. Den dicken Band kannte er. Er gehörte zu einer Sammlung aktueller und veralteter HOAIs.
„Das ist die Honorarordnung für Ingenieure und Architekten. Vergiss es, Daniel. Seine Baubücher sind uninteressant für uns.“
Der Punk hob eine Braue. „Wofür braucht man das?“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Buch.
„Gehaltskalkulation“, antwortete Oliver. „Damit konnte mein Vater Rechnungen stellen.“
Daniel hob eine Braue. „Wie viel verdient man als Ingenieur?“
Oliver zuckte mit den Schultern. „Wir waren jedenfalls nie arm.“
Daniel lachte trocken. „Im Gegensatz zu mir“, spöttelte er.
Schuldbewusst sah Oliver ihn an. „Sorry, das war nicht okay von mir.“
„Ich habe alles was ich brauche und was mir gefällt, Olli, mach dir also um mich keine Gedanken.“ Daniel schob das Buch zurück. „Was hoffst du eigentlich hier zu finden?“
„Unterlagen, Schriftstücken, Briefe, Karten, Anwaltsbriefe, und Ähnliches“, entgegnete Oliver. „Sachen, die die Untreue meiner Mutter belegen, oder etwas mit dem Haus meines Großvaters zu tun haben.“
„Untreue?“, wiederholte Daniel.
Oliver nickte. „Meine Mutter hat meinen Vater an dem Abend, an dem er sie umgebracht hat, spüren lassen, dass sie ihn verabscheute. Sie wollte ihn vermutlich verlassen. Er wusste davon“, erklärte Oliver. Er zögerte. „ich glaube, er hat unsere Mutter geliebt. Wahrscheinlich akzeptierte er deswegen ihre Seitensprünge.“
Daniel nickte nachdenklich. Als Oliver schwieg nickte ihm Daniel auffordern zu. „Erzähl weiter.“
„Unsere Schwester Eleonore war nicht seine Tochter. Sie hatte dunkle Haut und dunkles Haar. Ihr Vater war …“ er zögerte. Sollte er darüber sprechen? Oliver entschied sich für den Mittelweg. „Er war sicher kein Deutscher.“
„Gab es bei euch niemand mit dunklen Haaren?“, fragte Daniel interessiert nach.
Oliver schüttelte den Kopf. „Unsere Eltern waren nicht anders als Chris, Micha und ich. Alle in der Familie sind blond oder rot, haben helle Augen und bleiche Haut.“
Daniel legte die Stirn in Falten. „Wenn offensichtlich war, dass eure Schwester nicht seine Tochter war, warum hat dein Vater das bis zu dem Abend hingenommen?“, fragte Daniel.
Diese Frage ging Oliver auch schon seit langem durch den Kopf. Er sah an Daniel vorbei in die Dunkelheit. „Ganz ehrlich: ich weiß es nicht“, sagte er leise. „Der Einzige, der eine Antwort darauf geben könnte, ist mein Vater.“
Daniel kam näher und setzte sich neben Oliver auf den Fußboden. „Hör mal“, begann er. „Ist dir je der Gedanke gekommen, dass sie ihm an diesem Abend etwas gesagt oder gezeigt hat, was ihn zum ausrasten brachte?“
Oliver verzog die Lippen.
„Klar, was dachtest du?“, entgegnete er barsch.
„Haben du oder die Zwillinge etwas von dem Inhalt ihres Streits mitbekommen?“ Daniels eindringlich bohrende Stimme klang ganz und gar nicht mehr nach dem leichtsinnigen Punk aus dem Johannesstift. Oliver kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit mehr von seinen Zügen zu erkennen.
„Die Jungs …“ Oliver biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht den Anfang davon. Silke kam an dem Tag von einer ihrer langen Museumstouren durch diverse Städte zurück. Sie wich ihm die ganze Zeit aus, ließ sich nicht von ihm berühren und schloss sich mehrfach im Bad und in ihrem Büro ein. Das verärgerte ihn schon. Sie kam erst kurz vor dem Abendessen wieder herunter. Irgendetwas in ihrer Art hatte sich verändert. Nach ihrer Ankunft war sie nervös und gereizt. Sie wollte auch keinen von uns fünf sehen.“
Oliver unterbrach sich. Die Erinnerung an ihr hektisches Hallo und die Tatsache, dass sie sich nicht einmal die Zeit nahm, ihre Koffer auszupacken und die Kleider in die Wäsche zu geben, irritierte ihn damals sehr. „Sie badete zuerst … Als sie heraus kam, sah sie nicht wesentlich entspannter aus. Sie hatte offenbar Kopfschmerzen. Für etwas über eine Stunde schloss sie sich dann im Büro ein. Als sie heraus kam, sah sie entschlossen aus.“ Oliver rieb sich die Schläfen. „Damals kam es mir vor, als habe sie mit einer Entscheidung gerungen, die sie schwer belastete …“
„Vielleicht die Scheidung?“, fragte Daniel.
Oliver setzte sich nun zu ihm auf den Boden. „Das befürchteten wir alle. Seit Ellis Geburt war hier im Haus immer dicke Luft.“
„Aber da gab es doch noch einen jüngeren Bruder?“, hakte Daniel nach. „Wie kam der denn zustande?“
Oliver zuckte mit den Schultern. „Wenn Silke da war, sind sie manchmal kaum aus dem Schlafzimmer gekommen. Aber das wurde schon nach Elli sehr viel weniger. Marc war wohl eher ein Zufallstreffer.“
„An ihm waren beide Elternteile von dir beteiligt?“
Oliver nickte. „In jedem Fall. Er sah aus wie Tom.“
Er spürte Daniels Blick lange Zeit auf sich. Die Stille, die währenddessen aufkam, zwang Oliver über die Situation nachzudenken.
In der Ehe seiner Eltern gab es sehr glückliche Jahre, allerdings auch sehr schwere, tragische. Michael, Christian und er schienen noch in einer Zeit geboren worden zu sein, die auch für Silke und Tom voller Liebe füreinander gewesen war.
Das Gefühl von Verlust erwachte wieder. Allerdings sehnte er sich nach einer lange vergangenen, schönen Zeit, in der sie alle glücklich waren.
„Wie war das Verhältnis eures Vaters zu euch?“, fragte Daniel in seine Gedanken hinein.
„Er hat uns vier Jungen sehr gemocht. Von mir wollte er, dass ich wie er werde. Die Anforderung stellte er auch an die Zwillinge.“ Oliver senkte den Blick. „Gesundheitlich ging das bei Michael nicht und Chris kann manchmal zickig sein.“
Daniel lachte leise. „Ich merke schon: du bist der Älteste.“
Oliver sah ihn überrascht an. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und rieb sich die Schläfen. Es tat gut, die schönen Zeiten herbeizureden. „Tom war sehr liebevoll, aber auch sehr hart zu mir. Er verlangte, dass ich in der Schule maximale Leistungen bringe, Sport mache, boxen gehe und Selbstverteidigung lerne.“ Oliver fuhr sich mit den Fingern durch die Locken. „Klar, dass ich dem nicht entsprach. Ich wollte irgendwann seinem Zwang nicht mehr gerecht werden.“
„Deswegen bist du eher sehr alternativ geworden?“, fragte Daniel betont.
Oliver zuckte mit den Schultern. „Klar. Davon abgesehen hatte ich keine Lust, so ein cholerischer Schläger zu werden wie er einer war.“
„Dann hat er wohl all seine Hoffnungen in seinen jüngsten Sohn gesetzt?“ Daniel rieb sich das Kinn.
„Er hat Marc von Anfang an dazu gebracht, Elli nur Abneigung entgegen zu bringen. Klar wollte er aus ihm sein Ebenbild machen. Was Elli betraf, so waren wir anderen drei vollkommen vernarrt in sie. Unser Vater konnte sie nicht schlecht reden. Elli zu beschützen war unsere Aufgabe.“
Daniel erhob sich. „Deswegen hat er versucht, auch euch zu töten. Ihr wart gegen ihn und wolltet sein Hauptopfer schützen.“
*
Die Worte Daniels hallten eine Weile in Olivers Ohren nach. Einerseits halfen sie ihm, ein wenig stärker einzugrenzen, worauf er sich konzentrieren musste. Andererseits wurde Oliver hellhörig. Daniel klang gar nicht mehr nach einem Mensch, der nichts ernst nahm.
Kam die Hilfsbereitschaft vielleicht aus ganz anderen Beweggründen als reiner Sympathie?
Welche Motive konnte Daniel haben? Stand er in irgendeiner Verbindung zu dem blonden Mann, oder verfolgte er eigene Interessen? Er war ein Punk. Es gab tausend Vorurteile gegen diesen Typ Mensch. Vielleicht stimmten einige ja. Oliver kam der Verdacht, dass Daniel möglicherweise nach etwas Wertvollem zum Verkaufen suchte, verwarf den Gedanken allerdings schnell wieder. Der Punk trug nichts bei sich, in dem sich irgendwelche Wertgegenstände aufbewahren ließen. Handys und Notebooks fanden sich sicher in der Asserwartenkammer des BKA, der Schmuck seiner Mutter wahrscheinlich auch. Alles Andere war schlicht zu groß, um es zu verstecken.
Er konnte auch keine Verbindung zu dem Einbrecher herleiten.
Sicher sah er langsam Gespenster!
„Wir suchen hier sicher am falschen Ort, Oliver“, bemerkte Daniel. Er streckte sich und rieb sich seinen Nacken.
„Vielleicht gibt es bei den Sachen deiner Mutter einen Hinweis.“
„Worauf?“, fragte Oliver skeptisch.
„Ihr Verhalten nach ihrer Ankunft.“ Daniel richtete sich auf. Nachdenklich sah Oliver ins Leere.
„Sie war in jedem Fall der Auslöser für die Tat deines Vaters“, fügte der Punk hinzu.
„Davon bin ich ausgegangen“, murmelte Oliver. „Oder gab es je einen anderen Denkansatz?“
Er beobachtete Daniel. Für einen winzigen Moment glaubte er zu sehen, wie der Punk darauf antworten wollte. Schließlich schwieg er aber. Langsam erhob er sich und streckte seine verspannten Glieder. Unruhig begann er im Zimmer auf und ab zu laufen.
Wer war dieser Daniel Kuhn? Konnte Oliver ihm vertrauen? Er hoffte, keinen Fehler zu begehen, wenn er den Punk tiefer in sein Leben involvierte.
Oliver spannte sich. Er sah Daniel an.
„Wie passt der Einbrecher in das Bild, der mich bereits zwei Mal angegriffen hat? Er war sicher nicht der Liebhaber meiner Mutter.“
„Aber vielleicht arbeitet er für den Liebhaber deiner Mutter“, schlug Daniel vor. „Auf diesem Weg konnte er vielleicht noch einige wichtige Gegenstände aus dem Haus entfernen, die ihn vielleicht belastet hätten.“
Oliver sah Daniel aus zusammengekniffenen Augen an.
„Du könntest recht haben“, überlegte er, während er aufstand.
„Weißt du, ob sie mehrere Männer hatte, oder nur einen?“, fragte Daniel.
Oliver hob die Schultern. „Ich bin nicht sicher. Über viele Jahre war es ein einzelner Mann.“ Darüber nachzudenken strengte ihn an. Dank des Schlafmangels wurde er müde. In seinem Schädel erwachte ein diffuser, dumpfer Druck, der ihn erschöpfte. Er massierte sich die Schläfen. „Als ich ein Kind war, habe ich ihn einige Male gesehen, wenn sie mich mit nach Kairo und Berlin nahm. Allerdings war mein Vater auch mit ihm befreundet.“
Seine Stimme klang schleppend. Er musste sich konzentrieren!
„Kairo …“, murmelte Daniel, in seine Gedanken. Oliver sah ihn an.
„Kairo und Berlin ….“, bestätigte er. Unsicher stemmte er sich hoch. Seine Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus Gummi. Oliver umklammerte die gläserne Tischkante. Die Kälte brachte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Von einer Sekunde zur anderen änderte sich Daniels Haltung. Er fuhr herum und packte Oliver an den Schultern. Erschrocken wollte er sich befreien.
„Weißt du auch, wie er heißt?“ Daniel klang aufgeregt.
„Aboutreika … Amman Aboutreika“, stammelte Oliver. Er spürte Daniels Anspannung. Langsam ging ihm das offenkundige Ausfragen Daniels auf den Nerv. Unsanft sprengte er den Griff des Punks. Er lockerte seine Schultern etwas.
„Du verhältst dich wie ein Polizist!“, zischte er ärgerlich.
Daniel zuckte zusammen.
„Sorry“, murmelte er. „Ich bin sicher, dass wir auf der richtigen Fährte sind.“
„Ich auch! So weit ist die Polizei schon!“, fuhr Oliver auf.
Daniels Blick flackerte.
„Davon abgesehen“, zischte Olier, „gibt es kein Uns. Das ist mein Problem!“
Daniel wich noch weiter zurück und spannte sich leicht.
Die Härte tat Olivers leid. Gerade eben war sein Leben nicht gerade mit Freunden angefüllt. Die wenigen Menschen, die es gut meinten, fuhr er an. „Verdammt“, flüsterte er. „Das war nicht böse gemeint. Ich bin nur …“, Oliver biss sich auf die Unterlippe. Er suchte nach den richtigen Worten. „Ich …“
„Du bist nicht gewohnt, dass man dir hilft“, vollendete Daniel seinen Satz.
Oliver sah ihn an. Daniel stand mit dem Rücken zum Fenster. Sein Gesicht lag in den Schatten. Oliver blieb das Minenspiel verborgen. Die Stimme Daniels klang ernst und verletzt. Vielleicht verkannte er den Punk. In jedem Fall lag Daniel mit seinen Vermutungen nah an der Wahrheit.
„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte der Punk leise.
Für einen Moment wollte Oliver ihm sagen, worüber er grübelte, änderte aber seine Taktik.
„Warum bemühst du dich so um mich?“
Dieses Mal zögerte Daniel nicht mit seiner Antwort.
„Weil ich denke, dass du im Stift keine anderen Freunde finden wirst“, entgegnete Daniel offen. Diese Wahrheit schmerzte. Trotzdem stand für Oliver außer Zweifel, dass er recht hatte.
Offenbar war Daniel noch nicht am Ende seiner Erklärung. „Und weil ich mir sicher bin, dass du einen wirklichen – ehrlichen - Freund dringend notwendig hast.“
Oliver schwieg daraufhin. Aus Daniels Mund klang die Erklärung einleuchtend. Der Punk schien sich für Oliver verantwortlich zu fühlen. Zu hinterfragen, warum Daniel etwas tat, brachte offenbar nichts. Seine Anspannung sank. Die Müdigkeit kehrte zurück. Erschöpft ließ er die Schultern hängen. Die letzten zwei Tage zollten ihren Tribut.
„Ist alles okay?“, fragte Daniel.
Oliver straffte sich und nickte. „Ich bin nur müde.“
Ihm wurde augenblicklich schwindelig. Blut rauschte in seinen Ohren. Vor seinen Augen zuckten kleine Blitze. Dieses Mal brauchte er eine ganze Weile, um sich zu sammeln.
Bevor der Punk etwas unternehmen konnte, trat Oliver an ihm vorbei. Er fühlte sich, als würde er über schwammigen Moorboden gehen. Obwohl Daniel bereits in die Schränke gesehen hatte, überprüfe er noch einmal alle Fächer. Er brauchte etwas, um sich zu konzentrieren.
Buch für Buch zog er nach vorne und blätterte es grob durch.
Er nahm nicht an, irgendetwas zu finden. Die Polizei musste das gleiche auch schon getan haben. Davon abgesehen glaubte er nicht, etwas Besonderes zu finden. Umso mehr verwirrten ihn die zusammengefalteten Zettel und angefügten Randnotizen in dem dicken Tabellenbuch. Tom achtete sehr auf seine Sachen. Es war nicht seine Art, Markierungen oder handschriftliche Kommentare in seinen Unterlagen zu hinterlassen.
Oliver trat mit dem roten Wälzer in der Hand zum Fenster. Im schwachen Licht der entfernten Straßenlaternen blätterte er noch einmal durch das Buch. Kleine Zettel mit Zahlenkolonnen in der Handschrift seines Vaters lagen zwischen einigen Seiten.
„Was hast du gefunden?“, erkundigte sich Daniel neugierig. Er stellte sich hinter Oliver auf und sah ihm über die Schulter.
„Ich weiß nicht genau“, murmelte Oliver unschlüssig. „Vielleicht nur Berechnungen oder Summen.“
„Das sollten wir uns bei Licht betrachten“, entgegnete Daniel entschlossen. Oliver reichte ihm das Buch. „Wenn Roth hier so sehr geschlampt hat, sind vielleicht auch andere Hinweise verloren gegangen!“
Während Daniel das Buch erneut durchblätterte, ging Oliver zur Tür. „Schaust du dich hier um?“, bat er.
Der Punk sah auf und nickte. „Mache ich“, versprach er. „Was hast du vor?“
„Ich schaue mich an all den Orten um, an denen sich meine Mutter zu jenem bewussten Tag aufgehalten hatte.“
*
Seine Entdeckung bedeutete möglicherweise nichts, trotzdem fühlte Oliver sich besser. Er zog neue Energie aus seinem Glücksgriff. Trotzdem überfiel ihn die Einsamkeit des Hauses erneut, als er das Büro verließ.
Langsam lief er über den kurzen Flur. Der Teppich dämpfte seine Schritte. Die dunklen Flecken geronnenen Blutes und die Markierungen der Spurensicherung waren kaum zu übersehen, nachdem sich seine Augen an die allgegenwärtige Finsternis gewöhnt hatten.
Oliver schauderte. Die Frage, wessen Blut es war, ließ sich kaum mehr aus seinem Bewusstsein verdrängen. Seine Gefühle gerieten bei dem Anblick wieder aus den Fugen. Dieses Haus war ein Geisterhaus. Erinnerungen verwuschen mit den leblosen, kalten Räumen. Die Toten flüsterten. In die Stille, die nur zeitweise durch das papierene Rascheln aus dem Büro unterbrochen wurde, mischten sich Rufe: Namen, Stimmen, die von weit her zu kommen schienen. Schaudernd rieb Oliver sich über die Arme. Ihm war es kaum möglich, die Bilder abzustreifen. Schließlich presste er die Hände gegen die Ohren. Von einem Moment zum anderen war es vorbei. Er vernahm nur noch, das Rauschen seines Blutes und die Geräusche von Daniel. Sein Herz schlug schwer. Er fühlte sich entkräftet. Schweiß rann über seine Stirn und seine Wangen. Zugleich zitterte er vor Kälte. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Lider. Seine Knie bebten, während hinter seiner Stirn leise pochender Schmerz erwachte. Dieses Haus kam ihm wie ein riesiges Lebewesen vor, was ihm die Energie raubte. Oliver war bewusst, dass er für den Kraftverlust selbst verantwortlich war. Er ließ sich zu sehr auf die Vergangenheit ein. Durch die Sensibilisierung seiner Sinne erreichter er nichts; nur die Gewissheit seiner Schuldgefühle.
Bewusst atmete er ein und aus. So, wie er die Gedanken von sich schob, gewann er auch wieder an Selbstsicherheit.
Langsam beruhigte sich sein Kopf.
Oliver schlug die Augen auf. Nach einer kleinen Ewigkeit löste er sich. Ihm war klar, dass dieser Ort eine eigene, finstere Magie auf ihn ausübte.
Neben ihm befand sich das gemeinsame Bad seiner Eltern.
An diesem Ort hielt sich Silke am Tag ihrer Rückkehr aus Berlin recht lange Zeit auf. Oliver wagte einen großen Schritt über die dunklen Flecken auf dem Teppich. Er schob die Tür auf. Der helle, große Raum reflektierte das geringe Licht recht gut. Lediglich die Spiegel schienen dunkle Augen in eine andere Welt zu sein. Langsam betrat Oliver den Raum. Staubflusen wurden durch seine Bewegung aufgewirbelt. Es sah aus, als huschten sie in schwebenden Bögen vor ihm davon.
Auf dem Wannenrand lag die von seiner Mutter hingeworfene Fußmatte. An dem auf antik getrimmten Messinghahn hing ein Waschlappen. In der Wanne hatte sich körniger Dreck gesammelt. Etwas huschte darin herum. Oliver zog die Brauen zusammen. Silberfische, vermutete er.
In dem Messingregal, das an der Glaswand zu der Dusche hing, standen die Kosmetikartikel seiner Eltern. Karaffen aus Glas enthielten kristalline Zusätze. Schaumbäder fanden sich neben Duschgel und Haarwaschmittel. Oliver entdeckte nichts Ungewöhnliches. Auch bei einem Blick in die verglaste Kabine sah er nichts Besonderes. Über allem lag lediglich flockiger oder körniger Staub.
Er wendete sich dem Spiegelschrank zu. Für einen Moment sah er sich selbst. Der Mensch, der ihm entgegen blickte, ähnelte nicht mehr dem Oliver, der hier aufwuchs. Einsamkeit und Wut veränderten ihn mit jedem Tag mehr. Sein Gesicht wirkte hart. Die zusammengekniffenen Augen mochten an dem schlechten Fokus in der Dunkelheit liegen, aber der bittere Zug um seinen Mund vertiefte sich. Die eingefallenen Wangen und der helle, kaum erkennbare Bartflaum verdeutlichten ihm, dass er ungepflegt aussah. Oliver alterte auf erschreckende Weise durch die Erfahrungen, die er machte. Der Anblick gefiel ihm gar nicht. Er kam sich wie eine Karikatur seiner selbst vor.
Oliver öffnete die Glastüren. Für einen Moment betrachtete er den Inhalt: Parfums, Deos, Cremes. Was hatte er erwartet? Vorsichtig schob er die Dosen und Flaschen auseinander. Wieder fand er nichts. Nachdenklich rieb Oliver sich über die Schläfen. Sein Blick strich erneut über die Gegenstände. Ein Parfumflakon seiner Mutter stand recht weit an der Kante. Oliver schob ihn zurück, wobei ein anderer aus dem Schrank in das Waschbecken fiel. Der gläserne Hals brach ab. Transparente Flüssigkeit zog eine dünne, fast ölige Spur durch den Staub auf der Keramik.
„Was ist?“, rief Daniel aus dem Arbeitszimmer.
„Mir ist eine Parfumflasche zerbrochen!“, antwortete Oliver.
Ärgerlich fischte er die Splitter aus dem Becken. Währenddessen bemerkte er verwirrt, dass die Flüssigkeit neutral roch.
„Daniel?!“
Ohne darüber nachzudenken, tastete er nach dem Lichtschalter an dem Spiegelschrank. Weiches, gelbes Licht aus kleinen Einbaudownlights flutete den Raum.
Der Strom funktionierte noch? Er konnte den Gedanken nicht einfangen.
„Was ist?!“, fragte Daniel, der gerade das Bad betrat.
Oliver betrachtete die Scherben in seiner Hand.
Laut dem Aufdruck sollte sich darin einer der teuren Lieblingsdüfte seiner Mutter befinden: Jicky. Die Flüssigkeit rann träge zum Ausguss. Oliver führte seine feuchten Fingerspitzen an Mund und Nase. Ein schwach chemischer Geruch stieg von Olivers Fingerkuppen auf. Sie war vollständig durchsichtig. Das Parfum sollte einen leichten Goldton aufweisen.
Daniel sah kurz in das Becken. Einen Herzschlag später schlug er Oliver die Scherben aus den Fingern.
„Was …“
Kommentarlos verschloss Daniel den Ausguss und sah zu, wie sich die Flüssigkeit im Becken sammelte. Fragend sah Oliver ihn an. Der Punk ignorierte ihn. Anstatt dessen zog er aus der Innentasche seiner Jacke einen kleinen, dünnen Kunststoffbehälter, in dem ein Wattestäbchen und eine Pinzette lagen. Vorsichtig nahm er eine Scherbe auf. Mit dem Wattestäbchen sog er einen Teil der Flüssigkeit auf.
In vielen Filmen hatte Oliver diese Vorgehensweise schon gesehen. Ein Gefühl verraten worden zu sein erwachte in ihm. Über den Spiegel fing er Daniels Blick ein.
„Du bist Polizist“, murmelte Oliver tonlos.
Daniel nickte.
„Es Bringt nichts, dir länger den Freak vorzuspielen.“ Daniel schob den Behälter in seine Innentasche.
„Seit wann beschäftigt die Polizei Punks?“, erkundigte sich Oliver. In seiner Stimme schwang Wut mit.
„Ich arbeite in der Punk- und Skin-Szene als verdeckter Ermittler“, erklärte Daniel.
Oliver fühlte sich verraten. „Ein Freund, wie?“, fragte er leise. „Bezahlt Roth dich dafür, mich im Auge zu behalten, oder um mich anzulügen?“
„Für beides“, erklärte Daniel ungerührt.
Oliver erschrak, nickte aber schwach. Er schloss die Augen.
„Warum machen wir das hier?“, fragte er tonlos. „Du warst doch sicher schon dutzende Male hier. Ich wette, es gibt nichts, was du hier nicht schon auf den Kopf gestellt hast.“
„Ich bin Mitglied der SO“, antwortete Daniel. „Das heißt Rauschgift und organisiertes Verbrechen. Roth hat mich erst heute offiziell ausgeliehen, weil er keine Männer mehr frei hatte und ich ohnehin im Stift eingesetzt worden bin.“ Es klang nach einer Entschuldigung. Oliver hob die Lider und begegnete seinem Blick. Tatsächlich wirkte Daniel unsicher. „Bis dahin hatte ich mit dem Fall nichts zu tun“, fügte er lahm hinzu.
„Frischer Wind und neue Perspektiven“, murmelte Oliver.
„So kannst du es nennen. Ich soll dich im Auge behalten.“
Oliver sah zu Daniel auf. „Gehört der kleine Einbruch hier auch zu deinen Aufgaben?“
In der Mimik Daniels zuckte es. Seine Lider flatterten. „Nein“, gestand er. „Eigentlich nicht.“
Oliver legte die Stirn in Falten. „Warum riskierst du deinen Job?“
Mit einer Hand ergriff Daniel Oliver an der Schulter und drehte ihn zu sich. „Erstens“, sagte er eindringlich. „ist es meine Aufgabe, deine Ideen und Alleingänge an Roth zu melden und sie zu unterbinden …“
Oliver schnappte nach Luft, doch Daniel ließ sich nicht unterbrechen. „Zweitens: Bernd Weißhaupt und ich denken etwas anders als Roth. Wir sind beide der Auffassung, dass unsere Chance in deinem Wissen und deiner Aufmerksamkeit liegt.“
Oliver zog die Brauen zusammen. „Sozusagen als Kompass für all das, was deinen Kollegen bislang entgangen ist?“
Daniel nickte. „Sehr bildlich beschrieben; aber es stimmt“, er unterbrach sich und strich seine verfärbten Haare aus der Stirn. „Leider fährt uns Roth dabei allerdings immer in die Parade.“
Der Kommissar machte einen freundlichen, aber auch distanziert konservativen Eindruck. Wahrscheinlich würde er vollkommen ausrasten, wenn Daniel ihm sagte, was er hier mit Oliver trieb.
„Wenn du die Zusammenhänge richtig kombinierst und unsere Ermittlungslücken mit deinen Erinnerungen auffüllst, wissen wir sehr schnell, ob die Morde Verbrechen aus Leidenschaft waren, oder eher im organisierten Verbrechen einzuordnen sind.“
Diese Erklärung ging Oliver ein. Er nickte. „Heißt es nicht“, fragte er, „dass Beweise, die ohne Durchsuchungsbefehl gefunden werden, nichts wert sind?“
Daniel grinste. „Richtig, Schlaukopf. Aber da du und die Zwillinge das Haus geerbt haben, bin ich in deiner Begleitung und mit deinem Willen hier. Dagegen kann auch Roth nichts machen.“
Irgendwie klang das falsch für Oliver. Aber er fand den Fehler nicht. Dazu war er zu erschöpft. Mit beiden Händen drückte er gegen seine Schläfen. „Eins kannst du“, knurrte er.
„Was?“, fragte Daniel mit hochgezogenen Brauen.
„Dir die Wahrheit so zurecht drehen, bis sie dir in den Kram passt!“
*
Oliver wies auf den Behälter in Daniels Jacke. „Weißt du, was das ist?“
„Nein“, gestand er.
„Deswegen hast du mir die Scherben aus den Fingern geschlagen?“ Oliver zog die Brauen zusammen. „Idiot!“
„Danke auch“, knurrte Daniel. Er wendete sich ab und sah sich längere Zeit im Bad um. „Vielleicht ist es eine Chemikalie oder ein Gift. In jedem Fall ist es kein Parfum.“
Oliver hob hilflos die Hände. „Warum sollte Mutter so etwas mit sich führen?“
„Was weiß ich?“, fragte Daniel. „Vielleicht ist es auch einfach nur ein Duftöl, was zu alt ist.“
Oliver überlegte einige Sekunden. Er drehte sich wieder zu dem Spiegelschrank um. Nacheinander entnahm er alle Flakons und öffnete sie. Aus den meisten stieg der schwere Geruch teurer Marken auf, ohne dass Oliver den Bestäuber nutzen musste. Allerdings fand er in zwei weiteren Flaschen ähnliche Flüssigkeiten, die eher unangenehm rochen. Leider befanden sie sich in farbigen Gefäßen.
„Daniel?“
Der Polizist trat zu Oliver. Schweigend hielt er Daniel die beiden Flakons hin.
„Ist natürlich schlau, dass wir keine Handschuhe tragen und entsprechend vorsichtig damit umgehen“, sagte Daniel lakonisch.
„Wenn darin etwas Illegales ist, wird die Person, die die Flüssigkeit eingefüllt hat, sicher nicht so dämlich sein und Spuren hinterlassen haben, oder?!“, knurrte Oliver
„Mag sein.“ Daniel zuckte mit den Schultern, während er die Flakons in kleine Plastikbeutel verpackte.
Oliver rollte mit den Augen. „Ich verspreche nun vorsichtiger zu sein!“
Als Daniel nicht antwortete, trat Oliver an ihm vorbei.
Im Hinausgehen fragte er: „Weißt du, weswegen deine Kollegen diese Sachen im Bad nicht kontrolliert haben?“
„Nein“, murmelte Daniel. „Das wundert mich auch. Die Tatsache, dass dein Vater eigentlich ein Handlanger der Mafia ist, sollte genügen, das Haus auf den Kopf zu stellen. Klar, die Morde, aber die sind eindeutig nachweisbar für uns. Es gab immerhin drei Zeugen. Dich, Christian und Michael.“
Oliver blieb auf dem Flur stehen. „Die beiden Kleinen haben alles Mögliche gehört, aber nichts gesehen. Ich war der einzige im Haus, der dabei war.“
„Deinem Vater ist auf der Basis ihrer Aussagen der Prozess gemacht worden. Er hat sogar alles von sich aus gestanden … im Detail.“ Daniel folgte Oliver. „Hat er wirklich so oft auf dich eingestochen?“, fragte er. Seine Stimme klang besorgt.
„Ich weiß es nicht, weil ich zuvor das Bewusstsein verloren habe“, entgegnete Oliver schleppend.
„Im Krankenhaus …“, begann Daniel.
„Das wollte ich nie wissen. Ich habe auch die Narben im Spiegel nie gezählt.“
„Warum?“, fragte Daniel leise. Sein Unverständnis schwang deutlich in seinem Tonfall mit.
„Weil mir diese Verletzungen sagen, dass Elli leben müsste, nicht ich.“
Ohne ein weiteres Wort ging zu dem Schlafzimmer seiner Eltern.
*
Daniel folgte ihm. Der junge Beamte schaltete das Deckenlicht allerdings erst ein, nachdem Oliver die Vorhänge gewissenhaft verschloss und ihm zunickte.
Oliver stellte fest, dass im Bettrahmen lediglich die Matratzen lagen.
Er trat an den verspiegelten Kleiderschrank. Mit etwas zu viel Kraft schob er die Türen auf. Holz und Glas schlugen wuchtig gegen die Seitenwände. Eine der Scheiben knackte. Oliver achtete nicht darauf. Die Fächer und Kleiderstangen waren leer. Ein paar Kofferhüllen und mehrere alte Hartschalenkoffer verwehrten den Blick auf den Boden.
„Alles fort“, murmelte er.
„Logisch“, entgegnete Daniel. „Meine Kollegen haben die Sachen zur Untersuchung mitgenommen.“
Oliver sah kurz über die Schulter. „Warum haben sie nicht alles mitgenommen?“, fragte er. „Im Bad lag noch viel herum.“
Während er sich wieder dem Schrank widmete, bemerkte er im Spiegel, wie Daniel die Schultern hob. „Wahrscheinlich weil sie nicht gezielt gesucht haben?“, schlug Daniel vor.
Oliver gab ein unwilliges knurren von sich. „Klar doch“, murmelte er ärgerlich.
Er öffnete alle Fächer und Schubladen, zog sie heraus und drehte sie um. Auch seine Durchsuchung der Koffer ergab nichts Neues. Oliver fand lediglich ein altes Päckchen Taschentücher, eine Schachtel Kondome und abgelaufene Schmerztabletten. Frustriert gab er der Schranktür einen tritt.
„Was hast du zu finden erwartet?“, fragte Daniel, der sich auf der Bettkante nieder lies, sein Handy aus der Jackentasche zog und sich auf den Display konzentrierte. Offenbar hatte er damit fotografiert. „Dein Vater wird uns leider nicht den Gefallen getan haben. Er hat uns keinen Zettel mit seinem lückenlosen Geständnis dagelassen, oder vielleicht ein Videoband, dass dir die ganzen fehlenden Puzzleteile liefert?“
Oliver fühlte erneut Wut in sich aufsteigen. Er warf Daniel einen vernichtenden Blick zu. Warum trafen ihn die Worte so sehr? Vermutlich handelte er seine Erwartungen viel zu hoch. Nach dem kleinen Erfolg hoffte Oliver richtiggehend darauf, dass die Polizei weitere Details übersehen hatte.
Die innere Leere traf ihn erneut. Diffuse Ängste wühlten ihn auf. Zugleich spürte er, wie er abstürzte.
Wozu war er noch einmal hier her gekommen? Wegen Beweisen? Das Haus war leer. Nahezu alle persönlichen Dinge fehlten!
Eine leise Stimme flüsterte ihm trotz allem beharrlich ein, hier sie noch etwas zu finden.
Er wendete sich um und lief im Zimmer auf und ab, um sich zumindest etwas abzureagieren. Er brauchte einen klaren Kopf!
Noch einmal ließ er ihre Funde Revue passieren. Diese seltsamen Zahlenkolonnen und die Flakons. In Büro und Bad gab es zumindest noch die vollständige, offenbar gar nicht durchgesehene Ausstattung. Hier gab es hier nicht einmal mehr eine verdammte Socke.
„Daniel“, rief er. Der Polizist hob den Kopf und steckte sein Handy wieder ein. „Ist es üblich, alle Kleider und das Bettzeug, bis hin zu den Mottenkugeln mitzunehmen?“
„Wenn die Möglichkeit besteht, Beweise zu finden, klar“, entgegnete er. „Aber es wird nicht automatisch alles mitgeschleppt.“
„Warum ist hier alles weg, aber drüben nicht?“, fragte Oliver. Er deutete zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her.
Nachdenklich nickte Daniel. Vielleicht haben sie nach irgendwelchen Hinweisen auf Schmuggelware bei Deiner Mutter gesucht, oder sie wollten wissen, ob in den Kleidern deines Vaters verwertbare Blutspuren waren.“
Oliver sah ihn fragend an. „Blutspuren?“ Er fühlte den unheilschwangeren Unterton Daniels übermächtig, wie ein drohendes Pendel über sich. Zurzeit war er nicht sicher, ob er die Antwort tatsächlich hören wollte.
Der Polizist setzte zu einer Antwort an, schwieg aber letztenendes. Nach einer Weile stand er auf und legte beide Hände auf Olivers Schultern. „Ich weiß es auch nicht, Olli. Aber ich kann mich umhören.“ Seine Tonlage zwang Oliver, Daniels Blick zu begegnen. Etwas unumstößlich Ehrliches lag darin. „Dank Roth bin ich nun in den Fall involviert. Dann kann ich auch Zugriff auf Akten und Informationen nehmen.“ Daniel lächelte.
„Warum setzt du dich für mich ein?“, fragte Oliver. Er versuchte unbeeindruckt zu klingen, um Daniel den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der junge Mann ließ sich nicht beirren. „Es ist mein erster interessanter Fall; mal ausnahmsweise nicht auf der Straße, sondern ein richtiger Kriminalfall.“ Seine Augen leuchteten vor Aufregung.
Das schlechte Gefühl in Oliver verstärkte sich. Ihm war klar, dass Daniel ihn nur als Sprungbrett nutzte, um aus der Arbeit als verdeckter Ermittler heraus zu kommen. Aber so direkt wollte er es eigentlich nicht zu spüren bekommen.
„Danke“, knurrte er ärgerlich. „Ich bin froh, dir zu einem gemütlichen Bürojob verhelfen zu können …“
„Quatsch!“, fuhr Daniel ihm dazwischen. „Das ist nur endlich mal eine Möglichkeit, meine Fähigkeiten zu beweisen.“
Er löste seine Hände von Olivers Schultern. „Davon abgesehen bin ich der Meinung, dass ich dich vielleicht besser und einfacher verstehe als Bernd, Roth oder Meinhard.“
Der letzte Name sagte Oliver nichts. Er beschloss, darauf nicht weiter einzugehen. Zumindest musste er Daniel recht geben. Wahrscheinlich verstand er mehr von Olivers Gefühlen und seiner Neugier als die anderen Beamten. Offenbar ging es Daniel nicht anders. Sie beide wurden von Enthusiasmus und Wissensdurst getrieben. Er schluckte seinen Ärger gegen den jungen Beamten hinunter.
„Bin ich mit in deine …“, er zögerte. Leider war ihm Daniels Dienstgrad nicht bekannt. „ … Ermittlungen involviert?“
Daniel lächelte sanft. „Ich muss doch rund um die Uhr ein Auge auf dich haben“, sagte er leise. „Dann ist wohl klar, dass ich keinen Schritt ohne dich machen werde.“
*
„Sag’ mal Daniel, seid ihr beide vollkommen bescheuert?!“, brüllte Weißhaupt durch das Telefon. Oliver zuckte zusammen, als das Gerät zu knacken anfing. Unwillkürlich hielt Daniel das Handy ein Stück von seinem Ohr weg.
„Depp“, knurrte er verhalten.
Sie saßen zusammen in Olivers Zimmer auf dem Sofa.
Daniels eigentliches Ansinnen war offenbar, Weißhaupt auf seine Seite zu ziehen, um Rückendeckung gegen Roth zu erhalten. Oliver entschied für sich, dass diese Idee grandios scheiterte. Der impulsive Kommissar sah sich nicht nur in seiner Nachtruhe gestört, sondern verurteilte den unvorsichtigen Alleingang offensichtlich.
„Erst einbrechen und …“
„Brems’ dich, Bernd!“, fauchte Daniel gereizt. „Wir sind nicht eingebrochen!“
„Doch, verdammt!“, schrie der Beamte. „So lang ein Polizeisigel auf der Tür klebt, ist das Einbruch!“
Daniel wurde etwas blasser. Besorgt beobachtete Oliver den jungen Beamten. Weißhaupt hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen.
Etwas versöhnlicher und weitaus weniger laut, aber für Oliver klar verständlich, sprach der Kommissar weiter: „Ist dir nicht bewusst, dass das Haus von Roth abgesperrt wurde?“
„Hoffmann ist verurteilt. Der Fall ist eigentlich in Hinsicht auf den Totschlag aufgeklärt …“
„Aber im Fall der Beteiligung an illegalen Aktivitäten, organisierter Bandenkriminalität, etc. steht doch alles noch offen! Oder warum glaubst du, bin ich wieder in Wiesbaden?!“
„Bernd …“, begann Daniel. Verzweiflung spiegelte sich auf seinem Gesicht.
„Verdammt, kommt da endlich raus!“, unterbrach Weißhaupt ihn. „Roth wird dich nicht decken, wenn …“
„Wir haben etwas gefunden“, sagte Daniel. Seine Stimme klang weitaus ruhiger als es sein zappeliges Verhalten zu Ausdruck brachte. Oliver beobachtete das bewegte Minenspiel Daniel.
Die weiteren Worte des Kommissars hörte er nicht mehr. Neugierig neigte er sich zu Daniel hinüber. Der junge Beamte kippte den Hörer etwas, damit Oliver verstand.
„ … die Beweise ausreichend sind.“
„Das weiß ich nicht, Bernd, aber ich empfinde es als äußerst seltsam, dass bei der Durchsuchung und Sicherstellung von Indizienmaterial offenbar geschlampt wurde.“
„Was meinst du damit?“, fragte Weißhaupt irritiert.
„Wir haben etwas gefunden, was möglicherweise giftige Inhaltsstoffe hat.“ Daniels Stimme klang sehr ernst.
„Wartet dort auf mich. Ich komme vorbei.“
*
Trotz der Gelegenheit, sich in den Zimmern seiner Geschwister umzusehen, schreckte er davor zurück. In einem Winkel seines Bewusstseins lauerte die feste Vorstellung, ihre ruhelosen Seelen würden dort auf ihn lauern.
Oliver nutzte die Zeit, um sein eigenes Zimmer zu durchsuchen. Seine Schulbücher, Romane und Comics standen unverändert in den Regalen und Schränken. Rollenspielregelwerke lagen ordentlich auf dem Sofatisch, während seine Ordner mit Charakterblättern, seine Notizbücher und die gesamten Collegeblöcke mit seinen Geschichten fehlten. Oliver sah Daniel erschrocken an. „Bekomme ich meine Sachen wieder?“, fragte er.
„Wenn es nichts Relevantes für den Fall ist, klar, sicher“, bestätigte der Beamte lächelnd.
„Was fehlt denn?“
Oliver zählte es ihm auf. Grinsend streckte Daniel sich auf dem Sofa und ließ sich in die Rückenpolster fallen. „keine Liebesbriefe?“, fragte er spöttisch.
Oliver rollte mit den Augen. „Wir sind im 21. Jahrhundert. Heute schreibt man Mails, SMS und chattet.“
Während er das sagte, fiel ihm auf, dass sein Laptop nicht in der Schreibtischschublade stand.
Sein Herz sank zusehends herab. Geschichten, Tagebücher, Mails, die Foren, in denen er war und Briefe zählten zu den Dingen, die er als sehr intim deklarierte. Wenn die Polizei all das gelesen hatte, gab es kaum ein Geheimnis, dass noch ihm gehörte. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Auch wenn er nicht viel vor den Augen und Ohren anderer Menschen verbarg, so handelte es sich doch um die für ihn erschütternd wichtigen Dinge im Leben. Seine Gefühle lagen nun für jeden offen. Unter den Augen Daniels kam er sich nackt und ungeschützt vor. Dabei war er sich sicher, dass der junge Polizist nichts davon gelesen hatte. Trotzdem war jeder Blick der Beaten Weißhaupt und Roth, aber auch Daniels nicht mehr unvoreingenommen wertungsfrei. Oliver hoffte, dass sein neuer Begleiter tatsächlich so offen und unvoreingenommen war, wie er jedem Glauben machen wollte.
Trotzdem … Oliver seufzte. „Bekomme ich meinen Rechner eigentlich auch wieder?“, fragte er leise, ohne sich zu Daniel umzudrehen. Es raschelte. Offenbar steckte er sein Handy ein. Die Federn des Sofas knarrten. Oliver hörte Daniels schwere Stiefel auf dem Parket. Offensichtlich sah er sich ebenfalls in dem Zimmer um. Er schwieg.
Schaudernd registrierte Oliver dass die Antwort wohl nein lautete. Resigniert sammelte er auf seinem Schreibtisch die Bücher zusammen, die er in jedem Fall brauchte.
„Du bist der erste Kerl, der auf Schule steht!“, lachte Daniel vom anderen Ende des Zimmers.
Oliver sah über die Schulter. Der Beamte wendete sich gerade zu dem Regal um, vor dem er stand. Oliver bewahrte darin seine Comics und Filmfiguren auf. Mit einem Finger fuhr Daniel über die Rücken der Alben. „Wenn ich das hier sehe, stehst du eher auf francobelgische Comics.“
„Ist schon richtig“, entgegnete Oliver. „Genauso auf Horrorromane, Mystery, SciFi, Fantasy und andere Bücher.“
Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. Daniel kam bei Olivers Rollenspielregelwerken an. „Ach ne, Call of Chtuluh auch?“, fragte er. Seine Neugier war echt. Oliver kam es vor, als habe er einen Freund aus der Schule dabei, der sich nun neugierig umsah. Allerdings war ihm bewusst, dass Daniel viele Dinge wahr nahm, die andere nicht beachteten. Der Beamte sah sich nicht um. Er durchsuchte und zog Schlüsse.
„Ich spiele auch.“ Er sah über die Schulter zu Oliver, als erwarte er eine besondere Reaktion. „Shadowrun, GURPS, D&D und etliche andere Sachen“, fuhr Daniel fort. „Anhand der ganzen Sachen musst du einen großen Freundeskreis haben.“
Oliver senkte den Blick. Freunde? Kein einziger hatte sich in den vergangenen Tagen gemeldet.
„Ich habe keine Ahnung“, murmelte er bitter.
Daniel ging nicht direkt darauf ein. Sein Blick huschte über die Wände des Dachbodenzimmers. Nach einigen Sekunden verharrte er. Er sah an Oliver vorüber. Mit wenigen Schritten erreichte er den Schreibtisch. Daniel deutete auf einige an die Wand geheftete Fotos.
„Wer ist das?“
Daniel löste eine der Aufnahmen ab und reichte sie ihm.
Oliver betrachtete das Motiv. Die Aufnahme stammte von Franziska, dem einzigen Mädchen in der Gruppe. Oliver erinnerte sich gut daran. An diesem Wochenende hatten sie ihre Rollenspielrunde im Haus ihrer Eltern veranstaltet. Sie musste das Anwesen hüten, weil ihre Familie für ein paar Tage Urlaub machte. Franziska hatte diese Chancen genutzt, um ihre Freunde zum einzuladen. Die Aufnahme zeigte seine Freunde Frank, die Zwillinge Till und Tim, aber auch seine beiden kleinen Brüder und ihn, wie sie unmotiviert in der Küche miteinander herum alberten. Für Oliver lag dieses Bild Lichtjahre entfernt. Er konnte kaum glauben, dass es erst im Januar aufgenommen worden war.
„Das sind doch deine Brüder, oder?“, fragte Daniel.
Oliver nickte. „Die beiden Goth sind Till und Tim Wiegand. Der dünne blonde Kerl mit den langen Haaren ist Frank Gräber, mein bester Freund und“, er wies zum Fenster. „Nachbar. Wir kennen uns so lange ich denken kann.“
Daniel grinste. „Jeder braucht einen besten Freund.“
Die Worte trafen Oliver. Ja, jeder brauchte einen Freund. Aber Frank zog sich still und unbemerkt aus Olivers Leben zurück.
„Warum war er nicht da?“, fragte Oliver leise. Wortlos legte Daniel ihm eine Hand auf die Schulter.
*
Um Weißhaupt einzulassen, ging Daniel hinunter. Oliver blieb allein in seinem alten Zimmer zurück. Seine Gefühle gerieten immer mehr außer Kontrolle. In erster Linie schob er es auf seine Müdigkeit. Die Erschöpfung sorgte für Überreaktionen. Er dachte verstärkt an Frank. Niemand stand ihm von seinen Freunden je näher. Es gab keinen Gedanken, keine Erinnerung, die sie nicht mit miteinander geteilt hätten. Ihr vertrauen zueinander war unumstößlich. Doch nun? Frank hatte ihm versprochen täglich in die Reha zu kommen. Aber er besuchte Oliver nicht einmal. Auf Anrufe reagierte er nicht oder unterbrach die Gespräche, bevor er sie annahm. Das Gefühl, verraten worden zu sein, manifestierte sich stetig. Zurzeit schrumpfte Olivers Welt.
Oliver konnte den Verantwortlichen dafür namentlich benennen: Tom Hoffmann! In ihm gärte tiefer Hass auf seinen Vater.
Obwohl die Zwillinge und er das Massaker überlebt hatten, zahlten sie einen hohen Preis. Sie waren in den Augen der Nachbarn und Freunde sozial Aussätzige.
Für einen Moment schossen ihm Tränen in die Augen. Der Schmerz, die Wut und die Hilflosigkeit, die er empfand, rissen ihm den Boden unter den Füßen fort. Er schluchzte. Zugleich ballte er die Fäuste. Mühsam kämpfte er um sein inneres Gleichgewicht. Es fiel ihm unendlich schwer, all die finsteren Gedanken von sich zu schieben. Sein Herz wog schwer wie ein Stein in seiner Brust.
Er presste die Kiefer aufeinander, bis seine Zähne schmerzten. Schließlich gelang es ihm, zumindest seine Tränen versiegen zu lassen. Allerdings tat jeder Muskel in seinem Gesicht weh. Alles fühlte sich verkrampft und hart an. Bevor die beiden Beamten hoch kamen, musste er sich waschen. Verheult und vollkommen außer Fassung konnte er den beiden nicht begegnen.
*
Als Oliver das Bad verlies, hörte er Weishaupts barsche Stimme bereits aus seinem Zimmer.
„Deine Aufgabe ist es, in erster Linie ein Auge auf den Jungen zu haben.“
„Ich bin Beamter und beim BKA!“, schnauzte Daniel verärgert. „Aufpassen, klar, schön. Mache ich auch gern. Aber ihr solltet dem Jungen mal zuhören! Er könnte uns allemal mit seinem Wissen weiter helfen, Bernd! Ollis Ideen sind gut. Er hat das passende Gespür und kennt seine Familie um Längen besser als wir alle zusammen.“
Oliver blieb auf dem Flur stehen. Er war sich bewusst, dass er lauschte. Das interessierte ihn nicht weiter.
„Oliver ist in erster Linie Zeuge und Kläger, Daniel“, entgegnete Weißhaupt gezwungen ruhig.
Durch den schmalen Spalt fiel Licht auf den Flur. Für den Bruchteil einer Sekunde war es fort, nur um wieder aufzuflammen. Einer der beiden ging auf und ab. Oliver nahm an, dass es Bernd Weißhaupt war. Diese Unruhe passte zu ihm.
„Er ist ein Mensch, der wissen will, was warum geschieht. Verstehst du das nicht? Man hat ihn Zeitlebens immer nur belogen, wenn ich das richtig mitbekommen habe.“ Weißhaupt stöhnte theatralisch, was Daniel nicht davon abhielt weiter zu reden. „Sein Vater gehört dem Organisierten Verbrechen an, steht unter akutem Mordverdacht in was-weiß-ich-wie-vielen Fällen, seine Mutter ist mit einem anderen Mann liiert, der ihr ein Kind angehängt hat und sein Großvater ist ein verlogenes Schwein …“
Olivers Ohren dröhnten. Daniel sprach von seinem Vater als Mörder und Mafiosi? Seine Kopfschmerzen kehrten mit doppelter Wucht zurück. Entsetzt schüttelte Oliver den Kopf. Unmöglich! Er fand gar nicht mehr die Zeit, all die ganzen, neuen Informationen aufzunehmen, die ihn nun bestürmten. Besonders weil jede einzelne seine Welt etwas weiter erschütterte.
„Sein Großvater, da sagst du was sehr Wichtiges“, unterbrach Weißhaupt Daniel. „Der Mann ist tatsächlich nicht ganz ohne.“
Entsetzt schloss Oliver die Augen. Langsam richtete er sich auf. Noch länger zu zögern, würde ihm jetzt nicht helfen. Mühsam straffte er sich und versuchte, nicht allzu entsetzt auszusehen. Wenn er gerade aus dem Bad kam, konnte er kaum mehr gehört haben, als den letzten Satz. Oliver schob die Tür auf.
„Was ist mit meinem Großvater?“, fragte er. Seine Stimme klang jämmerlich. Weißhaupt hob nur kurz und unbeeindruckt den Kopf. Seiner Mimik nach wusste er, dass Oliver sie belauschte.
Daniel hingegen rückte auf dem Sofa etwas und klopfte neben sich auf den dunkel gemusterten Velours. Oliver ignorierte ihn. Er fühlte sich schwindelig und müde. Sein Atem ging nachdem er geweint hatte, immer noch sehr schnell. Er fühlte sich, als sei er von der Innenstadt bis hier hinaus gerannt.
„Dein Fund“, erklärte Weißhaupt. „Laut der ersten Aussage deines Großvaters wusste er nicht, wessen Gebeine dort lagen. Allerdings haben unsere Kollegen von Spurensicherung und Forensik andere Beweise erbracht.“
Oliver schauderte. Er kam nun doch Daniels Aufforderung nach und ließ sich neben dem jungen Beamten nieder.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er Daniels Anspannung.
Weißhaupt ließ sich in den Bürostuhl fallen. „Die Gebeine sind rund siebzig Jahre alt. Sie stammen von vielleicht sechs oder sieben Menschen. Genau ließ sich das in der kurzen Zeit noch nicht sagen.“
„Das war aber zu Weltkriegszeiten. Da war mein Großvater etwa so alt wie ich es jetzt bin“, warf Oliver ein.
„Er war offensichtlich Mitglied der HJ. Zwischen den vermodernden Stoffresten lag eine Anstecknadel mit dem Parteiabzeichen, eingestochen in ein Namensschild.“
„Sein Name“, murmelte Oliver tonlos. Er senkte den Kopf. „Darüber hat er nie gesprochen.“
„Das schreibt sich heute auch niemand gern auf die Fahne“, antwortete Weißhaupt.
Oliver kannte aus der Schule und Erzählungen die Doktrin der damaligen zeit: entweder war man Parteifreund oder -Gegner, wobei die Lebenserwartung der letzten Gruppe deutlich geringer war. Trotz allem sträubte sich alles in ihm gegen Weißhaupts Vermutung.
„Wie wurden diese Menschen getötet?“, fragte er leise.
„Gewaltlos, wie es aussieht“, entgegnete Weißhaupt. „Die Untersuchungsergebnisse sind noch nicht da.“
„Haben Sie einen Verdacht?“, fragte er.
Weißhaupt hob die Schultern. „Schon. Allerdings ist nichts davon bestätigt worden.“
Oliver nickte schwach. „Hat das Einfluss auf den Fall meines Vaters?“
„Vermutlich nicht“, gestand der Kommissar.
Daniel senkte den Kopf. „Nur eine Theorie“, begann er. Oliver sah ihn an. Der junge Beamte erwiderte seinen Blick. In seinen Augen glomm neuer Enthusiasmus. „Was, wenn jemand von der Verbindung zwischen Markgraf und den Leichen in seinem Keller wusste und ihn sogar unter druck gesetzt hat?“, fragte Daniel.
Oliver schnappte nach Luft. Ihm fiel der blonde Mann wieder ein. Die Möglichkeit war gar nicht so abwegig. Vielleicht konnte er an dieser Stelle ansetzen!
„Du bist auf dem Holzweg“, dämpfte Weißhaupt ihn wieder herunter. Innerlich stöhnte Oliver. Sah denn der Kommissar die Möglichkeiten nicht?!
Daniel hob die Brauen. Stumm beobachtete er seinen Kollegen.
„Zumindest ich kann zurzeit keine Querverbindungen ziehen.“
Misstrauisch beobachtete Oliver den Beamten. In Weißhaupts Mimik zuckte es. Er zog offensichtlich Schlüsse, wollte sie aber hier nicht ausbreiten! Verärgert und frustriert ließ sich Oliver zurücksinken.
Weißhaupt sprach nach kurzem Zögern weiter: „Davon abgesehen gab der alte Mann im der zweiten Vernehmung an, doch von den Toten gewusst zu haben. Weitere Informationen fehlen mir noch.“ Er schwieg kurz. Oliver legte den Kopf schief. „Wird ein solch alter Fall verfolgt?“
„Das betraf den zweiten Weltkrieg. Theoretisch ist der Fall wideraufrollbar, aber praktisch werden diese Menschen sicher unter die Opferstatistik der damaligen Zeit fallen. Besonders wenn sich ergeben sollte, dass es sich um Juden handelte.“
„Verjähren kann ein Mord in keinem Fall“, erklärte Daniel, an Oliver gewandt. „Wahrscheinlich sind alle Unterlagen aus der Zeit vernichtet worden oder zumindest verschwunden. Aber ich behalte es im Hinterkopf. Versprochen.“ Die Zuversicht und Wärme in Daniels Stimme flößte Oliver unbedingtes Vertrauen ein. Trotzdem wehrte er sich gegen das Gefühl. Wie sehr konnte er Daniel trauen? Vielleicht war das nur die Hinhaltetaktik des Polizisten.
Oliver senkte den Kopf. Mühsam atmete er mehrfach durch. Er glaubte an eine Verbindung zwischen den Fällen, schon aus erpresserischen Gründen war es eine Möglichkeit, die er nicht außer Acht lassen konnte. Weshalb sah Weißhaupt das nicht genauso? Er hatte seinen Großvater und die sinistere Szene im Keller miterlebt! Augenblicklich schob er diesen Zustand auf seine Übermüdung. Immerhin hatte er in den letzten Tagen nicht viel Schlaf bekommen.
„Ach ja“, rief Daniel plötzlich. Weißhaupt starrte ihn verständnislos an. „Hier, das hatte Oliver gefunden. Wäre vielleicht eine Untersuchung im Labor wert.“
Er reichte den zersplitterten und die intakten Flakons an Weißhaupt weiter. „Parfum?“, fragte der Kommissar kritisch.
„Nicht wirklich“, erklärte Daniel. „Was es ist, wissen wir beide nicht.“
Weißhaupt öffnete eine der Dosen. Vorsichtig roch er daran. „Das Labor wird sich die Flaschen anschauen müssen“, bestätigte er. Dann wurde er sehr ernst. „Was mich interessiert: was ist denn bei eurem …“, er zögerte, wies dann aber auf die Tüten mit den Flaschen, „Alleingang heraus gekommen?!“
*
Während Daniel Weißhaupt von ihren Ideen und Erfolgen erzählte, spürte Oliver, wie sein Geist abdriftete. Die Worte verwoben sich mit Bildern, die ihm real erschienen. Er ging langsam durch das Haus. Während er Daniels Erzählung lauschte, die kaum noch zusammenhängenden Sinn ergab, betrachtete er sich das Schlafzimmer. Alles schien an seinem Platz zu stehen. Im Schrank hingen Anzüge seines Vaters. Auf dem Bett lagen Morgenrock und Nachthemd seiner Mutter. Einer der alten Hartschalenkoffer stand offen mitten im Raum. Der Ärmel einer ihrer Blusen hing heraus. Oliver ging langsam durch das Zimmer. Wie kam Daniel auf die Idee, dass sich hier nichts mehr befand?
Eine leise Stimme in seinem Kopf wisperte, seine Eindrücke seien nicht real. Verwirrt setzte Oliver sich auf die Bettkante und sah sich eine Weile um. Sonnenlicht fiel durch die Fenster und malte auf Perserteppiche und Parkett warme und freundliche Muster. Vögel sangen. Sein Blick strich über den Spiegel. Oliver sah sich: müde, mit tiefen Ringen unter den Augen, grauen, eingefallenen Wangen und hängenden Schultern.
„Oliver?“
Er drehte sich um. Daniel schien direkt neben ihm zu sein, aber Oliver sah ihn nicht. In seinem Unterbewusstsein war ihm klar, dass er nicht in der Sommerhitze im Schlafzimmer seiner Eltern saß. Trotzdem war es so real. Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Wo bist du?“
„Oliver, du bist übermüdet“, flüsterte Daniel in sein Ohr.
Der Geruch nach Zigaretten und Kaffee stieg in Olivers Nase. Daniel war dicht bei ihm … nur wo?
„Wach auf“, sagte der junge Beamte sanft.
Oliver begriff, dass er sich im Halbschlaf befand. Langsam, quälend schwer, fand er in die Wirklichkeit zurück.
Dunkle Spinnweben versuchten ihn dort zu halten, in einem intakten Haus …
Sein Nacken schmerzte, als er sich langsam aufrichtete. Daniel begegnete seinem Blick. „Alles in Ordnung?“
Oliver nickte schwerfällig. Die Wärme kam von einer Wolldecke, die ihm einer der beiden Beamten übergelegt haben musste. Der intensive Geruch Daniels ließ sich auch einfach erklären. Er saß dicht an Olivers Seite. Daniels Schulter diente ihm wohl als Kopfkissen. Oliver erschrak. Ein Stromschlag durchfuhr seinen Körper. Wellen von Hitze und Kälte rannen durch seine Adern. Es war ihm Peinlich, so vertraut mit einem fremden Mann umzugehen.
„Entschuldige!“, keuchte er.
Daniel lächelte nichtssagend. Im ersten Moment wusste Oliver diesen Blick nicht zu interpretieren. Doch die matten, tiefliegenden Augen Daniels sagten ihm, dass der junge Polizist unwesentlich weniger erschöpft sein musste.
„Wir sollten erst mal ins Heim zurück gehen“, schlug Daniel mit schleppender Stimme vor.
„Gehen?“, murmelte Oliver. „Du Sadist.“
*
Als Oliver erwachte, trug er noch immer seine Kleidung. Ihm fehlte die Erinnerung, wie er in den sterilen Raum und das ihm fremde Bett gekommen war. Er versuchte zu rekapitulieren. Die Bilder seines Traums hielten sich in seinem Geist. Blinzelnd versuchte er die Reste des Schlafs abzustreifen.
Erinnerung der gestrigen Tage mischten sich mit verworrenen Eindrücken. Die Hallen des Johannesstifts gingen nahtlos in den Gewölbekeller seines Großvaters über. Zwischen mächtigen, gemauerten Stützen wogten Schatten, in denen etwas lauerte. In seinen Träumen nannte er die Präsenz Mörder. Oliver konnte diese Empfindung, die dieser Blick aus dem Nichts bei ihm auslöste, nicht anders benennen. Inwieweit diese Umschreibung zutraf, konnte er nicht sagen. Sie versetzte ihn in Angst.
Mühsam schon er die letzte Fetzen seiner Vorstellung von sich.
Gähnend richtete Oliver sich auf. Die Müdigkeit hielt ihn noch immer fest. Graues Licht drang durch die Vorhänge. Er schwang die Beine vom Bett. Alle Knochen schmerzten.
Langsam stemmte er sich auf die Füße.
Bei einem weiteren Rundblick stellte er fest, dass dieses Zimmer nicht sein Raum sein konnte. Auf dem Schreibtisch stand ein übervoller Aschenbecher. An der Wand hingen Poster von Schleimkeim, Die Gefahr und Sid Vicious. Auf einem Stuhl lagen Jeans und ein Kapuzenpulli. Über der Lehne hing eine schwere, ausgeblichene Lederjacke mit Nieten und Ketten. Oliver fuhr sich durch die Haare. Dieser Raum gehörte Daniel.
Obwohl sich sein Gehirn noch immer wie Gelatine anfühlte, begriff er, dass der junge Polizist hier wohl schon eine Weile residieren musste. Der Raum sah definitiv so verlottert aus wie Daniel.
Ihm war bereits gestern Abend aufgefallen, dass Daniel von Kai und seinen Freunden nicht wie ein Neuankömmling behandelt wurde. Zumindest lag das Hauptaugenmerk des Polizisten bisher nicht auf Oliver und seinen Brüdern.
Er begriff nur nicht, wieso Daniel ihn hier untergebracht hatte. Es gab nicht einmal ein zweites Bett. Davon abgesehen wurde Oliver ein eigenes Zimmer zugewiesen.
Er hörte die Tür hinter sich.
„Moin-moin“, begrüße Daniel ihn. Er stellte Olivers Tasche neben seinem Kleiderschrank, über dessen offenen Türen seine Shirts und Hosen hingen, ab und ließ sich in seinen Bürostuhl fallen.
„Was wird das?“, fragte Oliver vorsichtig.
„Du bleibst erst mal bei mir im Zimmer. Später kommt der Hausmeister und baut ein Zweitbett auf.“
Wut rann heiß durch Olivers Körper. „Ich bin kein Kind mehr!“, zischte er.
Daniel nickte wissend, ging aber nicht näher darauf ein.
„Pack aus und fühl’ dich wie zu Hause.“
*
Während er sich duschte und rasierte, sammelte sich nur noch mehr Ärger über Daniels selbstgefällig lockeres Verhalten in ihm an.
„Kann es sein, dass du mich nicht ernst nimmst?“, fragte Oliver, nachdem er aus dem Bad zurück kam.
Der Beamte saß an seinem Tisch. Vor ihm stand ein kleines Notebook. Durch den verspiegelten Bildschirm konnte Oliver von seiner Position aus nichts darauf erkennen. Allerdings war er überzeugt, dass niemand in dieser Einrichtung auch nur den Hauch einer Ahnung von Daniels Doppelleben und seinen Besitztümern hatte.
Er trat hinter den Beamten und sah ihm über die Schulter.
Daniel arbeitete parallel in mehreren Fenstern. Eines davon war Outlook. Beständig schaltete er zwischen seinen Mails und einigen PDF-Files hin und her. Offenbar überflog er die Nachrichten nur oberflächlich. Sein Hauptinteresse galt den Dateien. Er ließ sich von Oliver nicht nennenswert aus dem Konzept bringen. Unvermittelt wendete sich Daniel zu seinem Schützling um. Er sah Oliver ruhig an. Zum ersten Mal wirkte er nicht wie ein heruntergekommener Punk, sondern entsprach dem Bild eines gefassten Erwachsenen.
„Doch, sogar sehr“, antwortete er mit reichlicher Verspätung auf Olivers Frage. „Deswegen recherchiere ich gerade in deinem Interesse.“
Daniels Stimme klang vollkommen neutral. Trotzdem, glaubte Oliver, schwang ein strenger Unterton mit.
Die Worte trafen ihn überraschend hart. Er wollte Daniel nichts unterstellen. Trotzdem kam es ihm so vor, als würde Daniel alles über seinen Kopf hinweg entscheiden. Nachdenklich begegnete er Daniels Blick. „Du fragst mich nicht sondern handelst einfach, ohne anzuwarten, ob ich einverstanden bin.“
Daniel hob eine Braue. Schließlich entspannte er sich. „Ich mache mir Sorgen um dich und will dich bei all meinen Aktionen mit einbinden. Dafür ist es unerlässlich, dass du bei mir bist.“
Oliver nickte. „Ist okay für mich. Aber du hättest wenigstens bescheid geben können, dass du mich hierher verlegen lässt.“
Daniel senkte den Blick. „Schon richtig. Sorry.“ Eine kurze Pause entstand. Offenbar überlegte er. „Ich bin den Umgang mit Menschen wie dir nicht gewohnt. Normalerweise arbeite ich allein und bin nur von ziemlichen Freaks umgeben. Da ist jeder stur und eigenwillig, weiß aber oft nicht, was er tut. Deshalb …“ Er ließ den Satz offen. „Ich verspreche Dir, nun nicht mehr über deinen Kopf hinweg zu entscheiden, okay?“ Er sah zu Oliver auf.
In seinem hageren Gesicht lag ein freundlicher, sanfter Zug. Seine hellen Augen leuchteten. Oliver atmete tief durch. Er konnte sich Daniels Art nicht mehr erwehren. Ihm fehlte ein Freund. Dieser Mann bot sich ihm an, reichte ihm beide Hände und blieb beharrlich bei seiner hilfsbereiten Offenheit. Wie konnte Oliver noch länger seine Freundschaft zurückweisen?
„Es tut mir leid“, sagte er nach einer Weile leise.
Daniel betrachtete ihn stumm. Er grinste. Kleine Fältchen kräuselten sich um seine Augen. Es war das erste, ehrliche Lächeln seit Langem. Schließlich drehte er sich wieder seinem Rechner zu.
„Schon okay, Olli. Mach dir deswegen nicht ins Hemd. Ich kann dich ja verstehen.“
Oliver setzte sich auf die Tischkante. „Wirklich?“, fragte er leise.
Wortlos krempelte Daniel den Ärmel seines Shirts hoch. Zwischen diversen anarchistischen Tattoos entdeckte Oliver feine Schnitte, Brandnarben und Einstiche.
„Glaub mir“, sagte er. „Meine Eltern haben sich gegenseitig und mich gehasst. Bevormundung war da an der Tagesordnung.“ Er hob die Schultern. Sein Blick folgte Olivers zu seinen Verletzungen. Er lachte heiser auf „Ich bin nicht mit einem goldenen Löffel im Arsch geboren worden und war auch nicht immer Bulle.“
„Ich habe einige Fragen an dich“, sagte Oliver. Er schob Daniels Chaos zurück und setzte sich auf den Tisch.
„Welche?“, fragte der Polizist, während er von seinem Bildschirm aufsah.
„Warum bist du hier?“
Daniel grinste.
Verunsichert beobachtete Oliver ihn. Er hatte keine Ahnung, ob der Beamte ihm überhaupt antworten wollte.
„Weil ich hier ermitteln muss.“
„Gegen einen der Jungen, oder jemand vom Personal?“, fragte Oliver, ohne sich Gedanken zu machen, ob er damit über das Ziel hinaus schoss.
„Das kann ich dir leider nicht sagen“, erklärte Daniel lächelnd. Er zwinkerte Oliver zu. „Aber du warst eigentlich nicht mein Auftrag.“
„War mir schon klar. Das sagtest Du gestern Nacht bereits“, entgegnete Oliver ernst. „Kannst du deinen Aufgaben überhaupt noch nachkommen?“
Daniel lachte auf. „Zerbrich dir nicht meinen Kopf, Kleiner.“
„Danke!“, knurrte Oliver. Kleiner! Dieser Ausdruck ging ihm gegen den Strich. Sein Vater nannte ihn oft so. Trotzdem schluckte er das Gefühl herunter. Daniel musste glauben, dass er extrem zickig war. Oliver kniff die Augen zusammen.
„Wie alt bist du eigentlich?“ Die Frage rutschte ihm heraus, bevor er sich genauere Gedanken darüber gemacht hatte.
Daniel reagierte geduldig.
„Ich bin fünfundzwanzig“, antwortete er gelassen. „Und, wie du dir vermutlich denken kannst, heiße ich eigentlich gar nicht Daniel Kuhn.“
Oliver nickte widerwillig. Der Gedankengang gefiel ihm nicht. „Lerne ich dich eigentlich irgendwann wirklichen kennen, oder bleibst du immer nur der verdeckte Ermittler?“
„Willst du mich denn kennen lernen?“, fragte Daniel zweifelnd. „Bisher hatte ich den Eindruck, dass du lieber alles allein regelst und jeden verbeißt, der versucht dein Freund zu sein.“
Schuldbewusst sah Oliver ihn an. Bevor er etwas sagen konnte, schüttelte Daniel entschieden den Kopf und hob eine Hand, um jedes Wort zu unterbinden. „Ich weiß, dass du nur deinen Brüdern traust. Deine Familie und deine Freunde haben dich allein gelassen. Das habe ich nun unterdessen kapiert.“ Er legte eine kurze Kunstpause ein, wobei er Olivers Blick fest hielt. „Du versuchst alles allein auf die Reihe zu kriegen. Zugleich siehst du dich als der Beschützer deiner Brüder …“
In Oliver kochte bereits wieder verletzte Wut. In der ersten Sekunde wollte er etwas sagen, doch Daniel brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Hör’ mir bitte erst mal zu, Olli“, bat er sanft, aber eindringlich. Seine ruhige, souveräne Art wirkte sich auf Olivers Gemüt aus. Er spürte, wie seine Wut abflaute.
„Du bist fast sechzehn, auch wenn du wesentlich älter wirkst. Aber du kannst nicht alles allein stemmen. Überlass’ auch etwas deinen Freunden: Bernd und mir. Wir können und wollen dir und den Zwillingen helfen. Davon abgesehen haben wir auch die Befugnis – sozusagen - über die Strenge zu schlagen.“
Oliver schwieg. Er ließ die Worte Revue passieren. Freunde? Waren die beiden Beamten tatsächlich Freunde? Er musste zugeben, dass sich in den letzten achtundvierzig Stunden niemand so stark für seine Brüder und ihn eingesetzt hatte, wie Daniel und Weißhaupt.
Insgeheim fühlte er sich Daniel bereits in Freundschaft verbunden. Er wollte ihm vertrauen. „In Ordnung“, murmelte er. „Dennoch möchte ich nicht außen vor gelassen werde.“
Daniel lachte. Mit einer Hand berührte er Olivers Arm. „Vertrauen gegen Vertrauen.“
*
Oliver erklärte seinen Brüdern detailliert, was sie gestern Nacht gefunden hatten, wobei er mit untergeschlagen Beinen auf seinem neuen Bett saß. In einer Hand hielt er einen Becher Kaffee. Chris lag in seinem Arm und kaute auf einem dick belegten Sandwich herum. Michael lag ausgestreckt da, den Kopf in das frische Kissen gekuschelt und die Füße auf dem Schoß seines großen Bruders. Melancholie lag in seiner Mimik. Fern dieser Wirklichkeit verloren sich seine Blicke. Offenbar dachte er nach. Es gab so viel, was die beiden Jungen bewältigen mussten. Jeder ging damit anders um. Chris ignorierte die Probleme, während Michael sie ausgiebig sezierte. Allerdings musste Oliver sich eingestehen, dass er auch nichts anderes tat. Seine Art, darauf zuzugehen und zu handeln, war mit etwas Pech nicht weniger erfolglos als die der Zwillinge. So schuf er beständig neue Fußfallen, auf die sich die Jungen einstellen mussten. Oliver seufzte. Sein Blick strich durch den Raum und blieb an Daniel hängen. Der Polizist saß immer noch an seinem Notebook. Er las konzentriert seine Mails. Um sich nicht all zu stark von Olivers Erzählungen ablenken zu lassen, hörte er Musik über seinen MP3-Player.
„Was das Parfum betrifft:“, warf Chris lächelnd ein, „wahrscheinlich ist das was, was den ganzen süßen Gestank neutralisieren kann. Sollte man in Massenausfertigung …“
„Red’ doch keinen Quatsch!“, knurrte Oliver unwirsch.
„Das war echt ein blöder Spruch“, fügte Michael hinzu. Er legte den Arm über die Augen.
„Erzähl weiter, Olli“, forderte er seinen großen Bruder auf, wobei er sich wie eine Katze räkelte.
„Bernd Weißhaupt hat die Fläschchen zur Analyse mitgenommen …“
„Das müsst ihr euch anhören!“, Daniel drehte sich schwungvoll in seinem Bürostuhl um.
Oliver warf ihm einen bösen Blick zu, den der Polizist ignorierte. Stattdessen zog er sich die Kopfhörer aus den Ohren.
„Bernd hat geschrieben, dass in den Fläschchen eine konzentrierte Form von Digitalis mit chemischen Beimischungen war. Digitalis“, erklärte er, „Fingerhut also, wird als Medikament gegen Herzkrankheiten verwendet.“ Er zögerte kurz. Sein Blick streifte die Zwillinge. Offensichtlich überlegte er, ob er den letzten Satz gefahrlos sagen konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Bei Kindern ist es zumeist ein tödliches Gift!“
Oliver hob den Blick. „Unsere Mutter war nie Herzkrank.“
Daniel schüttelte den Kopf. „In der von uns sichergestellten Konzentration wird es – laut Analyse - nicht verkauft“, erklärte er. „Dieses Zeug würde auch einen Erwachsenen umbringen.“
„Gift“, murmelte Oliver.
Michael hob den Arm und sah zu Daniel hinüber. „Was willst du damit andeuten?“, fragte er.
„Das kann ich euch noch nicht sagen“, erklärte er. „Aber ich werde mich später mit Roth treffen, um einen Überblick über den Fall zu bekommen und um ein paar Details der bereits abgeschlossenen Ermittlungen gegen euren Vater in Erfahrung zu bringen.“
„Wollte Tom uns vergiften?“, fragte Chris. Er leckte sich die Finger ab.
„Blödmann!“, murmelte Michael. Anhand seines Tonfalls erkannte Oliver, dass sein kleiner Bruder bereits wieder nachdachte. Auch er wägte die Worte Daniels ab. Was bedeuteten drei Flaschen Gift im Besitz seiner Mutter?
Die Antwort war einfach wie auch schrecklich. Sie wollte jemand anderen töten. Wer, außer Tom würde dafür in Frage kommen?
Marc, das Kind, was seine Mutter verabscheute.
Oliver ließ Christian los und rieb sich über die Augen. Er spürte Michaels Blicke auf sich. Automatisch sah er seinen Bruder an.
Aus seiner Mimik konnte Oliver nichts heraus lesen. Trotzdem war da ein Gedanke, ein Verdacht, der für Michael offenbar gestalt annahm. Seine Augen wurden groß und dunkel. Offensichtlich hegte er den gleichen Verdacht. Oliver wagte nicht, ihn auszusprechen.
„Mama würde keinen umbringen“, sagte Christian im Brustton der Überzeugung. Als ihm nur Stille entgegen schlug, schluckte er. Instinktiv kugelte er sich enger neben Oliver zusammen und schlang beide Arme um seinen großen Bruder. „Wen wollte sie denn umbringen?“, fragte Chris deutlich schüchterner, während er sich den Hals nach seinem großen Bruder verdrehte.
Oliver warf ihm einen bösen Blick zu.
„Hat es denn nun Mama gehört oder nicht?“, fragte Christian beleidigt.
Für mehrere Sekunden hingen seine Worte in der Luft. Ihnen allen war bewusst, dass ihre Mutter mehr geplant haben musste, als die Familie zu verlassen. Der Gedanke implizierte ein befremdliches Bild von Silke Hoffmann. Sie war keine liebevolle Mutter.
Im Gegensatz zu Oliver hatten die Zwillinge die langsame Abkapselungsphase ihrer Mutter von ihrem Vater und der Familie nicht so deutlich mitbekommen.
Sie nahm kurz nach der Geburt der beiden Jungen Abstand von ihrer Familie. Anfangs empfand Oliver ihre ständigen Geschäftsreisen als immer länger währende Einsamkeit. Für ihn war es etwas Besonderes, wenn sie nach Hause kam. Damals freute sie sich auf ihre Kinder. Sie brachte weniger Geschenke mit und blieb dafür länger in Wiesbaden. Seine Mutter nahm sich Zeit für die beiden Kleinkinder und Oliver.
Eine heiße Woge von Liebe, Schmerz und Verlust drohte ihn zu überspülen.
Viele Erinnerungen waren präsent. Ihr gemeinsamer Urlaub in das kleine Alpendorf drängte sich ihm auf. Damals hatte sich seine Mutter fast zwei Wochen nur um ihre drei Jungen gekümmerte. So viel Liebe und Nähe …
Er senkte die Lider und verschloss die Tür, hinter der sich all das Schöne aus seiner Kindheit verbarg.
Die Einsamkeit kroch wieder aus ihren Schatten.
Nach einigen Jahren nahmen die Besuche ab, während sich die sinnlosen Geschenke mehrten. Oliver wollte damals keinen eigenen Rechner. Ebenso waren ihm Handy und iPod vollkommen gleichgültig.
Erst nachdem Elli geboren wurde, nahm sie sich die Zeit, eine Weile allein mit Oliver zu verbringen. Rückblickend begriff er, wie sehr sie ihn manipuliert hatte: Sie nahm ihm das Versprechen ab, sich immer um Elli zu kümmern und ihr all seine Liebe zu schenken. Er sollte sie beschützen, gleich was passieren würde.
Oliver übernahm damit ihre Rolle.
Obwohl sie in Ellis ersten Lebensjahren verstärkt zu Hause vorbei kam, verlor sie zusehends das Interesse an ihren Kindern. Schließlich, nur knappe zwei Jahre später, versiegten die Besuche ganz. Oliver wartete ein Dreivierteljahr. Seine Mutter kam nur noch, um ihren gerade geborenen, jüngsten Sohn zu Hause abzuliefern. Damals erschien sie ihm kalt wie eine Fremde. Hasste sie ihre Kinder? Diese Frage stellte er sich damals sehr oft.
Sie war selten mehr als ein Gast in ihrem eigenen Haus. Dieser Eindruck verstärkte sich zusehends. Oliver wusste auch damals, dass die Spannungen zwischen ihr und seinem Vater einer der Gründe waren. Er begriff nicht, warum sie sich nicht trennten. Ihre Anwesenheit war doch ohnehin nichts anderes als eine Abwesenheit mit interaktivem Bild. Wenn Oliver sie zur Rede stellen wollte, schwieg sie, oder wechselte das Thema. Trotzdem wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel erfolgreicher ausgegangen. Lag in ihrem Hass auf ihren Mann das Geheimnis jener Nacht begründet? Oliver stellte sich die Frage, ob sie auch Tom töten wollte. Eine Antwort fand er nicht. Er biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht lag er vollkommen falsch. Noch stand nicht fest, dass seine Mutter diese Flaschen mitgebracht hatte!
Oliver belog sich selbst. Er wusste es. Trotz allem produzierte sein Verstand ständig neue Szenarien, die sie entlasteten.
Sein Schädel brummte. Oliver sehnte sich nach Ruhe und Schmerztabletten. Allerdings lagen seine Wünsche ferner denn je. „Daniel, bekomme ich noch irgendwoher einen Kaffee und eine Zigarette?“, fragte er dumpf.
Der Polizist erhob sich. Aus seiner Hosentasche zog er ein zerdrücktes Päckchen hervor und warf es Oliver zu.
„Feuerzeug ist drin“, erklärte er.
„Danke“, murmelte Oliver, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen klemmte und anzündete. Nach dem ersten Zug hustete er. Das Kraut war billig. Der Rauch reizte seinen Hals. Trotzdem beschwerte er sich nicht. Als er Daniel das Päckchen zurückgeben wollte, winkte der Polizist ab. „Ich habe noch. Kannst es behalten.“
Oliver lächelte ihm dankbar zu. Gerade als er es in die Beintasche seiner Cargopants stecken wollte, ergriff Chris die Schachtel und warf sie zu Daniel zurück.
„Hey …!“, rief Oliver.
„Hör’ auf!“, drohte Christian verärgert.
Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Oliver war bereits wieder wütend, allerdings brannte auch in Christians Augen blanker Zorn.
„Ruhe!“, knurrte Daniel. Er trat zum Bett und setzte sich auf die Kante. Das Gestell ächzte unter der Belastung von vier Menschen. Daniel ignorierte es.
„Chris, ich kann verstehen, dass es dir nicht passt, wenn Olli raucht. Du hast recht, wenn du ihn immer wieder daran erinnerst, dass das ungesund ist“, er warf Oliver einen kurzen, warnenden Blick zu. „Aber im Moment steht er ziemlich unter Druck. Versuch dich mal in seine Lage zu versetzen.“
Christian kniff die Augen zusammen. Er beobachtete offenbar den Beamten und Oliver. Sein Ärger verrauchte zusehends. Scheinbar versuchte er sich wirklich über das Ausmaß der Geschehnisse klar zu werden.
Michael setzte sich auf, um sich gegen Olivers andere Schulter zu lehnen. Still schlang er beide Arme um die Taille seines großen Bruders. Oliver fühlte die Wärme und das stumme Verständnis Michaels. Sanft legte er seinen Kopf gegen den seinen kleinen Bruders. Die Ruhe, die von Michael ausging, beruhigte ihn.
In dieser Sekunde übermannte ihn ein unglaubliches Gefühl von Liebe für die beiden Jungen. Er würde nie zulassen, dass man sie trennte. Nun wusste er, wofür er stark sein musste.
Oliver begriff das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Daniel als Freundschaft. Ihm wurde klar, dass er dem Polizist vertraute. Trotz der ganzen unterschiedlichen Eindrücke, die auf ihn einstürmten und überforderten, fühlte Oliver sich wohl. Der Gedanke, dass Daniel ihm zur Seite stand, erschien ihm gar nicht mehr als Einbruch in seine Privatsphäre. Viel mehr gab es ihm etwas von seiner Sicherheit zurück.
Still lächelte er Daniel zu.
Der Beamte erwiderte es.
Wortlos schob er Oliver die Zigaretten wieder zu. Schließlich erhob er sich. „Schauen wir mal, was unser nächtlicher Fund mit dem Fall zu tun hat.“
*
Während Daniel unterwegs war, wurde Oliver in die Verwaltung gerufen. Als er von der Sekretärin in das Büro des Stiftleiters geführt wurde, wendeten sich zwei ihm bisher unbekannte Frauen um. Die jüngere der Beiden musterte Oliver einige Sekunden neugierig. Sie hatte rote, filzige Locken und außergewöhnlich blasse Haut. Schön war sie nicht. Ihr Gesicht besaß die typische Schwammigkeit eines übergewichtigen Menschen. Trotzdem fand Oliver sie auf Anhieb sympathisch. Wahrscheinlich lag es an ihren großen, blauen Augen. Ihr Blick war sanft. Sie lagen in einem Netz feiner Lachfältchen. Oliver schätzte sie auf Mitte dreißig.
Ihre ältere Kollegin beobachtete ihn kritisch. Anhand ihrer hageren, hochgewachsenen Gestalt und ihrem knochig schmalen Gesicht, wirkte sie in der ersten Sekunde hart. Durch die millimeterkurzen, grauen Haare erinnerte sie an eine Personifikation des Todes. Sie schien die Fünfzig bereits hinter sich gelassen zu haben, was ihr allerdings kein Bisschen von ihrer ungestümen Energie geraubt hatte. Sie verströmte Kraft, die selbst Oliver, der in Gedanken noch bei seinen eigenen Problemen verweilte, mitzureißen drohte. Oliver beobachtete sie neugierig, im gleichen maße abschätzend, wie sie ihn über den Rand ihrer schmalen, farbigen Hornbrille musterte.
„Frau Merk und Frau Ludovik sind vom Jugendamt.“
Oliver fuhr zusammen. Hinter der Tür stand der Stiftleiter. In einem Sessel, gegenüber seinem Schreibtisch saß Frau Richter, Olivers ehemalige Psychologin. Sie nickte Oliver kurz und unverbindlich zu. Etwas in ihrer Haltung warnte Oliver, dass ihm das Gespräch nicht gefallen würde. Frau Richters Haltung war Ausdruck reiner Anspannung. Als er tiefer in den Raum trat, bemerkte er die steile Falte zwischen ihren Brauen.
Oliver konnte sich denken, was nun auf ihn wartete. Sie mussten klären, was im Falle einer Vormundschaft und Adoption zu regeln wäre.
Der Einrichtungsleiter wendete sich ab, um mehrere Kaffeetassen an einer plakativ bunten Pumpkanne aufzufüllen. Er brachte sie den Damen.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken, Oliver“, sagte der Mann in freundlichem aber nebensächlichen Tonfall, wobei er es vermied, sich zu Oliver umzusehen.
Die ältere der beiden Frauen bedankte sich mit einem Kopfnicken. Ihr breiter, voller Mund verzog sich zu einem Lächeln. Trotz ihrer Strenge verströmte sie plötzlich herzlich Wärme. „Ulrike Ludovik ist mein Name“, stellte sie sich vor. Sie reichte Oliver ihre knochige, lange Hand, während sie in der anderen die Tasse balancierte. Der Kaffee schwappte bedenklich bis zum Rand.
Ihre Stimme klang klar, tief und sehr sympathisch. Oliver schloss aus ihrer Haltung und ihrem Händedruck, dass sie ein sehr ruppiger und offener Mensch sein musste. Oliver empfand sie als sehr angenehm. Ihre klare, vielleicht etwas alternative Erscheinung gefiel ihm. „Guten Tag“, sagte er. Er spürte, wie trocken sein Hals war.
„Das ist meine Kollegin Annika Merk“, wies Frau Ludovik ihn an den pummeligen Rotschopf weiter. Auch ihr schüttelte Oliver die Hand. Frau Merk verschüttete aus der Bewegung heraus ihren Kaffee, was sie allerdings weniger zu stören schien. „Hallo!“, lachte sie. Ihr Blick strich erneut über Olivers Gestalt.
„Frau Richter kennst du ja?“, fragte der Einrichtungsleiter.
Oliver nickte.
„Vielleicht sollten wir in einen Besprechungsraum gehen“, schlug die Psychologin kühl vor. Oliver schauderte unter ihrer Haltung. Sie kam ihm fremd vor. Hatte sie ihm in der Reha-Klinik etwas vorgespielt? Die Lösung dieser Frage musste er verschieben.
Frau Ludovik nickte zustimmend zu dem Einwurf der Psychologin. „Nach Ihnen.“
*
Während er sich von beiden Damen, die im Wechsel sprachen, anhörte, was passieren könnte, wenn seinem Großvater tatsächlich die Vormundschaft entzogen wurde, baute sich in ihm erneut Druck auf. Die Angst, seine Brüder zu verlieren, nahm Gestalt an. Wobei sich die Anwesenheit der beratenden Psychologin nicht als positiv entspannend auswirkte. Oliver spürte eher, wie sie für ihn zu einem schweigenden, lauernden Schatten wurde, der unheilvoll lauerte.
Er schob den Gedanken von sich. Phantastereien lenkten ihn ab und beeinträchtigten seinen klaren Verstand! Gezwungen ruhig lauschte er den beiden Sozialarbeiterinnen.
Was sie zu dem Verfahren über seine Brüder zu sagen hatten, erschreckte Oliver. Im Falle einer Adoption waren die beiden Jungen nicht berechtigt, selbst zu entscheiden, welches Paar sie zu sich nahm. Die Entscheidung lag bei dem Vormundschaftsgericht. Oliver lief ein Schauer über den Rücken. Frau Ludovik erklärte ihm, dass sie, zusammen mit ihrer Kollegin die ganze Zeit begleitend für Christian, Michael und Oliver arbeiten würden. Sie versprach, dafür zu sorgen, dass sich ein adoptionswilliges Paar finden lassen sollte, was die beiden zehnjährigen Jungen und Oliver zu sich nahm. Allerdings belehrte ihn Frau Merk in freundlichem Ton, dass er nicht mehr unter den Zwang des Vormundschaftsgerichts fiel. Oliver könne sich selbst aussuchen, ob ihm die neue Familie zusagte. In einem Nachsatz fügte sie hinzu, dass es allerdings auch so sein konnte, dass Oliver ohne Vormundschaft auch in einem Heim enden konnte. Er beobachtete ihr liebes, rundes Gesicht. Während sie darüber sprach, las er ehrliches Bedauern in ihren hellen Augen. Allerdings half ihm das wenig. Innerlich spannte er sich. Aus dem Augenwinkel sah er Frau Richter, die ihn beobachtete. Was ihn nervös machte, war ihre fast unheimliche Art ihn anzusehen und sich dann auf einem Netbook Notizen zu machen.
Sein ganzer Körper fühlte sich verhärtet an, als er sich etwas nach vorne lehnte. Selbst das Schlucken fiel ihm unglaublich schwer. Alles in ihm wog schwerer als Blei. Seine Muskeln hatten sich vollkommen verkrampft. Um den Mund zu öffnen, nahm er den scharfen Schmerz in seinem Kiefer in Kauf. Zu sprechen kostete ihn Überwindung.
„Wie groß schätzen Sie meine Chancen ein, bei Michael und Christian bleiben zu können?“, fragte er heiser. Seine Stimme klang belegt.
Die beiden Frauen tauschten einen Blick. Durch ihr langes Zögern, stand für Oliver die Antwort fest.
Resignierend flüsterte er: „Wenn Sie uns drei auseinander reißen, fällt die Familie endgültig auseinander.“
*
Der Wind wirbelte sein Haar durcheinander. Er saß auf den Stufen des Verwaltungsgebäudes und rauchte. Ihm war es nach dem Gespräch vollkommen unmöglich, zu seinen Brüdern zu gehen, um mit ihnen zu reden. Zurzeit fühlte er sich schrecklich. Tränen brannten in seinen Augen. Jeder Herzschlag erschütterte ihn. Zugleich hasste er seine Eltern - insbesondere seinen Vater - für ihr verantwortungsloses Handeln.
In seinen Ohren hallte noch immer nach, was ihm Frau Merk vorgeschlagen hatte: Da er fünfzehn war, konnte er noch in einer Jugendwohngruppe unter kommen, die in einem kleinen, familienähnlichen Verband lebte. Die zweite Auswahl, die vielleicht eher zutraf, da er bald sechzehn wurde, war das betreute Wohnen. In diesem Fall sollte er unter zeitweiliger Aufsicht von Sozialpädagogen mit anderen Jugendlichen in einer WG wohnen. Es wäre – wie sie sich ausdrückte – vorbereitend auf sein zukünftiges Leben. Die Struktur einer solchen Parzellenartigen Einrichtung könnte, so mutmaßte sie, ihm gut gefallen, da er auf diesem Weg ständig mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen zusammen sei.
Oliver verfluchte seine ganze Familie. Für eine Sekunde hoffte er darauf, dass sich alle Verdachtsmomente gegen seinen Großvater zerstreuten. Obwohl das Zusammenleben sicher die Hölle würde, konnte er wenigstens für seine Brüder da sein. Alle anderen Optionen sahen nur noch hoffnungsloser aus.
Er sog an seiner Zigarette und inhalierte den Rauch. Die Spitze glühte rot auf. Allerdings reichte das Nikotin nicht, um ihn zu beruhigen. Seine Augen brannten von den mühsam zurückgehaltenen Tränen. Oliver konnte kaum noch richtig Luft holen. Gegen seinen Willen begann er zu weinen. Er warf die Zigarette von sich und presste beide Hände gegen die Augen. Jetzt, wo alle Zurückhaltung gebrochen war, bahnte sich sein ganzer Schmerz Bahn. Haltlos rannen Sturzbäche über seine Wangen, während sein Herz sich zu einem Stein zusammen krampfte. Finstere Gedanken mischten sich mit Erinnerungen und ballten sich zu monströsen Wolkengebilden.
„Hey, heulst du?!“
Oliver fuhr zusammen. Die Stimme Kais durchbrach den Panzer seiner Ängste.
Aber anstatt ihm dankbar zu sein, ballte sich in ihm tiefer Zorn gegen den Jungen. Für einen Moment war Oliver versucht, aufzuspringen und Kai zu verprügeln.
Mühsam drängte er die Wut zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Die Tränen rannen immer noch über seine Wangen, aber er fühlte, dass sie aus hysterischem Zorn heraus kamen.
„Was!“, zischte er. Gegen diese Anspannung konnte er nichts tun. Zurzeit war er seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert.
Während er seine Fäuste ballte, trieb er sich seine Nägel in seine Hände. In dieser Sekunde war er bereit, einfach zuzuschlagen. Er wusste, dass Kai gegen ihn keine Chance hatte!
Trotzdem hielt ihn der Anblick des jungen zurück, seinen aufgestauten Zorn in nackter Gewalt enden zu lassen. Er war klein und zierlich. Er konnte Oliver nichts entgegen setzen … Kai stand in groben Arbeitshosen und schmutzigem Shirt vor ihm. Die Irritation in seinem Blick spiegelte Olivers Verfassung deutlich wieder. Angst loderte in seinen Augen auf.
Oliver zwang sich zur Ruhe. Nachdem sich seine Finger entkrampft hatten, griff er nach den Zigaretten und steckte sich eine neue zwischen die Lippen. Ihm war im Grunde vollkommen egal, was Kai über ihn dachte. Der Junge zählte zu den unwichtigen Randerscheinungen, die Oliver gelernt hatte zu ignorieren. Er kramte das Feuerzeug aus dem zerdrückten Stanniol und entzündete die Zigarette. Er inhalierte den Rauch. Kai schenkte er keine weitere Beachtung. Offensichtlich las der Junge aus seiner Körpersprache. Er schlug einen weiten Bogen um Oliver. Wortlos ging er in das Gebäude.
Vermutlich kamen nun viele der Jungen und Mädchen von ihren Lehrwerkstätten zurück. Oliver beschloss, hinein zu gehen. Mehr als die Begegnung mit Kai würde er kaum mit Würde und Anstand überstehen können.
*
Als Oliver das Zimmer betrat, saß Daniel auf seinem Bett. Auf seinen untergeschlagenen Beinen stand sein Notebook. Er schien zu lesen und nebenbei Musik zu hören. In seinen Ohren steckten Kopfhörer. Zuerst bemerkte er Oliver nicht.
„Daniel?“
Der Polizist hob den Blick. Er legte seinen Finger über die Lippen und lauschte aufmerksam. Oliver verwarf seine Theorie, dass Daniel Musik hörte. Still setzte er sich zu seinem Freund. Vertraut legte Daniel ihm einen Arm um die Schulter.
In der ersten Sekunde wollte Oliver ihn abschütteln, ließ es schließlich aber zu. Daniel zog ihn etwas weiter zu sich und deutete auf den Monitor. Eine PDF-Datei war offen. Im unteren Teil des Monitors flackerte ein Multimedia-File. Die Kopfhörer steckten in der Lautsprecherbuchse.
Wortlos zog Daniel einen Stecker aus seiner Ohrmuschel und reichte sie ihm.
Neugierig lauschte Oliver. Eine ihm vollkommen fremde Stimme sprach. Der Mann schien ein Mitglied des forensischen Labors zu sein.
„… Blutanalyse ergab toxische Stoffe im Körper des Kleinkinds. Um sicher zu gehen, auf welchem Weg der kleine Junge das Gift zu sich genommen hatte, wurde der Mageninhalt zur weiteren Untersuchung in die Toxikologie gegeben. Auf das Ergebnis warten wir noch.“
Oliver hörte ein elektrisches Knistern. Mit leicht veränderter Stimme sprach der Mann weiter. „Marc Hoffmanns Körper weißt die typischen Merkmale eines Herzstillstandes auf. Aufgrund der Analyse meines Kollegen Wimmer aus dem toxikologischen Labor steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge durch Zuführung von chemisch versetzter Digitales starb. Anhand der Verkrampfung der Herzkranzgefässe dürften starke Herz-Rhythmus-Störungen zu seinem Tod geführt haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Kind – da weder Medikamentenröhren oder Flaschen bei ihm gefunden wurden und er in seinem Bett starb, vorsätzlich getötet wurde …“
*
Oliver starrte Daniel fassungslos an. Die Aussage des Forensikers lähmte ihn, obwohl er die ganze Zeit mit einer derartigen Bestätigung gerechnet hatte. Seine Gedanken gefroren. Um ihn schien alles an Bedeutung zu verlieren. Betäubt setzte er sich auf. Die Welt vor seinen Augen verschwamm zu einem Wirrwarr aus dumpfen Farben. Eis rann durch seine Adern. All seine Wahrnehmung fokussierte sich auf die reine Empfindung tief in sich: die Leere. Er war außer Stande, Rückschlüsse zu ziehen, auch wenn sie auf der Hand lagen. Oliver begann zu frieren. Sein ganzer Körper bebte. Das Rauschen in seinen Ohren betäubte ihn. Hinter seiner Stirn brannte ein heller, stechender Schmerz auf. Seine Welt starb.
Die erste bewusste Wahrnehmung Olivers war die Wärme, die ihn umgab. Bevor er sah, fühlte er die dicke Wolldecke über seinen Schultern. Daniel saß dich neben ihm. Der Druck seines schweren Körpers lastete auf Oliver. Langsam sickerte in seinen Geist, dass sein Freund in fest umarmte und wärmte. Oliver zuckte zusammen. Die betäubende Wirkung raubte ihm kurz die Sinne. Er fand sich in einem schwindeligen Strudel wieder. Allerdings spürte er nun die verhärtete Verspannung seiner Glieder. Jeder Muskel brannte und pochte. Dumpfe, betäubende Kopfschmerzen fluteten seinen Schädel. Hinter seiner Stirn löste sich alles mit einem leisen knacken.
Eine Woge von Übelkeit stieg in Oliver auf. Bevor sie seinen Hals erreichte, flaute sie langsam ab. Zugleich ergriff ihn bleierne Schwere. Seinem Körper schienen alle Knochen zu fehlen. Es war genau so wie in der Klinik, nachdem er zu sich kam. Erschöpft und benommen ließ er sich gegen Daniel sinken.
Oliver erwachte mit einem furchtbaren Geschmack auf der Zunge. Sein Schädel brummte noch immer. Die Verkrampfung in seinem Magen führte dazu, dass ihm speiübel war. Vorsichtlich holte er Luft und atmete mehrfach tief durch. Im ersten Moment glaubte er, sich übergeben zu müssen, doch nach einer Weile sank das Gefühl auf ein kräftezehrendes Unwohlsein herab.
Langsam hob er die Lider. Es musste mitten in der Nacht sein. Schwaches Mondlicht viel durch die Vorhänge. Unter der Tür kroch ein schmaler Streifen hellgrünen Lichts herein. Die Hinweisleuchte für den Notausgang, überlegte Oliver.
Bis auf Daniels leises Schnaufen war es vollkommen ruhig.
Langsam, immer darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen, setzte Oliver sich im Bett auf. Die Decke rutschte herab. Im gleichen Moment wankte die Welt. Ihm wurde schwindelig. Oliver krallte sich in Laken und Kissen. Das diffuse Brummen in seinen Ohren kehrte zurück. Vor seinen Augen flimmerten Lichtblitze. Er wartete, bis sich sein Körper wieder gefangen hatte.
Minuten verrannen, bevor er aufstehen konnte. Vielleicht ging es ihm besser, wenn er sich übergab.
Oliver spülte sich den Mund aus. Anschließend putzte er sich die Zähne und wusch sich von Kopf bis Fuß. Obwohl er sich noch immer schwach fühlte, ging es ihm zumindest wieder so gut, dass er sich nicht mehr übergeben musste.
Allerdings konnte er seine Gedanken und das daraus resultierende Leid nicht abstellen. Ihm war bewusst, dass Marc von seiner Mutter getötet wurde. Diese Versicherung nahm ihn mehr mit als die Vorstellung von Marcs grausamen Tod. Er erinnerte sich an die Sekunde, in der er zu Marc und Elli in das Kinderzimmer gestürmt war und sein kleinster Bruder still da gelegen hatte. Oliver begann wieder zu zittern. Ihm wurde kalt. Elli musste neben einem Toten geschlafen haben!
Was für Eltern waren Tom und Silke?!
Olivers Herz krampfte sich zusammen. Tränen rannen über seine Wangen. Schluchzend presste er beide Hände vor sein Gesicht. Wieder verkrampfte sich sein Körper. Er rang nach Atem. Schließlich gelang es ihm, sich wenigstens so weit zu beruhigen, damit er nachdenken konnte.
Zumindest ergab der Kopflose Hass seines Vaters endlich Sinn. Marc war sein Liebling. Wenn Silke ihn wirklich verletzen wollte, nahm sie ihm das, was er zu seinem Ebenbild formen konnte.
Er erinnerte sich an ihr fast irrsinniges Lachen. Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Vage erinnerte er sich daran, dass sein Vater vor Wut schrie. War es nicht vielleicht eher unbändiger Schmerz?
Welche Rolle übernahm sein Vater in diesem Irrsinnsspiel? Für Oliver verschwammen die Grenzen zwischen Täter und Opfer.
Bernd Weißhaupt sprach davon, dass Silke unter begründetem Verdacht stand, etwas mit dem organisierten Verbrechen zu tun zu haben. Wo lagen die Kreuzungspunkte zwischen seinen Eltern? Welche Geheimnisse verbarg Silke vor allen anderen Menschen?
Vielleicht hing das alles mit dem Fremden zusammen, der ihn angegriffen hatte – und mit dem Fahrer des Jaguars!
Oliver stieß sich vom Waschbecken ab und verließ das Bad.
*
Als Oliver eintrat, saß Daniel wach im Bett. Sein buntes Haar stand in alle Richtungen ab. Sein Gesicht wirkte in der fahlen Nachttischbeleuchtung blass und elend. Er schien schlecht geschlafen zu haben. Als Oliver die Tür hinter sich schloss, stand Daniel auf. Er trug nur eine Trainingshose.
Mit ausgreifenden Schritten kam er auf Oliver zu.
„Wie geht es dir?“, fragte er besorgt.
„Geht schon, mach dir nicht zu viele Sorgen“, antwortete Oliver leise. Er ließ sich gegen die Tür sinken. Dicht vor ihm blieb Daniel stehen.
„Du siehst schlecht aus“, murmelte der Polizist. Oliver bemerkte, dass Daniel die Hand nach ihm ausstreckte, aber dicht vor seiner Schulter inne hielt.
Für einige Sekunden beobachtete er seinen Freund. Gerade eben brauchte Oliver Daniels Führsorge. Stumm löste er sich von der Tür und lehnte sich an ihn. Mit beiden Armen umschlang er Daniel.
„Danke dass du da bist“, flüsterte Oliver, während er die Augen schloss.
Behutsam strich Daniel durch Olivers Haar. „Wir sind Freunde, oder?“
*
Bäuchlings lag Oliver auf seinem Bett. Seine Magennerven zuckten und krampften zwar immer wieder, aber er konnte beim Sprechen Daniel ansehen. Der Polizist saß mit untergeschlagenen Beinen auf seiner Matratze, den Aschenbecher vor sich und eine Zigarette im Mundwinkel.
Oliver erzählte ihm von dieser letzten Nacht, die für ihn mehr als ein halbes Jahr gedauert hatte.
Es kostete ihn alle Kraft, die er besaß, um die letzten Momente im Leben seiner Mutter zu beschreiben. Er sprach auch von seiner Flucht und seinen Gefühlen. Schließlich fasste er seinen Verdacht, nein seine Gewissheit, gegen sie in Worte.
Daniel legte die Stirn in Falten, nickte aber zustimmend. „Vergiss nicht, ich bin Polizist.“
Oliver sah ihn fassungslos an. „Rate mal, warum ich dir das alles erzähle!“ Er setzte sich auf.
„Kannst du all das noch einmal vortragen, wenn Bernd und Roth anwesend sind?“, fragte Daniel vorsichtig.
Nachdenklich nagte Oliver an seiner Unterlippe.
„Oder hast du mir das von Freund zu Freund anvertraut?“
„Wahrscheinlich weil du mein Freund und Polizist bist“, gestand er.
Daniel nickte. „Wir brauchen nähere Informationen aus verschiedenen Abteilunge“, erklärte er. „Die Ermittlungsergebnisse von Bernd Weißhaupt und Matthias Habicht wären jetzt wichtig.“
„Habicht“, murmelte Oliver irritiert. Er hatte den Namen schon einmal gehört.
„Bernds Assi“, führte Daniel aus. „Wir arbeiten alle in der gleichen Organisationsstruktur, nur eben Länder- und Städtegebunden.“ Er hob beiläufig die Schultern. „Ich habe ihn ein paar Mal gesehen, mit ihm gearbeitet und nach gegenseitiger Antipathie unter unwichtig abgehakt.“
Obwohl Oliver kaum Interesse an Habicht hegte, fragte er: „Warum war er dir so unsympathisch?“
„Er ist ziemlich das Gegenteil von mir. Reserviert, gutaussehend, der Traum aller Weiber und ziemlich rechtspolitisch. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er das Dienstbuch auswendig kennt und es als Bibel akzeptiert.“
Olivers Vermutung, dass Daniel sich jede Situation zurecht bog, wie er sie brauchte, fand in der Aussage Bestätigung. Die Taktik würde ihm bei der Polizei dauerhaften Ärger einbringen, wenn er sie weiter verfolgte. Aber diese lockere Auslegung der Gesetze und seine freidenkerische Art, halfen ihm sicher bei seiner Arbeit als verdeckter Ermittler im Punk- und Straßenmilieu. Oliver sah in Daniels Lebensdoktrin eigentlich nichts Schlechtes.
„Landläufig ist Habicht dumm, stark, wetterfest und geländegängig, aber nicht sonderlich viel mehr.“
„Also können wir auch keine Hilfe von ihm erwarten“, murmelte Oliver.
„Der ist in Berlin und krebst da als verdeckter Bulle herum.“ Daniels Abneigung verdeutlichte sich in jedem Wort. „Wenn Bernd Infos braucht, quetscht er Habicht schon aus.“
Daniel ließ sich in sein Kissen zurück sinken. „So weit ich weiß, war Habicht mit der Observation deiner Mutter betraut. Seine Informationen sind sicher sehr detailliert.“
Beißender Spott schwang in seiner Stimme mit.
„Du hältst nicht viel von ihm, ich merke es“, murmelte Oliver.
Daniel nickte. „Das ist allerdings richtig. Ich halte gar nichts von dem Kerl!“
Oliver schluckte. In den Augen Daniels glomm tiefer, unversöhnlicher Zorn. Zwischen den beiden Männern musste wesentlich mehr vorgefallen sein.
„Also sollten wir morgen früh mit Weißhaupt reden“, führte Oliver das Gespräch wieder auf den Ausgangspunkt zurück.
Daniels Zigarette zuckte zwischen seinen Lippen. Aus seinem Mundwinkel stieg rauch auf. „Wäre keine schlechte Idee.“ Er räusperte sich und hustete leicht. „Nach dem, was du mir sagtest, wäre vielleicht auch ein Besuch in Weiterstadt fällig.“
„Weiterstadt?“, fragte Oliver.
„JVA Weiterstadt“, erklärte Daniel, ohne ihn anzusehen. Er schnippte die Asche von der Zigarettenspitze. „Dein Vater ist der Schlüssel zu allen Fragen.“
Oliver zuckte zusammen. Eine Begegnung mit Tom? Er biss sich auf die Unterlippe. Die Vorstellung, diesem Mann zu gegenüber zu stehen, ließ kalten Schweiß bei ihm ausbrechen. Die Narben stachen in der gleichen Sekunde.
Oliver fühlte sich erschlagen von seiner Angst. Er war sicher, ein solches Treffen nicht durchzustehen. Trotz allem verstand er den Gedankengang Daniels. Vielleicht löste die Anwesenheit des überlebenden Opfers dieser Nacht etwas wie Schuldgefühle aus, Redebereitschaft, die die Polizei nutzen konnte. Ein Versuch war es vielleicht wert. Blieb nur die Frage, wie Oliver diesen Tag überstand.
Er stand auf und trat an das Fenster. Die Luft in ihrem Zimmer war stickig. Grauer Rauch schwebte in der Luft. Er schob die Vorhänge zur Seite und kippte das Fenster.
„Hey, wir haben Herbst!“, knurrte Daniel. „Willst Du, dass ich mir eine Lungenentzündung hole?“
Oliver schwieg. Sein Blick strich über die dunklen Gebäude. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab.
Durch den Torbogen blitzte das Scheinwerferlicht eines Wagens auf. Für einen Moment sah Oliver eine Person, die sich mit schnellen Schritten entfernte. Langsam neigte er sich etwas weiter nach vorne. Er glaubte in ihm seinen Angreifer wieder zu erkennen. Oliver fuhr herum.
„Daniel!“
Der Polizist federte erschrocken auf die Füße.
„Was?!“, fragte er ungehalten. Oliver kam ihm entgegen.
„Er ist hier gewesen!“, rief Oliver aufgeregt. Daniel sah ihn verwirrt an. „Er …“, Oliver kam vor Nervosität ins Stocken. „… der Kerl, der mich gejagt und gewürgt hatte!“
*
An der Treppe trennte Oliver sich von Daniel. Während der Beamte mit ausgreifenden Schritten hinunter eilte, wollte er nach seinen Brüdern sehen. Die Sorge um Chris und Michael drückten Oliver die Luft ab.
Auf den Stufen kam ihm Christian bereits entgegen gelaufen. Er war hellwach. Angst stand in seinen Augen. Rasch vergrub er sich in Olivers Armen. Sein dünner Körper zitterte.
„Was ist?!“, rief Oliver alarmiert. Seine Stimme überschlug sich. Ihm war vollkommen gleichgültig, wen er weckte.
Chris krallte seine Finger in Olivers Shirt. „Ich habe ihn gesehen!“, wimmerte er.
Olivers Blut gefror. „Den blonden Mann?“, fragte er schrill. Chris nickte abgehackt. Eine schreckliche Vermutung erwachte in Oliver. „War er in eurem Zimmer?“
Unter ihm flogen Zimmertüren auf.
„Er war auf dem Flur.“ Christian deutete hinauf.
„Michael“, fragte Oliver hektisch. „Ist er in Ordnung?“
„Hey, schreit nicht so rum!“, brüllte jemand.
Hinter sich hörte Oliver rasche Schritte auf der Treppe. Er fuhr herum. Kai blieb einige Stufen unterhalb wie angewurzelt stehen. Sein Blick drückte Schrecken, aber auch Wut aus. Oliver gab seinem kleinen Bruder einen Schubs.
„Wo ist Micha!“, fragte er.
„Zur Fluraufsicht“, entgegnete Chris. Seine Stimme brach. Er klang eingeschüchtert. Oliver packte Chris am Handgelenk. Unsanft schob er ihn die Stufen hinunter zu Kai.
„Pass bitte auf meinen Bruder auf“, bat er den überrumpelten Jungen. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Oliver herum und sprintete die Treppe hinauf.
„Olli!“, schrie Chris. Seine Stimme ging in dem Wutgebrüll Kais unter. „Hast du einen Knall, Hoffmann?!“, fauchte er hinter Oliver her. „Hoffmann!“, fauchte er. „Bist du völlig bescheuert?! Warum soll ich auf den kleinen Scheißer aufpassen?! …“
Ohne anzuhalten rief Oliver: „Danke Kai!“
Für eine Diskussion fehlte ihm die Zeit. Obwohl Kai und er sich nicht mochten, vertraute er in das Pflichtgefühl des Jungen. Er schätzte Kai nicht als sonderlich leichtfertig ein. Immerhin hörten alle anderen Jungen auf sein Wort.
Er erreichte die dritte Etage. Ihm war schleierhaft, wie ein Fremder in ein Stift wie dieses eindringen konnte. Es gab Sozialbetreuer, Fluraufsichten und Therapeuten auf jeder Etage. Zumindest ein Drittel der Tagesbelegschaft war auch nachts hier vorhanden. Schließlich hatte sich das Johannisstift auf schwererziehbare Jugendliche spezialisiert.
In der dritten Etage standen ebenfalls einige Zimmertüren offen. Allerdings wagten sich die wenigsten der Kinder auf den Flur. Oliver eilte zu dem Raum seiner Brüder. Obwohl Licht brannte, war er leer. Er fuhr herum. Chris sprach vom Zimmer der Aufsicht. Während er mit raschen Schritten durch den langen Flur eilte, sah er sich flüchtig um.
Einige Türen schlossen sich automatisch, in anderen sah er Jungen im Alter seiner Brüder, aber auch das eine oder andere Mädchen, das im Alter eher an Oliver heran reicht.
Eine Tür stand sehr weit offen. Neonlicht flutete auf den grauen PVC. Der Raum befand sich gegenüber einem Lastenaufzug. Oliver blieb atemlos stehen und sah hinein. Das Zimmer war eine Mischung aus Büro, Aufenthaltsraum und Küche. An einem großen Gemeinschaftstisch saß Michael. Er bemerkte Oliver nicht. Sein Blick heftete an einem jungen Mädchen, was gerade mit einem mobilen Telefon um den Schreibtisch unter dem Fenster herum ging und fieberhaft nach etwas suchte. Ein etwas älterer Mann drehte den stumm geschalteten Reisefernseher, der auf einem Kühlschrank stand, aus.
„Micha“, rief Oliver.
Sein Bruder fuhr herum. Das Mädchen sah auf. Sie warf Oliver einen vernichtenden Blick zu, suchte aber unbeirrt weiter auf der Tischplatte und in den Schubladen, bis Sie ein dickes, Telefonbuch hervor zog.
„Ja ich habe es“, bestätigte sie gehetzt. „Wo soll ich schauen?“ Eine Pause entstand, bevor sie weiter sprach. „Ist okay“, sagte sie. Der Stress, unter dem sie stand, schwang in ihrer mädchenhaft schrillen Stimme mit. Ungeschickt klemmte sie sich den Hörer unter den Kiefer, während sie hektisch die dünnen Seiten durch blätterte. Kurz hob sie den Kopf. Ihr nervöser Blick traf Oliver. Offenbar kam eine vergleichbare Situation bisher noch nicht vor. Die Überforderung spiegelte sich in ihrem bleichen Gesicht wieder. „Komm rein!“ Sie winkte Oliver mit einer Hand, wobei ihr die Seiten wieder zu fielen. Ihr wesentlich ruhigerer Kollege versorgte Michael mit einem Glas Orangenlimonade. Auch er nickte Oliver zu.
Michael stand auf. Er sah erschöpft aus. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Offenbar hatte Chris ihn aus dem Schlaf gerissen. Nachdem sich Oliver neben ihn gesetzt hatte, verkroch Michael sich wortlos in den Armen seines Bruders.
„Was ist denn passiert?“, fragte Oliver leise. Sanft streichelte er über den Nacken Michaels und küsste seinen Kopf.
„Hat Chris nichts gesagt?“, murmelte Michael, ohne aufzuschauen. Seine Stimme klang gedämpft an Olivers Brust. Der feucht-heiße Atem Michaels drang durch den Stoff seines Hemdes.
„Doch, dieser Kerl war auf eurem Flur.“ Er sah zu dem Mann, der Aufsicht hatte. Seine Mimik gefror. Oliver empfand tiefe Wut, die sich ständig weiter steigerte. Für ihn war undenkbar, dass ein Fremder so leicht in diese Einrichtung eindringen konnte. Seine Gefühle verhärteten sich gegenüber dem Personal. „Ist das normal, dass hier ein Fremder eindringen kann?!“ Seine Stimme klang schneiden kalt und hart.
Der Mann zuckte zurück. „Er war uns angekündigt worden …“
„Als was?!“, fauchte Oliver. Trotz seiner Überraschung konnte er sich nun nicht länger beherrschen. „Sie informieren also niemand anderen, sorgen nicht dafür, dass die Jungen geschützt werden und lassen einfach mal alles auf sich zukommen?!“ Seine Stimme steigerte sich zu einem fast hysterischen Gebrüll. Oliver erschrak über sich, konnte aber nichts daran ändern. Die Schleusen seiner Gefühle brachen ein. „Dieses Monster kann meinen Brüdern hier also einfach alles antun, was er will?!“
„Kann es nicht sein, dass es sich um einen anderen Mann handelt?“, fragte die Aufsicht. In seiner Stimme schwang ein fast hypnotischer Ton mit, den Oliver von Frau Dr. Richter kannte. Dieser Trick funktionierte bei ihm nicht mehr.
Er schüttelte vehement den Kopf. „Ich habe ihn draußen gesehen! Das ist der Kerl, der mich zwei Mal angegriffen hatte!“
Michaels Blick streifte Oliver, bevor er zu dem Personal sah. „Reiner und Marina können nichts dafür“, sagte er mit großem Ernst. „Der blonde Mann im Ledermantel ist ein Polizist.“
„Polizist?“, flüsterte er heiser, bevor seine Stimme versagte. Olivers Gedanken rasten. Ein Polizist? Wie konnte das sein?! Betäubt begegnete er Michaels ängstlichen Augen.
„Irrst du dich nicht?“, fragte er schwach. „Chris und du, ihr habt ihn die ersten Male nicht gesehen. Vielleicht ist das ein anderer …“
„Ich habe gerade Herrn Roth erreicht!“, rief die junge Frau dazwischen. Sie hielt die Hand über die Muschel.
Oliver und Michael drehten sich zu ihr um. Allerdings sah sie ihren Kollegen an, während sie dem Kommissar zuhörte. Ihr ernster Blick und die weit offenen Augen beunruhigten Oliver.
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Er hat niemand hier her geschickt.“
Oliver löste sich von Michael. Er zitterte vor Anspannung. „Kann ich mit ihm sprechen?“, bat er die junge Frau, die Michael zuvor Marina genannt hatte.
Ohne zu zögern reichte sie ihm den Hörer.
Er nickte nur knapp, wendete sich dann aber seinem Bruder zu.
„Hallo Herr Roth, hier ist Oliver Hoffmann“, meldete er sich.
„Ist alles bei euch in Ordnung?“, fragte Roth, ohne ihn zu begrüßen.
„Ich denke schon“, sagte Oliver, wobei er besorgt zu seinem Bruder sah, der sich sofort wieder in Olivers Arme flüchtete. „Allerdings habe ich den Kerl nur unten in der Torfahrt gesehen. Laut Michael und Christian war er hier, in dem Flur, auf dem meine beiden Brüder untergebracht wurden …“
„Er sagte“, fiel ihm Reiner ins Wort, „dass er die Zwillinge in eine gesicherte Unterkunft der Polizei bringen wolle.“
Eisiger Schrecken durchfuhr Oliver. Der Hörer rutsche ihm fast aus den Fingern.
„Bitte was?!“, fragte Roth scharf.
„Laut Aufsicht wollte er Micha und Chris mitnehmen“, hauchte Oliver. Verstört sah er seinen kleinen Bruder an. Michael nickte heftig. Seine kurzen, blonden Haare flogen. „Als er rein wollte, hat Chris ihn an deiner Beschreibung erkannt und die Tür wieder zugemacht. Dann hat er …“
„Die beiden Jungen haben nach uns gerufen“, bestätigte Marina. „Als Reiner und ich ankamen, waren alle Kinder wach und er schon die halbe Treppe hinunter.“
„Ich rufe Weißhaupt an und komme vorbei. Ihr müsst an einen gesicherten Ort gebracht werden!“, schnaubte Roth.
„Können wir das besprechen, wenn Sie hier sind?“, fragte Oliver leise. Sein Hals fühlte sich an, als würde ihm jemand die Luft abschnüren.
Zum ersten Mal begriff er, in welcher Gefahr seine Brüder schwebten. Bislang war nur Oliver betroffen. Die Bedrohung nahm immer konkretere Formen an. Diesem Gegner war Oliver hilflos unterlegen.
„Besprechen? Was gibt es da noch zu reden?!“ Der Zorn des Kommissars bebte in seiner Stimme. „Zur Hölle, ihr seid in Gefahr und dieser Fall ist noch lang nicht abgeschlossen!“
Oliver dachte fieberhaft nach. Wenn Roth ihn und seine Brüder nun an einen „geheimen“ Ort brachte, würde er kaum weiter an der Aufklärung beteiligt werden. Davon abgesehen würde er seinen einzigen Freund verlieren.
Bevor er antworten konnte, platzte Daniel in den Raum. Seine Lungen pfiffen. Schweiß rann über sein rot glühendes Gesicht und troff auf seine Brust.
„Was ist?!“, schnauzte der Kommissar.
„Daniel ist wieder da“, erzählte Oliver aufgeregt. Er war sich sicher, dass sein Freund Anhaltspunkte gefunden hatte!
Der Polizist beachtete Oliver im ersten Moment gar nicht. Er schob sich an Reiner vorüber zum Schreibtisch. Auf einem Schnipsel des Telefonbuchs notierte er etwas. Schließlich sah er sich um. Auf seinen Lippen lag ein böses Grinsen.
„Ich habe sein Kennzeichen!“
*
An einen geregelten Tag-Nacht-Rhythmus glaubte Oliver langsam nicht mehr.
Er saß mit seinen Brüdern, Daniel und Kai in dem Besprechungszimmer der Stiftleitung. Neonröhren verbreiteten unangenehm grelles Licht. Der Raum besaß so viel Gemütlichkeit wie ein Wartezimmer in einer Klinik.
Oliver war es schlecht vor Aufregung. Seit Roth und Weißhaupt da waren, schien das gesamte Stift auf den Beinen zu sein. Immer wieder betrat einer der beiden Männer den Raum. Sie wechselten mit Daniel einige rasche Worte und verließen das Zimmer wieder.
Chris saß am Tisch und kritzelte mit einem Kuli auf einem Blatt herum. Seine Lider sanken herab. Mehrfach rutschte sein Kopf von der Hand. Danach war er wieder für einige Minuten wach, bevor sich das Spiel wiederholte.
Michael hatte seinen Stuhl so dicht zu Olivers gerückt, dass er sich an ihn kuscheln und schlafen konnte. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, schreckte er hoch, versank aber bald wieder in unruhigem Schlaf. Beide Jungen trugen noch ihre Pyjamas. Oliver hatte bereits mehrfach gebeten, dass sich die Jungen umziehen, oder wieder schlafen gehen konnten, aber er fand kein Gehör. Befremdlich fand er auch die Anwesenheit Kais. Weshalb Roth verlangte, dass er hier blieb, erschloss sich Oliver nicht. Kai saß ihm gegenüber, die Arme auf dem Tisch verschränkt und den Kopf hinein gebettet. In einem Ohr steckte der bunte Kopfhörer seines MP3-Players. Anhand seiner ruhigen Atemzüge stand für Oliver außer Frage, dass er schlief.
Auch Daniel sah erschöpft aus, hielt sich aber stur wach, indem er schwarzen Kaffee im Wechsel mit Energy Drinks konsumierte.
Oliver beobachtete ihn. Sein Freund sah im Moment so alt aus, wie er war. Die zweite Nacht ohne Schlaf setzte ihm extrem zu.
Mühsam versuchte Oliver nicht einzuschlafen. Er empfand diese Situation als nervtötend und unerträglich langweilig. Müde wie er war, fielen ihm ebenfalls manchmal die Augen zu.
Trotzdem hielt dieser schwere Erschöpfungszustand nur bedingt lange an. In seinem Magen krampften sich die Nerven noch immer zusammen. Sein Herz raste. Hitze und Kälte ergriffen ihn im Wechsel. Oliver war schlecht; teilweise wegen der Aufregung, aber auch wegen der wenigen Nahrung, die er in den letzten Tagen zu sich genommen hatte. Seine Sehnsucht nach einer Zigarette versank nach einer Sekunde bereits in absolutem Ekel vor dem Geschmack.
Er wollte so gerne mit Daniel reden, aber er konnte nicht. Die Anwesenheit Kais, auch wenn dieser schlief, verbot es ihm. Er wollte mit Daniels Tarnung nicht unterwandern.
Sein Freund erhob sich nach einer Weile. Langsam umrundete er den Tisch und blieb an dem Fenster stehen. „In etwa einer Stunde geht die Sonne auf“, murmelte er mehr zu sich selbst.
Oliver schwieg. Er beobachtete Daniel. Offenbar bemerkte der Beamte seinen Blick. Er drehte sich um. Mit undeutbarer Mimik erwiderte er Olivers Blick für mehrere Sekunden. Schließlich löste Daniel sich von seinem Platz. Er umrundete den Tisch erneut. Oliver spürte, wie sein Freund hinter ihm stehen blieb und seine Hände behutsam auf Olivers Schultern ablegte. Sie waren so rau, dass er es durch den Stoff seines T-Shirts spürte. Dennoch beruhigte ihn die Berührung. Kräftig, aber nicht unsanft begann Daniel ihn zu massieren. Überrascht genoss Oliver diese vertraute Geste. Es tat unheimlich gut. Er senkte die Lider.
Seit Frank war ihm kein Freund so nah gekommen. Oliver merkte, dass ihm Daniel nicht nur Freund und Vertrauter wurde, sondern seine Familie ersetzte. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es klug war einen fremden Menschen so zu vereinnahmen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Polizist ihm all das ersetzen wollte, was ihm fehlte. Sicher besaß Daniel Familie, eigene Freunde, eine Freundin oder Frau und vielleicht sogar schon Kinder. Zum ersten Mal dachte Oliver über etwas anderes nach als die eigenen Probleme. So traurig ihn die Vorstellung machte, nur eine kleine Facette seines Freundes zu kennen, so schön fand er, sich auszumalen, wie Daniel außerhalb seines Dienstes war. Wahrscheinlich legte er die Person Daniel Kuhn wie eine Art Maske ab und schlüpfte in seine eigene Haut; wer auch immer dieser andere Daniel war. Olivers einzige Anhaltspunkte waren die Aussage, dass Daniel wohl irgendwann einmal aus der Punkszene kam und er nicht gerade mit den günstigsten Voraussetzungen aufgewachsen war, wie die Narben verrieten.
Allerdings blieben alle Vorstellungen diffus und schemenhaft, trotz Olivers starker Fantasie. Er konnte sich Daniel nicht in einer schicken, modernen Wohnung vorstellen. Ebenso wenig passte eine hübsche junge Frau an seine Seite. Die modernen Mädchen achteten auf ihr Äußeres. Jemand, der so abgerissen wirkte wie Daniel, würde sich als männliches Accessoire wenig eignen. Sah er privat auch so aus? Wie weit nahm seine Arbeit auf sein Leben Einfluss?
Er wendete seine Denkweise etwas. Möglicherweise war er mit einem Mädchen liiert, was er observierte?
Daniel war ihm genauso sehr ein Rätsel wie seine Mutter. Beide Menschen trugen eine Maske zur Schau und gaben vor jemand anderer zu sein.
Oliver schluckte bei diesem Gedanken.
Jemand drückte die Klinke herab. Daniels Hände verharrten. Als sich die Tür langsam öffnete, drang die Stimme Roths herein. Kai schreckte hoch und rieb sich die Augen. Auch Michael zuckte zusammen. Gähnend setzte er sich auf. Christian stocherte, ohne aufzusehen, weiterhin mit den Kuli auf dem Papier herum. Die blaue Tinte gerann zu einem aufgeworfenen Punkt, der Fäden zog. Als Weißhaupt eintrat, setzte Daniel unbeirrt seine Massage fort.
„Schwuchtel“, knurrte Kai. Sein unbestimmter Blick streifte Oliver und schwang langsam zu dem Beamten. Oliver bezog Kais Beleidigung auf sich. Sie mochten einander nicht. Trotzdem prallten die Worte an ihm ab. Daniels Schweigen bedeutete, dass er über den Dingen stand. Warum sollte er sich auch von einem aggressiven Teenager angreifen lassen?
„Was hat die Überprüfung des Kennzeichens ergeben?“, fragte Daniel, wobei er Weißhaupt jede Chance nahm, einleitend etwas zu sagen. Wollte sein Freund das Thema im Beisein Kais besprechen? Oliver verdrehte den Kopf, um seinen Freund anzusehen. Neugierig beobachtete Daniel seinen Kollegen.
Langsam sah Oliver wieder zu Weißhaupt zurück.
Der Berliner Beamte hob missbilligend eine Braue und ließ sich neben Kai auf einen der gepolsterten Stühle fallen. Er dehnte sich. Auch Bernd Weißhaupt sah bleich und abgespannt aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Trotz seines so runden Gesichtes wirkten seine Wangen eingefallen.
„Der Wagen ist ein Leihwagen“, erklärte Weißhaupt matt.
„Wer hat ihn gemietet?“, fragte Daniel ungeduldig.
Weißhaupt sah unschlüssig zur Seite. Nach einigen Sekunden murmelte er: „Matthias Habicht.“
Für einige Sekunden sagte niemand ein Wort. Schließlich regte sich Kai. „Wer ist das?“, fragte er verwirrt.
Weißhaupt schwieg. Sein Blick haftete an Daniel. Dessen Hände ruhten auf Olivers Schultern. Er hatte aufgehört zu massieren.
„Was unternehmen Sie nun?“, fragte Oliver mit belegter Stimme.
„Es wird eine interne Untersuchung geben“, erklärte Weißhaupt dumpf. „All das könnte sich so auswirken, dass ich ebenfalls abgezogen werde.“
„Aber Sie sind Berater! Niemand kennt sich so gut mit dem Fall in Berlin aus, oder?!“ Olivers Nervosität steigerte sich. Seine Stimme schwankte und wurde höher.
„Sie haben das gesamte Wissen über unsere Mutter!“
Der Kommissar richtete sich auf und winkte ab. „Beruhige dich, Oliver!“
„Wie denn!“, rief er. „Ich vertraue Herrn Roth nicht annähernd so sehr wie Ihnen!“ Er vermied es, Daniel zu erwähnen.
„Du kannst dir aber kaum aussuchen, wer von uns den Fall bearbeitet“, entgegnete Weißhaupt bitter.
Oliver sank das Herz herab. Wenn Roth alles in die Hand nahm, würden vielleicht seine schlimmsten Vorstellungen wahr werden.
„Wer – verdammt – ist Matthias Habicht!“, fauchte Kai ungehalten. Offensichtlich störte ihn, dass er nicht beachtet wurde.
Für einige Sekunden antwortete ihm niemand. Schließlich erbarmte sich Weißhaupt. „Er war als ziviler Ermittler mit dem Fall Hoffmann betraut. Die Möglichkeit besteht, dass er heute Nacht hier eingedrungen ist, um die Zwillinge mitzunehmen. Da er keine dienstliche Anweisung hatte und offiziell beurlaubt ist, wäre das eine Entführung.“
Kai starrte Weißhaupt fassungslos an. „Was?“, keuchte er. Sein Blick zuckte zu Christian und Michael. Schließlich starrte er Oliver an. Sein Adamsapfel zuckte mehrfach kurz, als er schluckte. „Dann ist da noch viel mehr dahinter?“
Weißhaupt hob die Schultern, nickte aber zugleich.
Oliver wendete sich ihm zu. „Wenn Sie ihn haben, erfahren Sie sicher auch, wer die Person war, der er vor unserem Haus etwas in den Wagen geworfen hat!“
„Das ist Roths Angelegenheit, fürchte ich“, murmelte Weißhaupt dumpf. Daniel straffte sich. „Es ist auch mein Fall, Bernd. Ich lasse mich nicht so schnell mundtot machen!“
Die Worte Daniels hingen im Raum. Kai starrte den jungen Beamten fassungslos an. Auch Oliver konnte kaum glauben, dass er seine Tarnung fallen gelassen hatte.
Tadelnd schüttelte Weißhaupt den Kopf.
„Wodurch kamen unsere Eltern in den Fokus der Polizei?“, fragte Oliver.
Weißhaupt rollte entnervt mit den Augen. Oliver gab sich mit der flachen Antwort nicht zufrieden. „Was war der Auslöser?“
„Weil sie offenkundig mit den Spitzen des organisierten Verbrechens bekannt waren.“ Weißhaupts Stimme klang dumpf. „Schlimmer: Thomas Hoffmann war die ehemals rechte Hand und das ausführende Organ von Amman Aboutreika, dem Kopf einer der größten und wirtschaftlich sichersten Zellen des organisierten Verbrechens.“
Oliver fuhr zusammen. Eine eisige Hand schloss sich um sein Herz. „Was waren die Aufgaben unseres Vater?“, fragte er unsicher. Weißhaupt sah ihn bedauernd an.
„Hoffmann war Aboutreikas persönlicher Auftragsmörder.“
Für Oliver setzte sich langsam ein erkennbares Bild zusammen. Die Hintergründe der Morde lagen vollkommen anders, als angenommen. Allein die Verbindung zum organisierten Verbrechen änderte alle Vorzeichen. Oliver begann die Hintergründe mit anderen Augen zu sehen. Sein Verständnis änderte sich für seine Familie. Schlimmer als alles andere war sein Gefühl, durch die Einblicke, die er erhielt, seine eigene Unschuld zu verlieren. Vielleicht hatte es mit seiner engen Verwandtschaft und tiefer Scham zu tun. Einschätzen konnte er es nicht mehr. Ihm war bewusst, dass er sich mit jedem Moment selbst immer schmutziger vor kam. Trotzdem konnte er nicht aufhören, sich tiefer in den Fall und die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Eltern einzufinden. Er wollte verstehen. Das bedeutete unweigerlich, dass er seine eigene Reinheit verlieren musste.
Hierbei handelte es sich zweifellos um das, was die Polizei eine Beziehungstat nannte.
Oliver konnte die verzehrenden Gefühle nicht ganz nachvollziehen, bekam aber eine vage Vorstellung von der vernichtenden Stärke der Liebe. In den letzten Jahren hatte er sich selbst oft verliebt und wurde nicht weniger selten tief verletzt. Trotzdem wusste er, dass seine Gefühle kein Vergleich zu seinem Vater waren. Er hatte noch nie auf diese intensive Weise empfunden.
Was Oliver nicht begreifen konnte, war die spröde Ablehnung seiner Mutter gegenüber seinem Vater. Noch weniger begriff er, weshalb sie sich an einen anderen Mann verlor, der offenbar ein Monster war. Oliver stellte nicht in Frage, dass auch sein Vater furchtbar war. Seine Taten standen für sich. Aber Aboutreika …? Er war der Kopf all dessen. Oliver versuchte zu ermessen, was es bedeutete, ein Verbrechersyndikat zu lenken. Anhaltspunkte lieferten ihm Filme und Bücher, aber nachvollziehen konnte er es nur bedingt. Die Tragweite dieser Information überstieg seine Vorstellungskraft.
Letztendlich stellte er sich die Frage, was von dem Ägypter ausgehen musste, dass sich zwei Menschen, die er bestens zu kennen glaubte und für stark hielt, an ihm mutwillig zerstörten. Das Resultat gefiel ihm nicht. Aboutreika musste charismatisch sein, ein Puppenspieler, der seine Ziele nicht verriet und Menschen benutzte, sobald sie seinen Weg kreuzten. Oliver versuchte sich klar an ihn zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Die Person Aboutreikas war ihm emotional vertraut, aber seine Gestalt verwusch in der Masse unterschiedlicher Erinnerungen.
Für Oliver lag klar auf der Hand, dass Aboutreika Silke und Tom Hoffmann nutzte, um sie gegeneinander auszuspielen.
Er konnte sich alles nur so erklären, dass Marc und Elli die Bauernopfer waren. Aber was war ihr Ziel?
Eine weitere Frage ergab sich: hatte sie ihren eigenen Tod geplant?
Oliver verstand sie nicht. Wollte sie mit ihrer Tat einen Hinweis liefern?
So abwegig sein unmotivierter Einfall sein mochte, so fest verankerte er sich in seinem Kopf. Olivers Schädel brummte. Er rieb sich die Schläfen.
„Stand Habicht auf der Lohnliste Aboutreikas?“, fragte Oliver.
Weißhaupt hob die Schultern. „Die Frage wird sicher erst durch ein internes Ermittlungsverfahren geklärt werden können.“
Oliver beobachtete ihn. Der Beamte resignierte sichtlich an der für ihn unangenehmen Situation. Dieser Fall wirkte sich für alle Beteiligten zu einem Fluch aus, begriff Oliver. Für einen Moment überlegte er, ob Aboutreika eine solche Situation vorausgesehen und Habicht als Schwachpunkt in der Ermittlungskette erkannt hatte. Unwahrscheinlich kam ihm der Gedankengang nicht vor. Anhand dessen, was er bislang über den Ägypter zu wissen glaubte, war dieser in der Lage mit jedem Problem klar zu kommen und jeden Menschen nach seinen Wünschen zu lenken. Trotzdem fehlte Oliver eine Überleitung von Aboutreika und Habicht zu seinem Großvater. Sicher, als Bindeglied bot sich Olivers Mutter an, aber er wusste nicht, ob sie und Habicht einander überhaupt kannten. „Wie passen all die Personen in diesen Fall?!“, fuhr Oliver auf. Er zögerte kurz, als Weißhaupt die Brauen zusammen zog. Aber die Masse der Fragen, die ihm auf der Seele lagen, sprengten den Damm. Alles, was ihm durch den Kopf ging sprudelte heraus, wobei seine Stimme einen unangenehm schrillen Klang annahm. „Was hat Ihr Kollege mit unserem Großvater zu tun? Wie kommt unsere Mutter an das Gift? Weshalb duldete unser Vater ein Kind, von dem er sicher war, dass es nicht von ihm sein konnte? Und was machen diese Leichen im Keller unseres Großvaters? Wo – verflucht – liegen die Zusammenhänge?!“
Weißhaupt schnaufte. „Du solltest dich ganz aus den Ermittlungen heraus halten“, entgegnete er verärgert.
„Warum?!“, rief Oliver impulsiv. „Ich will nicht auch noch meine beiden Brüder verlieren, nur weil die Polizei Mist baut!“
Er wusste, dass er über die Stränge geschlagen hatte, doch die Worte ließen sich nicht mehr zurück nehmen. Für einen Moment zog Weißhaupt wütend die Brauen zusammen. Sein Blick loderte richtiggehend. Oliver erwiderte ihn. Er wollte sich von Weißhaupt nicht einschüchtern lassen. Wut und Angst waren berechtigt. Innerlich bereitete sich Oliver darauf vor allein für seine Brüder zu kämpfen.
Er versteifte sich unter Daniels warmen Händen. Der junge Beamte übte sanften Drück auf Olivers Nackenmuskulatur aus. Mit einer leichten Bewegung strich er über Olivers Arm. Es war keine stumme Warnung, sondern seine Versicherung, Oliver nicht allein zu lassen. Weißhaupt entging diese vertraute Berührung nicht. Sein Gesicht entspannte sich. Mühsam erhob sich der Kommissar. Wie zuvor Daniel sah auch er aus dem Fenster. „Ich kann verstehen, dass du kein Vertrauen mehr hast“, murmelte er. Alle Aggression wich aus ihm. „Christian und Michael ist aber nicht geholfen, wenn du dich mit deiner Neugier umbringst.“
Olivers Wut schlug in Verzweiflung um. „Ich kann versuchen für Sie die losen Enden, mit denen Sie nichts anfangen können, zu verbinden“, schlug er vor. Sein Tonfall klang fast bettelnd. „Sie sind für die Aufklärung zuständig, aber ich kann helfen …“ Seine Stimme brach. Oliver fühlte sich erschöpft und leer. Der Kommissar sah über die Schulter. „Ich weiß, dass du uns in den vergangenen Stunden mehr Informationen liefern konntest, als jeder andere bisher.“ Er zögerte kurz. Offenbar kostete es ihn Überwindung auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging. Weißhaupt war kein guter Rhetoriker. „Deine Theorien sind gut. Roth wird deine Mithilfe aber nicht akzeptieren. Er ist zu strikt in seinen Ansichten und zu besorgt um eure Sicherheit.“
Oliver rang nach Luft. Sein Hals fühlte sich an, als würde Habicht ihn zudrücken. „Herr Weißhaupt, wenn wir je wieder ein normales Leben führen wollen, müssen wir diese Geheimnis lüften.“
„Geheimnis?“, fragte er leise.
„All das hängt zusammen“, erklärte Oliver mit neuer Leidenschaft. „Wir haben nur die einzelnen Verbindungen noch nicht hergestellt.“
Er wendete Oliver erneut den Rücken zu. „Warten wir ab, wie lange ich noch mitarbeiten kann“, schloss er.
*
Vorläufig ließ Weißhaupt sie allein.
Kai war während des Gesprächs unmerklich abgerückt. Nun saß er so weit wie möglich weg von Oliver. Ihm kam es so vor, als wäre die Entfernung eines Kontinents noch zu dicht für Kai. Die ganzen Erkenntnisse, insbesondere das Wissen über Daniel, schienen ihn zu belasten. Sein Blick flackerte unstet. Er stützte sich mit beiden Unterarmen auf dem Tisch ab, spielte unablässig mit seinem MP3-Player und vermied es, zu reden.
Christian schubste Oliver an. „Warum ist der eigentlich hier? Der hat doch mit uns nichts zu tun.“
„Keine Ahnung“, gestand Oliver. Er legte seinen Arm um Chris und zog ihn an sich. Der Junge entwand sich und sah seinen großen Bruder an. „Was geschieht nun mit uns?“, fragte er.
Oliver schaute zu Daniel, der rechst von Christian saß.
„Das hängt davon ab, ob Bernd der Fall entzogen wird. Der hat ziemlichen Einfluss auf Roth, weißt du?“, sagte er leise. Oliver hörte aus seiner Stimme die Unsicherheit heraus. Daniel kannte sich vermutlich nur bedingt mit den Gesetzen zu elternlosen Minderjährigen aus. Viel Hoffnung machte er sich in Bezug auf das Schicksal seiner Brüder und sich selbst nicht mehr. Oliver versuchte Daniels Blick einzufangen, doch der Beamte konzentrierte sich zu stark auf Christian.
„Was, wenn wir in so ein geheimes Versteck kommen, wie es in Filmen immer passiert?“, fragte Chris. Für einen Moment wirkte Daniel ratlos. Kritisch hob er eine Braue, bevor er feixend zu Oliver sah. „Sag’ mal Olli, was lässt du die Jungs den gucken?!“
Obwohl ihm nicht zu Lachen zumute war, versuchte auch er die Spannung aus der Situation zu nehmen. „Sie hatten einen Fernseher in ihrem Zimmer. Ich habe keinen Schimmer, was sich die beiden kleinen Ungeheuer immer angeschaut haben“, bekannte er.
Chris boxte Oliver in die Seite. In Olivers übernächtigtem Zustand schmerzten die dünnen, harten Fingerknöchel mehr als erwartet. „Autsch! Monster!“
„Was geschieht nun wirklich mit uns?“, fragte Michael ernst. Er rutschte näher zu seinem großen Bruder und verrenkte sich, damit er an Oliver vorbei zu Daniel ansehen konnte.
Der Beamte zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ihr werdet tatsächlich in ein gesichertes Haus gebracht und unter Bewachung gestellt.“
„Siehste!“, fuhr Chris dazwischen. „Ich hatte recht!“
Jeder ignorierte ihn.
„Machst du das?“ Chris schaute zu Daniel auf.
„Ich hoffe“, murmelte der junge Polizist. In seiner Stimme schwang Unsicherheit mit. „Besser wäre es.“
„Aber ich muss Hinweise finden!“, flüsterte Oliver mit Seitenblick zu Kai, der aus dem Fenster sah und nervös mit den abgekauten Fingernägeln auf die Tischplatte trommelte.
„Und wo glaubst du, sollen wir suchen?“, knurrte Daniel. „Im Haus eurer Eltern werden wir kaum noch Erfolg haben.“
„Anhaltspunkte haben wir doch einige“, entgegnete Oliver. „Vielleicht kann man herausfinden, wo sich Amman Aboutreika aufhält, wo er zur Tatzeit war und wann er unsere Mutter zuletzt gesehen hat. Genauso interessant wäre es, ob er hier, in Deutschland einen Wohnsitz hat und möglicherweise einen Jaguar fährt. Und dann sind noch diese seltsamen Zahlenkolonnen da. Vielleicht sind das ja Bankschließfächer oder Nummernkonten …“
„Du siehst auch die falschen Filme“, unterbrach Daniel Oliver in seinem Redefluss.
Beleidigt seufzte Oliver. Im Moment, bemerkte er ärgerlich, reagierte er tatsächlich über. Trotzdem lenkte Daniel ein.
Er wiegte den Kopf. „Klar lässt sich das alles heraus finden. Wie willst du das bewerkstelligen?“
„Einfache Antwort“, entgegnete Oliver. „Was die Adresse betrifft: www.teleauskunft.de.“
Daniel schwieg nachdenklich. Nervös drängte Oliver: „Ein Versuch ist es wert.“
„Hast du eine Ahnung, wie viele Aboutreikas es hier gibt?“, knurrte Daniel.
Oliver verdrehte die Augen. „Nein“, entgegnete er. „Du aber auch nicht.“
Mit einer Hand fuhr Daniel sich über die Stirn. „Okay. Was sonst noch?“
„Wenn viele Gegenstände, Briefe, oder ähnliches nicht bei den Sachen unserer Eltern gefunden wurden, kann es gut sein, dass sich vielleicht irgendetwas im Besitz unseres Großvaters befindet. Vielleicht finden wir da Hinweise, die neue Anhaltspunkte liefern können.“
Daniel vergrub den Kopf in den Händen. „Schon klar“, murmelte er. „Ihr findet viel leichter Verbindungen, weil ihr die Menschen gekannt habt.“
Oliver nickte.
Als Daniel aufsah, wirkte er noch erschöpfter.
„Ich schaue, was ich tun kann.“
*
Als Roth das Besprechungszimmer betrat, winkte er Kai zu sich.
„Junge, mach bitte deine Aussage.“
Kai starrte ihn wütend an, wovon sich der alte Kommissar nicht beeindruckt zeigte. Schließlich folgte er einem anderen – Oliver unbekannten - Beamten murrend nach draußen.
Oliver stöhnte. Vermutlich würden sie alle nacheinander hinaus gerufen werden.
Der Kommissar schloss die Tür hinter sich und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Sein Blick traf Oliver.
„Ihr könnt nicht hier bleiben“, befand er.
Obwohl er nach Daniels Worten damit gerechnet hatte, fühlte sich Oliver, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Schwindelig klammerte er sich an die Tischkante. Er schluckte hart.
„Wohin?“, presste er hervor.
„In ein sicheres Haus. Bis auf wenige Kollegen wird niemand den Aufenthaltsort erfahren“, entgegnete er.
Sollte es außerhalb der Stadt liegen, sanken Olivers Chancen, eigenständig auch nur einen Schritt weit zu gehen.
„Herr Kuhn bleibt bei ihnen“, sagte Roth beruhigend. Er lächelte jovial. Obwohl Oliver unglaublich erleichtert war, seinen Freund in der Nähe zu wissen, ärgerte ihn diese gezwungen väterliche Art Roths.
„Wann geht es los?“, fragte Oliver.
„Wenn eure Aussagen aufgenommen wurden“, erklärte der Kommissar.
*
Dieses Mal fuhren sie nicht mit dem BMW des Kommissars. Oliver saß zwischen seinen Brüdern im Font eines Jeeps. Er konnte Daniels abgewandtes Profil neben dem des Fahrers sehen. Sein Freund beobachtete angestrengt den Verkehr. Nervös spielte er mit den Schnallen seiner Jacke. Immer wieder rieb er sich mit der Hand über den unrasierten Unterkiefer. Offenbar missfiel ihm etwas.
Nachdenklich betrachtete Oliver den Fahrer. Nach Olivers kurzen Eindrücken bevor sie eingestiegen waren, schien George ein schlanker, drahtiger Mann mittlerer Jahre zu sein. Er hieß Lukas George. Wie Oliver und seine Brüder war er blond. Offenbar sollte er nach außen hin als ihr Vater auftreten. Das passte zwar zu Chris und Michael, aber Oliver war weitaus breiter und muskulöser. Er überragte George schon jetzt um einen halben Kopf.
Bislang hatten sie noch nicht viel miteinander gesprochen. Allerdings verhielt er sich besonders den Zwillingen gegenüber herzlich. Er erzählte in knappen Worten, dass er Vater von drei Kindern sei, wovon der Älteste nur zwei Jahre jünger war als Oliver. Trotz seiner etwas militärisch direkten Art verströmte George herzliche Wärme und viel Humor. Oliver empfand ihn als sehr angenehm.
Daniel wendete kurz den Blick und lächelte ihm aufmunternd zu.
„Fahr etwas langsamer, Lukas“, bat er.
Der Fahrer sah selbst kurz in den Rückspiegel. „Verlieren wir sie?“, fragte er.
Daniel wiegte den Kopf. „An der nächsten Ampel sicherlich. Hinter uns haben sich etliche Wagen hinein gedrängt.“
Oliver wagte nicht, sich umzusehen. Er wusste lediglich, dass dem Jeep zwei weitere zivile Einsatzfahrzeuge folgten.
George ging auf der Bundesstraße vom Gas und ließ einige Wagen an sich vorüber ziehen, bevor er mit dem schweren Fahrzeug wieder etwas anzog.
„Jetzt sind sie wieder hinter uns“, nickte Daniel zufrieden.
Oliver stöhnte innerlich. Als der Jeep über die Platte Richtung Taunusstein fuhr, sank seine Zuversicht auf irgendeine Form selbstbestimmter Bewegungsfreiheit zwecks eigener Ermittlungen. Offenbar befand sich besagtes Haus weiter draußen, als angenommen. Allerdings durchquerten sie die einzelnen Ortschaften nur. Bei Schlangenbad bog George wieder Richtung Stadt ein.
Oliver zog die Brauen zusammen, schwieg aber. Ihm blieb nichts anderes, als sich zu entspannen und abzuwarten.
Sein Blick schweifte hinaus. Die Waldstücke zwischen Georgenborn und Klarenthal waren ein Meer aus Farben. Zum ersten Mal seit Tagen schien wieder die Sonne. Die Welt schien herbstlich zu vergolden. Eine beinah vergessene Leichtigkeit ergriff ihn. Sein Herz schlug ruhig. Die Wärme des Oktobertages durchflutete ihn. Trotzdem hielt dieses schöne Gefühl nur so lange an, wie sie durch die Natur fuhren.
Nachdem sie die Stadtgrenzen passiert hatten, legten sich erneute Bleigewichte auf seiner Brust nieder. Er fühlte sich schrecklich.
Als der Wagen in einer kleinen, Baumgesäumten Seitenstraße der Hildastraße hielt, überlegte Oliver, ob sie vorerst in einer der prächtigen Villen aus dem neunzehnten Jahrhundert wohnen würden.
Tatsächlich öffnete sich ein elektrisches Tor und gab freien Blick auf einen gesandeten Innenhof vor einem efeuüberwucherten Prunkbau. Das Haus erinnerte Oliver an ein Dornröschenschloss. Farbige Bleiglasfenster in eleganten Rundbögen, steinerne Balkone und verträumte Säulen einer Freitreppe zierten die Villa. Allerdings entging Oliver auch nicht, dass dezent versteckte Kameralinsen dem heranrollenden Wagen folgten.
Bevor der Jeep stand, schloss sich bereits das Tor hinter ihnen.
Schloss und Gefängnis, dachte Oliver.
*
Das Interieur des Hauses hielt, was die Fassade versprach. Für Oliver erwachte das 19. Jahrhundert zu neuem Leben. Von alten Aufnahmen, aus Büchern über das historische Wiesbaden und aus Filmen kannte er Villen wie diese. Trotzdem überwältigte ihn der prunkvolle Anblick.
Hinter dem Windfang öffneten sich geschliffene, verglaste Flügeltüren in eine marmorverkleidete Halle. Eine wuchtige Kassettendecke spannte sich über ihren Köpfen. Im Zentrum hing eine ornamentierte Kristallglaslampe mit Messingfassung. Weiches Sonnenlicht fiel durch die offenen Doppelflügeltüren in die Halle. Der Wind rauschte in den Blättern der Bäume vor den Fenstern. Der Geruch nach Staub und Politur lag in der trockenen Luft. Für einen Moment vergaß Oliver seine Probleme. Er schloss die Lider und sog das Gefühl in sich auf, was das Haus in ihm auslöste. Erst als Daniel ihn anrempelte, öffnete er wieder die Augen.
„Sorry“, murmelte sein Freund. Aus Daniels Tonlage glaubte Oliver leichte Unsicherheit zu hören. Zum ersten Mal erlebte er den jungen Beamten nicht locker. Nachdenklich beobachtete er seinen Freund. Daniel stand dicht neben ihm, seine Tasche über der Schulter und vollständig irritiert. Sein Blick huschte an den seidenbespannten Wänden hinauf, über die Bilder zu Oliver zurück.
„Wow“, flüsterte er. „Ein Museum zum drin Leben.“
Offensichtlich fing sich Daniel wieder, überlegte Oliver lächelnd, während auch er die Pracht auf sich wirken ließ.
So weit er sehen konnte, gab es auf dieser Etage einen Salon und zwei ausladende Büros. Unter der Treppe, die sich ab dem Zwischenpodest gabelte, entdeckte er einen Flur. Da der Prunk an dieser Stelle endete, ging er eher davon aus, dass es sich hierbei um die Küche oder ehemalige Gesindezimmer handelte. Über den Stufen wölbte sich das Fragment einer farbigen Glaskuppel, durch die das Sonnenlicht in die Halle fiel. Von hier unten aus bemerkte er auch eine Galerie, zwei Etagen über sich. Dieses Haus war an Pracht kaum noch zu überbieten. Ähnlich wie Daniel fühlte sich Oliver trotz allem unwohl. Er passte nicht hier her. Sein Blick streifte Christian und Michael. Ihnen schien der Zauber des Hauses ebenfalls unter die Haut zu gehen. Staunend drehte sich Michael um seine eigene Achse. Er schien jedes Detail, was er erfasste, in sich aufzunehmen, während plötzlich Leben in seinen Zwilling kam. Begeistert eilte Christian die ersten Stufen hoch und blieb vor einem Marmorbecken und einem Brunnenspeier stehen. „Kommt da auch Wasser raus?“, fragte er.
George, zuckte mit den Schultern. „Wenn die Leitungen nicht vollkommen verkalkt sind, vermutlich schon.“
Michael spähte durch die Geländerritzen. Vorsichtig versuchte er, sich durch die schmalen Zwischenräume zu schieben und sich auf den Teppich über den dunklen Stufen zu ziehen.
„Chris, Micha!“, warnte Oliver. „Benehmt euch!“
Schuldbewusst kroch Michael zurück und blieb mit gesenktem Kopf neben den Stufen stehen.
„Ich mach’ doch nix“, murmelte Christian. Seine Brauen zogen sich zusammen.
„Ihr seid hier nicht zu Hause!“, mahnte Oliver eindringlich.
Beide Jungen ließen den Kopf hängen.
Der Beamte lachte. „Ist schon in Ordnung. Wir haben das Haus vorläufig zur Verfügung gestellt bekommen.“
Chris strahlte. „Können wir uns umsehen?“, fragte er.
„Wenn wir ausgepackt haben, können wir ja alle zusammen auf Erkundungstour gehen“, schlug der Polizist vor. Oliver bemerkte das kindliche Leuchten in seinen Augen. Dieses Gefühl steckte an. Das Gefühl entdecken zu wollen, ergriff ihn. Oliver spürte das Feuer in sich. Er fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge.
Allein die Vorstellung von den ganzen verborgenen Winkeln des Hauses, die ihnen noch verborgen waren, reizte ihn. George schien das nicht entgangen zu sein. Er lachte herzlich.
Mit einem flüchtigen Blick streifte Oliver Daniel, der mit den Händen in den Hosentaschen an seiner Seite stand. Auch in seinen Augen fand er das Leuchten.
So viel Kind schien in jedem von ihnen zu stecken.
„Lasst uns erst mal auspacken!“, befand George.
*
Die oberen Räume waren weit weniger repräsentativ. Dennoch übertrafen sie Olivers Ansprüche. Sein Zimmer war nicht sonderlich groß, war aber verschwenderisch mit prächtigen Antikmöbeln ausgestattet. Das ausladende Bett bot Platz für ihn und seine Brüder, obwohl Oliver den Raum allein bewohnte. Er entdeckte einen alten Sekretär, an den ein zierlicher Stuhl heran geschoben worden war. Ein grünsamtener Clubsessel lud zum Lesen ein und ein Schrank mit anschließender Frisierkommode komplettierte sein neues Schlafzimmer. Durch Fenster und Balkontür fiel Sonnenlicht und malte fast sommerliche Muster auf den dunklen Teppich.
Der Blick nach draußen verriet Oliver, dass sein Zimmer zum Garten hin lag. Ein rotgolden belaubter Baum stand vor seinem Fenster. Das Gelände fiel nach unten hin ab. Etwas Schöneres als dieses Haus hatte er noch nie gesehen und bewohnen dürfen.
„Olli?“
Er sah kurz über die Schulter. Daniel schloss die Tür hinter sich. Wortlos wendete er sich wieder dem Fenster zu und betrachtete die verwinkelte Fassade und den ausladenden Garten.
„Schön“, murmelte er.
„Schon richtig. Aber das Haus ist nur eine zeitweilige Lösung.“
Oliver nickte. Das Gefühl, was Daniels Worte begleitete, kam Widerwillen am nächsten. Seine Situation rückte aus der Ferne wieder nah an ihn heran.
„Ist mir schon klar“, murmelte er dumpf.
Oliver wendete sich Daniel zu. „Was ist?“, fragte er. „Wollen George und die Jungs auf Expedition gehen?“
„Nein, Roth hat mich angerufen. Er kommt später mit ein paar Kollegen zur Besprechung“, entgegnete Daniel.
„Hm“, Oliver nickte. „Du verwandelst dich also vom Punk in einen aufgeräumten Beamten?“
Die Vorstellung weckte Olivers Schwermut wieder.
„Sehe ich so aus?“, fragte Daniel lachend. Er wartete Olivers Antwort nicht ab. „Ne, ich bin ne Zecke und bleibe eine.“ Grinsend blinzelte Daniel ihm zu. „Allerdings will ich vorher einiges mit dir besprechen und dafür sorgen, dass du dabei bist.“
Mit einer Handbewegung bot Oliver ihm Platz in dem Sessel an. Daniel ignorierte es. Bäuchlings ließ er sich auf das Bett fallen und rollte sich auf die Seite, um Oliver besser ansehen zu können. Offenbar hatte er nicht mit der voluminösen Daunendecke gerechnet, aus der er sich hervor arbeiten musste. Oliver lachte, während er sich auf der Kante niederließ und seinem Freund half. Mit einer Hand drückte Daniel das Deckbett flach.
„Besser als das Stift, oder?“, fragte er grinsend. Seine Augen funkelten.
„Das steht außer Frage“, entgegnete Oliver. „Wem gehört eigentlich das Haus?“
„Eigentlich einer älteren Kollegin“, erklärte Daniel. „Es wird für alles Mögliche genutzt. Praktisch ist, dass die Nachbarn zumeist Firmen mit kleinen Nobelbüros sind. Hier hast du Kanzleien, Immobilienmakler, Verwaltungen, Ärzte, Architekten, eben all die, die sich solche Mieten und Grundstückspreise leisten können. Der Schuppen wurde eine Weile an Polizeiaußenstellen vermietet. Hier werden Veranstaltungen abgehalten oder schlicht Zeugen untergebracht. Die Präsenz von Zivilbeamten ist hier ziemlich hoch. Euch kann also nichts passieren.“
Oliver sah ihn gequält an. „Nach der Tour, die Herr George gefahren ist, kann uns auch kaum ein Auto vom Stift bis hier her gefolgt sein. Das war eine Sightseeingtour.“
„Ich würde keinen Eid darauf schwören, dass uns keiner gefolgt ist“, murmelte Daniel. Alarmiert sah Oliver ihn an.
„Hast du was bemerkt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nicht die ganze Zeit die Kameraaufnahmen im Blick …“
„Kameraaufnahmen?“, unterbrach ihn Oliver.
„Ja, die gleiche Technik, die auch bei Geldtransportern angewendet wird: Eine Kamera macht Aufnahmen des nachfolgenden Verkehrs und übermittelt sie an einen Monitor in der Armatur.“
Oliver ließ sich ausgestreckt auf die Decke sinken. „Also könnte Habicht uns gefolgt sein?“
Daniel antwortete nicht darauf. Sein Blick verfinsterte sich. „Ich bin mir – nach dem was du sagtest - sicher, dass der Kerl nicht allein arbeitet.“
Oliver wendete Daniel den Kopf zu. „Und nun?“, fragte er leise. „Damit fallen unsere eigenen Ermittlungen ins Wasser.“
Daniel verschränkte die Arme unter dem Kiefer. „Schwierig, lächelte er, aber nicht unmöglich.“
*
Tatsächlich wendete Roth nichts gegen Olivers Anwesenheit während des Meetings ein. In dem Salon im Erdgeschoss traf er auf Lukas George, Bernd Weißhaupt und eine große, etwas übergewichtige, ältere Dame, die ihm bislang noch nie zuvor begegnet war.
Von Daniel erfuhr er, dass sie Irene Meinhard hieß. Ihr gehörte die Villa. Sie war die Vorgesetzte von Gregor Roth. Sie stand im Rang des ersten Polizeihauptkommissars, während ihr Kollege Oberkommissar war. Daniel erklärte, er sei Kommissaranwärter.
Für Oliver hörten sich die Dienstgrade gewichtig an. Allerdings schien jeder in der gehobenen Dienstlaufbahn den Kommissars in seiner Bezeichnung stehen zu haben.
Offengestanden konnte sich Oliver Daniel nicht als eine solche Respektsperson vorstellen, wie Roth oder Meinhard waren. Etwas beklommen begrüßte er die Kommissarin. Sie nahm seine Hand und drückte sie, wahrte aber eine für Oliver ungewohnte Distanz. Frau Meinhard besaß die Herzlichkeit einer Statue. Selbst Roth kam Oliver auf seine Weise näher. Allerdings behandelte die Kommissarin ihrer Kollegen nicht anders als Oliver.
„Du neigst also dazu, unseren Fähigkeiten nicht sonderlich viel Vertrauen zu schenken?“, leitete sie das Gespräch ein, während sie sich in einen Sessel sinken ließ und die Beine übereinander schlug. Sie klang harsch. Ihre Stimme knisterte beim Reden. Offenbar rauchte sie viel.
Verwirrt betrachtete Oliver sie. In ihren Augen funkelte Spott. Sie nahm ihn nicht ernst. Obwohl ihm das Gefühl noch immer gegen den Strich ging, aber Oliver war langsam daran gewöhnt. Er überlegte sich seine Worte sorgfältig, bevor er ansetzte.
„Wenn ein Beamter der Polizei in ein Haus einbricht, stärkt das kaum meinen Glauben an die Gesetzeshüter.“
„Du spielst auf Matthias Habicht an?“, fragte sie.
Oliver nickte. „Jeder andere zeigt sich durchaus sehr bereit zu helfen.“
Sie überging seinen Nebensatz. „Habichts Einmischung ist noch nicht einwandfrei erwiesen. Aber du kannst uns vielleicht anhand seines Dienstfotos sagen, ob er es war, der dich angegriffen hat.“
Weißhaupt winkte Oliver zu sich und zeigte ihm eine recht kleine Aufnahme. Der Mann auf dem Bild sah um Jahre jünger, ein wenig schmaler und glatt rasiert aus. Seine Haare standen in kurzen, helle Borsten ab. Er lächelte kühl in die Kamera. Er sah gut aus und wusste es, dachte Oliver. Die Art überheblicher Selbstsicherheit kannte er von seinem Vater. Er betrachtete das Bild sehr lang, obwohl ihm von Anfang an klar war, dass es sich bei diesem Mann um die Person handelte, die ihn gejagt hatte. Oliver hatte ihn nur zwei Mal kurz gesehen, aber es reichte aus, um sich dieses Gesicht einzuprägen. Der Mann auf dem Passbild war sein Jäger.
„Das ist er.“ Oliver sah Weißhaupt an, der nervös an seiner Unterlippe nagte.
„Ja, das ist Matthias“, murmelte er. Seine Stimme klang entmutigt.
„Haben Sie bereits Nachforschungen zu seinem derzeitigen Aufenthaltsort betrieben?“, fragte die Kommissarin harsch.
Weißhaupt nickte. „Offiziell ist er mit seiner Freundin in seinem Spanienurlaub“, erklärte er. „Sie sind auch nach Angaben von gemeinsamen Freunden von Berlin aus nach Barcelona geflogen. Aber er kann durchaus von dort nach Frankfurt geflogen sein.“
Er hob die Schultern. „Ich habe schon versucht, die beiden zu erreichen. Ihre Handys sind abgeschaltet.“
Irene Meinhard neigte sich nach vorne. Sie grub in ihrer Jackentasche nach etwas. Nach Sekunden zog sie ein Silberetui hervor, in dem sich ein etwa kugelschreibergroßer Plastikstift mit Mundstück befand. Noch nie zuvor hatte Oliver eine Elektrozigarette gesehen. Sie sog daran und lehnte sich mit leicht flatternden Lidern zurück.
„GPS-Suche?“, fragte sie knapp.
„Erfolglos“, erklärte er. „Die beiden Geräte liegen in einem Hotel in Barcelona.“
„Verdammt!“, zischte sie. „Ist Habichts Freundin nicht auch bei der Polizei?“
„Ja“, bestätigte Weißhaupt. „Natalie ist bei der Spurensicherung in Berlin.“
„Prüfen sie, ob die Frau etwas mit dem Fall Hoffmann/ Aboutreika zu tun hat“, befahl Frau Meinhard. Sie wendete sich von Weißhaupt zu Roth, der entspannt in einem anderen Sessel auf seinen Einsatz wartete. „Das Gift in dem Körper des Kindes und in den Gebeinen, die man bei Markgraf fand, ist von der gleichen Art gewesen, wie das, was das Labor in den Parfumflakons gefunden hatte?“, fragte sie ihn.
Roth schüttelte den Kopf. „Nein. Das aktuelle Gift, was auch den Jungen getötet hatte, ist chemisch vermischtes Digitales, das andere vor siebzig Jahren war – laut Labor - vermutlich ein Arsengemisch.“
Sie rieb sich nachdenklich den Kiefer. Nach einer Weile wendete sie sich an Oliver. „Glaubst du an einen Zufall oder einen Zusammenhang?“
Diese Frau verwirrte Oliver immer stärker. Ihre hellen Augen fixierten ihn abschätzend.
„Vom Gefühl her gibt es da eine Verbindung“, erklärte er.
„Was weißt du über deinen Großvater?“, hakte sie nach, ohne auf seine Worte einzugehen.
„Er ist Buchhändler“, erwiderte Oliver.
„Was noch?!“ Ihre Stimme nahm einen schneidenden Ton an.
„Ich weiß nicht“, murmelte Oliver. Er stand auf und lief im Raum auf und ab. Die Bewegung half ihm nachzudenken.
Mühsam grub er alle Details aus seiner Erinnerung, die er von seiner Mutter oder aus den Details in Walters Wohnung herausfiltern konnte. „Er wurde in den zwanziger Jahren geboren“, begann er. „Ich glaube, er war in der Anfangszeit in der HJ, später aber Soldat. Sein Vater war der Vorbesitzer des Buchladens. Seine Mutter …“ Oliver geriet ins Stocken. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht war sie nur Hausfrau. Auf den alten Aufnahmen trug sie immer eine lange Schürze und dunkle Kleider.“ Er sah Frau Meinhard an. Sie beobachtete ihn scharf.
„Weiter“, forderte sie ihn auf, als Oliver nicht gleich fort fuhr.
„Er war mehrfach verheiratet. Ich weiß von mindestens drei Ehefrauen. Die erste starb vor Kriegsende, die zweite in den Fünfzigern und meine Großmutter einige Jahre nach der Geburt meiner Mutter.“
„Wodurch?“, wollte die Kommissarin wissen.
Oliver schloss die Augen und dachte nach.
„Ich habe gehört, dass es immer Krankheiten waren. Meine Mutter sprach oft davon, dass meine Großmutter ständig depressiv war. Sie schloss sich oft ein und verweigerte tagelang das Essen.“
Irene Meinhard warf ihren Kollegen einen Blick zu.
„Ich will die Geburts- und Sterbeurkunden aller Personen aus dieser Familie. Das Grundbuch, die Pläne des Hauses, die Unterlagen aus dem Krieg und ich möchte, dass die Leichen exhumiert und untersucht werden.“
„Auf Basis von was?!“, stieß Roth aufgebracht hervor. „Dafür werden wir kaum Gelder zur Verfügung gestellt bekommen …“
„Wenn es der Klärung alter Verbrechen dient, werde ich die Bewilligung der Gelder in jedem Fall erhalten!“, fuhr ihm Meinhard grob über den Mund.
„Es kann gut sein, dass einige Gräber nicht mehr existieren“, gab Daniel zu bedenken. „Das lässt sich aber anhand alter Unterlagen rekonstruieren. Dafür müssen Mietunterlagen vorhanden sein.“
„Guter Einwurf“, sagte sie. „Kümmern Sie sich darum!“
„Ich finde garantiert die passenden Unterlagen“, warf Oliver verzweifelt ein. „Vielleicht kann ich auch die ganzen Querverbindungen herstellen, die Ihnen fehlen.“
Irene Meinhard runzelte die Stirn. „Du bist fünfzehn und nicht im Polizeidienst!“
Oliver schlug die Augen nieder. „Aber ich kenne die Wohnung und das Haus. Mir fallen vielleicht Verstecke auf, die anderen entgehen.“
„Argumentieren kann der Kleine!“, rief sie. „Also gut, Kuhn, Sie müssen mir aber auf den Jungen aufpassen!“
Olivers Herz machte vor Freunde einen Sprung. Fassungslos starrte er die Kommissarin an. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Vermutlich lächelte sie gerade.
„Aber ich will von jedem Schritt und jedem Fund informiert werden!“
*
„Ist mein Großvater eigentlich noch in Polizeigewahrsam?“, fragte Oliver vorsichtig. Daniel schüttelte den Kopf. „Sie konnten ihn nicht fest halten. Nach 72 Stunden ist jeder ohne stichhaltige Beweise, oder wenigstens brauchbare Indizien wieder auf freiem Fuß.“
Seufzend zog sich Oliver seine Lederjacke enger um die Schultern und rieb sich die Nasenwurzel. „Klasse. Walter wird uns mit offenen Armen empfangen.“
Er stieg neben Daniel in den Jeep ein. Der junge Beamte steckte den Schlüssel in das Zündschloss und ließ den schweren Motor aufheulen. Gleichzeitig glitten die Flügel des Tores auseinander.
Während der Wagen langsam anrollte, wiegte Daniel den Kopf. „Roth oder Meinhard werden dabei sein. Davon abgesehen haben wir einen Durchsuchungsbefehl.“
„Für die Wohnung, oder das ganze Haus?“, fragte Oliver skeptisch. Daniel zuckte die Schultern. Er sah konzentriert durch die Windschutzscheibe nach draußen. Kein einziger Wagen passierte die ruhige Straße. Dennoch parkten hier unzählige Fahrzeuge. Es war definitiv eine Büro-Gegend der gehobenen Klasse.
Vorsichtig manövrierte Daniel den großen Wagen an den anderen Autos vorbei, bis er die Straße hinter dem Kurpark erreichte und auf die Taunusstraße abbiegen konnte. Hier gab er etwas mehr Gas.
„Letztlich hat die Chefin gesagt, dass du mit kannst, weil du kein Polizist bist. Was du findest und anzeigst, kannst du überall her haben.“
„Also bin ich Mittel zum Zweck?“, fragte Oliver.
Daniel sah kurz zu ihm. „Für sie sicher. Für mich in keinem Fall.“ Er lächelte aufmunternd. Trotz allem fühlte Oliver sich schlecht.
„Weswegen versteift sie sich so auf meinen Großvater?“
Wieder hob Daniel die Schultern. „Der Verdacht, dass er mit Gift herumprobiert, liegt nicht so fern. Besonders nachdem du sagtest, dass sich deine Oma einsperrte und das Essen verweigerte. Das hört sich für mich so an, als hätte sie versucht, dem Schicksal zu entgehen.“
Oliver nickte verdrossen. „Als ich davon erzählt habe, ist mir der Gedanke auch gekommen.“
„Du wärst ein toller Ermittler“, sagte Daniel ernst. „Du kombinierst und denkst sehr schnell und überlegst dir gleich die Konsequenzen aus deinen Resultaten.“
Oliver ließ sich nach hinten sinken. Er schloss die Augen. Polizist zu sein, gehörte nicht gerade zu seinen zukünftigen Wunschberufen.
„Eigentlich wollte ich Literatur und Germanistik studieren“, gab er zu.
„Du hast allerdings die passenden Anlagen für die Polizei.“
Daniel lachte leise. „Du bist schon jetzt ziemlich groß und ziemlich muskulös. Das wirst du brauchen.“
„Ich bin einen Meter vierundachtzig und boxe. Sind das deine Voraussetzungen?“, fragte Oliver mit einem Seitenblick zu Daniel.
„Es sind sehr gute Anlagen. Noch dazu scheinst du mir ziemlich schlau zu sein.“
„Ich bin ein Freak und Rollenspieler. Irgendwann wollte ich versuchen Autor zu werden. Glaubst du, dass der Polizeidienst mein Weg ist?“, fragte er ruhig.
Daniel blinkte nach links und ordnete sich in den Abbiegerverkehr ein. Sekunden später schaltete die Ampel auf grün um. Er ließ langsam das Gas kommen und manövrierte den Jeep um die unübersichtliche Kurve in die Wilhelmstraße. Oliver sah die Prunkbauten des Kurviertels an sich vorbei ziehen.
„Ich weiß nicht, als was ich dich in der Zukunft sehe“, erklärte er ernst. „Aber wenn deiner Familie weiterhin so böse mitgespielt wird, habe ich Angst um dich und deine Brüder.“
Verwirrt sah Oliver ihn an. Daniel setzte den Blinker nach rechts.
„Warum?“
„Weil du jemand brauchst, der dir dein Misstrauen nimmt und mit deinem Eigensinn klar kommt“, entgegnete Daniel ernst.
Oliver stöhnte.
„Daniel, bitte …“
Der junge Beamte sah ihn kurz an. Etwas in dem Blick brachte Oliver zum Verstummen. Die Sorge seines Freundes war echt und ging offensichtlich sehr tief.
„Du nimmst jetzt schon nicht alles hin, was durchaus gut ist. Ich verstehe auch, warum das so ist.“ Oliver beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, schwieg aber. Daniel sprach ohne Pause weiter. „Du fühlst dich unverstanden und einsam. Zurzeit kommen nur deine Brüder und ich an dich heran. Irgendwann wirst du gegen alles rebellieren, wenn du nicht akzeptierst, dass für euch das alte Leben unwiederbringlich zu Ende ist.“
Innerlich stöhnte Oliver wieder. In den vergangenen Tagen hatte er das Thema mehrfach für sich gewälzt …
„Ihr habt eine Zwischenphase und irgendwann eine neue Chance. Die musst du ergreifen“, sagte Daniel in seine Gedanken. Oliver schluckte hart. Diese Worte aus Daniels Mund, der sonst mit allem leichtfertig umging, erschreckten und beeindruckten ihn. Er schwieg einige Minuten und ließ die Rede auf sich wirken, während sich der schwere Wagen leise durch den dichten Verkehr bewegte.
Er wollte durchaus alles um sich verändern und aus den neuen Zwängen ausbrechen. Früher oder später würde er diese Situation, nur Marionette zu sein, nicht mehr ertragen. Aber er war schon immer anders und für viele Menschen seltsam gewesen. Es gab keinen Grund, sich anzupassen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Daniel. Ihm sah man die vielen Talfahrten in seinem Leben an. Er schien sein Leben allerdings wieder im Griff zu haben.
Schließlich richtete Oliver sich auf. „Du warnst mich, weil dir dein Leben irgendwann so entglitten ist, oder?“, fragte er.
Daniel nickte. „Vollkommen entglitten.“
„Aber du bist dir treu geblieben und hast wieder Boden unter den Füßen gewonnen.“
„Schon richtig“, bestätigte er.
Oliver lächelte. „Ich bin vielleicht ein ziemlicher Freak. Und werde irgendwann der Rebell, den du in mir siehst, oder ein Punk, wie du, aber ich verspreche dir, dass ich trotzdem nie den Faden zur Realität verliere.“
*
In der Matthias-Claudius-Straße wartete bereits Frau Meinhard. Sonnenlicht schimmerte auf ihren Haaren. Jetzt erschien sie Oliver noch beeindruckender als zuvor. Die Frau war riesig, eine Masse unförmigen Fleisches in einem hellen Wettermantel.
Ihr sah man den Beruf nicht an. Lediglich die beiden uniformierten Beamten hinter ihr gaben einen vagen Eindruck.
Ihre Brauen zuckten erfreut hoch, als sie Daniel und Oliver entdeckte.
„Können wir?“, fragte sie.
Oliver atmete tief durch. Schließlich nickte er.
Als er seinen Haustürschlüssel zücken wollte, schüttelte die Kommissarin den Kopf. „Wir klingeln.“
„Ich glaube um diese Uhrzeit ist er noch im Laden“, sagte Oliver.
Für einen Moment schien sie zu überlegen.
„Ich würde vorschlagen, dass du dich oben schon mal umsiehst, während wir den offiziellen Weg nehmen“, schlug sie vor. Ihre Augen funkelten wieder. Sie sah zu Daniel. „Leider können Sie Ihren Schützling erst mal nicht begleiten.“
In der Mimik des jungen Mannes arbeitete es. Sein Pflichtgefühl verlor aber offenbar den Kampf gegen sein Gewissen. „Bei allem Respekt, Frau Meinhard …“, ereiferte er sich, wurde aber von ihr unterbrochen. „Schon in Ordnung!“ Sie schloss die Augen. „Gehen Sie mit dem Jungen! Aber sollte Ihre Handlung Konsequenzen jeglicher Art haben, stehen Sie dafür gerade.“
„Was meinte sie damit“, fragte Oliver in gedämpftem Ton, als sie sich im Hausflur außer Hörweite befanden.
„Ich begleite dich, bin aber nicht befugt, die Wohnung ohne das Okay deines Großvaters zu betreten“, erklärte Daniel.
Oliver seufzte. „Kann es sein, dass ihr euch mit euren Gesetzen selbst im Weg steht?“
„Manchmal schon“, gestand er. „Allerdings lass das die Meinhard nie hören. Die zieht mir das Fell über die Ohren.“
Oliver grinste. „Schon in Ordnung. In der Wohnung gehe ich ohnehin nicht davon aus, dass mir etwas passiert. Warte einfach an der Tür.“
Zweifelnd wiegte Daniel den Kopf. „Du bist mir darin etwas zu leichtfertig. Meinhard zweifelt auch an der Freundlichkeit deines Großvaters, ansonsten hätte sie niemals ihr okay gegeben, dass ich mit dir gehe.“ Die Art wie Daniel Freundlichkeit betonte, verursachte bei Oliver ein ungutes Gefühl. Er blieb auf den Stufen stehen. Mit dem Handballen rieb er sich die Schläfe. Die Situation überforderte ihn. Gab es denn keinen einzigen ungefährlichen Menschen in seinem Verwandtenkreis? Wie konnte eine ganze Familie so mordlustig sein?!
Daniel berührte ihn am Arm. Konnte er Olivers Gefühle nachvollziehen? Eigentlich wollte er kein Mitleid, aber die Berührung half ein wenig.
Mit einem knappen, aber herzlichen Lächeln bedankte sich Oliver.
Unten wurden Stimmen laut. Oliver lauschte. Er konnte nichts Konkretes verstehen Sie kamen nicht aus dem Haus. Der Lärm vorbeifahrender Busse übertönten sie. Er war sicher, Frau Meinhards raue Tonlage erkannt zu haben. Daniel hielt sich am Geländer fest und sah nach unten. „Sie sind noch immer nicht im Haus“, stellte er beunruhigt fest. Aus der Innentasche seiner Jacke zog er sein Handy. „Ich rufe sie an“, erklärte er.
Oliver wartete, bis Daniel die Rufnummer seiner Chefin anwählen konnte. Mit einer Handbewegung deutete er hinauf.
„Kommst du nach?“, fragte er.
Daniel nickte. Oliver ließ ihn nach einer halben Treppe bereits hinter sich zurück. Zwischen der vierten und fünften Etage wartete er auf seinen Freund, der sehr viel langsamer lief und immer wieder stehen blieb. Er sprach sehr leise mit Frau Meinhard. Auf den letzten Absatz blieb er stehen und lehnte sich an das Fensterbrett.
Oliver bedeutete ihm, dass er hochgehen würde. Daniel schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit. Offenbar hörte er sich konzentriert die Anweisungen seiner Vorgesetzten an.
Langsam ging Oliver weiter. Vor der Tür zur Wohnung seines Großvaters drehte er sich noch einmal zu seinem Freund um.
Noch immer lehnte Daniel an dem Fensterbrett und telefonierte. Allerdings sah er zu Oliver hoch. In seiner Mimik las Oliver Sorge. Vielleicht lag darin der Auslöser für das unangenehme Kribbeln in seinem Nacken, was seine Ängste erneut weckte.
Für einen Moment stellte er sich vor, dass hinter der Tür sein Großvater wie ein Schreckgespenst lauerte, oder Habicht ihn mit gezogener Waffe erwartete. Schaudernd schob er den Gedanken von sich. Trotzdem zögerte er, bevor er den Schlüssel aus seiner Jackentasche zog und ihn in das Schloss steckte.
Hinter der Tür glaubte Oliver in eine Dunstwolke schlechter Luft zu treten. Scheinbar hatte Walter seit Tagen nicht mehr gelüftet. Feuchtigkeit hing als Feiner Nebel, den er einatmete, im Flur. Die Wohnung schien überheizt worden zu sein. Er roch noch die Reste des Essens, was Walter gekocht hatte. Es mischte sich mit dem dumpfen Aroma von Moder und Deo. Alarmiert blieb Oliver stehen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Schauer rannen über seine Wirbel hinab.
Offenbar hatte gerade erst jemand geduscht. Der Umkehrschluss bedeutete, dass er nicht allein war!
Mühsam befreite sich Oliver von der lähmenden Furcht vor seinem Großvater. Er ließ die Tür einen Spalt offen, um Daniel die Möglichkeit zu geben, ebenfalls einzutreten. Es kam ihm vor, als stünde er in einem bespukten Haus.
Angespannt lauschte er. Die alten Dielen knackten leise. Über ihm knarrte das Gebälk des Dachstuhls.
Langsam schritt er über den Flur, darauf gefasst, sich seinem Großvater gegenüber zu sehen. Vorsichtig spähte er in das Schlafzimmer. Obwohl die Vorhänge offen standen, sah es aus, als habe Walter sein Bett seit Tagen nicht mehr gemacht. Seine Kleider lagen überall verstreut über stapeln alter Bücher und einem offen stehenden Lederkoffer.
Das ungute Gefühl in Olivers Magen verstärkte sich. Nie würde sein Großvater seine Sachen so behandeln. Ging es ihm gut? Leise Sorge schlich sich in sein Herz.
Zugleich erwachte ein Verdacht: was wäre, wenn sein Großvater Matthias Habicht beherbergt und dieser ihn umgebracht hatte?!
Diese Vorstellung entsetzte ihn. Eisig rann seine Angst in seinen Verstand. Oliver glaubte, das knarren über sich vielfach lauter zu hören!
Ging dort jemand?!
Gleichzeitig kam ein schwacher Luftzug von irgendwo her. Das Gefühl war unbeschreiblich elektrisierend. Oliver spürte regelrecht wie die Panik seinen Verstand fort spülte. Vehement bekämpfte er seine Angst.
„Opa?!“, rief er. Seine Stimme bebte. Obwohl ihm alles zur Flucht riet, eilte er mit langen Schritten zum Wohnzimmer.
Die Tür stand einen Spalt weit offen. Oliver sah Walter reglos in seinem schäbigen Lehnsessel sitzen. Der alte Mann starrte ins Leere. Sein feines Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Er trug noch immer das gleiche Hemd, was er vor zwei Tagen an hatte. Flecken verunzierten den mürben Stoff. Der Anblick erinnerte Oliver an einen Wahnsinnigen.
Um ihn herum lagen Alben und Ordner verstreut. Auf dem Tisch türmten sich Briefe. Zwischen all dem Papier stand schmutziges Geschirr.
„Opa!“, rief Oliver.
Er stieß die Tür auf und trat ein. Der Kopf des alten Mannes ruckte hoch. In seinen Augen loderte Feuer. So viel Abscheu und Hass kannte Oliver gar nicht. Die dünnen Lippen zuckten, als wolle er etwas sagen. Er krächzte. Speichel troff aus seinem Mundwinkel. All die ungestillte Wut in Walter schnürte ihm offenbar die Luft ab. Er konnte nicht reden. Der alte Mann stieß unartikulierte Laute aus. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die transparente Haut spannte sich wie trockener Papyrus über dunklen Adern und bleichen Knöcheln. Er zitterte.
Oliver trat einen weiteren Schritt auf ihn zu.
Mit erschreckender Geschmeidigkeit federte Walter auf die Füße. Oliver verharrte erschrocken. Im gleichen Moment warf sein Großvater eine Tasse nach ihm. Oliver wich rasch aus. Erschrocken starrte er zu Walter. Die Schrecksekunde reichte dem alten Mann, um Oliver zu erreichen. Wortlose Qual und unendlicher Hass stand in seinem maskenhaften Gesicht.
Walter verkrümmte seine Hand zu einer Klaue. Mit einer ausholenden Bewegung ließ er sie nach vorne schnellen. Oliver zuckte zu spät zurück. Es hatte den Anschein, dass der ehemals kampferprobte Mann jeden Moment Unaufmerksamkeit seines Enkels ausnutzte. Sein Zögern entschied seine Hilflosigkeit.
Brutal packte Walter zu. Dumpfer Schmerz explodierte in Olivers Kopfhaut, als sein Großvater ihn an den Haaren herumzerrte. Von der Kraft Walters getrieben, verlor er das Gleichgewicht. Einen Herzschlag später sah Oliver, wie der Tisch auf ihn zukam. Er riss die Arme hoch. Mit unglaublicher Gewalt schlug er auf der Kante auf. Ein heller, scharfer Schmerz zuckte durch sein Handgelenk. Er spürte, wie die Haut aufplatzte. Ihm wurde gleichzeitig kalt und schwindelig. Dunstiger Nebel rann mit dem explodierenden Schmerz in seinen Verstand. Langsam ebbte das Gefühl ab und wurde von Taubheit abgelöst. Am Rande seines Bewusstseins nahm Oliver die Türklingel wahr. Das Geräusch erschien ihm so fremd und abstrus, dass er es gleich wieder ignorierte.
Walter riss ihn erneut an den Haaren hoch. Für einen winzigen Moment kam Oliver der Gedanke, sich zu wehren, doch sein Gewissen flackerte auf. Er dürfte keinen neunzigjährigen schlagen! Einen Herzschlag später bereute er die Entscheidung. Walters Faust traf ihn ungezielt und brutal. Trotzdem nahm Oliver nur noch wahr, dass seine rechte Wange getroffen wurde. Es tat weh, besonders weil Habicht genau dort mit dem Kolben seiner Pistole zugeschlagen hatte. Trotzdem betäubte ihn der Schmerz nicht mehr.
Walter stieß ihn von sich. Geistesgegenwärtig fing Oliver sich in der Bewegung. Erschrocken bemerkte Oliver, dass sein Großvater ihn in eine Ecke drängen wollte. Der alte Mann trieb ihn vorsätzlich zwischen Vitrine und Tür.
Während Walter zum nächsten Hieb ansetzte, duckte Oliver sich instinktiv, wobei er sein Gesicht mit der Rechten deckte. Die Faust seines Großvaters konnte er abwehren. Dennoch zögerte er, selbst zuzuschlagen. Walter ließ sich diese Chance nicht entgehen. Die Wut über Olivers Reaktion verlieh dem alten Mann offenbar übermenschliche Kräfte. Obwohl Oliver die Hände seines Großvaters abwehrte, prügelte Walter ungerichtet auf ihn ein. Seine Finger rissen an Olivers Haaren. Schartige Nägel kratzten durch sein Gesicht. Oliver gelang nicht, die Handgelenke des alten Mannes zu fassen zu bekommen. Sein verletzter Arm machte es ihm zusätzlich schwer.
Allerdings stieg Olivers eigener Zorn an. Er spürte mit jedem Schlag, der ihn traf, wie der Schmerz abnahm und seine eigene Gewaltbereitschaft stieg. Er ballte die Faust und stieß sie nach vorne. Zielen konnte er nicht.
Das ächzen Walters verriet ihm, dass er getroffen hatte. Sein Großvater setzte die Schläge aus. Er hielt sich den Bauch. Oliver musste sich Platz verschaffen. Der Gestank des alten Mannes ließ ihn würgen. Der faulige Atem, mischte sich mit dem Geruch nach Blut.
Oliver stieß seinen Großvater mit der Schulter von sich. Im zurücktaumeln stolperte Walter über seine eigenen Füße. Mit rudernden Armen fing er sich wieder. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske. Oliver begriff, dass es noch nicht vorbei war!
Der alte Mann wurde nur noch von dem Gedanken zu zerstören angetrieben. Walter schien es egal zu sein, was mit ihm geschah, so lang er nur seinen Hass ausleben konnte.
Mit einem gurgelnden Schrei stürzte er sich erneut auf Oliver.
Er erreichte ihn nicht. Oliver hatte sich bereits geduckt und die Fäuste erhoben. Von einem Moment zum anderen wurde Walter zurück gerissen.
Der Hass in seinen Augen flackerte. Verwirrung und Schrecken machten sich auf seinen Zügen breit.
Daniel zerrte ihn herum und stieß ihn in einen Sessel. Aus der Bewegung heraus zog er Dienstwaffe und Marke.
„Beruhigen Sie sich!“, befahl er in harschem Ton.
Walter fuhr zusammen. Er starrte den jungen Polizisten an. Langsam glitt sein Blick wieder zu Oliver. Die Zerstörungswut lag noch immer in seinem Blick. Trotzdem schien ein Quäntchen Normalität seinem verwirrten Geist zu sagen, dass er einen bewaffneten Mann nicht unterschätzen sollte. Noch immer troff Speichel aus seinem Mund. Der Anblick war widerlich. Das war nicht mehr sein Großvater! Oliver sah zum ersten Mal ein geistloses, Hass zerfressenes Monster vor sich.
Langsam richtete er sich auf.
„Bist du in Ordnung, Olli?“, fragte Daniel besorgt.
Die Stimmen verschiedener Personen hallten aus dem Treppenhaus hinauf.
Oliver trat zu Daniel. Automatisch rückte er dicht an seinen Freund. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Blut haftete an seinen Fingern. Genaugenommen tat ihm alles weh. Für den Moment musste er den Schmerz ignorieren.
„Wo ist Matthias Habicht?“, fragte er seinen Großvater. Der alte Mann senkte den Kopf. Es sah aus, als sei er eingeschlafen. Seine Lider flatterten leicht, während seine Züge erschlafften.
„Er war hier. Du hast ihn versteckt, oder?!“, schrie Oliver seine Vermutung heraus. Es gelang ihm nicht mehr sich auch nur einen Moment länger zu zügeln. Walter verharrte weiterhin schweigend in seiner bizarren Pose.
Oliver fühlte Daniels Blick auf sich.
„Was hast du mit ihm zu schaffen?!“ Olivers Stimme überschlug sich. Tränen rannen über seine Wangen.
Er hörte Frau Meinhard an der Tür. „Wenn du es mir nicht sagst, ihnen wirst du die Wahrheit erzählen müssen!“
Walter hob schwerfällig den Kopf. Er sah an Oliver vorbei ins Leere. „Er hat sie nicht verraten“, murmelte er tonlos. „Dazu hat er sie zu sehr geliebt. Er hat sie nicht verraten …“
Oliver trat näher. „Habicht?“, fragte er.
Walter reagierte nicht.
„Redest du von Mutter und diesem Polizist?!“, drängte er.
Er hörte die Schritte von Frau Meinhard und ihren uniformierten Kollegen. Zeit blieb ihm keine mehr.
„Sag es!“, schrie er.
Sein Großvater lächelte nur, während er leise ein Kinderlied summte.
*
Mit verbissener Vehemenz durchsuchte Oliver die Wohnung nach Spuren von Matthias Habicht. Für ihn stand außer Frage, dass Walter ihn beherbergt hatte. Die Kleidung, die in Olivers vorübergehendem Zimmer lag, bestätigte seine Annahme. Er fand Habichts Ledermantel und seine Reisetasche.
„Was ist eigentlich passiert?“, fragte Daniel, der lautlos hinter Oliver eintrat und die Tür anlehnte.
„Habicht war hier.“ Oliver wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Ihm liefen immer noch Tränen über die Wangen. Allerdings empfand er ausschließlich Wut und Enttäuschung. „Mein Großvater hat ihn versteckt“, flüsterte er. Behutsam drehte Daniel Oliver zu sich um und nahm ihn in die Arme. Oliver schloss die Augen. Wortlos lehnte er sich an seinen Freund.
„Warum“, murmelte Oliver. „Ich begreife nichts mehr.“
Langsam strichen Daniels Finger durch Olivers Haar.
„Frau Meinhard wird sicher gleich eine Fahndungsmeldung herausgeben lassen“, flüsterte er. „Wir finden diesen Kerl.“
*
Nachdem Oliver sich das Gesicht gewaschen hatte, sah er sich die neu hinzugekommenen Blutergüsse und Schwellungen in seinem Gesicht an. Er würde sie kühlen müssen, wenn er nicht noch mehr aussehen wollte wie durch den Fleischwolf gedreht. Er betrachtete sich eine Zeitlang stumm im Spiegel. Ihn beschlich das Gefühl, sich jeden Tag weniger zu ähneln. Platzwunden und ein Feilchen mochten vielleicht in Filmen verwegen aussehen, aber in der Realität sah es einfach nur dämlich aus, von den Berührungsschmerzen und den heißen Schwellungen ganz zu schweigen.
Mit beiden Händen strich er sich über die Haare. Seine verdammten langen Locken! Jeder, gegen den er kämpfte, nutzte sie gegen ihn. Für einen Moment überlegte er, ob er sie sich abschneiden sollte, entschied sich aber für den Moment dagegen. Er stand in der Wohnung seines Großvaters, überall stolperte er über Beamte, die alles gründlich durchsuchten. Nein. Er hatte sicher schon genug Spuren zerstört. Jetzt musste er nicht auch noch für mehr Aufwand sorgen. Er wollte helfen, nicht behindern.
Langsam strich er sich das Haar zurück, band sich einen Zopf und straffte sich. Sein Spiegelbild sah noch immer jämmerlich aus. Oliver spürte, dass ihn aller Mut verließ. Er zweifelte an sich und seinem Handeln. Für einen Moment dachte er an Daniels Freundschaft, die ihn unerschütterlich begleitete. Ohne ihn wäre Oliver nie so weit gekommen; weder im positiven, noch im negativen Sinn. Die Nähe und Wärme seines Freundes bedeutete ihm alles.
Daniel gab ihm den Mut, nicht aufzugeben.
Trotzdem kostete es ihn alle Kraft, um sich aus der Einsamkeit dieses Raumes in den Irrsinn der Realität zu wagen.
*
Frau Meinhard koordinierte einige Männer, die sich anschließend in alle möglichen Richtungen verstreuten. Ein Notarzt und ein Pfleger kümmerten sich um Olivers Großvater. Der alte Mann starrte unter halb gesenkten Lidern zu seinem Enkel. Eine Mischung aus Wahnsinn und Hass lag in seinem Blick.
„Oliver!“, rief ihn die Kommissarin. Er trat zu ihr, löste aber erst im letzten Moment den Blick von seinem Großvater.
„Schau dich bitte mal gründlich um und hilf meinen Männern, Informationen auszuwerten.“
Er nickte stumm und gesellte sich zu den Beamten.
Niemand beachtete ihn, so blieb Oliver ausreichend Zeit, selbst ein wenig zu sondieren. Überall lagen Bilder im Wohnzimmer verstreut zwischen alten Zeitungen, heraus getrennten Artikeln und Briefen.
Offenbar hatte Walter nach etwas gesucht. Langsam schritt Oliver die Zeile des Wohnzimmerschrankes ab. Etliche Türen standen offen. Nahezu alle Bücher, Alben und Ordner waren entnommen worden. Er fragte sich, wie lang sein Großvater sich zurückgezogen haben musste. Nach dem, wie er aussah, hatte Walter bereits nach seiner ersten Vernehmung schon damit angefangen. ‚Wonach suchst du?’, fragte sich Oliver. Er vermutete, dass dieses Chaos mit Matthias Habicht uns seiner Mutter zusammen hing. Nachdenklich drehte er sich um. Sein Blick glitt erneut über die Berge Papier. Vielleicht hatte Walter gefunden, was er suchte. Oliver trat wieder zu dem überladenen Wohnzimmertisch. In seinem Nacken kribbelte es. Er fühlt sich beobachtet. Oliver sah sich um. Der alte Mann starrte ihn die ganze Zeit hindurch ausdruckslos an. Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken.
Mit eiserner Konzentration versuchte Oliver seine Aufmerksamkeit auf die ersten Unterlagen zu richten, die er entdeckte. Es waren Rechnungen der Stadtwerke. Oliver konnte sich nicht vorstellen, dass sie von irgendeiner Relevanz waren, besonders da sie alle einen handschriftlichen Vermerk enthielten, dass sie bezahlt waren. Er schob sie vorsichtig zur Seite. Darunter kamen alte Zeitungsausschnitte zum Vorschein. Walter hatte sie sorgsam ausgeschnitten und in Dokumenthüllen gesteckt. Im Zusammenhang mit dem, was sein Großvater suchte, schienen sie unwichtig zu sein, denn er hatte sie nicht heraus genommen. Trotzdem zog Oliver sie hervor. Die Blätter waren in der Mitte gefaltet. Als er sie aufklappte, entpuppten sie sich als Todesanzeigen. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. Bei dem ersten überlesen bemerkte er die Übereinstimmung in den Nachnamen: Markgraf. Einige Anzeigen nannten die gleichen Personen, stammten aber aus unterschiedlichen Zeitungen. Offenbar handelte es sich um sechs Frauen. Der Name Eleonora Markgraf fiel ihm besonders ins Auge. Seine Mutter erzählte vor Jahren, dass sie Elli nach ihrer Mutter benannt hatte. Oliver rieb sich über die Stirn. Offenbar war Walter mit all den Frauen verheiratet gewesen.
Er las sich alle Daten durch. Der Name Helene Markgraf-Habicht erregte sein besonderes Interesse. Anhand der Daten war sie seine zweite Frau. Sie starb im Jahr 1951. Laut der Anzeige hinterließ sie einen Sohn.
Oliver biss sich auf die Unterlippe. War es ein Zufall?
Habicht war zwar zu jung, um Helenes Kind gewesen zu sein, aber es bestand die Möglichkeit, dass er ihr Enkel war. Für einen Moment sah er seinen Großvater an, der die Behandlung des Notdienstes stumm über sich ergehen ließ. Sein Blick haftete noch immer an Oliver.
„Matthias Habicht ist mein Cousin?“, flüsterte er fassungslos. Walters Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln.
*
„Bringen Sie ihn in das Polizeikrankenhaus.“ Frau Meinhard nickte dem Arzt zum Abschied zu und wendete sich an Oliver. „Wir können ihn morgen vernehmen“, sagte sie leise. Oliver nickte schwach. Wortlos überreichte er ihr die Todesanzeige von Helene Markgraf-Habicht. Die Kommissarin stutzte. Mit gerunzelter Stirn überflog sie die Zeilen, bevor ihr Kopf hoch zuckte. Ihr Blick fixierte Oliver. Verwunderung und Schrecken stand in ihren Zügen. Langsam nickte sie. „Das ergäbe Sinn“, murmelte sie mehr zu sich selbst.
„Würden Sie das überprüfen können?“, fragte Oliver leise.
„Sicher.“ Sie zog Oliver die anderen Anzeigen aus den Fingern und überflog sie. „Ein sechsfacher Wittwer“, stellte sie kühl fest. Mit einer Hand fischte sie ihre Brille aus der Innentasche ihres Mantels und setzte sie auf. Die Kommissarin konzentrierte sich auf die einzelnen Daten. „Einige Frauen wurden nicht alt“, merkte sie an. „Er hat anscheinend das erste Mal recht jung geheiratet. Seine Frau starb ja bereits 1942. Damals war er gerade mal zwanzig Jahre alt.“ Sie rieb sich die Schläfe. „Die letzte starb 1975. Sechs Frauen in dreiunddreißig Jahren“, überlegte sie. Als eine Pause entstand, weil niemand auf ihre Worte einging, fuhr sie fort: „Leider kann man anhand der Anzeigen keine exakten Todesursachen herauslesen. Allerdings müssten wir das aus den Totenscheinen entnehmen können. Beim Standesamt und in den Kirchen finden wir sicher Unterlagen.“ Sie deutete auf einige Alben. „Sieh dir die mal durch. Daraus können wir vermutlich auch einige Informationen ziehen.“
Oliver nickte. Nun, wo sein Großvater nicht mehr in der Wohnung war, fühlte er sich wieder etwas freier.
Mit wesentlich mehr Eifer machte er sich an die Arbeit.
*
Obwohl sie wieder in der Villa waren, ging für Oliver die Arbeit weiter. Gegen neun Uhr abends brannten seine Augen. Er konnte sich kaum noch konzentrieren. Jedes der Alben schien sauber geführt worden zu sein. Was Oliver am meisten verblüffte, waren die ausführlichen Texte unter den Bildern. Weniger der Inhalt löste seine Verwirrung aus, mehr die Handschrift. Sie stammte eindeutig immer von der gleichen Person. Sein Großvater konnte es nicht sein. Seine Buchstaben waren wie er: grob und kantig. Doch die Zeilen besaßen eine besondere Klarheit und Eleganz. Sie stachen leuchtend Weiß von dem schwarzen Fotokarton hervor. Die betitelten Aufnahmen reichten von 1906 bis 1977.
Olivers erster Verdacht war, dass sich seine Großmutter der Sortierung dieser Fotographien angenommen haben konnte. Allerdings starb sie bereits 1976. Die einzige Person, die noch in Betracht kommen konnte, war seine Mutter, Silke. Trotzdem fand er kaum Ähnlichkeiten in dem Schriftbild.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Daniel. Erschrocken sah Oliver zu seinem Freund auf. Der Beamte wirkte müde und abgespannt. Erschöpft lächelte er. Es wirkte fahl. Daniel setzte sich neben Oliver auf den Fußboden. Gähnend streckte er sich. Genaugenommen fühlte sich Oliver nicht besser, zumal sein Wangenknochen angeschwollen war und leicht pulsierte. Am liebsten hätte er sich an Ort und Stelle zusammengerollt, um zu schlafen.
„Nicht wirklich“, entgegnete er schleppend. Oliver deutete auf den Stoß Alben. „Hier ist wieder so eine seltsame Unstimmigkeit.“
Daniel verdrehte die Augen, grinste dann aber. „Schon okay, erzähl mal.“
Einige Sekunden verstrichen, während Oliver das erste Album heraussuchte und es ihm reichte. Er hielt Daniel das, was er aufgeschlagen im Schoß hielt, hin.
„Die gleiche Schrift“, erklärte er. Daniel zuckte mit den Schultern. „Ist sie nicht von deinem Großvater?“
Er schüttelte den Kopf. „Auch nicht von meiner Mutter.“
Nachdenklich überflog er die Daten. Schließlich blätterte er willkürlich in den Büchern.
„Eine Freundin hatte dein Opa nicht, oder?“
Oliver schüttelte den Kopf. „So weit ich weiß nicht.“
„Kann es nicht sein, dass er sie euch nur nie vorgestellt hat?“, hakte Daniel nach.
„Möglich“, gab Oliver zu und hob eine Braue. „Aber die Masse der Fotos beweist, wie fixiert er auf Frauen war. … Da hätte ich sicher auch ein paar Bilder von einer weiteren Frau finden müssen, oder?“
„Vielleicht hast du sie nur nicht wahr genommen“, schlug Daniel vor. Oliver seufzte. „Dann noch mal von vorn?“
Mit einem hilflosen Grinsen nickte Daniel.
„Ich verspreche dir, ich helfe auch mit.“
*
Oliver merkte, wie er immer wieder mit dem Kinn von seinem Handballen abrutschte. So müde, wie er war, konnte er nicht einmal sagen, ob er sich die letzten Bilder wirklich angesehen, oder das Album aus einer rein mechanischen Bewegung heraus durchgeblättert hatte. Daniel lag neben ihm auf dem Bett, lang ausgestreckt und den Kopf auf den Armen. Seine Hand lag noch immer unter einer schwarzen Kartonseite. Er schlief fest.
„Daniel?“
Der Polizist reagierte nicht. Oliver berührte ihn an der Schulter und rüttelte ihn leicht. Auch darauf reagierte sein Freund nicht. „Blödmann, du hast ein eigenes Bett!“, knurrte Oliver ungehalten. Die einzige Antwort war ein kurzes schnaufen. Vorsichtig entwand er Daniel das Album und legte es zu seinem auf den Boden.
„Die Decke ist aber mir“, zischte er leise, während er das Licht löschte und dicht an seinen Freund heran rutschte.
Nach wenigen Minuten versank auch Oliver in tiefen Schlaf.
*
Gegen Morgen schreckte Oliver mit rasendem Herz und wahnsinnigen Schmerzen in Brust und Hals, aus dem Schlaf hoch. Er vergaß den Inhalt seiner Träume bereits, als er die Augen aufschlug. Gleichsam nahm der Scherz ab und sank zu einem Minimum herab, was sicher von den Verletzungen der vergangenen Tage herrührte. Lediglich das Gefühl verstört zu sein, blieb zurück. Neben ihm lag Daniel zusammengerollt, mit dem Rücken zu Oliver.
Natürlich hatte er seinen Freund gründlich zugedeckt.
Daniels Atemzüge klangen tief und ruhig in der Stille des nächtlichen Hauses. Der Anblick verströmte etwas außergewöhnlich Friedvolles. Oliver holte tief Luft. Er ließ sich wieder auf die andere Seite fallen, rückte aber nah an Daniel heran, um seine Wärme zu genießen. Er sank in unruhigen Halbschlaf, in dem er seinem Großvater gegenüber stand. Im Hintergrund erhob sich die muskelbepackte, riesige Gestalt Habichts, der befehlend eine Hand hob. Die Geste erinnerte ihn an das Gebot eines römischen Kaisers. Gleichsam eines Arenenkampfes stürzte sich Walter auf Oliver. Seine klauenartigen Hände schlossen sich um Olivers Kehle. Mit der Gewalt eines Schraubstocks drückte der alte Mann zu, wobei er die ganze Zeit hindurch ein Kinderlied summte. Oliver schlug und trat um sich, doch jedes Mal, wenn er glaubte zu treffen, zerfaserte die Gestalt seines Großvaters in Nebelfetzen, nur um hinter ihm wieder zu materialisieren. Panik stieg in ihm auf. Seine Lungen brannten vor Schmerz. Er bekam keine Luft mehr. Mit beiden Händen zerrte er an der Umklammerung seiner Kehle. Seine Nägel rissen über pergamentdünne Haut und wulstige Venen.
Er zerfetzte die Handrücken, bis er nur noch blutige Knochen zu fassen bekam. Doch anstatt nachzugeben, würgte Walter ihn noch stärker. Schwarzes Blut troff herab. Dort wo es auftraf, entstanden dampfende Pfützen. Die aufsteigenden Schwaden stanken erbärmlich faulig und sauer. Plötzlich ließ der Griff nach. Er rang nach Luft. Aber da war nichts! Nur erstickende Leere!
Hustend rang er nach Atem. Zugleich erfüllte greller Schmerz seinen Kopf. In seinen Ohren rauschte das Blut … Oliver fuhr auf. Daniel schlief scheinbar noch immer. Offenbar hatte Oliver weder gezappelt, noch geschrien. Dennoch brachte er die Kopfschmerzen und sein Herzrasen aus seinem Traum mit in die Realität. Zitternd schob er die Decke zurück. Sehr vorsichtig stand er auf. Oliver musste umgehend nach dem Bettrahmen greifen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen.
Sekunden kämpfte er mit seinem Gleichgewicht, bevor er es wagte, mit bebenden Knien aus dem Zimmer zu schleichen.
*
Oliver genoss das heiße Wasser, das über seinen Körper lief und die Reste seiner Träume verscheuchte. Die klamme Kälte wich aus seinen Knochen. Obwohl die Verletzungen an Gesicht und Hals schmerzten, fühlte es sich an, als würden sie heilen. Nachdem er sich den Schaum aus den Haaren gewaschen hatte, kauerte sich auf den Boden der Wanne. Der Wasserstrahl regnete warm auf ihn nieder.
Oliver schloss die Augen. Er war müde und auf eine dumpfe, unbefriedigende Weise hungrig und durstig. Andererseits konnte er nicht schlafen und der Gedanke an Nahrungsaufnahme verkrampfte seinen Magen zu einem Steinklumpen.
Er spürte, dass die Veränderung in ihm schneller voran schritt.
Alles in seinem Leben verlor an Konsistenz. Gleichermaßen spürte er den Drang, härter zu werden, um nichts von dem Schmerz und der Wut, die er in sich verbarg, je wieder nach außen dringen zu lassen. Wenn man ihm mit Hass begegnete, zog er seine Konsequenz daraus. Oliver sah sich an einem Scheideweg. Er musste sich der Situation anpassen, wenn er nicht untergehen wollte. Tränen dürfte er sich nicht mehr erlauben. Schwäche wollte er nicht zeigen. Für Oliver stand fest, dass er sich an alle Situationen anpassen musste. Seine Hauptsoge galt Chris und Michael. Die Zwillinge waren zu jung, um dem Druck stand halten zu können. Er musste die Sorgen von ihnen fern halten.
Vielleicht würde Oliver lernen, seine momentane Verbissenheit in die gleiche freundliche Leichtigkeit zu wandeln, mit der Daniel durch das Leben ging. Daniel … Olivers Gedanken schweiften ab. Er kannte seinen Freund noch immer nicht. Trotzdem lehrte Daniel ihn mit jeder Stunde, den Moment zu leben, gleichgültig, was er barg. Langsam sickerte in Olivers Bewusstsein, dass er für diese Einstellung erst seine Vergangenheit akzeptieren und damit abschließen musste.
Er ließ sich auf Hände und Knie sinken. Das Wasser spülte seine langen Haare über seinen Rücken in die Wanne. Nachdenklich betrachtete er die hellblonden Wellen. Sie wurden in der schwachen Strömung voran getrieben. Voran …
Als Oliver in sein Zimmer zurück kam, krochen die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont. Der Himmel war klar. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Daniel lag auf dem Bauch, alle Glieder von sich gestreckt. Seine wirren roten und grünen Haare waren zerdrückt. Er schnarchte. Oliver ließ sich mit einigen Alben in den Sessel sinken. Er betrachtete Daniel eine Weile stumm. Bei dem Anblick gingen ihm viele Dinge durch den Kopf. Trotzdem blieben letztlich die grundlegenden Gefühle, die sie für einander empfanden, präsent. Die beiden wichtigsten Faktoren setzten sich in Olivers Seele fest: der Auftrieb, der Daniels Freundschaft bedeutete und das Verständnis füreinander.
Langsam richtete er sich auf, um seinen Freund zuzudecken.
Daniel vergrub seinen Kopf noch tiefer in den Kissen. Der Moment berührte etwas in Oliver. Trotz seiner inneren Unruhe bemerkte er, dass es außerhalb all dieser Probleme ein Leben gab, das auf seine Brüder und ihn wartete.
*
Vielleicht lag es daran, dass Oliver sich etwas ausgeruhter fühlte oder an seiner durch Daniel beeinflussten Lebenseinstellung. In jedem Fall betrachtete er die Bilder unter neuen Aspekten. Tatsächlich fielen ihm verschiedene Details auf, die ihm gestern entgingen. Auf sehr vielen Fotographien befanden sich sein Großvater und seine jeweiligen Lebenspartnerin. Bei gestellten Aufnahmen lag es nah, dass Walter die Bilder mit einem Fernauslöser geschossen haben musst. Einige stammten aus Studios, wie Prägung oder Sigel auf den Rückseiten bewiesen. Allerdings gab es auch sehr viele Schnappschüsse, darunter verwackelte Fotos, oder die während seiner täglichen Arbeit entstanden. Nachdenklich rieb Oliver sich den Nasenrücken. Er fragte sich, wer der Fotograph war.
Oliver entfernte einige Bilder behutsam aus ihren Kunststoffecken, um zu sehen, ob jemand Notizen hinterlassen hatte. Allerdings blieben seine Bemühungen erfolglos.
Seufzend hängte Oliver die Bilder wieder ein und tauschte das Album gegen Band 1. Behutsam wendete er die transparenten, brüchigen Seiten aus Seidenpapier. Es handelte sich ausschließlich um Aufnahmen aus der Kindheit und Jugend Walters. Darunter waren Babybilder, die Walter in den Armen seiner Großmutter zeigten, Aufnahmen von seinen Eltern, Bilder von seiner hübschen, resolut dreinblickenden Mutter, die in einem Schaukelstuhl saß, eine Wolldecke über dem hochschwangeren Bauch. Oliver blätterte weiter. Anhand der Daten machten die Bilder einen recht großen Sprung von 1925 bis 1928. Auf den folgenden Fotos war sein Großvater bereits in der Volksschule. Er stand mit einer riesigen Hefebrezel und einem Tornister in der Wohnstube vor dem Bücherschrank …
Oliver blätterte zurück. Unter dem Bild seiner schwangeren Urgroßmutter stand 1925. Sein Großvater wurde allerdings im Sommer des Jahres 1922 geboren. Die hellhaarige Frau, die gerade in die Kamera lächelte trug eine dicke Wolljacke über ihrem Kleid. Aus den Ärmeln sahen helle Rüschen hervor. Leider war die Aufnahme verblichen und unscharf. Durch das Fenster im Hintergrund konnte Oliver nur erahnen, dass sich dort ein Baum befand, aber beileibe nicht sagen, ob er Blätter trug oder nicht. Er kniff die Augen zusammen. So ordentlich, wie die Bilder sortiert worden waren, gab es keinen Zweifel daran, dass dieses Foto aus dem Jahr 1925 stammte. Ebenso sicher war er sich, dass Walter nie von einem Bruder oder einer Schwester gesprochen hatte. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. Vielleicht hatte sie das Kind in dem folgenden Winter verloren. Fehlgeburten waren damals auch nicht so selten. Solche Schicksalsschläge veranlassten die Menschen, darüber ihr Leben lang zu schweigen. Oliver markierte sich die Seite. Wahrscheinlich war diese Entdeckung nicht von Relevanz. Trotzdem schrillte eine Alarmsirene in seinem Kopf.
Nachdenklich schlug er die Seiten um. Er betrachtete wieder das Bild des sechsjährigen Walter, der zahnlos in die Kamera grinste.
Die nächsten Aufnahmen stammten von seinen Eltern. Olivers Urgroßvater stand vor dem Eingang des Buchladens. In seinem Mundwinkel entdeckte er eine dicke Zigarre. Wie die meisten Familienmitglieder war er ein großer, muskulöser Mann mit hellem Haar und Schnauzbart. Im Gegensatz zu Walter und Tom schien er aber auch viel von seinem Gewicht durch den Genuss von zu viel Essen angesetzt zu haben. Das runde Gesicht erschien Oliver sehr freundlich. Er strahlte freudig. Hinter ihm, auf den Stufen, halb im Schatten der Tür, stand eine schlanke, recht kleine Frau. Ihre dunklen Haare lagen in Schnecken über den Ohren. Oliver konnte ihr Gesicht fast nicht erkennen. Sie trug ein schwarzes Kleid. Vielleicht – nein ganz sicher – befand sie sich in Trauer.
„Wohin führt ihr mich?“, murmelte Oliver. „Wer seid ihr und welche Geheimnisse verbergt ihr vor mir?“
Verstärkt suchte Oliver nun nach Aufnahmen, auf denen sich jene Frau etwas deutlicher abzeichnete. Leider fand er nur weitere Bilder der Buchhandlung. Er rieb sich die Stirn. „Wer bist du?“, flüsterte er. Sein Blick irrte über die Seite. Bis auf die Tatsache, dass das Geschäft 1951 technisch modernisiert wurde, hatte sich nichts Grundlegendes geändert. Offenbar gab es damals schon die halbrunden Schaufenster und den Eingang an der Ecke Matthias-Claudius- und Oranienstraße. Auch die grün glasierten Steine in der Ziegelfassade unterschieden sich nicht von der Gegenwart. Lediglich die Graffitis fehlten. Trotz allem gab es einen Unterschied! Plötzlich wusste er es! Auf einem Foto stand in hellen Lettern auf dem schwarzen Glaseinsatz über der Tür: Markgraf & Hirsch – Bücher.
Oliver biss sich auf die Unterlippe. Durch welches Schicksal der Teilhaber Hirsch ausschied, wusste Oliver nicht. Aber der Verdacht lag nah, dass jene trauernde Fremde Frau Hirsch war. Der Name brachte bei Oliver schwach eine Erinnerung zum Klingen. Dennoch konnte er nicht darauf zugreifen. Unzufrieden ließ er das Album sinken. Sein Blick streifte Daniel und verlor sich in den Tiefen des Zimmers.
Vielleicht half es ihm, zu notieren, worüber er nachdachte.
Er suchte sich in seinem Rucksack Notizblock und Stift heraus. Wie hoch waren seine Chancen, etwas über die Hintergründe und Geheimnisse zu erfahren, die sich aus diesen Bildern ergaben? Oliver notierte sich dennoch die einzelnen Punkte, über die er stolperte.
Als er weiter blätterte, sah er eine recht große Aufnahme von vielleicht fünfzehn Personen vor der Schützenhofapotheke. Seine Urgroßmutter war eine davon. Sie stand in einem langen Kittel hinter in der ersten Reihe. Ihr Gesicht war immer noch sehr hübsch, aber das lange Haar schien sie in modischer Form gekürzt zu haben. Sie lächelte freundlich. Dennoch sah sie nicht glücklich aus. Eine strenge Kälte ging von ihrer aus. Obwohl sie Teil dieser großen Belegschaft war, offenbar sogar eine recht wichtige Mitarbeiterin, stand sie auf eine Weise da, die den anderen Frauen und Männern suggerierte, Abstand zu halten.
„Apothekerin“, flüsterte Oliver. Ein schrecklicher Gedanke erwachte: sie kam mit Leichtigkeit an Gifte aller Art heran. Vermutlich konnte sie diese Substanzen selbst herstellen. Das würde vielleicht die Toten im Keller erklären.
Oliver biss die Zähne zusammen. War seine Urgroßmutter das Bindeglied?
*
„Morgen Olli“, murmelte Daniel verschlafen.
Oliver fuhr zusammen. Bevor das Album zu Boden fiel, konnte er es gerade noch auffangen. Durch seine Entdeckung angestachelt, erachtete er ein förmliches „Guten Morgen“ für überflüssig. Er musste seinem Freund von seinen Erkenntnissen berichten. „Daniel, ich habe was gefunden!“
Der Beamte setzte sich auf. Müde rieb er mit beiden Händen über sein Gesicht und gähnte ungeniert. Genüsslich streckte er sich. Seine Wirbel und die Nackenmuskulatur knackten. Er ließ sich wieder in die Kissen fallen. Mit einer Hand zog er die Decke bis zu den Hüften hinauf und verschränkte die Hände im Schoß.
Oliver starrte ihn mit brennenden Augen an. Er glaubte fast, an seinen Eindrücken und Erkenntnissen zu ersticken. Trotzdem hielt er noch einige Sekunden inne.
„Du darfst“, lächelte Daniel aufgeräumt. „Die Audienz ist eröffnet.“
*
Binnen Sekunden hatte Oliver in Daniel ein ähnliches Glühen entfacht. Die Neugier des Beamten glich der eines Kindes. Er kniete im Bett, hinter Oliver. Das gewicht des ausgewachsenen Mannes lastete auf seinen Schultern. Offensichtlich half dem Beamten Olivers Perspektive, um zu verstehen was die Bilder für Geheimnisse bargen.
Schließlich schwang er die Beine aus dem Bett und suchte in seiner engen, zerrissenen Jeans nach seinem Handy.
„Ich informiere Roth und Meinhard darüber“, erklärte er unnötigerweise.
Oliver nickte. Während Daniel telefonierte, sah er sich die folgenden Seiten an. Auf mehreren Aufnahmen fand er seinen Großvater als Kind. Als Junge musste Walter fröhlich und ungestüm gewesen sein. Auf allen Bildern tobte er herum. Mal in kurzen Hosen in der Wohnung oder während eines Ausfluges, mal in einem derangierten Sonntagsanzug. Auffällig war, dass es fast nur noch Bilder von ihm und seinem Vater gab. Seine Mutter schien sich den Aufnahmen zu entziehen. Sie war nur auf einem überblendeten Bild vom Weihnachtstisch zu sehen. Oliver strich mit den Fingerspitzen über ihre traurigen Züge. Sie schien unglücklich zu sein, selbst wenn sie lachte. Die Vermutung, dass es mit dem Verlust ihres zweiten Kindes zu tun hatte, drängte sich Oliver immer weiter auf. Möglicherweise hatte sie dieser Schmerz in den Tod getrieben.
Im Frühling 1929 schien Walter eine Freundin gefunden zu haben. Das Mädchen war klein, zierlich und trug in ihren dunklen Locken eine gewaltige Schleife. Sie lächelte zahnlos und scheu in die Kamera, während sie sich an Walters Hand klammerte. In ihrem Arm lag eine jener hässlichen, alten Porzellanpuppen, die sie sorgsam in einem Steckkissen hielt. Das kleine Mädchen war hübsch. Ihre riesigen, dunklen Augen dominierten ihr zierliches Gesicht. Wessen Kind war sie?, fragte er sich. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Fremden in ihrem Trauerkleid ließ sich nicht von der hand weisen. Auch das Mädchen trug ein schwarzes Kleid und darüber eine weiße Rüschenschürze. Möglicherweise handelte es sich hierbei um Mutter und Tochter. Sie tauchte auf mehreren Bildern auf. Oliver dachte an seine Mutter und Elli. Nachdenklich ließ er wieder das Kindergesicht auf sich wirken. Der Verdacht, dass sie ein sogenanntes Kuckuckskind war, ließ sich nicht ausschließen. Das würde das unterkühlte, verhärmte Aussehen seiner Urgroßmutter noch besser erklären. Trotzdem zweifelte er an dem Schluss.
Viel mehr hegte er den Verdacht – insofern sein wackliges Konstrukt aus Indizien und Vermutungen zutraf - dass die kleine die Tochter aus Frau Hirschs erster Ehe war.
Daniel, der zum Telefonieren den Raum verlassen hatte, trat ein. „Ich zieh’ mich um“, warf er in den Raum, während er bereits wieder halb auf dem Flur stand.
„Was ist denn nun los?!“, rief Oliver.
„Wir frühstücken was und gehen den Spuren nach!“, rief Daniel. „Also zieh dich an!“
*
Unter der niedrigen Gewölbedecke flammten Neonröhren auf und tauchten einen mit Registraturschränken überfüllten Raum in weißes Licht. Oliver bekam eine ungefähre Ahnung wie weitläufig das Archiv des alten Rathauses sein musste. Daniel duckte sich unter dem Türsturz hindurch. Er konnte sich erst an der höchsten Stelle des Raumes wieder aufrichten. Oliver folgte ihm. Die Beamtin, die ihnen die Tür aufgeschlossen hatte, eilte bereits wieder nach oben. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie Daniel eher einen Schlagring als seine Dienstmarke zutraute.
Bereits an der Anmeldung merkte Oliver, wie wenig es jener jungen Dame passte, gestört zu werden. Sie gab äußerst ungern ihr Okay für die von Daniel gewünschte Einsicht in die Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, die hier seit rund 200 Jahren gelagert wurden. Zusätzlich machte sie ihn darauf aufmerksam, dass beglaubigte Vervielfältigungen der Urkunden kostenpflichtig seien, wobei sie auf eine Preisliste verwies. Oliver erschrak bei den genannten Gebühren.
Ihr unangemessenes Verhalten nahm neue, noch extremere Züge an, nachdem Daniel sie darauf aufmerksam machte, dass sie ihn gerade in seiner Tätigkeit behinderte. Sie konnte der Kriminalpolizei kaum verbieten Akteneinsicht zu nehmen. Unterstützend kam hinzu, dass Oliver als Walter Markgrafs Enkel, freie Einsicht erhalten müsse.
Oliver wusste nicht, ob er Daniels stoische Ruhe bewundern sollte oder nicht. Sein Freund kannte seine Rechte und ging wie ein Panzer durch jedes Hindernis hindurch.
Natürlich resultierte daraus, dass sich die junge Frau zwar geschlagen gab, aber kein bisschen freundlicher wurde. Entweder verdankten sie es ihr, oder es lag tatsächlich an akuter Unterbesetzung im Standesamt, dass Daniel und Oliver vorübergehend allein im Gewölbekeller blieben. Laut jener Dame sollte noch eine Praktikantin des Archivs kommen um zu helfen – oder zu überwachen – wie Oliver annahm.
‚Ideal!’, dachte Oliver. So konnten sie den Raum eigenständig nach Hinweisen zu ihren Theorien durchsuchen.
Ohne besondere Absprache nahm Oliver sich eine Regalwand vor. Er versuchte die recht simple Sortierung zu verstehen. Glücklicherweise fand er eine alphabetische Ablage vor, die sich noch einmal in Stadteile und Jahreszahlen unterteilte. Da seine Familie allerdings seit mindestens drei Generationen in dem Eckhaus lebten, in dem sich auch die Buchhandlung befand, fiel es ihm nicht schwer, die passenden Unterlagen heraus zu suchen.
„Ich weiß nicht“, knurrte Daniel. „Wären die Unterlagen alle gescannt und virtuell abgelegt, würde man sie sicher schneller finden.“
Oliver sah ihn an und lächelte. „Versuch mal altes Papier zu scannen. Das geht schief. Würde dir mein Großvater auch bestätigen.“
„Buchhändlerseele“, grinste Daniel. Wurde aber sofort wieder ernst. Er trat zu Oliver. „Hast du was gefunden?“
Mit Lässigkeit stützte der Beamte sich auf Olivers Schulter ab. Sein Gewicht drückte nieder, aber Oliver beschwerte sich nicht. „Bin auf dem richtigen Weg“, sagte er leise.
Langsam ging er die Register durch. Es gab einige Markgrafs. Unter dem Namen Walter fand er einen recht umfangreichen Ordner. Er zog ihn heraus und reichte ihn an Daniel weiter.
„Schaust du bitte mal nach den Urkunden?“
Er hörte seinen Freund in dem alten Papier blättern.
„Er ist es“, bestätigte Daniel.
„Dann gib mir den Namen seiner Mutter und seines Vaters. Vielleicht finde ich ja auf diesem Weg heraus, ob er Geschwister hatte“, bat Oliver.
Daniel entfernte sich etwas und drehte sich direkt zum Licht. „Erna und Rudolf Markgraf“, antwortete er. „Wahrscheinlich findest Du auf den Urkunden der beiden nur nicht die Liste der Kinder. Würde mich zumindest wundern.“
Wahrscheinlich hatte er recht, überlegte Oliver. Er hob eine Braue und nickte verdrossen. Zurzeit interessierte ihn jedes Detail zu seiner Familie.
Er entnahm die Akten und reichte sie an Daniel weiter, während er nach einem Kind, dessen Eltern Erna und Rudolf hießen, suchte. Anhand des Fotos konnte er grob bestimmen, dass die Aufnahme in der kalten Jahreszeit entstanden war. Januar bis März 1926 kam also genau so in Frage wie Oktober bis Dezember 1925.
„Was macht ihr hier?!“
Oliver zuckte zusammen und fuhr herum. Obwohl er nichts Verbotenes getan hatte, fühlte er sich ertappt. Ein schlaksiger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, stand unter der Tür. Er wirkte verärgert, aber zugleich in seinem ganzen Erscheinungsbild fast durchscheinend. Oliver glaubte nicht, dass er sich überhaupt noch an sein Gesicht zu erinnern vermochte, sobald er das alte Rathaus verließ.
„Sind Sie der Praktikant?“ Daniel klang selbstsicher und herausfordern. Seine Taktik ging auf. Der forsche Ansatz des jungen Mannes erstickte im Keim. Verunsichert trat er in das Archiv und sah sich um. „Das sind vertrauliche Daten“, begann er. „Die dürfen Ihnen nur Mitarbeiter des Standesamtes aushändigen.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll und zittrig.
Daniel drehte sich vollends zu ihm um. Seine Augen verengten sich. Ein gefährliches Funkeln schlich sich in seinen Blick. „Offenbar ist es hier ein beliebtes Schema, möglichst unfreundlich zu sein und die Arbeit der Polizei zu behindern!“
Der junge Mann zuckte unter Daniels Worten zusammen.
„Das ist wirklich nicht so …“, stammelte er. „Sie sollten nur warten, bis das Fachpersonal da ist.“
„Also können wir Sie alles fragen, was wir wissen müssen und erhalten von Ihnen entsprechende Belege?!“
Daniels Stimme klang kalt und hart.
„Ja“, antwortete der Junge mit belegter Stimme. Er fuhr sich nervös durch die kurzen, dunklen Haare und befeuchtete seine trockenen Lippen. „Was brauchen Sie denn?“
Daniel warf Oliver einen auffordernden Blick zu.
Er trat zurück. „Es geht um einen sehr alten Fall“, erklärte Oliver versöhnlicher.
Die Brauen des jungen Mannes zogen sich zusammen. „Wie alt?“, fragte er. „Bis zu einem gewissen Grad haben wir alle relevanten Daten in unserer Datenbank.“
Er klang wieder etwas mutiger. Vielleicht lag es daran, dass er sich nun auf einem ihm bestens bekannten Terrain bewegte.
„Es geht um mehrere Personen und Daten aus der gleichen Familie“, erklärte Oliver.
„Ab wann?“, fragte er geduldig.
„1922, die Familie Markgraf“, antwortete Oliver.
Der junge Mann nickte. Eilig schritt er durch den Archivkeller bis zum anderen Ende. Er winkte Oliver und Daniel mit sich.
Unter einer Kunststoffhülle, gut vor dem Staub des Raumes geschützt, verbarg sich ein betagter Rechner. Der Praktikant schlug den Schutz zurück und schaltete das Gerät ein. Die Festplatte klapperte. Zeitgleich schaltete sich die Lüftung lautstark hinzu.
Obwohl Oliver das Gerät auf mindestens zehn Jahre schätzte, fuhr der PC sicher und schnell hoch.
Nachdem sich der Junge eingeloggt hatte, erkannte Oliver auch, weswegen der Rechner so sauber lief. Bis auf ein Archivierungs- und ein paar Bildbetrachtungsprogramme gab es nicht viel auf der Festplatte.
Er startete das Archivsystem. Oliver kannte SAP- und Accessdatenbanken von seinem Vater. Dieses Programm griff noch auf DOS-Eigenschaftsmasken zurück.
„Markgraf?“, fragte der junge Mann noch einmal nach, während er mit der Tab-Taste von einem Eingabefeld zum nächsten sprang. Oliver nickte. „Wir müssen wissen, ob Erna und Rudolf Markgraf weitere Kinder außer ihrem Sohn Walter hatten. Das Geburtsdatum könnte 1925 oder 1926 gewesen sein.“
Der Junge tippte mit fliegenden Fingern die Eckdaten ein. Nachdem er die Enter-Taste drückte, erschien die wohlbekannte Sanduhr auf dem Monitor.
„Kann etwas dauern“, antwortete er, während er zu Oliver sah.
„Können Sie damit alle Querverbindungen unter den Familienmitgliedern feststellen?“, fragte Oliver.
Er nickte. „So weit eingegeben und nicht während des Krieges zerstört, schon.“ Vorsichtig lächelte er Oliver an, wendete sich aber sehr schnell dem Monitor wieder zu. Auf dem Bildschirm entrollte sich eine umfangreiche Liste von Dokument-Titeln. „Erna Markgraf, geborene Müller“, las er vor. „1901 in Wiesbaden geboren, 1919 Eheschließung mit Rudolf Markgraf, Sohn Walter geboren im Sommer 1922. Offenbar hatte sie keine weiteren Kinder.“
Obwohl er erleichtert sein sollte, sank Olivers Stimmung merklich. Seine Theorien stimmten nicht. Ärgerlich stieß er die Luft aus. Trotzdem ließ ihn das Foto seiner Urgroßmutter nicht los. Nachdenklich zog Oliver die Brauen zusammen. „Auf dem Foto von 1925 war sie ganz sicher schwanger“, murmelte er.
„Vielleicht eine Fehl- oder eine Totgeburt?“, schlug der junge Mann vor. „Damals waren Entbindungen in Kliniken noch nicht üblich.“
„Aber der Arzt oder die Hebamme hätten bei einer Totgeburt doch den Geburts- und Totenschein ausstellen müssen!“, fiel Daniel ein.
„Insofern das Kind von einer Amme oder einem Arzt geholt wurde“, korrigierte der Praktikant ernst. „Einige Frauen gebaren ihre Kinder allein, oder mit Hilfe ihrer Familie.“
Oliver senkte den Kopf. Hinter seiner Stirn toste ein Sturm. Vielleicht war er wirklich auf dem Holzweg. Womöglich verrannte er sich in eine Sache, die ohne Bedeutung war. Trotzdem glaubte er, dass dieses vermeintliche Kind die Grundlage für alle darauf folgenden Todesfälle war.
„Finden Sie den Namen des Arztes, der Walter Markgraf auf die Welt geholfen hatte?“, fragte Oliver leise.
„Wenn es ein Arzt war, sicher“, bestätigte er. „Müsste in der Geburtsurkunde stehen.“
Während der Cursor von Erna Markgraf zu Walter sprang, las Olivers das Sterbedatum seiner Urgroßmutter.
„November 1976“, stieß er hervor.
Daniel zuckte zusammen. „Was?“, fragte er verwirrt.
„Meine Urgroßmutter starb 1976. Sie war es, die die Alben geführt und sortiert hat!“
„Das würde bedeuten, die Wälzer waren entweder bis zu ihrem Tod in ihrem Besitz, oder sie lebte in der direkten Nähe deines Großvaters.“
Oliver trat zu Daniel. „Mag sein, dass ich gerade überschnappe, aber was wäre, wenn sie mit ihrem Wissen über Medizin und Gifte, die ganze Zeit hindurch in Walters Nähe war und mit verantwortlich für das rasche Ableben seiner Ehefrauen war?“
Daniel verzog das Gesicht. „Möglich, aber die Theorie hängt ohne Beweise in der Luft.“
Oliver senkte die Lider. Er spürte, dass er sich auf der passenden Fährte befand. „Was ist mit den sieben Toten, die wir gefunden haben?“, fragte er. In seiner Stimme schwang unterdrückte Aufregung mit. „Sie wurden vergiftet.“
Er vergaß vollkommen den Praktikant an seinem PC. „Was, wenn der Verlust ihres zweiten Kindes sie so sehr auf ihren Sohn fixierte, dass sie keinen anderen Menschen an seiner Seite sehen wollte?“
Daniel rollte mit den Augen. „Olli, komm erst mal wieder auf Normal runter!“, rief er. „Du verrennst dich in deine Vorstellung des Falls. Wir müssen doch erst mal recherchieren, ob das zutrifft, was du vermutest.“
Oliver schnappte nach Luft, schwieg aber. Sein Herz raste. In ihm kochte die Aufregung. Wie konnte Daniel den Zusammenhang übersehen?
„Aber es lässt sich kaum von der Hand weisen“, begann er wieder. „dass meine Mutter ebenfalls Gift benutzt hat, um Marc zu töten. Von wem außer Erna oder Walter sollte sie dieses Wissen haben?“
„www.wikipedia.de“, erklärte Daniel gelassen. „Es gibt nichts, was du nicht im Netz nachrecherchieren kannst.“
Verzweifelt drehte Oliver sich ab. Erst jetzt bemerkte er, dass der junge Mann ihnen aufmerksam zuhörte.
„Dr. Koch“, sagte er einfach.
Oliver legte die Stirn in Falten. Sein Gehirn klärte sich nur langsam von dem Druck der vielen Bilder und Verknüpfungen, die in seinem Kopf entstanden.
„Der Arzt, der Walter Markgraf auf die Welt brachte war Dr. Koch. Allerdings praktiziert der wohl kaum noch. Ob man da noch alte Akten findet, möchte ich bezweifeln. Besonders nach dem zweiten Weltkrieg.“
Oliver nickte schwach. Er trat wieder zu dem jungen Mann und blieb neben ihm stehen. Sein Blick strich über die Datenkolonnen auf dem Bildschirm. Er seufzte.
„Soll ich noch mal Rudolf Markgraf checken?“, fragte der Praktikant.
Oliver hob die Schultern.
„Ja“, antwortete Daniel an seiner Stelle.
„Was hat das für einen Zweck?“, fragte Oliver leise. Er fühlte sich leer. Seine Stimmung schlug in seinem Tonfall durch.
„Rudolf Markgraf“, las der Praktikant vor. „Geboren 1889 in Wiesbaden, zwei Mal verheiratet …“
„Zwei Mal?“, fiel ihm Oliver verwirrt ins Wort. Er sah wieder auf den Bildschirm.
„Ja, in erster Ehe mit Erna Markgraf, geborene Müller, in zweiter Ehe mit Helene Hirsch“, antwortete er. Mit dem Finger fuhr er unter der Zeile entlang.
„Hirsch und Markgraf stand auf dem Schild über dem Buchladen“, rief Oliver. Ihn erfasste die gleiche intensive Erregung. „Wann haben sie geheiratet?“
„1929“, antwortete der junge Mann. „Er starb 1940, Helene Hirsch gilt als verschollen.“
Er gab ihren Namen ein. „Helene Hirsch war eine Jüdin“, erklärte er nach einigen Sekunden. „Wahrscheinlich wurde sie deportiert.“
Oliver las parallel am Monitor mit. Diese Frau hatte eine Tochter namens Rachel, die ein Jahr nach Walter zur Welt kam. Langsam fügte sich das Bild für ihn zusammen. In Oliver stieg ein Verdacht auf. Wahrscheinlich lebten die Markgrafs und die Hirschs in einem Haus, vielleicht sogar im gleichen Haushalt miteinander.
„Lässt sich feststellen, wie viel Personen die Familie Hirsch umfasste?“, fragte Daniel, in dem offenbar ein ähnlicher Verdacht keimte wie in Oliver.
Er nickte. „Sie hatte eine Tochter mit ihrem ersten Mann, Jacob Hirsch und vier Kinder mit Rudolf Markgraf, die allerdings ebenfalls 1940 verschwanden.“
„Was ist mit Rachel Hirsch, oder Markgraf?“, fragte Oliver, der geistig mitzählte.
Der Praktikant sah ihn fragend an.
„War sie verheiratet, oder hatte sie ein Kind?“, erklärte er.
Wieder tippte der junge Mann etwas ein. „Beides“, entgegnete er. „Sie war verheiratet mit …“ Er verstummte. „Der Name fehlt an dieser Stelle!“
Er deutete auf den Monitor. Oliver nickte leicht, bevor er zu Daniel sah. „Sieben Tote“, sagte er leise. „Erna ist eine gefährliche Frau gewesen!“
In Olivers Kopf reihte sich die Fülle der Informationen nur langsam zu einem klaren Bild zusammen. Mit jedem Puzzelstück, das er fand, bauten sich weitere Fragen für ihn auf. Ihm war schleierhaft, wie er all diese bizarren Erkenntnisse an seine Brüder weiter geben sollte.
Mühsam dampfte er sein ganzes Wissen auf eine einzige Summe herunter. Ihm gefiel gar nicht, was sich heraus kristallisierte: Der einzige Lebenszweck seiner Familie war der feste Wille zu töten. Oliver schauderte bei dieser Vorstellung.
So schwer wie es ihm zu Anfang fiel, Abschied zu nehmen, so leicht gelang es ihm jetzt Abstand zu wahren. Er fühlte sich keinem dieser Menschen verbunden. Oliver empfand Abscheu vor seiner Familie. Selbst seinen Vater erschien ihm nicht als so grausam wie das, was er über die Markgrafs heraus fand.
Schweigend ging er neben Daniel über den Marktplatz. Er fror leicht. Trotz der Sonne lagen die Temperaturen nahe Null Grad. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog die Kapuze seines Pullis über den Kopf.
„Alles okay?“, fragte Daniel besorgt.
„Irgendwie“, murmelte Oliver. Er fühlte sich elend. In ihm wuchs die Sehnsucht zu rauchen. Während er nach den Zigaretten suchte, die Daniel ihm geschenkt hatte, fragte er: „Was hast du nun vor?“
„Berichte schreiben, wenn wir zurück sind. Im Moment sind wir ja vom, eigentlichen Fall sehr weit abgewichen.“
Oliver fand das zerdrückte Päckchen und hielt es Daniel hin. Er schüttelte den Kopf. Wortlos zuckte Oliver die Schultern und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er sie sich entzündete kam ihm das Feuer fast unangenehm heiß vor. „Allen bisherigen Erkenntnissen nach, haben wir nur Fragmente. All die vielen Theorien müssen wir versuchen zu belegen, Olli“, erklärte Daniel. Er deutete die Marktstraße hoch zu einem italienischen Eiscafé.
„Sprechen wir doch mal alles in Ruhe durch.“
*
An der ausladenden Milchkaffeetasse wärmte Oliver seine Finger. Die Heizungsluft und der Duft nach Kuchen vermittelte ein beruhigendes Gefühl. Er sank etwas in seinem Stuhl zusammen, während er sich endlich entspannte. Gefühlte hundert Jahre waren seit seinem letzten Besuch in einem Café vergangen. Trotzdem fiel ihm schmerzlich auf, dass er blank war. Bislang gab es keinen Grund, sich über Geld sorgen zu machen. Die Situation ließ keine besonderen Ansprüche zu. Davon abgesehen war Oliver recht genügsam mit seinen Wünschen. Vor einem Jahr floss sein Taschengeld nur in ein gelegentliches Päckchen Zigaretten, Kaffee, Eis, Bücher und Regelwerke. Die Kleidung, die er sich selbst kaufte, kostete nicht viel. Wenn es um Nachrichten, Comics und Musik ging, so nutzte er die Vorteile des Internets. Alles andere gehörte zu dem, was sein Vater ihm kaufte – oder im Falle der meisten Aktivitäten und Accessoires – aufzwang.
In seinem Portemonnaie herrschte Ebbe. Wenn er vielleicht auf drei Euro kam, war es viel. Je nachdem, wie das Jugendamt mit ihnen verfuhr, würde sich auch alles andere entscheiden. Momentan fühlte er sich ohne Geld vollkommen unbeweglich. Ganz von der Tatsache abgesehen, dass er ohne polizeiliche Aufsicht keinen Schritt aus dem Haus wagen konnte, war es ihm nicht einmal möglich, sich zwei Busfahrkarten zu leisten.
Oliver seufzte frustriert. War er so stark vom Kapital seines Vaters geprägt? Wie machten das Obdachlose oder Straßenpunks? Sie schnorrten Geld. Doch was kam danach? Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie Menschen ohne Absicherung lebten und überlebten. Sie kamen ihm immer unbeschwert vor, auf ihre Art so fröhlich. Aber was gab ihnen Sicherheit?
Nachdenklich kaute er an seiner Unterlippe.
„Olli?“ Daniel gab ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein. „Wo bist du denn gerade?!“
Erschrocken stellte Oliver den Kaffee auf den Tisch und richtete sich gerade auf. „Sorry, ich habe mir nur ein paar Gedanken gemacht.“
„Der Fall“, vermutete Daniel.
„Nein“, entgegnete Oliver. „Mir wird nur langsam klar, was es bedeutet, keine Eltern mehr zu haben.“ Näher wollte er auf dieses Thema nicht eingehen.
„Du hast einen harten und steinigen Weg zum Erwachsen werden erwischt“, murmelte Daniel. „Es liegt mit an dir, deine Situation zu steuern.“
„Ich bin fünfzehn“, erklärte Oliver leise. „Bevor ich sechzehn bin, kann noch viel passieren und meine freie Entscheidung erhalte ich erst mit achtzehn.“
„Dass du so jung bist, vergesse ich immer wieder“, bekannte Daniel. „Du verhältst dich nicht so und du siehst älter aus.“
„Vor dem Gesetz hilft mir das nichts.“ Oliver nippte an seinem Kaffee. „Wenn sich der Verdacht gegen unseren Großvater weiter erhärtet, werden Chris, Micha und ich unter die Aufsicht der Jugendführsorge gestellt und wahrscheinlich getrennt. Wir sind die Kinder reicher Eltern, die bisher abgesichert waren. Als Familie haben wir immer aufeinander vertraut. Wie also soll ich der momentanen Situation entgegen sehen?“ er legte den Kopf schräg und beobachtete Daniel, der ihn mit ernster Mine betrachtete. Sein Freund ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er trank einen Schluck.
Ohne die Tasse abzustellen antwortete er: „Ich kann dir nicht sagen, wie es im sozialen Sinn für euch weiter geht. Selbst über das Erbe und eure weitere Schullaufbahn will ich mir besser kein Urteil erlauben. Das ist alles Sache der beiden Damen vom Jugendamt und dem Dossier deiner Psychologin.“ Oliver schauderte bei dem Gedanken an die Kälte, die von Frau Richter zuletzt ausgegangen war.
„Aber ich verspreche dir, für dich da zu sein“, sagte Daniel eindringlich. Die Worte schmerzten aus irgendeinem unerklärlichen Grund.
„Du meinst, wir sind auch Freunde, wenn der Fall abgeschlossen ist?“, fragte Oliver bitter. Daniel zuckte zusammen. Diese Worte trafen ihn offensichtlich sehr. „Du bist kein Fall für mich“, sagte er leise. „Dafür bedeutest du mir zu viel.“
Sein Blick war offener denn je. Oliver fühlte wie der Sinn hinter den Worten sich langsam in seinen Gedanken ausbreitete und seine Seele wärmte.
„Würde ein andere so etwas sagen, klänge es für mich wie eine Liebeserklärung“, sagte er sehr viel milder. Daniel lächelte. „Weißt du Olli, Freundschaft ist Liebe, nur dass der Sex fehlt.“
Dieses Mal ließ Oliver den Satz unkommentiert im Raum stehen. Daniels Worte fühlten sich gut an. Sein Freund gab ihm eine neue Form der Sicherheit. Oliver begriff, dass er nicht nur gebraucht wurde, sondern für einen anderen Menschen wichtig war. Still lächelte er in sich hinein.
„Nach dem, was sich dein Opa geleistet hat, als er dich angriff, ist es nicht mehr drin, noch einmal zu ihm zurück zu gehen, auch wenn sich jeder Verdacht gegen ihn zerstreut“, sagte er leise. „Der Mann ist überdies sehr alt, vollkommen egal, wie rüstig er sein mag und wie gut er seinen Laden im Griff hat.“ Er zögerte kurz. „Wahrscheinlich wird er dann eher in einem Heim enden.“
Erschrocken fuhr Oliver zusammen. Die Vorstellung, dass der resolute, alte Mann in einem Stift vor sich hin vegetierte, tat ihm beinah körperlich weh. „Du meinst, er würde nie mehr in seine Wohnung zurück kommen?“
Daniel hob die Schultern. „In solch einem Fall würde er wahrscheinlich entmündigt.“
„Daran geht er ein“, flüsterte Oliver. „Er ist …“
Daniel legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Olli, er hat versucht dich zusammenzuschlagen. Möglicherweise wollte er dir schlimmeres antun. Er könnte ein Mörder sein. Willst du solch einen Menschen schützen und ihm vertrauen?“ Ein suggestiver Unterton schlich sich in Daniels Stimme.
„Vertrauen?“, fragte Oliver leise. Er schüttelte nach einer Sekunde nur den Kopf. „Das wohl kaum. Aber er ist ein Mensch. Wie viel kann man einem Mann antun, der so viel erlebt hat?“ Daniel wollte etwas sagen, doch Oliver schüttelte den Kopf. „Bitte, unterbrich mich nicht.“ Er hielt Daniels Blick fest. Sein Freund nickte schließlich. „Unserem Großvater gehört nicht nur das Geschäft, sondern das ganze Haus. Er ist in dem Viertel eine Institution. Bei ihm kreuzen sich die Lebenswege so vieler Menschen …“ Während er sprach, wurde ihm bewusst, dass er den alten Mann zu beschützen versuchte. Zugleich erwachten erschreckende Gedankenansätze. Was, wenn er schuldig war, so sehr, dass man ihn verurteilte? Ein Mann von neunzig Jahren würde das nicht überstehen. Auch in diesem Fall würde diese zweite Heimat wie ein Kartenhaus in sich zusammen brechen. Oliver senkte den Blick. Ihm wurde klar, dass alle bisherigen Geschehnisse Konsequenzen aus seiner verbissenen Suche nach der Wahrheit waren. „Warum habe ich nur an der Oberfläche gekratzt?“, fragte er leise.
Daniel ergriff seine Hände und drückte sie fest. „Weil du dich mit einem ‚ist-halt-so’ nicht zufrieden gibst.“
*
„Wohin wurde unser Großvater gebracht?“, fragte Oliver.
Daniel hob die Schultern. „Polizeigewahrsam“, entgegnete er einsilbig. Oliver hob verwirrt die Brauen. „Ist das so was wie Untersuchungshaft?“
Daniel lachte. „Nein, nicht wirklich. Diese Form der Haft dauert maximal 24 Stunden und danach muss die Person dem Haftrichter vorgeführt werden. Bis dahin sollten wir tunlichst Beweise für eine längere Inhaftierung haben, oder derjenige wird wieder auf freien Fuß gesetzt. Das war ein tätlicher Angriff gegen dich. Damit wird er nicht lang festgehalten. Vermutlich wird es sehr bald eine Anhörung geben und in diesem Zug würde sich entscheiden, wie mit deinem Opa weiter verfahren wird.“
Oliver seufzte. Unter Daniels Hand ballte er eine Faust. „Was meinst du?“, fragte er. „Haben Frau Meinhard und Herr Roth bereits etwas herausgefunden?“ Er unterbrach sich und rieb sich über die Stirn. „Ich meine …“
„Olli“, unterbrach ihn Daniel ruhig. „Reg’ dich nicht auf, in Ordnung? Du wirst sonst noch ein Fall für einen Nervenklemptner.“
Oliver lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Anweisung der Krankenhauspsychologin, sich einen neuen Arzt zu suchen, hatte er vollkommen vergessen. „Erinnere mich besser nicht daran“, murmelte er. „Da müsste ich eigentlich hin.“
Daniel atmete tief durch. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so hilfreich ist. Die reden dir was ein, was du gar nicht hast.“
Ungewollt musste Oliver grinsen. „Ich werde da erst auftauschen, wenn sich alles andere geregelt hat.“
Seine Blicke schweiften durch die verglaste Front. Still beobachtete er die Passanten. Diese Menschen schienen keine Sorgen zu haben. Sie lachten, redeten und lebten.
Er merkte, wie seine Gedanken abdrifteten und sich wieder auf seinen Großvater fokussierten. Trotz seiner Ängste empfand er Mitleid mit Walter. Wie konnte er ihm nur helfen?
Eine Idee zuckte durch seinen Schädel.
„Ich muss mit meinem Großvater reden!“, rief er. „Nur er kann mir die ganzen Theorien bestätigen oder dementieren.“
„Das ist nicht so einfach …“, begann Daniel. Er verstummte. Olivers Blick brannte. „Er ist der Schlüssel zu unseren Fragen!“
*
Daniel stand an einem Schreibtisch und neigte sich herab. Er las die Formulare durch, die er auszufüllen hatte. Oliver wippte nervös auf seinen Schuhspitzen, während ein uniformierter Beamter seine Jacke durchsuchte. In einem Plastikkorb lagen bereits Schlüssel, Reisepass, Portemonnaie und Taschentücher. Ein anderer Beamter überprüfte Daniels Daten am Rechner, gab ihm aber nach wenigen Sekunden den Dienstausweis wieder.
„Was muss ich zwingend ausfüllen?“, fragte Daniel.
Sein uniformierter Kollege grinste. „Alles?“, schlug er vor.
Genervt erzog Daniel die Lippen. „Ihr wisst aber, dass ihr Sadisten seid!“
„Sie wollen doch mit dem alten Mann reden, oder?“, fragte der Justizbeamte. Ein hinterhältiges Lächeln umspielte seine Lippen.
Daniel würdigte ihn keines Blickes. „Schon gut, sagen Sie es einfach nicht!“, knurrte er. Rasch füllte er den Bogen aus.
„Waren Roth und Meinhard schon hier?“, fragte er beiläufig.
Oliver spitzte die Ohren. Er beobachtete den Mann an seinem Rechner.
„Ja, heute früh war die Kommissarin zusammen mit dem Berliner hier.“ Er frotzelte. Offensichtlich gefiel ihm die Anspielung auf eine mögliche Verbindung zwischen Weißhaupt und einem Marmeladengefüllten Spritzgebäck.
„Witzig“, murmelte Daniel abfällig. „Sehr witzig …“
Der Justizbeamte versuchte zumindest, seine Gesichtszüge zu glätten.
„Vorhin war auch eine Beamtin von der Spurensicherung hier und wollte Markgraf sehen“, sagte der Polizist, der Oliver abgetastet hatte.
Daniel sah ihn fragend an. „Spurensicherung? Wirklich?“
Für Oliver war es vollkommen unverständlich, weswegen Daniel sich daran störte. Bevor er etwas sagen konnte, winkte ihn der Justizbeamte durch den Metalldetektor.
„Du kannst schon mal durch gehen und warten.“
Fragend sah Oliver zu Daniel, der ihm nur zunickte.
„Ich komme nach“, versprach er.
*
Offenbar trat selten der Fall eines Besuches in Polizeigewahrsam ein. Ihnen blieben nur 15 Minuten zeit, um mit Walter zu reden. Oliver fürchtete, dass sein Großvater nicht wirklich redebereit sein würde. Vielleicht vergeudeten sie die wertvolle Zeit vollkommen. Nachdem sein Großvater versucht hatte, ihn zusammenzuschlagen, schwieg er meistens, oder verfiel in fast wahnsinnig zu nennende Verhaltensmuster.
Oliver folgte Daniel in einen Aufenthaltsraum. Ein Gewahrsamsbeamter erwartete sie bereits mit Walter. Olivers Großvater saß steif und unnahbar an dem Tisch. Seine Hände lagen auf der Platte. Er starrte an Oliver vorbei gegen die Wand. Auch Daniel ignorierte er. Seine Lippen waren nicht mehr als ein schmaler schnitt in seinem Gesicht. Offenbar ging es ihm wieder besser. Es sah zumindest gesünder und gefasster aus. Obwohl sein Blick klar war, sank Olivers Enthusiasmus, Antworten zu erhalten.
Zögernd trat er näher. In der Mimik des alten Mannes zuckte ein Muskel.
„Hallo“, sagte Oliver kühl. „Ich hoffe, dass es dir wieder gut geht.“
Walter schwieg. Er vermied den Blickkontakt.
Unsicher sah Oliver zu Daniel, der sich auf einem Stuhl nieder ließ.
„Wir habe einige Fragen, Herr Markgraf“, leitete er das Gespräch ein. Selbstsicherheit und Routine sprach aus seiner Haltung.
Da Walter nicht antwortete, fuhr Daniel fort. „Ich will nicht auf Ihr Fehlverhalten vom gestrigen tag eingehen.“
Noch immer reagierte Olivers Großvater nicht, aber seine Stirn legte sich in Falten.
Oliver spürte, dass Daniel sich seine Aufmerksamkeit erkämpfte.
„Stichwort Erna Markgraf“, sagte der junge Beamte.
Walter zuckte zusammen.
Oliver setzte sich neben Daniel. Er wollte sich lieber nicht einmischen. Das Talent Daniels, Informationen zu erhalten, reichte offenbar völlig aus. Sein Freund spielte auf Überraschung und Schrecksekunden. Bei Walter schien dieses Konzept aufzugehen.
„Wir wissen unterdessen, dass sie sich als Apothekerin mit Giften auskannte, was die Vermutung nahe legt, dass sie die sieben Toten im Keller ihres Hauses zu verantworten hatte.“
Der Blick Walters flackerte. Oliver hielt die Luft an. Offenbar setzte Daniel wirklich den passenden Hebel bei seinem Großvater an. Der alte Mann presste verbittert die Lippen aufeinander. Die Erwähnung seiner Mutter berührte ihn sehr.
In Oliver wuchs die Spannung an. Er selbst hatte 100 Fragen an seinen Großvater. Hoffentlich stellte Daniel sie auch.
„Leider wissen wir nicht alles lückenlos, was uns die Verbindung aller offenen Punkte erschwert. Aber lassen sie mich unsere Erkenntnisse darlegen …“
„Erkenntnisse?!“, bellte Walter wütend. „Was können Sie über diese Zeit herausgefunden haben?! Damals waren ihre Eltern noch nicht geboren!“
Daniel blieb ruhig. „Das mag alles sein, ist aber unsachlich und gehört nicht hierher. Überdies würde ich Sie bitten, nicht beleidigend zu werden.“
Seine Stimme nahm einen schneidenden Ton an. Noch nie zuvor hatte Oliver Daniel als so beeindruckend und groß empfunden. Er legte seine zotig, lockere Art vollständig ab und wurde zu einem strengen, kühl kalkulierenden Beamten.
Walter schreckte zurück.
„Ich hoffe, dass wir uns nun auf einer Ebene miteinander unterhalten können“, sagte Daniel ruhig.
Walter atmete schwer ein. Nickte aber schließlich.
„Reden Sie!“, forderte er Daniel barsch auf.
Der Beamte ließ sich zurück sinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und begann Olivers Theorien minutiös vorzutragen.
Walter unterbrach hin nicht. Aus seiner Mimik ließ sich wenig heraus lesen. Erst als Daniel endete, verzogen sich die Lippen des alten Mannes.
„Beachtlich“, sagte er ernst. „Ihre Theorie trifft sogar recht gut zu.“ Er zögerte. Mit einem Blick zu Oliver sprach er weiter: „Allerdings verhält es sich so, dass meine Mutter ihr zweites Kind durch mich verloren hat.“
Oliver schluckte hart. Er beobachtete seinen Großvater.
Der alte Mann ging nicht weiter darauf ein.
„Sie hasste mich dafür“, fuhr Walter fort. Er zögerte kurz. „Als mein Vater sie nach der Totgeburt verließ, um Helene zu heiraten, hasste sie alle Menschen.“ Er schwieg. Nachdenklich betrachtete Oliver ihn. „Warum die Toten“, fragte er leise. Für einen Moment überlegte Walter, zu antworten. Es kostete ihn offenbar Überwindung. „Demütigung!“, sagte er. „Sie zerstörte, was ich wollte.“
„Ihre Frauen“, vermutete Daniel.
Walter nickte knapp.
„Die sieben Toten …“, begann Daniel.
„Die Familie Hirsch“, fiel ihm Walter ins Wort. „Da liegt ihre andere Ungenauigkeit.“ Seine Stimme wurde lauter. „Ich habe sie umgebracht. Sie waren Juden!“
Oliver schrak zusammen. „Warum verdammt!“, schrie er Walter an. Der Verwahrungsbeamte regte sich drohend. Oliver war es egal. „Was hat dich dazu gebracht?!“
„Schweig!“, bellte Walter. „Mit dir rede ich nicht!“
„Doch!“, schrie Oliver ihn an. „Jetzt und hier will ich wissen, warum!“ Olivers Hand fuhr mit solcher Wucht auf den Tisch nieder, dass er einen Satz machte. „Haben dir die Menschen nichts bedeutet?!“
Der alte Mann presste die Lippen aufeinander. „Doch!“, zischte Walter. „Unter ihnen waren Helenes Tochter und Enkelin: meine Frau Rachel und meine Tochter Ruth. Damit hat meine Mutter mich zerstört!“
*
Oliver zitterte vor Entsetzen und Zorn, als er neben Daniel im Jeep saß. Er wusste nicht, wen er mehr verabscheute, seinen Großvater, oder seine Urgroßmutter. Die Gewissheit über ihre Theorien erschütterte ihn genau so sehr, wie der Hass, der einen Menschen zu einem Monster veränderte. Aus Walters Worten und seiner Tonlage hatte er entnommen, dass ihm seine erste Frau und sein Kind viel bedeuteten. Umso mehr verstand er nicht, wie er sich zu einer solchen Tat überreden lassen konnte.
„Was überlegst du?“, fragte Daniel leise, während er seinen Wagen an den Straßenrand fuhr und anhielt. Irritiert sah Oliver auf. Sie befanden sich mitten im Gewerbegebiet.
Wortlos nahm Daniel seine Hand und drückte sie. „Ich höre dir zu“, versprach er.
Oliver fiel es schwer, nicht laut zu werden, während er seine Gedanken in Worte fasste. Die ganze Zeit begleitete ihn der stille Blick seines Freundes.
Nachdem Oliver allen Frust und sein Unverständnis ausgesprochen hatte, überlegte Daniel. Schließlich sagte er leise: „Wir können uns die Zeit zwischen den Weltkriegen nicht vorstellen. Das macht es schwieriger zu begreifen, warum Menschen so handelten.“
„Damit kann man nicht alles entschuldigen“, murmelte Oliver. „Menschlichkeit und Liebe sollten immer in einer Person sein.“
„Das war sicher auch so“, entgegnete Daniel. „Trotzdem sind die Leute jetzt zumeist weiser als damals. Sie haben aus den Resultaten und Fakten der beiden Weltkriege gelernt.“
„Du meinst, sie waren nicht so weit wie wir jetzt“, fasste Oliver zusammen. Daniel nickte. „Die Menschen hatten einen anderen Bildungsstand, interessierten sich eher für die innerdeutschen Probleme, kämpften mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 und waren nur zu bereit einem charismatischen Lügner wie Adolf Hitler Glauben zu schenken. Er bewies ja, dass er Brot und Arbeit für jedermann hatte. Der Preis war – wie wir wissen – viel zu hoch dafür.“
Oliver nickte niedergeschlagen. Er kannte die Geschichte zwischen 1918 und 1945 gut genug.
„Das, was die Menschen erreichten, versuchten sie zu behalten. Dein Großvater war Mitglied in der Partei. Er musste sich schützen, wenn er nicht sterben wollte.“
Olivers Blut begann wieder zu kochen. Wut kroch schmerzhaft aus seinem Bauch herauf.
„Deswegen darf er sieben Menschen ermorden?!“, schrie er impulsiv.
Daniel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Er hat sicher im Krieg viel mehr getötet.“
„Seine Frau und sein Kind …“, fuhr Oliver auf.
Mit einer Handbewegung brachte Daniel ihn zum schweigen.
„Langsam. Dafür kann es viele Gründe geben. In erster Linie sprach er davon, dass seine Mutter ihn gebrochen habe. Sie hat ihn also gezwungen. Sicher weil er seine Familie trotz Parteitreue versteckt hielt, aber möglicherweise auch, weil sie ihm im Lauf der Jahre so viele Schuldgefühle wegen ihres zweiten, toten Kindes und der Scheidung eingeredet hatte, dass Markgraf einfach zusammenbrechen musste.“
„Rede es bitte nicht schön!“, zischte Oliver entrüstet.
„Das tue ich nicht“, entgegnete Daniel sanft. „Das tue ich wirklich nicht …“
„Daniel!“, unterbrach ihn Oliver. „Ich will Beweise dafür, dass er nicht das Monster ist, was ich in ihm sehe!“
Angespannt presste Daniel die Kiefer aufeinander. „Also gut …“ er zögerte. Offensichtlich fand er Olivers Einwende nicht völlig an den Haaren herbei gezogen. Sanft drückte er Olivers Hand, um sie anschließend loszulassen. Wärme kroch durch Olivers Körper. Er beobachtete seinen Freund.
Daniel nickte entschlossen und ließ den Wagen an. „Wir suchen im Haus deines Großvaters nach weiteren Beweisen.“
*
Wie die Male zuvor fühlte Oliver sich in den alten Mauern unwohl. Es kam ihm vor, als beobachte ihn das Haus. In dem schummrigen Flurlicht dehnten sich die Schatten über die Stufen der Treppe zum Hinterhof. Wenn Oliver nicht genau hin sah, glaubte er Bewegungen wahr zu nehmen. Angesichts der Tatsache, dass ihn Habicht vor wenigen Tagen hier angegriffen hatte, schauderte er unwillkürlich. In seinem Körper spannten sich alle Muskeln. Er erwartete unwillkürlich eine Attacke des abtrünnigen Polizisten.
Obwohl er sich gegen ihn behaupten konnte, fürchtete Oliver ihn; zumal sich dieser Mann bestens in diesem Haus auszukennen schien. Er erwartete sogar fast, dass Habicht irgendwo lauerte.
„Was suchst du eigentlich?“, fragte Daniel leise. Seine Stimme bebte leise. Spürte er etwa auch die unheimliche Aura des Hauses? Oliver deutete zu dem rückwärtigen Eingang der Buchhandlung. „Ich will mich umsehen.“
Daniel nickte unbehaglich, führte seine Bedenken aber nicht weiter aus. „Hast du einen Schlüssel für hier unten?“
Oliver schüttelte den Kopf. „Der hängt oben, in seinem Schlafzimmer.“
„Würde mich nicht wundern, wenn Markgraf ihn einstecken hat“, murmelte er.
Oliver nickte. „In seinem Kleiderschrank liegt der Ersatzschlüssel.“
Daniel seufzte. „Erst noch mal alle fünf Etagen hoch rennen?“, fragte er.
„Hast du eine bessere Idee“, fragte Oliver. „Beispielweise einen Dietrich?“
„Pfui!“, rief Daniel aus. „Traust du mir so was zu? Ich bin Bulle!“
Oliver musste trotz der angespannten Situation schmunzeln. „Dir traue ich zu, dass du an deiner Dienstmarke auch noch einen Schlagring hängen hast.“
*
In der tristen Wohnung fühlte Oliver sich nicht weniger unwohl. Im Gegensatz zum Vortag schlug ihm kalte, abgestandene Luft entgegen. Der Geruch war Übelkeit erregend. Selbst der Versuch flach zu Atmen, half nicht viel. Er presste eine Hand über Mund und Nase.
„Lüften?“, fragte Daniel, der hinter sich die Wohnungstür schloss.
„Nur zu gern. Aber das würde nichts helfen“, sagte Oliver leise. Er winkte Daniel ihm in das Schlafzimmer zu folgen. Der Beamte durchquerte den chaotischen Raum. Er sah kurz in den offen stehenden Kleiderschrank. Den Schlüssel entdeckte er offenbar sofort. Er nahm ihn von dem Nagel und reichte ihn Oliver.
„Danke dir.“
Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche.
„Schrecklich“, murmelte Oliver mit einer Handbewegung durch das verwahrloste Zimmer.
Daniel nickte. „Und wie. War er so unordentlich?“
„Nicht wirklich“, entgegnete Oliver. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg bis zu dem Bett. Im schwächer werdenden Nachmittagslicht entdeckte er verschiedene Kisten unter Kleidern und Decken, deren Inhalt über den Boden verstreut worden war. Es handelte sich offenbar um Briefe. Oliver ging in die Knie, um einen aufzuheben. Es handelte sich um den offizielles Schreiben eines Anwalts. Die Kopfzeile war ihm Bekannt. Der Brief stammte von Dr. Rüttgers, dem Anwalt seines Vaters. Oliver legte nachdenklich die Stirn in Falten. Laut Datum erhielt Walter das Schriftstück erst vor wenigen Wochen. Oliver überflog die Zeilen. Es handelte sich um die formelle Auforderung Toms, ein klärendes Gespräch mit Walter zu führen. „Müsste mein Vater, wenn er ein Gespräch mit meinem Großvater führen wollte, diesen Termin über seinen Anwalt fest machen?“, fragte er.
„Eigentlich könnte er die JVA direkt beauftragen, die dafür notwendigen Papiere zuzusenden.“ Daniel klang abwesend. Er kniete vor dem Bett.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Oliver.
„Weiß ich noch nicht“, entgegnete der Beamte abwesend.
Oliver beobachtete ihn einige Sekunden über das Fußende des Bettes hinweg. Daniel blätterte in einigen Dokumenten. Er reagierte nicht weiter. Schließlich zuckte Oliver mit den Schultern und sah sich die Briefe durch, die vor ihm lagen. Er fand Besucherscheine der JVA. Wenn er die Daten nacheinander durch ging, so musste Tom versucht haben, jede zweite Woche ein Gespräch zu fordern.
Wollte sein Vater Vergebung?
Die würde er von Walter nie bekommen.
Oliver stützte sich mit dem Ellenbogen auf das Knie ab und rieb sich die Schläfen. Jetzt verstand er zumindest, warum Walter von ihm mehr Härte verlangte. Der alte Mann schützte sich mit dieser Erbarmungslosigkeit. Oliver spürte, dass seine Wut auf Walter verrauchte. Er sah immer noch nicht ein, weshalb sein Großvater Menschen tötete, die er vorgeblich geliebt hatte. Trotzdem verstand er, dass Walter auch nur ein Opfer war.
Wie konnte er von seinem Großvater Mitleid und Verständnis verlangen, wenn er dem alten Mann nicht dieselben Gesten entgegenzubringen bereit war? Ihm wurde bewusst, wie ignorant er sich gegenüber Walter verhalten hatte. Deckte sein Großvater Habicht aus diesem Grund? Letztlich war der Polizist Olivers älterer Cousin. Möglicherweise wollte Walter nur seine Familie vor dem endgültigen Zusammenbruch bewahren, den Oliver ausgelöst hatte. Angesichts dieses Gedankens fühlte er sich schäbiger denn je.
Wortlos erhob er sich. Was tat er hier? Suchte er nach entlastenden Beweisen, oder lenkte ihn jeder optionale Verdacht davon ab?
Er spionierte seinem Großvater mutwillig hinterher! Oliver rieb sich erneut die Schläfen. Er fühlte sich betäubt. Langsam begriff er, was der Satz „Blut ist dicker als Wasser“ bedeutete. Die Familienbande schnürten alle nur erdenklichen Charaktere zusammen. Wenn die Zuneigung zwischen Vater und Tochter so groß war, wie Oliver annahm, würde Silke nie etwas anderes sein, als sein geliebtes Kind. Selbst wenn sie hundert Menschen umgebracht haben sollte, würde er sie lieben und schützen. In ihm erwachte der Verdacht, dass sie einander geschützt hatten. Wer sagte, dass sie seine Geheimnisse nicht kannte?
Die Zweifel in Oliver erstickten ihn fast.
Etwas rumpelte. Er fuhr zusammen. Das Geräusch kam vom Dachboden! Oliver federte auf die Füße. Allerdings hob Daniel warnend die Hand.
„Was ist da oben?“, fragte er gedämpft.
„Der Trockenboden und ein Zugang zum Dach, wo Großvater Tiere hat.“
Daniels irritierter Blick machte Oliver deutlich, dass er gar nichts verstand.
„Himmel“, knurrte er. „Da oben ist eine Art Dachterrasse oder Flachdach. Walter hat da Tauben und ein Hasengehege.“
Daniel nickte. Er legte seinen Finger über die Lippen. Während er sich in einer geschmeidigen Bewegung erhob, zog er sein Handy aus der Hosentasche und drückte zwei Tasten. Angespannt lauschte Oliver in die wieder eingekehrte Stille hinein. Bis auf das gedämpfte Freizeichen und den entfernten Straßenlärm hörte er nichts. Das Haus selbst schien sich in gespenstische Lautlosigkeit zu hüllen. Sogar das leise Knarren der alten Holzbalken über ihren Köpfen blieb aus.
Sein Herz raste. Was war dort oben?
Es gab einen gesonderten Zugang von dieser Wohnung auf den Boden. Befand sich Habicht etwa dort oben?
„Wir sind in Markgrafs Wohnung“, flüsterte Daniel in den Hörer. „Allerdings glaube ich, sind wir nicht allein.“ Jemand antwortete. Anhand der Tonlage vermutete Oliver Roth am anderen Ende. Die gefasste Stimme des alten Beamten gab Daniel einige Anweisungen. Oliver verstand leider nicht, welche.
„In Ordnung“, flüsterte Daniel, bevor er das Gespräch unterbrach. Er ließ das Handy in seine Tasche gleiten. Mit einer schnellen Bewegung schlug er seine Lederjacke zurück und zog seine Waffe aus dem Schulterhalfter. Oliver zog die Brauen zusammen. Er kannte sich mit Waffen nicht aus. Ihm war die kantige Pistole lediglich aus Filmen bekannt. Im Gegensatz zu amerikanischen Waffen, die in Filmen dargestellt wurden, sah sie wenig beeindruckend aus. Trotzdem reichte die Vorstellung, dass eine Kugel daraus tödlich war, um ihn zutiefst zu erschrecken. Ohne auf das Chaos auf dem Boden zu achten, eilte er zu Daniel und legte ihm behutsam die Hand auf den Unterarm.
Der fragende Blick seines Freundes sprach Bände. Oliver presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht vor, allein auf Gangsterjagd zu gehen“, flüsterte Daniel. „Das ist gegen meine Anweisungen. Aber ich kann auch nicht riskieren, dass dir etwas passiert.“
Oliver atmete erleichtert durch und nickte.
Das aufmunternde Lächeln Daniels half ihm nicht sonderlich. Mit jedem Augenblick, der vollkommen lautlos dahin strich, manifestierte sich in Oliver das Gefühl in Gefahr zu sein. Sein Blick richtete sich nach oben. Still betrachtete er die Decke. Bewegte sich dort oben etwas? Er versuchte heraus zu finden, ob er das knarren der alten Dielen hörte.
Tatsächlich glaubte er, etwas Vergleichbares wahr zu nehmen.
Alarmiert sah er zu Daniel. Der Blick seines Freundes richtete sich ebenfalls zur Decke. Seine Pupillen schienen einem unsichtbaren Läufer zu folgen. Alles in Oliver spannte sich. Daniel hob die Waffe mit beiden Händen. Er beschrieb einen leichten Bogen zur Tür. Tatsächlich knarrte ein Brett, irgendwo, nah des Flures. Oliver presste die Kiefer aufeinander. Lautlos folgte Daniel den schwachen Geräuschen auf den Flur, wobei er automatisch nach rechts und links sicherte. Mit einem mahnenden Blick über die Schulter versichere sich der junge Beamte, dass Oliver im Schlafzimmer blieb. „Du rührst dich nicht weg!“, wisperte er.
Zögernd nickte Oliver, wobei er eine Grimasse schnitt. Er wollte nicht untätig herum stehen! Daniel ignorierte seinen offenkundigen Widerwillen. Einen Moment später glitt er in die Schatten.
Olivers Mund fühlte sich trocken an. Seine Zunge klebte am Gaumen.
Was, wenn es Habicht war?
Daniel würde es kaum gut heißen, wenn er den Geräuschen folgte. Trotzdem konnte Oliver nicht untätig hier stehen bleiben. Seine mittlerweile untrainierten Muskeln und die mangelhafte Boxtechnik würden gegen einen bewaffneten Mann wenig ausrichten können. Verzweifelt irrte sein Blick durch den Raum. Gab es denn gar nichts, was er als Waffe nutzen konnte?! Er drehte sich im Kreis. Er fand nichts. Kleidung, Bücher, Decken und Kissen reichten kaum aus!
Ein Schrei zerriss die Stille. Im gleichen Moment hörte Oliver lautes gepolter und das Splittern von Holz und Glas. Zugleich löste sich ein Schuss.
„Daniel!“
Oliver vergaß alles andere um sich herum. Panische Angst überspülte seine Gedanken. Sein Herz hämmerte bis zu zerspringen in seiner Brust. Er stürzte aus dem Zimmer.
In einem Haufen Scherben lag Daniel. Über ihn geneigt stand Habicht! Er hielt seine Waffe in der Rechten, während er mit der Linken einen zerbrochenen Besenstiel schwang. Oliver bemerkte das Blut an Daniels Schläfe. Sein Freund bewegte sich benommen. Er blinzelte und versuchte sich zugleich auf die Seite zu rollen. Habicht richtete die Dienstwaffe auf seinen jüngeren Kollegen.
Der Anblick löste in Oliver eine Flut von extremen Gefühlen aus. Allerdings konnte er lediglich Wut und tiefe Angst um seinen Freund klar identifizieren.
Ohne zu zögern stieß Oliver sich ab und sprang auf Habicht zu. Der Polizist riss seine Waffe hoch. Ein weiterer Schuss löste sich. Oliver fühlte die sengende Hitze und den Zug an seinem Ohr, bevor er sich mit aller Gewalt gegen seinen Cousin warf. Obwohl alles für ihn mechanisch ablief, spürte Oliver kurz Verwunderung, als Habicht tatsächlich strauchelte. Er riss den Beamten mit seinem ungestümen Angriff zurück. Der Polizist schlug mit der Schulter gegen die Rückwand des Flures, wobei er den Besenstiel fallen ließ. Ein dumpfes Ächzen drang aus seiner Brust. Trotzdem fing er sich im Bruchteil einer Sekunde. Zu Olivers Schrecken nutzte er den Aufprall, um sich von der Mauer abzustoßen. Er schoss auf Oliver zu, den Ellenbogen auf Kopfhöhe erhoben. Habichts Mimik war eine Maske aus Anstrengung und Zorn. Instinktiv wich Oliver in einer Drehung aus. Als der Beamte nicht traf, gerann sein wütendes Minenspiel zu einer Maske aus bloßem Hass. Habicht geriet in Raserei! Das war seine Chance. Auch wenn er schwächer war, als sein Gegner, bot er ihm die ungeschützte Flanke. Oliver hob seine Fäuste auf Bauchhöhe an und versetzte ihm zwei dicht aufeinander folgende Schläge. Mit der linken traf er nicht sonderlich gut. Der Hieb ging gegen Habichts Rippenbogen und wurde geblockt. Allerdings die Rechte traf den Polizisten in die Niere. Oliver spürte, wie der Angriff seines Gegners brach. Hass wurde zu Schmerz. Er leitete Habicht an sich vorbei, nur um ihm von hinten einen weiteren Hieb in die bereits verletzte Niere zu versetzen. Habicht jaulte auf. Taumelnd schlug er gegen die Bodentür. Sein
Gewicht reicht, sie ins Schloss zu werfen und zugleich nach innen einzudrücken.
Der Polizist keuchte vor Schmerz. Trotzdem gab er sich nicht geschlagen. Mit einer ruckartigen Bewegung richtete er die Waffe auf Oliver.
„Du Schwein!“, zischte er.
Wie angewurzelt blieb Oliver stehen. Er hatte seltsamerweise keine Angst, obwohl im klar war, dass sein Überleben nur an einer Fingerkrümmung hing.
Er blieb ruhig stehen. Zum ersten Mal sah er Habicht wirklich ins Gesicht.
In den hellen Augen des Beamten standen alle verzehrenden Gefühle geschrieben, die ihn antrieben: Angst, Zorn, Schmerz, Verzweiflung und Unverständnis. Habicht war ein Wrack. Ein ungepflegter, unrasierter Mann, dessen schlecht gefärbte Haare in seine verschwitzte Stirn fielen. Tränen standen in seinen Augen. Vor Anstrengung zitterten seine Lippen. Er war nur eine Erinnerung dessen, was Daniel ihm beschrieben hatte. Oliver empfand fast Mitleid mit ihm. Obwohl das Gesicht seines Cousins eine Maske absoluten Hasses war, erkannte er in ihm schwache Ähnlichkeit zu seiner Familie.
Aber würde der Beamte in seinem jetzigen Zustand noch wissen, dass ein Mord verheerende Folgen für ihn haben konnte? Oliver war sich nicht sicher, dass Habicht doch noch abdrücken würde. Die Gefühle, in ihm kämpften, konnten ihn nur über die Klippe zum Wahnsinn stoßen. Trotzdem entspannte er sich.
Auf Habichts Lippen stand glänzender Speichel. „Du kleiner Scheißer!“, flüsterte er. „Warum musstest du alles zerstören?!“
Die Worte trafen Oliver mehr als die Handlungen seines Cousins. Wie Walter beschuldigte auch er Oliver als Auslöser für all das, was geschehen war. „Warum bin ich schuld?“, stieß Oliver Atemlos hervor. Eine Antwort blieb aus. Habicht riss mit beiden Händen seine Waffe hoch.
Oliver schloss die Augen. Irgendwer in diesem Haus hatte sicher die Schüsse gehört. Davon abgesehen lag Daniels Telefonat mit Roth schon einige Minuten zurück. Jemand würde kommen. Bald … Wenn die Hilfe nicht zu spät kam …!
Der dritte Schuss, der sich löste, ging dicht über Oliver in die Decke. Putz und Holz regneten auf ihn nieder.
Er riss die Augen auf und sah, wie Daniel Habicht mit einer Beinschere ins Straucheln brachte. Sein Cousin fiel nicht, aber seine Schussbahn wurde abgelenkt. Oliver reagierte ohne zu denken. Mit aller Gewalt trat er Habicht zwischen die Beine. Als sein Cousin die Augen verdrehte und nach vorne sank, schlug Oliver ihm die rechte Faust in den Solar Plexus, um mit der linken nachzusetzen.
Diese Hiebe reichten aus, um Habicht die Luft aus den Lungen zu treiben. Er sank auf die Knie. Trotzdem hielt er seine Waffe fest umklammert. Daniel nutzte die Zeit, um auf die Füße zu kommen. Er griff Habichts Arm und verdrehte ihn auf den Rücken. Nie zuvor hatte Oliver seinen Freund so grimmig erlebt. Vielleicht lag es an dem Blut, was ihm über Schläfe und Wange rann, vielleicht an seinem flammenden Blick und den über die Zähne zurückgezogenen Lippen. Es sah aus, als kenne Daniel keine Gnade mit seinem Gegner. Er zwang Habicht mit einem gewalttätigen Ruck zu Boden. Oliver glaubte, die Bänder und Knochen Habichts knacken zu hören. Die Waffe polterte zu Boden. Habicht wimmerte. Tränen und Speichel troffen auf den alten Teppich. Oliver schob die Pistole mit dem Schuh außer Reichweite.
„Du elendes Schwein“, flüsterte Daniel. „Sei froh, dass meinem Kleinen nichts passiert ist. Ansonsten würde ich dich hier und auf der Stelle erschießen!“ Seine Worte klangen erschreckend ernst gemeint! Verwirrt beobachtete Oliver seinen Freund. Sein Kleiner? Eigentlich hasste er diese Bezeichnung, aber aus der Situation heraus schien es das zu sein, was Daniel wohl über ihn dachte. Sein Herz schlug unwillkürlich schneller.
Habicht sank in sich zusammen. Seine Muskeln erschlafften. Er hing hilflos wie eine Gliederpuppe in Daniels Griff. Bebend schluchzte er. Sein muskulöser Körper wurde von Schauern und Krämpfen geschüttelt.
„Ich muss sie retten!“, wimmerte Habicht. Seine Stimme klang hysterisch hoch, fast wie die eines Kindes. „Ich muss sie doch retten!“
*
Oliver empfand tiefes Mitleid für seinen Cousin. Langsam ließ er sich auf die Knie sinken.
„Pass auf!“, warnte ihn Daniel grimmig. „Trau’ ihm nicht!“
Er griff etwas härter zu. Habicht gab einen kläglichen Schmerzenslaut von sich.
Offenbar verschleierte Daniels Unversöhnlichkeit seine Objektivität. Dieses zitternde Bündel vor Oliver stellte zurzeit gar keine Gefahr da. Während Daniel seinem Kollegen Handschellen anlegte, berührte Oliver behutsam die unrasierte, feuchte Wange seines Cousins. Tatsächlich verschwand jetzt das letzte bisschen Wut aus ihm. Habicht war so menschlich wie Oliver oder Daniel. Insgeheim hätte er gar nicht damit gerechnet, nach allem, was ihnen dieser Mann angetan hatte. Oliver kannte nicht einmal sein Motiv. Habichts Beweggründe entzogen sich Olivers Verständnis. Sogar Walters Antrieb lag auf der Hand … aber Habichts?
Trotzdem wollte er seinen Cousin verstehen. Oliver spürte, wie der Beamte verzweifelt schluchzte. Er drückte seine Wange in Olivers Hand. Obwohl in ihm starker Widerwille erwachte, zog er seine Finger nicht zurück. Habichts tränennasses Gesicht glühte heiß. Seine Haut hatte sich in ein ungesundes Rot verändert. Sie fühlte sich rau an. Für Oliver stand außer Frage, dass Habicht unter Druck stand.
„Wen willst du retten?“, fragte Oliver leise.
Habicht erschlaffte endgültig.
Daniel zerrte ihn unsanft auf die Füße, was ihn einige Kraft kostete. „Rede nicht mit ihm“, keuchte er atemlos. Seine Wut traf Oliver unvermittelt hart.
„Auf wen sollen wir warten?“, fragte er aufgebracht, während er sich auf die Füße stemmte. „Warum können wir ihm keine Fragen stellen?“
„Roth und Meinhard sollen das machen!“, schlug Daniel ärgerlich vor.
Das Blut gerann langsam in seinem ausgezehrten Gesicht. Es verlieh ihm ein fast dämonisches Aussehen.
Oliver begriff nicht, weshalb Daniel so extrem reagierte. Im ersten Moment war er verletzt. Allerdings fiel ihm ein, dass sich zwischen den beiden Männern wohl zu ihren persönlichen auch noch politische Differenzen auftaten. Möglicherweise nutzte Daniel seine Chance, dem einige Jahre älteren Matthias Habicht einen Dämpfer zu verpassen. Prüfend sah Oliver seinen Freund an. Er fand allerdings keine Gehässigkeit, sondern reinen Ärger in Daniels Blick.
„Los, geh!“, befahl Daniel seinem Kollegen barsch.
Habicht, der minimal größer und muskulöser war als Daniel, stolperte ungelenk vorwärts. Er ließ sich lenken. Unsanft stieß Daniel ihn in einen Sessel. Das alte Möbelstück ächzte unter Habichts Gewicht. Daniel blieb vor ihm stehen. Er verdeckte Oliver den Blick auf seinen Cousin fast vollständig. Um zu Habicht Blickkontakt zu erhalten, änderte Oliver seine Position. An der verkrampften Haltung bemerkte er, dass der Beamte langsam wieder in die Realität fand. Oliver trat zu Daniel. Er blieb neben seinem Freund stehen, der seine Waffe wieder in das Halfter zurück schob und nach seinem Handy griff.
Habicht hielt den Kopf gesenkt. Er wagte es scheinbar nicht, aufzusehen. Oliver kniete sich vor ihm auf den Boden. Die Mimik seines Cousins drückte all seine Qual aus. Er fürchtete sich sicher nicht vor den Konsequenzen, die aus seinem Handeln resultierten. Das, was Oliver identifizieren konnte, war Schmerz und Sorge.
„Matthias?“, fragte er leise.
Habicht presste die Lippen aufeinander. Oliver versuchte seinen Blick einzufangen.
„Du hast davon gesprochen, sie zu retten“, begann er. Habichts Augen füllten sich mit Tränen. Diese Reaktion konnte sich kaum auf Silke oder Elli beziehen. Er berührte Habichts Gesicht. „Wen meinst du?“
Bevor Matthias antwortete, erinnerte sich Oliver an etwas, dass er während eines Gesprächs zwischen Weißhaupt und Meinhard mitbekommen hatte. Wie zur Bestätigung flüsterte Matthias: „Natalie.“
Ungehalten steckte Daniel sein Handy wieder ein. Oliver entging nicht, dass die alleinige Anwesenheit von Matthias Daniels Zorn steigerte. Wie sollte er ihm beibringen, dass die Freundin seines Cousins offenbar als Druckmittel gegen ihn eingesetzt wurde?
„Roth steckt im Verkehr fest“, knurrte er. „Meinhard ist gleich da.“
Oliver nickte nachdenklich. „Was ist mit Weißhaupt?“, fragte er. Für einen Moment knirschte Daniel wütend mit den Zähnen, während er Habicht einen wütenden Blick zuwarf. „Auf unbestimmte Zeit beurlaubt!“, knurrte er. „Wegen dieser linken Bazille!“
Oliver atmete erschrocken ein. „Warum?“
„Misstrauen gegen ihn, nachdem bekannt wurde, dass Habicht die Seiten gewechselt hat“, erklärte Daniel.
„Aber er …“, begann Oliver hilflos.
„Bernd ist Habichts Vorgesetzter“, unterbrach Daniel ihn ungeduldig. „Es wird nun geprüft, ob beide auf der Lohnliste Aboutreikas stehen.“
Olivers Herz wurde schwer. Er mochte den polternden, lauten Beamten aus Berlin. Weißhaupt strahlte etwas Wahrhaftiges und Ehrliches aus. Ihm einen Verrat zutrauen? Oliver war sicher, dass Weißhaupt sich nichts zu Schulden hatte kommen lassen. Vielleicht ließ sich alles durch ein Gespräch mit Habicht aus der Welt schaffen. Er musste nur die Wahrheit sagen und Weißhaupt entlasten.
Oliver wendete sich Matthias wieder zu. „Wo ist sie?“, fragte er leise. Der Beamte schreckte auf und sah Oliver verwirrt an. Es schien fast, als würde er aus einem langen Alptraum erwachen. „Er ist bei ihr“, flüsterte er heiser. Mit seinem Mut sank auch seine Kraft auf ein Minimum herab.
Daniel trat näher. „Wer?! Wovon redest du?!“, fragte er barsch.
„Sie haben seine Freundin Natalie offenbar als Druckmittel gegen ihn eingesetzt“, erklärte Oliver.
Ungläubig legte Daniel die Stirn in Falten. „Wer? Aboutreika?!“, fragte er. Seine Stimme klang noch immer aggressiv, aber weitaus weniger laut. „Warum sollten sie das?“
Habicht schluckte schwer. In seiner Mimik arbeitete es. Oliver sah seine mahlenden Kiefer. Dass sein Cousin mit sich kämpfte, stand außer Frage. Trotzdem elektrisierte die Luft wieder. Was auch immer der Grund für die schweren Spannungen zwischen Daniel und Matthias sein mochte, er wirkte sich bereits wieder auf die Stimmung beider aus.
„Verdammt!“, schrie Oliver beide an. „Hassen könnt ihr euch meinetwegen bis an das Ende eurer Tage! Aber jetzt solltet ihr euch beide zusammen nehmen! Immerhin geht es um das Leben eines weiteren Menschen und Bernd Weißhaupts Ansehen!“
„Hättest du dich nicht eingemischt …“, begann Habicht angespannt mit einem Blick zu Oliver, wurde aber sofort von Daniel unterbrochen: „Olli hat recht!“
Die alte Erschöpfung zeichnete Matthias’ Gesicht wieder. Müde nickte er. „Trotzdem“, sagte er leise. „Wenn Oliver sich nicht eingemischt hätte, wäre alles glatt gegangen und ich schon lang wieder bei Natalie. Davon abgesehen“, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu, „wäre Bernd nicht in Verdacht geraten.“
„Aber …“, stammelte Oliver hilflos.
„Du kannst Olli nicht für die Scheiße zur Verantwortung ziehen, die du angezettelt hast!“, fauchte Daniel Matthias an. Habicht wollte auffahren, doch Daniel packte ihn am Kragen seines T-Shirts. „Bei was hat dich Olli vor einigen Tagen in seinem Haus gestört?“, fragte Daniel aggressiv.
Habicht riss sich los und atmete tief durch. Er ließ sich Zeit zu Antworten. „Ich habe das Spritzbesteck von Silke gesucht, das, mit dem sie Marc getötet hat.“
Olivers Hals schnürte sich zu. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er empfand es als schrecklich, seine eigene Theorie als Fakt zu hören.
„Du hast es gefunden?“, fragte Daniel erschrocken. Seine Stimme klang belegt. Offenbar nahm er durchaus stark Anteil an Olivers Gefühlen.
Sein Cousin setzte sich etwas gerader hin. „Ja, dort wo sie es verstecken sollte.“
Daniels Augen verengten sich. „Wo?“, fragte er.
„Die Revisionsöffnung in der Badewannenverkleidung“, antwortete Matthias matt. „Die Kapsel war immer noch halb voll mit dem Gift.“
Schaudernd wich Oliver zurück. Ihm wurde schwindelig und schlecht.
„Wer hat dir gesagt, wo du das Zeug findest?!“, bohrte Daniel.
Habicht starrte ihn fassungslos an.
„Wer?!“, brüllte Daniel. „Ist es Amman Aboutreika?!“
„Er gehört zum Berliner Mob!“, entgegnete Matthias nicht weniger laut. Erneut wich alle Kraft aus ihm. „Leider lässt sich keine Verbindung zu Aboutreika nachweisen; selbst für mich nicht …“
„Was hast du mit solchen Kerlen zu schaffen?!“ Daniel ballte beide Fäuste. Er trat auf Habicht zu. Mit einer ruckartigen Bewegung zerrte er ihn aus dem Sessel hoch. „Was?!“
Habicht stemmte sich gegen den harten Griff seines Kollegen. Allerdings kam er mit seinem verletzten Arm nicht gegen Daniel an. Schließlich gab er nach.
„Ich bin seit fast drei Jahren als verdeckter Ermittler mitten unter ihnen tätig“, gab er zu. „Irgendwann, vor einer ganzen Weile schon, bin ich aufgeflogen!“ Oliver fühlte sich vollkommen gelähmt. Wovon redete Habicht?
„Aufgeflogen?“, fragte er leise. Allerdings hörten beide Männer nicht zu.
„Seit wann arbeitest du für den Mob?!“, schrie Daniel Matthias an. „Seit wann verrätst du Bernd?!“
Der riesige Beamte erschlaffte in Daniels Griff.
Gequält stöhnte er auf. „Seit fast fünf Jahren.“
Angewidert stieß Daniel ihn von sich.
Langsam begriff Oliver. Matthias’ Tarnidentität musste bekannt geworden sein. Die Konsequenz daraus wäre sicher normalerweise der Tod gewesen; zumindest in einem Film wurde so verfahren. Aber das war kein Hollywoodstreifen. Sie – wer immer sie waren – nutzten Matthias’ Position aus. Auf diesem Weg entstand ein Leck, dessen Ausmaße Oliver sich besser nicht vorstellen wollte. Habichts Position bedingt seine aktive Mittäterschaft an allen möglichen Straftaten. Oliver schluckte hart. Er war die Marionette des organisierten Verbrechens.
*
Daniel saß auf dem Wannenrand in Walters Badezimmer. Er verzog keine Miene, als Oliver ihm die Platzwunde an der Schläfe mit Jod reinigte. Sein Blick verlor sich in der Ferne. Er schien noch immer so stark angespannt zu sein. Oliver merkte, wie verhärtet sich Daniels Muskeln anfühlten, als er ihn verarztete. Anschließend wusch er das Blut von der Wange seines Freundes. Er bemerkte, dass sogar der Pulli und der Innenstoff von Daniels Jacke damit getränkt waren.
„Daniel?“, sprach er ihn an.
Der Polizist zuckte zusammen. Sein Blick änderte sich. Er fokussierte Oliver. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. „Was?“, fragte er barsch.
Oliver hob eine Braue. „Ich habe dir nichts getan!“, gab er scharf zurück.
Daniel sah zu Boden. Sein Blick irrte kurze Zeit herum, bevor er Oliver wieder streifte. Offensichtlich war Daniel böse auf ihn. „Bist du sauer wegen Habicht?“, fragte Oliver leise. Er versuchte den Blick seines Freundes einzufangen, bis es ihm gelang. Alle Wut wich aus Daniel. Niedergeschlagen nickte er. „Wie kannst du einem solchen Mann auch nur eine Sekunde lang trauen?“, fragte er.
Oliver wollte antworten, doch Daniel hob seine Hand. „Er hat Bernd und seine ganze Abteilung verraten, wollte dich töten und lässt sich vom Mob bezahlen. Findest du das vertrauenswürdig?“ Sein Tonfall blieb leise, aber sehr eindringlich. „Er ist ein talentierter Lügner und Verführer. Habicht kann einer Frau in der einen Sekunde glaubhaft versichern, dass er sie liebt und sie in der nächsten von sich stoßen, wofür sie ihm noch dankbar wäre.“
Oliver biss sich auf die Unterlippe. Stand eine Frau zwischen Habicht und Daniel? Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Ein weiteres Mal wurde ihm bewusst, wie wenig er Daniel kannte. Auf unerklärliche Weise keimte Eifersucht in ihm auf. Dabei stand für ihn außer Frage, dass Daniel eine Freundin hatte. Wollte er seinen Freund ganz für sich? Die Antwort lautete: ja. Oliver begriff sich nicht mehr. Nie vorher wollte er einen anderen Menschen so vereinnahmen und von sich überzeugen wie Daniel. Er verdrängte diese Gefühle in eine entfernte Ecke. Allerdings war ihm nicht klar, wie lang diese Lösung funktionieren konnte. Dauerhaft ließen sich diese Empfindungen nicht vertreiben.
„Was war zwischen euch?“, fragte Oliver wieder besseren Wissens. Daniel seufzte. „Schwer zu erklären“, murmelte er. Es lässt sich am besten damit umschreiben, dass wir uns von Anfang an nicht mochten.“
„Das ist sehr schwammig“, erklärte Oliver- „Wir sind Freunde. Du kannst es mir – insofern es deine Tarnung nicht gefährdet, ruhig erzählen.“
Daniel lachte hilflos auf.
„Hattet ihr etwas mit der gleichen Frau?“, fragte Oliver forsch. Daniels Mimik änderte sich. Verdutzt betrachtete er Oliver. Er schien kurz zu überlegen. Plötzlich grinste er. Etwas von seiner unvoreingenommenen, frechen Art kehrte zurück. Seine Augen schimmerten fröhlich. „Wegen meines Vergleiches?“, hakte er nach. Oliver fühlte sich unwohl. Er überlegte sich, was an dieser Annahme so abwegig war, kam aber auf keine Lösung. Hilflos zuckte er mit den Schultern, bevor er nickte.
Daniel schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, daran lag es nicht. Nur war er derjenige, der damals anzweifelte, dass ich für die höhere Beamtenlaufbahn brauchbar wäre. Das war zu Beginn meiner Karriere und am Anfang meines Studiums.“
Insgeheim atmete Oliver auf. „Was konnte er gegen dich vor bringen?“, fragte er, während er sich neben Daniel auf den Wannenrand setzte. „Warst du damals noch ein Punk?“
Daniel nickte. Schließlich ging er näher auf die Frage ein.
„Verdammt viel“, entgegnete Er. Daniel rieb sich über die Augen. „Habicht hat einen kleinen Teil meiner Ausbildung übernommen. Er konnte mich vom ersten Moment an nicht ausstehen. Für ihn war ich nichts wert, weil ich Jahre zuvor von zu Hause ausgerissen war und tatsächlich eine Weile auf der Straße gelebt hatte“, erklärte er. „Deswegen musste ich die Schule wiederholen. Meine Familie war für ihn auch unter aller Sau, weil mein Vater sich irgendwann verpisst hat und wieder heiratete, während meine Mutter sich zu Tode gesoffen hat. Die Grundlagen passten ihm schon nicht. Bernd hat mich immer unterstützt. Er war der Mann, der mich davon überzeugt hat, dass Bullen nicht alle Penner sind. Er konnte mir Perspektiven zeigen, die nichts mit den Aktionen der uniformierten Beamten, mit denen ich mehrfach aneinander geraten bin, gemein hatten.“ Daniel verzog die Lippen. „Bernd ist schon lange Jahre mein Freund. Der Kerl hat mir geholfen, als es darum ging, einen meiner toten Freunde zu entlasten. Er hat mir gezeigt, dass ich mit der Arbeit für die Kripo etwas ausrichten kann.“
Oliver hob die Brauen. „Das hat Matthias gestunken, wie?“
Daniel nickte. „Massiv. Der war nur am Sticheln. Er grub jede Verfehlung seit meiner Kindheit aus“, erklärte er. Plötzlich wusste sogar jeder, dass ich beim Bund ständig Ärger hatte und eigentlich Zivi machen wollte, eine politisch stark links orientierte Einstellung vertrat und …“ Er unterbrach sich. Sein Blick hielt Olivers beinah ängstlich fest. „dass ich schwul bin“, fügte er leiser hinzu. Oliver sah ihn einige Sekunden an. Hinter seiner Stirn tobte wieder das gleiche Gefühlschaos, was ihn bereits überrollte, als er mitbekam, wie Daniel von Matthias niedergeschlagen wurde. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es störte ihn nicht; ganz im Gegenteil begrüßte er es sogar. Vielleicht lag darin die Erklärung zu seiner vertrauten Beziehung zu Daniel.
„Schwul?“ Er lächelte. „Das ist verrückt.“
Daniel versteinerte. Verletzt beobachtete er Oliver, der beide Hände hob. „Ich bin nicht homophob“, entgegnete er ernst. „Bisher war ich …“
„Seid ihr immer noch da drin?!“, fauchte Frau Meinhard. Sie hämmerte mit ihrer schweren Hand gegen das Türblatt.
Oliver fuhr zusammen. Enttäuschung und Wut erwachten wieder in ihm.
„Wir sind gleich da!“, rief Daniel. Er lächelte wieder. Offenbar verstand er Olivers unausgesprochene Worte. Langsam erhob er sich. Freundschaftlich vergrub er seine Hand in Olivers Haar. „Komm mein Kleiner.“
*
Oliver saß auf seinem Bett. Ihn ließ die Vorstellung nicht los, dass irgendwo die Freundin seines Cousins gefangen gehalten wurde. Er fragte sich, ob Natalies Leben tatsächlich am seidenen Faden hing, oder ob die Aussage Matthias’ letzter Ausweg sein sollte. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, dass sein Cousin ein so begabter Schauspieler war. Obwohl er sich nun wohler fühlte, fern von Habicht, in seinem sicheren Versteck, konnte er nicht leugnen, dass ihn die Worte berührten. Von Weißhaupt wusste er, dass Matthias eisern schwieg. Er sagte kein Wort von dem, was vorgefallen war. Ebenso wenig erwähnte er Natalies Aufenthaltsort. Die Erwähnung seines Großvaters Walter Markgraf ließ er gar nicht zu. Sobald ihn jemand auf den alten Mann ansprach wurde er aggressiv, oder verfiel in verbissenes Schweigen. Oliver zermarterte sich den Kopf über alle möglichen Gründe von Matthias’ vehementer Sturheit und überlegte sich diverse Zusammenhänge zwischen den beteiligten Personen der Familien Markgraf und Habicht. Oliver ging nicht davon aus, dass Matthias seinen Großvater sonderlich oft gesehen hatte. Ebenso wenig nahm er an, dass die beiden Männer zuvor viel Kontakt zueinander gepflegt haben konnten, zumal Habicht davon ausgehen musste, es mit einem Giftmörder zu tun zu haben. Die Verbindung - oder sollte er eher Symbiose sagen- die zwischen Walter und Habicht existierte, verstand er nicht. Möglicherweise lag das Geheimnis wirklich in der Vergangenheit. Die wahrscheinlichste Lösung für Oliver war, dass sich sein Cousin und seine Mutter in Berlin kennen gelernt hatten. Möglicherweise bedienten sie denselben Mann im organisierten Verbrechen. Allerdings konnte Oliver seinen Cousin dazu nicht befragen, da Matthias vorerst in Untersuchungshaft saß. Laut Roth liefen die internen Untersuchungen gegen ihn bereits auf Hochtouren.
Was Oliver allerdings berührte, war der Zustand seines Großvaters. Frau Meinhard erzählte, dass der alte Mann einen Nervenzusammenbruch erlitten habe. Während einer Befragung im Beisein von Psychologen und Ärzten, schien sein Kreislauf kollabiert zu sein. Zu näheren Angaben ließ sich die Kommissarin nicht hinreißen. Oliver fühlte sich schuldig. Er ahnte, dass sein besuch dazu geführt hatte. Mit jeder Minute, die Walter in der Klinik verbrachte, wurde es unwahrscheinlicher, dass er je wieder in seine Wohnung zurückkehren würde. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Befürchtungen betreffs eines Heims zunahmen, erwachte in Oliver ein erstickender Selbsthass.
Mehr als seine Familie hatte er Unheil über seine Familie gebracht. Das eigentliche Ausmaß konnte er noch nicht überblicken. Zusätzlich spürte er, dass in der Situation nichts entschieden war. Die Vorstellung, dass er nun auch die Familie Natalies mit seiner verbissenen Suche nach der Wahrheit unglücklich machte, brannte in seiner Seele.
Er schrak zusammen, als Daniel zusammen mit Christian und Michael eintrat. Freudlos hob er den Kopf. Seinen Brüdern schien es vollkommen egal zu sein, was passierte. Wahrscheinlich wussten sie nichts von den aktuellen Geschehnissen. Christian stürmte zu seinem großen Bruder. Mit einem Satz sprang er auf das Bett. Die Federkernmatratze wippte nach. Oliver warf Chris einen ärgerlichen Blick zu, den sein Bruder geflissentlich ignorierte. Wortlos vergrub sich der wilde Junge in seinen Armen. Oliver glaubte fast, dass Chris in seinen Körper kriechen wollte. Die Sicherheit über die Liebe seiner Brüder berührte etwas in ihm. Eine Woge tiefer Zuneigung ergriff ihn. Aus dem Impuls heraus umklammerte er Chris. In ihm rangen Verzweiflung und Zärtlichkeit um die Vorherrschaft. Stumm vergrub er sein Gesicht in den hellen Haaren seines Bruders. Michael krabbelte zu Oliver. Er schlang seine schmalen Arme um seinen großen Bruder und verbarg sein Gesicht an Olivers Hals. Sein heißer Atem ging stoßweise. Offenbar waren sie gerannt. Behutsam zog Oliver Michael an sich.
Für einen Moment kämpfte er mit den Tränen. Als sich schließlich auch Daniel zu ihm setzte, beruhigte Olivers sich wieder. Die Nähe seines Freundes tat gut.
„Daniel hat uns von Opa erzählt“, sagte Chris plötzlich und befreite sich aus Olivers griff. Er verzog die Lippen, während er sich mit beiden Händen seine durcheinander geratenen Haare zurecht strich. „Du hast alles durcheinander gebracht!“, knurrte er beleidigt. Fragend hob Oliver eine Braue. Michael rutschte näher an seinen großen Bruder heran.
„Kommt Opa wieder zurück?“, fragte er.
Oliver tauschte einen Blick mit Daniel, der ihn sehr ernst betrachtete.
„Ich glaube es nicht“, gab er niedergeschlagen zu.
„Dann werden wir aber getrennt!“, rief Michael viel zu laut aus. Seine Augen verengten sich. Er verzog gequält das Gesicht. „Ich will nicht!“ Tränen rannen über sein hübsches Jungengesicht. Oliver drückte ihn impulsiv. Sein Herz zog sich zusammen. Plötzlich wog es Tonnen in seiner Brust. Seine starke Fassade bröckelte. In Olivers Augen brannten Tränen. Er spürte, wie seine Nebenhöhlen anschwollen und er kaum noch Luft bekam. ‚Ich bin der Grund’, dachte er verzweifelt. „Micha“, flüsterte er erstickt. „Ich lasse nichts unversucht, bei euch zu bleiben!“
Daniel erhob sich. Er trat auf den Balkon und lehnte sich über die Brüstung nach vorne. Aus unerfindlichem Grund fühlte Oliver sich allein gelassen. Vielleicht reagierte er über. Seine Gefühle gerieten mit jedem Tag mehr durcheinander. Er spürte, dass seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Seine Stimmung kippte immer öfter. Schuldgefühle lauerten in jedem Winkel, immer bereit, ihn anzugreifen. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Oliver musste etwas tun. Egal wie alles ausging, er musste versuchen, all denen Rechnung zu tragen, deren bisheriges Leben er auf den Kopf gestellt hatte.
Zumindest wollte er versuchen, all das wieder gut zu machen, was er angerichtet hatte. Egal wie unmöglich es ihm jetzt erschien …
„Ich bin schuld an allem, was gerade passiert“, sagte er leise.
Michael fuhr zusammen, während Chris ihn verständnislos ansah.
„Unfug!“, knurrte Daniel ungehalten. Seine Stimme schwankte leicht. Er sah sich nicht um.
„Ich hätte nicht an der Oberfläche kratzen dürfen“, entgegnete Oliver leise.
„Wenn du diesen Morast aus Lügen und Hass nicht aufgedeckt hättest, wären es Meinhard oder Roth gewesen!“ Daniel richtete sich auf. Langsam drehte er sich um und lehnte sich in den Rahmen der Balkontür. Sein Blick schien sich leicht zu verschleiern. Trauer lag in seinen kantigen Zügen.
Oliver schwieg betroffen. Sah Daniel denn nicht, was er ausgelöst hatte?
„Ich will nicht, dass du dir die Schuld gibst“, sagte der Beamte ernst. Er hielt seine Hände hoch und tippte sich nacheinander an die einzelnen Fingerspitzen: „Erstens: du hast keinen Mörder gedeckt. Zweitens: du hast niemand anderen getötet. Drittens: du wolltest nur die Wahrheit erfahren. Woher konntest du also wissen, dass du das alles zu Tage förderst?“ Er nahm sich eine Zigarette, zündete sie aber nicht an. Wortlos beobachtete Oliver ihn. Er war sich nicht sicher, ob Daniel alles nur schön redete. Trotzdem tat es gut, dass sein Freund zu ihm hielt.
„Ich will nicht, dass du irgendwen aus falschen Schuldgefühlen beschützt, Olli. Habicht ist es nicht wert, ebenso wenig haben es dein Vater, deine Mutter oder dein Großvater verdient.“ Er zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche. Michael schniefte leise, sah Daniel aber mit großen Augen an.
„Mama war nicht böse!“, schrie Chris wütend. Er sprang vom Bett und ballte die Fäuste. Oliver wollte auch protestieren, konnte aber nicht. Er wusste, dass Daniel recht hatte.
„Ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr dein Freund bin, Chris“, sagte Daniel an den Jungen gewendet. „Du kannst es aber nicht ignorieren.“
Chris knirschte mit den Zähnen. Die impulsive Ader Christians brachte früher oder später auch hier die Luft zum Brennen.
„Lügner!“, schrie der Junge. Gleichzeitig stieß er sich von der federnden Matratze ab. Mit erhobenen Fäusten stürzte er sich auf Daniel. Offenbar rechnete der Polizist mit nichts anderem. Er fing Chris mit Leichtigkeit ab. Trotzdem ließ er ihn toben. Etliche Male trafen ihn Schläge den Magen und zwischen die Beine. Christian trat ihn gegen das Schienbein und kratzte.
„Chris!“, donnerte Oliver. „Es reicht!“
Sein Bruder hörte nicht. Daniel nahm jeden Hieb hin. Er wagte es nicht einmal mehr Chris festzuhalten. Oliver ließ Michael los. Mit einem Satz sprang er vom Bett. Es war gar nicht leicht, sich vor den fliegenden Fäusten der kleinen Furie in Acht zu nehmen. Schließlich packte Oliver seinen Bruder in der Taille und zog ihn zurück. Vorsichtshalber nahm er ihn fest in die Arme und drückte ihn.
Chris wehrte sich. Er schrie wild seinen Schmerz heraus. Oliver spürte die Ellenbogenstöße schmerzhaft, gab aber nicht auf. Er begann Bauch und Brust Christians zu Streicheln. Zärtlich legte er seine Hand über das rasende Kinderherz. Wie gut er doch die Gefühle seines Bruders verstand …
Über Chris’ Wangen rannen Tränen. Trotzdem stemmte er sich gegen Olivers Umarmung. ‚Der Kleine muss doch wissen, dass er gegen mich keine Chance hat!’, dachte Oliver. Er blieb bei seiner Taktik. Das heiße Temperament Christians ließ sich nicht anders kühlen. Manchmal sagte er nur sehr leise „Au“. Nach einer kleinen Ewigkeit erlahmten die Bewegungen seines Bruders. Er schluchzte herzzerreißend.
Tränen und Speichel troffen auf Olivers Hand. Behutsam drehte er seinen kleinen Bruder zu sich um. Chris umklammerte ihn rasch, wobei er sein nasses Gesicht in Olivers Hemd rieb. Seiner Verzweiflung war kein Einhalt mehr zu gebieten. Er versuchte zu sprechen, aber es kamen nur unartikulierte Laute aus seinem Mund.
„Halt’ dich fest“, flüsterte Oliver. „Ich bin ja da, mein Kleiner. Sanft strich er durch das kurze, blonde Haar. Michaels Hand berührte Olivers Taille. Er drängte sich an seinen großen Bruder. Oliver spürte, wie Michael ihn mit beiden Armen umklammerte. Seltsamerweise war er sicher, dass es eine Geste des Trostes war, nicht Ausdruck von Michaels Angst oder Hilflosigkeit. Der Jüngste der Drei versuchte so erwachsen und gefasst mit der Situation umzugehen, wie es ihm möglich war. Oliver fühlte, wie seine Zuneigung zu den beiden Jungen sein Herz zu zerreißen begann.
„Ich liebe euch so sehr“, flüsterte er.
Lukas klopfte von außen gegen die Tür. „Ist bei euch alles okay?“, fragte er.
„Ja!“, rief Daniel. „Mach dir keine Sorgen.“
Oliver sah dankbar zu seinem Freund. Reglos lauschte er.
„Ich rufe euch, wenn es Abendessen gibt“, sagte der Beamte.
Chris schluchzen verschluckte beinah die Schritte des Polizisten. Glücklicherweise hielt Lukas offensichtlich wenig von ungesundem Misstrauen. Wahrscheinlich dachte er sich, dass es sich um die üblichen Kinderstreitigkeiten ging, oder einer der Zwillinge unter der Situation zusammen brach. In jedem Fall war Lukas Vater genug, um zu wissen, dass Kinder in solchen Situationen eher ihre direkte Bezugsperson ansprachen: Oliver.
Daniel rauchte seine Zigarette an. Offenbar schmeckte sie ihm nicht. Er drückte sie an der Hauswand aus und warf sie fort. Leise kam er herein. Oliver sah ihm in die Augen. Daniel begegnete seinem Blick sehr offen. Behutsam strich er über Olivers Schulter. Die Berührung war fest und gab Oliver etwas von seiner Kraft wieder. Für einige Sekunden blieb Daniel neben ihm stehen. Oliver spürte seinen intensiven Blick, der ihm unter die Haut ging. Langsam löste Daniel sich. „Ich muss telefonieren.“
*
Michael und Chris lagen in Olivers Bett. Sie schliefen beide sehr unruhig. Oliver saß auf dem Boden. Er spielte mit dem Zigarettenpäckchen, während er seinen Gedanken nachhing. Da sein Verstand ohnehin keine Zeit hatte, sich mit der Situation detailliert auseinander zu setzen, beschloss er, diesen Fall so lang weiter zu verfolgen, bis eine Lösung in Sicht, oder seine emotionale Kapazität ausgereizt war. Er musste die Hinweise, die er hatte, endlich für sich nutzen. Letztlich kannte er den Hauptschuldigen. Ebenso nahm er sich vor, Matthias Freundin zu finden, auch wenn ihm schleierhaft war, auf welchem Weg. Insgeheim belastete ihn die Schuld an dem Zustand Walters am meisten. Oliver würde für das büßen, was er seinem Großvater angetan hatte. Die Lösung war sehr einfach. Er musste nur seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück stellen. Selbst wenn sein Großvater nie wieder in sein Haus und seinen Laden zurückkehrte, würde alles in Familienbesitz bleiben. Das Gebäude war Erbe der drei Brüder. Warum sollte er nicht den Laden übernehmen, der die ganze Liebe und Aufmerksamkeit seines Großvaters über Jahrzehnte in Anspruch genommen hatte?
Der Gedanke belastete ihn. Sein Traum war es, Literatur zu studieren und vielleicht selbst eines Tages zu schreiben. Dieser Wunsch wurde nun zu einer Eisenklammer um seinen Hals. Oliver fühlte sich schäbig. Schließlich musste er nach der Schulzeit einfach nur eine Buchhändlerlehre annehmen, anstatt zu studieren. Er sah aber keinen anderen Ausweg, vor allem, wenn er so schnell als möglich selbstständig sein wollte, um sich ganz um die Zwillinge zu kümmern. Etwas in ihm revoltierte mit Wut und Schmerz gegen diesen Entschluss. Eine gehässige Stimme flüsterte: ‚Tu es! Schließlich bist du es gewohnt, alles hinzunehmen und für die anderen den Kopf hinzuhalten.’ Für einen winzigen Moment wollte er diesem boshaften Impuls nachgeben. Einmal an sich denken, ungeachtet dessen, was Chris, Michael oder die ganze Welt von ihm verlangte …
Er musste nicht einmal diesem Gedanken entgegen steuern. Die Verzweiflung und Angst seiner Brüder nahmen dieser aufkeimenden Wut alle Grundlage. Er drehte sich zu den Jungen um. Michael weinte im Schlaf. Für seine elf Jahre war er stark. Chris rollte sich in dem großen Bett unruhig herum. Er knirschte mit den Zähnen. Behutsam legte Oliver seine Hand über Chris’ Herz. Es raste im Takt eines überdrehenden Motors.
Offensichtlich half Olivers Nähe aber. Sein kleiner Bruder beruhigte sich ein bisschen. Eine Woge von Liebe ergriff Oliver. Er neigte sich über beide und küsste ihre Wangen. Sie rollten sich einander zu. Ihre Atmung beruhigte sich. Oliver begriff, dass sie ohne ihn nicht leben konnten. Nicht, so lang sie noch immer Kinder waren.
Diese Erkenntnis bekräftigte ihn in seinem Entschluss.
*
Eine Hand strich über Olivers Wange. Er kannte die rauen Finger. Die Haut roch nach Zigaretten und Daniel. Er hob die Lider. Oliver erkannte Daniels Silhouette gegen das schwache Licht der Stadt. Er kniete neben dem Bett. Vermutlich war es noch mitten in der Nacht.
„Was ist?“, fragte Oliver müde. Er rieb sich mit einer Hand über die Augen.
„Habicht hat alles gestanden.“
Behutsam zog Oliver seinen Arm unter den Köpfen der Zwillinge hervor. Keiner der Jungen erwachte. Er setzte sich auf. Im Moment fühlte er sich hellwach.
„Was hat er alles erzählt?“, fragte er leise.
Daniel gab ihm einen Wink aufzustehen. „Willst du die Jungs wecken?“
*
Oliver lehnte in der Küche an einem Heizkörper. Entgegen dem Einrichtungsstil der anderen Räume fehlte diesem der Prunk des neunzehnten Jahrhunderts. Die kühle, moderne Funktionalität erinnerte Oliver unangenehm an sein eigenes zu Hause. Er fror. Trotz Daniels gestreifter Jacke klapperten seine Zähne aufeinander. Vermutlich lagen die Temperaturen im einstelligen Bereich. Seine nackten Füße auf den Steinfliesen zogen zusätzlich alle Wärme aus ihm heraus. Daniel schaltete die Kaffeemaschine aus. Rasch füllte er zwei Tassen und schob die Metallkanne wieder auf die Heizplatte. Seit sie Olivers Zimmer verlassen hatten, schwieg der Beamte. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Möglicherweise legte er sich seine Worte zurecht. Spannung lag in der Luft.
„Nun erzähl schon“, drängte Oliver. Daniel reichte ihm wortlos eine Tasse. Die Wärme tat gut, andererseits mochte Oliver seinen Kaffee lieber hell.
„Hast du Milch?“, fragte er.
Daniel nahm eine Packung aus dem Kühlschrank und reichte sie ihm.
„Was ist los?“, fragte Oliver besorgt. „Du bist irgendwie völlig verstört.“
Daniel atmete tief durch. Er ließ sich in einen der modernen Küchenstühle fallen. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das Haar. Sein Kopf sank langsam nach hinten.
Geduldig setzte sich Oliver ihm gegenüber hin. Er gab Daniel die Zeit, die er brauchte. Während er sich Milch in den Kaffee goss, stöhnte Daniel gequält auf.
Unvermittelt begann er zu erzählen. „Seine Tarnidentität ist damals offenbar in die höheren Kreise der Maffia getragen worden. Sie hatten ihn also vollkommen in der Hand. Er wurde zum Hauptinformant gegen seine eigene Dienststelle. Keine Neuerungen in den Strukturen, kein Wechsel der Beamten, kein neuer V-Mann entging den Personen, die ihn erpressten.“
„Dann hat er es aber nie absichtlich getan“, warf Oliver ein. Er nahm einen Schluck. Die Hitze verbrannte Mund und Hals. Trotz des Schmerzes empfand er es als angenehm. Die Kälte wich aus seinen Gliedern.
„Am Anfang sicher nicht“, erklärte Daniel. „Das will ich ihm auch nicht unterstellen.“ Er massierte sich die Schläfen. „Nur hat er die Vorteile seines Status genutzt. Die Männer, mit denen er Kontakt hatte, waren nicht die zentralen Figuren der Organisation, wohl aber Anwälte und Finanziers, denen fast nicht bei zu kommen ist. Einige genannten Namen waren uns bereits von Rundschreiben bekannt. Er hat sich allerdings nicht dazu geäußert, in welchem Grad sie involviert waren. Es sind alles ehrbare Bürger mit Familie, Haus, Hund und biederer Scheinidentität. Lediglich ihre Mitwisserschaft in seinen Aufträgen können wir ihnen beweisen …“ Er zögerte kurz. „Und wir wissen nun auch, dass das Verschwinden verschiedener Mittelmänner und verdeckter Ermittler durch seine Informationsweitergabe begünstigt wurde.“
Oliver schauderte. „Sind die Männer tot?“, fragte er vorsichtig. Daniel hob die Schultern und nickte. „Tot oder untergetaucht.“
„Was ist mit seinen Kontaktleuten?“, fragte Oliver interessiert. „Könnt ihr etwas gegen sie tun?“
Daniel hob die Schultern. „Ich kann nur vermuten, dass ihnen wenig passiert. Sie werden weiter in den Fokus folgender Ermittlungen rücken, aber bis auf die Tatsache, dass sie Habicht und seine Kleine aus dem Weg schaffen lassen – natürlich ohne sich die Finger schmutzig zu machen – wird gar nichts passieren.“
Oliver stöhnte auf. „Ist diesen Menschen denn gar nicht beizukommen?“
Daniel wiegte den Kopf. „Das ist wie ein Kampf gegen eine Hydra“, zog er den Vergleich. „Schlägst du ihr ein Haupt ab, wächst sofort ein neues nach.“
„Wenn Matthias als Zeuge auftritt?“, fragte Oliver.
Daniel sah ihn nur still an.
„Er hat Angst“, schloss Oliver resigniert.
„Hättest du keine, besonders wenn dein Mädel in deren Händen ist?“
Betroffen nickte Oliver. „Logisch.“
Daniel trank einen Schluck Kaffee und fluchte leise.
Offenbar hatte auch er sich die Zunge verbrannt.
„Scheiße!“
Oliver schob ihm die Milch zu.
„Danke.“ Daniel füllte seinen Becher bis zum Rand auf.
„Was hat er noch erzählt?“, fragte Oliver.
„Habicht hat keine Namen genannt“, begann er vorsichtig. „Trotzdem steht außer Frage, um welchen Personenkreis es geht …“
„Wirst du auch deutlicher?!“, drängte Oliver. Aus irgendeinem Grund ergriff ihn unheimliche Nervosität.
Daniel trank einen Schluck, stellte die Tasse aber nicht mehr ab, sondern hielt sie nachdenklich vor seinen Lippen.
„Deine Mutter war das Werkzeug für die vollständige Auslöschung deiner Familie.“
Oliver zuckte zusammen. Der Kaffee schwappte über den Tassenrand und verteilte sich auf der Tischplatte.
Er spürte, wie ihm wieder kalt wurde. „Bitte?“, hauchte er.
Daniel nickte. „Dein Vater wollte scheinbar aussteigen. Den Grund dafür kenne ich nicht. Das musste verhindert werden.“
„Sie … sie haben also nur die Situation zwischen Tom und Silke ausgenutzt?“, fragte Oliver unsicher.
Daniel nickte. „Und forciert“, ergänzte er. Dieses Mal stöhnte Oliver auf. Er fühlte sich schwindelig. „Wäre das alles nie passiert, wenn sich die beiden gleichzeitig aus ihren Zwängen hätten?“, fragte er tonlos.
„Ich denke, dass sich deine Eltern hätten scheiden lassen, oder dein Vater sogar deine Mutter auf die eine oder andere Art zurück gewonnen hätte.“
Oliver erhob sich mit zitternden Knien. Ihm wurde schwindelig. Das alles war ein Alptraum. Er fühlte sich erstarrt.
„Aber was hat das alles mit Walter und seiner Mutter zu tun?“, fragte Oliver dumpf.
„Vielleicht nichts“, entgegnete Daniel. Auch er erhob sich. „Trotzdem denke ich, dass es da eine Querverbindung gibt.“
Oliver schloss die Augen und atmete mehrfach tief durch. Er spürte Daniels Wärme, als er ihn umarmte.
„Ja, das Gift“, flüsterte Oliver. „Wer hat es angemischt und meiner Mutter gegeben?“
Behutsam legte Daniel seine Hand in Olivers Nacken. Er schwieg.
„Vermutlich war sie es selbst“, hauchte Oliver.
Obwohl Daniel die restliche Nacht bei Oliver blieb, fand dieser keine Ruhe. Die Worte Daniels ließen ihn nicht los. Allein der Gedanke, dass seine Eltern ihr Schicksal selbst gewählt hatten, ließ ihn schaudern. Er brauchte Stunden, um sich darüber klar zu werden, dass sie in ihren Ermittlungen ohne die Hilfe seines Vaters nicht mehr weiter kommen würden. Er musste sich überwinden, Tom Hoffmann noch einmal in die Augen zu sehen. Allein der Gedanke an eine Begegnung machte ihm Angst. In seinem Schädel baute sich Druck auf, der sehr schnell zu einem massiven Dröhnen anstieg. Schließlich setzte er sich auf.
„Daniel?“, wisperte er. Der Beamte saß neben ihm in dem hohen Lehnsessel. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken. Er schlief. Oliver ergriff seine Hand und legte sich wieder hin. Die langen, warmen Finger, die nach Tabak rochen, beruhigten ihn. Es tat gut, sich in seiner Gegenwart aufzuhalten. Oliver schloss die Augen. Bei Daniel konnte er einfach ein normaler Teenager sein, der manchmal nicht stark war.
*
Offenbar schien er doch eingeschlafen zu sein. Daniels Finger strichen durch Olivers Haar. Er schrak hoch. Ihre Hände waren noch immer ineinander verschränkt.
„Olli“, flüsterte Daniel. „Wie geht es dir?“
„Schrecklich“, gestand er.
Daniel sah ihn besorgt an. „Verstehe ich.“
Für einen Moment wollte Oliver einfach nur liegen bleiben und seinen Freund ansehen. Doch das ging nicht. Er hatte sich entschieden, mit seinem Vater zu sprechen. Langsam richtete er sich ein Stück weit auf. „Daniel?“, fragte er, um die volle Aufmerksamkeit seines Freundes zu erhalten.
„Hm?“
Trotz des gefassten Entschlusses zögerte Oliver für einen Moment. Es war gar nicht leicht, seine eigenen Ängste zu überwinden, stellte Oliver fest. Mühsam kämpfte er die Nervosität und das Brennen im Magen herab.
„Auf welchem Weg kann ich mit meinem Vater reden?“, flüsterte er unsicher. Tatsächlich fühlte Oliver sich nicht stärker als er klang.
Überrascht hob Daniel die Brauen.
„Er hat sicher Antworten auf alle Fragen und Ungereimtheiten“, erklärte Oliver. „Sicher hat er das ganze Spiel irgendwann durchschaut. Vielleicht weiß er sogar etwas über diese Natalie …“
Daniel legte ihm einen Finger über die Lippen.
„Das sind Vermutungen.“
Oliver sah ihn stumm an.
„Du kannst nicht davon ausgehen, dass er freiwillig Fragen beantwortet. Davon abgesehen hat er einen sehr geschickten Rechtsverdreher, der sofort in jeder Formulierung eine Falle für seinen Mandanten sieht …“ Daniel brach ab. Vielleicht lag es an der Art, wie Oliver ihn ansah, oder in der Tatsache, dass auch er nach jedem Strohhalm griff, der sich ihnen bot. Schließlich seufzte Daniel theatralisch. „In Ordnung. Ich frage nach einem Besuchstermin in der JVA.“
*
Oliver saß zwischen Frau Meinhard und Daniel. Das Gefühl ein Kind zu sein, ging ihm dieses Mal gehörig gegen den Strich. Sein Haar war streng zurück genommen. Er trug ein elegantes Jackett, dessen Ärmel bereits zu kurz waren und was in den Schultern spannte. Auch das weiße Hemd saß nicht richtig. Der Kragen rieb seinen Hals auf. Schließlich öffnete er die obersten Knöpfe. Auf die Schnelle mussten noch passende Hosen besorgt werden, weil Oliver schlicht aus den Anzugshosen herausgewachsen war. Lukas organisiert von Gott-weiß-woher dunkle Jeans, die lang genug waren. Einerseits empfand Oliver dem freundlichen Beamten gegenüber Dankbarkeit, andererseits fühlte er sich verkleidet. Gezwungenermaßen passte er sich an.
In der eleganten Wilhelmstraßen-Kanzlei fiel lediglich Daniel in seinen abgerissenen Kleidern unangenehm auf. An Orten wie diesem, inmitten des Kurviertels, stand außer Frage, dass nur Menschen in Gucci und Armani Beachtung fanden. Leider kamen sie als Bittsteller. Offenbar gab es keine andere Methode, an ein Gespräch mit Tom, zu gelangen, außer den Umweg über seinen Anwalt zu nehmen.
Selbst einer hochrangigen Kriminalbeamtin wie Frau Meinhard wurde hier kein Vorzugsrecht gewährt. Das ließ Rüttgers sie spüren. Seit rund zwanzig Minuten warteten sie auf den Anwalt. Lediglich die Sekretärin kümmerte sich um Frau Meinhard, Daniel und Oliver. Routiniert bereitete sie Kaffee zu und reichte Gebäck, was niemand anrührte.
Oliver nutzte die Zeit sich umzusehen. In den hohen Altbauräumen dominierten Stuck, Marmor, Granit, sowie moderner Komfort aus Glas und Aluminium. Obwohl sich die Stile aneinander störten, gerannen sie zu einer exklusiven Mischung aus Gegensätzen. Goldgelbe Decken-Downlights tauchten die Tischplatte im Besprechungsraum in weiches Licht. Olivers Blick strich über die Rückwand, an der ein riesiges, abstraktes Gemälde dominierte. Er hegte keinen Zweifel an der Echtheit und Originalität der aufgespannten Leinwand. Trotzdem machte es das Bild nicht schöner. In seinen Augen war es nichts weiter als die Farbklecksorgie eines Gotcha-Verrückten. Ihm gefielen die exklusiven Schwarzweiß-Fotos im Flur sehr viel besser. Sie stellten Lebenssituationen verschiedenster Menschen in diversen Großstädten dieser Welt dar. Laut dem Passepartout stammten die Aufnahmen von dem Anwalt selbst.
„Dr. Rüttgers wird sich leider gering verspäten“, merkte die Sekretärin an.
„Gering?!“, fauchte Frau Meinhard. Ungehalten sah sie auf ihre Armbanduhr. Die Sekretärin sah sie ernst an. „Es tut mir wirklich sehr Leid“, entschuldigte sie sich in ruhigem Ton. Sie ließ sich zwar nicht aus dem Konzept bringen, offensichtlich war es ihr trotzdem peinlich, ihren Vorgesetzten zu entschuldigen.
Oliver überlegte kurz. Bereits beim eintreten hatte er den Anwalt seines Vaters durch einen Spalt seiner Bürotür gesehen. Was veranlasste ihn, sie so lange warten zu lassen? Unbehaglich sah er über die Schulter durch die verglaste Front des Besprechungszimmers. Die Sekretärin folgte seinem Blick. Auf dem Flur regte sich nichts. Sie drehte sich um. „Ich werde mal nach ihm sehen“, sagte sie ernst und verließ den Glaskasten.
Meinhard atmete tief durch. Sie rollte mit den Augen. „Beim besten Willen!“, knurrte sie. „Ich habe heute noch etwas Anderes zu tun, als bei diesem Anwalt Kaffee zu trinken!“
Sie rutschte nervös in dem Lederstuhl umher. Oliver sah sie eine Weile an. Die Kommissarin schien sehr nervös zu sein. Ihm war nicht recht klar, was sie so sehr aus dem Konzept brachte. Leider äußerte sie sich nicht dazu.
Unvermittelt trat der Anwalt ein. Oliver schrak zusammen.
Rüttgers’ hochgewachsene Statur erinnerte Oliver an seinen Vater. Das Licht spiegelte sich auf seinem kahlen Kopf, der nur noch von einem dünnen, roten Haarkranz eingefasst wurde. Oliver kam er immer schon wie der geborene Schulleiter vor. Streng, selbstsicher, akribisch und manchmal sehr boshaft.
Der Mittvierziger sah über den Rand seiner schmalen Designerbrille in die Runde. Auf seinen Lippen lag ein seltsames, schwer einzuordnendes Lächeln. Sein durchdringender Blick traf Irene Meinhard. Die Kommissarin erhob sich und reichte ihm die Hand. „Herr Rüttgers“, begrüßte sie ihn. In ihrer Stimme schwang deutlicher Widerwillen gegen den Mann mit. Sie kannten sich offenbar, hegten aber keinerlei Sympathien füreinander. Auch der Anwalt reagierte nicht anders. Sein Lächeln schien festzufrieren.
Daniel nickte er nur kurz zu. Scheinbar wollte er sich an einer vermeintlichen Straßenzecke die Finger nicht beschmutzen.
„Oliver, schön dich gesund zu sehen.“ Die Freundlichkeit erreichte seine Augen nicht. Der Händedruck war Oliver unangenehm. Er mochte Rüttgers nicht.
„Hallo Herr Rüttgers“, sagte er steif.
Als der Anwalt seine Finger löste, deutete er in die Runde: „Bitte nehmen Sie doch alle Platz.“
Frau Meinhard ließ sich wieder in ihren Stuhl sinken. Daniel zögerte. Nach einigen Sekunden ließ er sich wieder neben Oliver nieder, behielt aber den Anwalt genau im Blick. ‚Was hat Daniel entdeckt?’, überlegte Oliver.
Auch dem Anwalt schien diese Reaktion nicht entgangen zu sein. In seinem Blick lag eine unausgesprochene Drohung. Allerdings wusste Rüttgers, sie gut zu überspielen. Lächelnd setzte er sich. „Kann Ihnen Karin noch etwas bringen?“, fragte er freundlich.
„Nein, vielen Dank“, entgegnete die Kommissarin ungehalten.
Rüttgers ignorierte ihren Ton. Er betrachtete Oliver, der sich versteifte, als er dem scharfen Blick aus den bleigrauen Augen des Anwalts begegnete. Der nette Plauderton war ganz offensichtlich nur eine Show. Hinter der Maske lauerte etwas.
„Du willst also deinen Papa besuchen?“, fragte Rüttgers, obwohl er über ihr Anliegen bereits informiert wurde. Besonders die Bezeichnung „Papa“ widerstrebte Oliver. Auch Damals nannte er ihn immer nur Vater. So viel Vertraulichkeit wollte er gar nicht aufbauen. Trotzdem nickte er knapp.
„Da wird er sich sicher freuen“, entgegnete Rüttgers aufgesetzt.
‚Für wie alt hält mich der Kerl eigentlich?!’, dachte Oliver verärgert.
„Sie wissen genau, dass wir uns seit Jahren nicht verstehen“, entgegnete Oliver scharf. „Davon abgesehen würde ich Sie bitten, mich nicht wie ein Kind zu behandeln.“
Seine Stimme hielt ihre Lautstärke, aber er spürte, wie sie immer kälter und schneidender wurde. Ohne auf eine Reaktion von Rüttgers zu warten, sagte er: „Ich habe Fragen, die nur mein Vater beantworten kann.“
Rüttgers hob die Brauen. Er verzog kurz die Mine. „Harte Worte“, lenkte er ein. „Aber Tom bereut sehr was er getan hat.“
„Das ist für mich irrelevant“, entgegnete Oliver abfällig. Auch wenn Oliver die Reue seines Vaters interessierte, würde er es hier nicht zugeben. Rüttgers wollte Spielchen? Er sollte sie bekommen! „Ich will Antworten.“
Der Blick des Anwalts fixierte Oliver für mehrere Sekunden. Offenbar versuchte er einzuschätzen, wie er sein gegenüber am besten packen konnte.
Schließlich seufzte er. „Du bist hart geworden“, sagte er bedauernd. „Solche Phasen machen viele pubertierende Teenager durch …“ Er verstummte. Diese leidvolle Klage kam Oliver auch nur wie eine Taktik vor, um ihn in die Rolle des Kindes zurück zu drängen und Frau Meinhard sein vorgebliches Bedauern über den schwierigen Jungen zu vermitteln.
Allerdings stieg die Beamtin so wenig darauf ein wie Oliver.
„Ich gehe die Unterlagen holen“, entgegnete Rüttgers nach Sekunden steif.
Kaum hatte der Anwalt den Besprechungsraum verlassen, räusperte sich die Kommissarin. Oliver sah sie an. Fast erwartete er, dass sie wütend reagierte. Frau Meinhard hob streng die Brauen und atmete demonstrativ durch. Sie war ganz offensichtlich mit seiner Wortwahl nicht einverstanden.
„Warum sagt dieser Typ nicht seiner Sekretärin, dass sie ihm die Unterlagen bringen soll?“, fragte Daniel misstrauisch. „Rüttgers ist aufgeblasen genug, um die Kleine durch die Gegend zu schicken, sich aber nicht selbst zu bewegen.“
„Woran machen Sie das fest?“, fragte Meinhard leise.
„Ich kann es nicht genau sagen“, antwortete Daniel. „Gefühl, Menschenkenntnis?“ Er zuckte mit den Schultern.
Sie nickte knapp. „Schon richtig. Rüttgers ist ein aufgeblasener, bornierter Idiot. Ich traue ihm zu, dass er uns richtig in die Pfanne haut, oder uns in den Rücken fällt. Aber ich glaube, er ich Tom Hoffmann gegenüber loyal.“ Sie zögerte einen Moment. „Vielleicht vertraut er ihr nicht?“, schlug sie vor.
Oliver wiegte den Kopf. „Er und mein Vater hatten durchaus Streitigkeiten untereinander“, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Die Kommissarin musterte ihn einen Moment nachdenklich. „Kann es sein …“, begann Daniel.
Oliver erhob sich und sah kurz zu den beiden Beamten.
Frau Meinhard beobachtete ihn argwöhnisch, während Daniel erschrocken aufsah. „Was ist?“
Oliver ignorierte ihn. „Ich bin gleich wieder da.“
*
Nachdem Oliver den gläsernen Besprechungsraum verlassen hatte, wendete er sich Richtung der Toiletten, die vom Eingang aus in einem Seitenflur des Empfangs lagen. Karin, Rüttgers Sekretärin stand mit der älteren Empfangsdame zusammen und sprach eine Reihe Termine ab. Trotzdem entging beiden nicht, dass Oliver auftauchte. Karin spannte sich kurz, während sie von dem Monitor fort zu ihm sah.
Strenge und Schrecken lagen in ihren Augen. Sie entspannte sich erst, als Oliver die Tür der Herrentoilette öffnete.
Die beiden Frauen unterhielten sich weiter.
Oliver hörte sie durch das Türblatt hindurch. Er lehnte mit dem Rücken an dem weiß lackierten Holz und lauschte, während sich sein Blick im Nichts verlor. Er bekam nur am Rande mit, dass selbst die Waschräume verschwenderisch teuer ausgestattet wurden. Sein Hautaugenmerk galt eher dem Empfang. Er ärgerte sich, dass gerade beide Frauen draußen lauerten. Eine hätte er vielleicht unterwandern können, aber nicht zwei. Sein eigentliches Ziel war Rüttgers’ Büro. Er wusste nicht einmal, ob er den Anwalt belauschen, beobachten oder sein Büro durchsuchen wollte. In jedem Fall brauchte er eine Erklärung für das Verhalten Rüttgers’. Ungeachtet der Antipathie, die er dem Anwalt entgegenbrachte, stimmte etwas nicht. Rüttgers versuchte Oliver so gekünstelt einzuwickeln, dass er automatisch mit einer Falle rechnete.
Draußen wurde es leiser. Hohe Absätze klapperten über das Parkett. Einen Moment später klingelte das Empfangstelefon. Angestrengt lauschte Oliver. Leider konnte er anhand der knappen Antworten nicht sagen, worum es sich handelte.
Vorsichtig spähte er durch das Schlüsselloch. Der Ausschnitt des Tresens war viel zu groß, um auszumachen, in welche Richtung die Empfangsdame sah.
Vorsichtig schob Oliver die Türe einen spalt auf und spähte hinaus. Glücklicherweise bemerkte sie ihn nicht. Die ältere Dame starrte auf ihren Monitor und tippte etwas ein.
Lautlos huschte Oliver hinaus und wartete im Schatten des Seitenganges.
Wenn er Pech hatte, würde sie gleich auflegen und wieder in seine Richtung sehen. Tatsächlich beendete sie das Gespräch, stand auf und umrundete den Tresen. Glücklicherweise entging ihr Olivers Gegenwart. Mit raschen Schritten entfernte sie sich.
Einen Moment verharrte er noch in den Schatten, bevor er sich langsam nach vorne wagte. Vorsichtig spähte er den Flur hinauf und hinab. Hinter halb offenen Türen zuckten Schatten auf dem Parkett. Schuhe knarrten auf Dielen und Edelholzboden. Aber er blieb allein. So leise es ging, huschte er zu Rüttgers’ Büro. An der offenen Tür zu dem Zimmer seiner Sekretärin bemerkte er zwischen dem Anwalt und Karin eine zierliche, junge Frau mit langem, schwarzem Haar. Sie sprachen sehr leise und aufgeregt miteinander. Oliver blieb allerdings keine Zeit, zu lauschen, weil sich die Fremde gerade zu ihm umdrehte.
Rasch drehte er sich zur Seite. Oliver konnte nicht sagen, ob sie ihn nicht vielleicht doch bemerkt hatte. Wahrscheinlich blieben ihm ohnehin nur wenige Minuten.
Die Bürotür des Anwalts war nur angelehnt.
Entschlossen stieß er sich von der Wand ab und huschte in Rüttgers Büro. Leider knarrte der Boden hier unter seinen Füßen. Oliver blieb wie angewurzelt stehen. ‚Alte Dielen!’, schoss es ihm durch den Kopf. Das Geräusch konnte dem Anwalt und den beiden Frauen nicht entgangen sein! Sein Herz raste. Automatisch hielt er den Atem an und lauschte. Tatsächlich kam jemand zu der Verbindungstür. Fieberhaft suchte Oliver nach einem Versteck. Aber wenn er sich auch nur rührte, würde man ihn wieder hören!
Aus dieser Zwickmühle musste er sich nun irgendwie heraus reden …
Die Tür wurde vom Sekretariat aus ins Schloss gedrückt.
Oliver stand irritiert, mit wild klopfendem Herzen in dem Büro. Er begriff nicht, warum jemand ihn deckte.
Endlose Sekunden verstrichen, bevor er endlich wagte, sich wieder zu bewegen.
So leise es ihm möglich war, huschte er zu dem wuchtigen Schreibtisch des Anwalts. Ein paar Gesetzbücher, die Oliver Fremd waren, lagen auf der Eichenplatte. Notizzettel hingen heraus. Der Spirituosenschrank stand offen. Auf dem Regalbrett links daneben entdeckte Oliver ein halb ausgetrunkenes Glas. Der Farbe nach entsprach das Getränk Whiskey am ehesten. Oliver legte die Stirn in Falten. Wovor hatte Rüttgers Angst, dass er schon am Morgen trank?
Er wendete sich dem Schreibtisch erneut zu. Er entdeckte das versteckt stehende Notebook des Anwalts. Offenbar war es noch nicht gelockt oder im Standby Modus. Neugierig kam Oliver näher. Einige Fenster waren offen. Er erkannte in der Taskleiste das Outlook-Symbol, Acrobat PDF und eine Excelliste stand offen. Auf einen Blick erkannte Oliver, dass Zahlenkolonnen eingetragen wurden, hinter denen Daten und Uhrzeiten standen. Was Oliver mehr irritierte, war die Tatsache, dass er den Namen der Liste nicht lesen konnte. Die Schriftzeichen waren arabisch. Sein Herz machte vor Schreck einen Satz. Arbeitete Rüttgers für Aboutreika? Entsetzt wich er zurück.
Der Abstand zu dem winzigen Monitor verwirrte ihn. Ein weiteres Mal sah er sich die Zahlen an. Sie kamen ihm so bekannt vor. Er zählte sie durch und kam auf 17 Stellen. Wo hatte er sie schon einmal gesehen? Es fiel ihm nicht ein. Er rieb sich die Schläfen und versuchte das Gefühl zurück zu erlangen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte … Von einer Sekunde zur anderen wusste er es wieder: Im Büro seines Vaters standen diese Zahlenkolonnen als Randnotizen in der HOAI!
*
Oliver beeilte sich, zurück zu kommen, wobei er wieder Zeit verlor, weil er warten musste, bis die Empfangsdame ihre Aufmerksamkeit umlenkte. Die dauernde Gefahr einer Endeckung im Nacken, half ihm gar nicht, leise zu sein. Zumindest hatte er gehört, dass Rüttgers noch immer mit der Fremden im Sekretariat sprach. Ihm blieb also ein wenig Zeit.
Gehetzt kam er, eine knappe Minute später, im Besprechungszimmer an.
Meinhard warf ihm einen bösen Blick zu.
„Wo warst du?!“, fragte sie ihn leise. Ihre Stimme erinnerte an das Zischen einer Schlange. Oliver konnte sich gut vorstellen, dass sie vor Zorn kochte.
„Ich habe wichtige Infos …“, begann Oliver.
„Du warst spionieren?“, fragte Daniel verärgert.
Meinhard hob plötzlich befehlend die Hand. Daniel verstummte. Olivers Blick glitt nach draußen. Mit einem dicken Stoß Papier und einer Unterschriftenmappe kehrte Rüttgers aus seinem Zimmer zurück. Er klemmte sich die Unterlagen unter den Arm und griff im gehen nach seinem Handy. Allerdings telefonierte er nicht. Scheinbar war es nur eine SMS, oder er drückte das Gespräch fort.
Frau Meinhard tauschte einen raschen Blick mit Daniel. Was immer die beiden Beamten wussten, sie ließen Oliver – vorerst – im Dunkel.
„Hier mein Junge.“ Rüttgers schien sich vollständig gefangen zu haben. Seine künstliche Freundlichkeit erreichte sogar einen neuen Höhepunkt, als er die Unterlagen vor Frau Meinhard und Daniel ausbreitete. Er lachte. „Ja, nun gibt es wohl einiges für die Polizei zu unterzeichnen.“
Die Kommissarin gab ein dumpfes Geräusch von sich, was ihren Ärger ausdrückte, während Daniel sich sofort an die Prüfung der Besuchspapiere für Weiterstadt machte.
Rüttgers legte Oliver einen dünneren Stoß Papiere vor. „Das musst Du ausfüllen“, sagte er bestimmt. Souverän zog er einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche und reichte ihn Oliver weiter.
Er nahm ihn entgegen. Das Metall wog ungewohnt schwer in seiner Hand. Sein Vater besaß solche Stifte. Sie waren teuer. Oliver und seine Geschwister dürften sie damals nie anrühren.
Einige Sekunden verschwendete er mit dem Versuch, die Miene heraus zu drehen, bis sich Meinhard erbarmte und Oliver half. Schließlich las er sich den Formbogen durch.
Was sollte er bei Adresse eintragen? Sein Großvater traf nicht zu. Nach einigen Sekunden strich er dieses Feld kurzerhand aus und beschäftigte sich mit seinen persönlichen Angaben. Einen Personalausweis hatte er noch gar nicht beantragt. Das wäre wohl ein nicht unwichtiger Punkt auf seiner Liste der zu erledigenden Dinge. Etwas umständlich suchte er seinen Reisepass aus seiner Jackettasche. Er schrieb die Nummer ab und blätterte um. Sein Blick erfasste sofort den kleinen, weißen Klebezettel in den Papieren.
Fahr nicht! Sie töten dich und deinen Vater!, stand in der Handschrift des Anwalts da. In Oliver spannten sich alle Nerven an. Weswegen warnte Rüttgers ihn?! Trotz seiner Aufregung und Angst versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Vorsichtig fuhr er mit der Hand über den Zettel und löste ihn unauffällig. Während er seinen Reisepass schloss und verstaute, ließ er auch die Notiz verschwinden. Kommentarlos füllte er den Bogen zu Ende aus und schob ihn dem Anwalt zu. Er hob den Blick. Aus dem Pokerface des Anwaltes konnte er keine Regung ablesen. „Sie verzeihen, dass ich in der momentanen Situation keinen Wohnsitz eintragen kann?“, fragte Oliver leise. Er hoffte, dass seine Stimme nicht all zu stark bebte.
Rüttgers nickte knapp. „Es sollte reichen, wenn du in Gegenwart von vertrauenswürdigen Beamten erscheinst.“
Oliver warf Daniel unwillkürlich einen Blick zu. Sein Freund hob den Kopf. Offenbar hatte er nur den Blick Olivers wahr genommen, denn er wirkte etwas irritiert. Auch er hielt seinen Ausweis und seinen Dienstausweis in Händen.
„Ich vertraue Daniel blind“, sagte Oliver fest.
Einen winzigen Moment unterzog Rüttgers Olivers Freund einer genaueren Prüfung, nickte dann aber. „Wie kann ich dich erreichen?“, fragte der Anwalt.
„Sie rufen mich an“, bestimmte die Kommissarin brüsk. Alle weitergehenden Informationen gebe ich an Herrn Kuhn und Oliver weiter.“
Unbehaglich bewegte sich Rüttgers in seinem Stuhl, bevor er nickte. „Ich mache einen Termin aus und wir treffen uns in Weiterstadt.“
*
Oliver sah Frau Meinhard hinterher, als sie die Wilhelmstraße zum Parkhaus hinab eilte. Die Information mit den Zahlenkolonnen schien sie selbst sehr aufzuregen. Sie sagte, dass sie noch einmal in das Haus von Olivers Eltern wolle, um sich das alles selbst anzusehen.
„Was hast du von ihm bekommen?“, fragte Daniel unvermittelt. Oliver wendete sich seinem Freund zu. „Du hast es bemerkt“, stellte er leise fest. Oliver nickte. „Schließlich habe ich neben dir gesessen und bin nicht mit Blindheit geschlagen.“
Oliver zog den Kopf zwischen die Schultern und nickte. In der Kanzlei kam er sich wie ein Verräter an Daniel vor, weil er ihm den Zettel nicht zeigen konnte. Sein Freund schien es locker zu nehmen. „Zeig’ mal, Olli.“
„Lass uns vielleicht erst mal von hier verschwinden“, bat Oliver angespannt. Daniel zog die Brauen zusammen. Offenbar verstand er sofort. Schweigend legte er Oliver seine Hand auf die Schulter und nickte Richtung der Tiefgarage, in der er den Jeep geparkt hatte.
*
In der Friedrichstraße hielt Daniel vor einer Bäckerei mit Stehcafé, die sich schräg gegenüber der Tiefgaragenausfahrt unter dem Marktplatz befand, an.
„Gehen wir erst mal hier rein“, sagte er leise.
Irritiert sah Oliver ihn an, hinterfragte aber die Worte nicht.
Daniel bestellte Kaffee.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte er.
Eigentlich hatte Oliver brüllenden Hunger. Allerdings zog sich sein Magen zu einem Steinklumpen zusammen, sobald er nur seinen Ausweis mit dem Notizzettel berührte.
Er schüttelte den Kopf. Interessierte es Daniel denn nicht, was er erfahren hatte?
Er beobachtete seinen Freund, der zwei belegte Brötchen bestellte und unauffällig zur Scheibe sah. Automatisch folgte Oliver seinem Blick, sah aber nichts Außergewöhnliches. Oliver verstand trotzdem: offenbar war ihnen jemand gefolgt. Erschrocken fuhr Oliver zusammen. Wie sicher war die Villa noch? Automatisch dachte er an seine Brüder. Sorge breitete sich in ihm aus.
Daniel trat zu ihm, stellte eine Tasse Milchkaffee vor Oliver ab und ein Käsebrötchen.
„Ich wollte nichts“, insistierte Oliver.
„Du brauchst etwas“, entgegnete Daniel ernst. Er stellte sich mit dem Rücken zum Schaufenster. Während er die Tasse zum Mund führte, fragte er leise: „Siehst du draußen zwei Männer?“
Oliver spähte an ihm vorbei. Vor dem Laden standen zwei Mädchen in Olivers Alter. Passanten gingen mehr oder weniger zügig vorbei. Er entdeckte im ersten Moment niemand. Bis ihm auf der anderen Straßenseite zwei Männer auffielen, die vor dem Merlins, einem Rollenspielladen, standen. Beide sahen nicht so aus, als würden sie zu der Fantasy- oder SciFi-Szene gehören. Leider konnte Oliver sich kein genaueres Urteil erlauben. Dazu war die Entfernung zu groß.
„Ja“, murmelte er, während er in seiner Tasse rührte. „Gesehen. Einer groß und breit, der andere eher unauffällig.“
Daniel nickte. „Wo sind sie?“
„Vor dem Merlins“, flüsterte Oliver, bevor er trank.
„Weit genug weg“, seufzte Daniel. „Dann zeig mal.“
Oliver nahm seinen Reisepass aus der Jackentasche und schob ihn Daniel zu. Sein Freund warf einen kurzen Blick auf die Notiz.
Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein, bevor er in sein Brötchen biss. „Warnung oder Falle“, murmelte er. „Danke, steck’ schnell weg.“
Oliver nickte und schob das Ledermäppchen in deine Hosentasche. „Sind das schon die Auswirkungen?“, fragte er mit einem knappen Blick zur Straße.
Daniel schluckte und nickte. „Kannst du drauf wetten!“
Mit zwei weiteren Bissen schob er sich das Brötchen in den Mund, kaute und spülte mit Kaffee nach. „Ich kann nicht telefonieren, ohne dass sie es sehen. Beeil’ dich. Ich will so schnell wie möglich von hier weg und Verstärkung bekommen, Olli.“
Als sie die Bäckerei verließen, bemerkte Oliver, wie Daniel seinen Schritt sofort beschleunigte. Ihm fiel es nicht schwer, mitzuhalten. Allerdings wendete der junge Beamte sich nicht dem Parkhaus zu, sondern schlug den Weg zurück zur Willhelmstraße ein. Oliver begriff, dass Daniel die Verfolger abzuschütteln versuchte. Instinktiv wollte er sich umsehen. In dem Moment griff Daniel nach seiner Hand. “Nicht!“, warnte er. Oliver kostete es einige Mühe, nicht doch dem inneren Drang nachzugeben. Es hatte das Gefühl, die Blicke ihrer Verfolger direkt im Nacken zu spüren. Was ihn verwirrte: Daniel rannte nicht. Der Beamte bewegte sich in einem verhältnismäßig normalen Tempo „Warum gehen wir nicht schneller?“, fragte Oliver angespannt.
„Im Moment passen wir uns anderen Passanten an. Das zwingt sie, ebenfalls ruhig zu bleiben“, erklärte er. „Hinter der nächsten Ecke sollten wir uns schneller bewegen.“
Oliver verstand. So brachten sie mehr Abstand zu ihren Verfolgern. Tatsächlich ging der Plan auf.
Sie umrundeten den Häuserblock in weitem Bogen, bis sie wieder auf Höhe des Dern’schen Geländes Richtung Tiefgarage unter der Markthalle abbogen. Oliver sah nun über die Schulter. Seit der Rheinstraße verfolgte sie niemand mehr.
„Wir haben es, denke ich“, murmelte er.
Daniel schwieg angespannt. Verwirrt sah Oliver ihn an.
„Sei dir nicht so sicher“, warnte Daniel leise.
Schrecken fuhr durch Olivers Glieder. Rasch sah er sich um, konnte aber nichts entdecken. Möglicherweise versperrten die wartenden Stadtbusse seine Sicht.
„Hast du was entdeckt?“, fragte er vorsichtig.
Daniel wiegte den Kopf. „Ich bin nicht sicher.“ Mit einer Kopfbewegung wies er auf einen ankommenden Linienbus. „Notfalls springst du in den nächsten Bus. Da sind immer viele Leute. Sie würden also nicht wagen, dir etwas zu tun.“
Oliver starrte ihn an. „Und du?“
Hilflos zuckte Daniel mit den Schultern.
„Ohne dich fahre ich …“
„Befolg’ ausnahmsweise mal eine Anweisung, wenn ich sie dir gebe!“, knurrte der Beamte verärgert.
Oliver presste die Lippen aufeinander. „Du bist mein Freund. Ich will sicher sein, dass dir nichts passiert. Verstehst du das nicht?“, fragte er leise.
„In erster Linie bin ich Zivilbeamter und für deine Sicherheit verantwortlich“, gab Daniel gereizt zurück.
Oliver schwieg verärgert. Er wusste, dass Daniel es nicht böse meinte, aber die Worte taten weh.
Oliver spürte, wie die Hand seines Freundes nach seinem Arm griff. Die Berührung drückte Wärme aus.
„Ich lass’ dich schon nicht allein, mein Kleiner“, sagte Daniel leise.
Eilig überquerten sie die Straße. Plötzlich wurde Daniel langsamer. Oliver wendete sich im gleichen Moment nach hinten um. Dank seiner Unaufmerksamkeit stolperte er in seinen Freund hinein.
„Entschuldige …“, stammelte er. Daniel reagierte nicht auf die Worte, sondern ergriff Olivers Hand und zog ihn kommentarlos mit sich. Er schob sich zwischen zwei dicht aufgefahrenen Bussen hindurch, sah sich rasch um, bevor er den hohen Bürgersteig betrat und deutete mit dem Kopf in Richtung des Rollenspielladens, vor dem zuvor die beiden Männer gestanden hatten. Einige Kastenwagen und Transporter von Handwerkerfirmen und dem Johannisstift standen in einer langen Reihe vor der Häuserfront die die rückwärtige Seite des Marktes, das Dern’sche Gelände, säumten. Das Eckhaus zur Marktkirche hin war vollständig eingerüstet. Allerdings wurde auch in einem anderen Haus gearbeitet. Oliver sah eine Schuttrutsche. Geröll wurde von oben hinein geschaufelt, was polternd in einem Container endete. Viele Fenster standen weit offen. Daniel lotste ihn in einen offenen Hauseingang, link des Merlins und des daran anschließenden Trachten-Ladens. Er löste die Matte, die unter den Türrahmen geklemmt worden war und spähte angestrengt hinaus.
Wortlos drängte Daniel ihn mit seinem ganzen Körper gegen die Wand im Windfang und legte ihm eine Hand über die Lippen. Verwirrt keuchte Oliver.
„Leise“, bat der Beamte im Flüsterton.
Olivers Blick huschte nach draußen. Menschen eilten an der Tür vorüber. Ein Auto verließ die Tiefgarage, während ein weiterer Lieferwagen nah dem Eingang hielt. Langsam schloss sich die Haustür. Daniel löste sich von Oliver, der nach Luft rang. Mit seinem Gewicht hatte der Beamte ihm die Luft aus den Lungen gedrückt. Oliver beobachtete ihn.
Langsam zog sich Daniel tiefer in den Windfang zurück, wobei er die Tür im Blick behielt. Schließlich blieb er stehen und lauschte. Oliver schloss die Augen und konzentrierte sich ebenfalls auf die Geräusche seiner Umwelt. Hammerschläge und das höher werdende Surren einer Bohrmaschine hallten in dem Gebäude wieder. Radiolärm drang aus einzelnen Wohnungen. Oliver hörte Menschen, die sich unterhielten, schwere Stiefel und Bauschutt, der unter Sohlen knirschte. Es roch nach altem Stein, Staub und Farbe.
Er hob die Lider und sah zu Daniel. Die Hand des Beamten glitt unter seine Jacke. Als er sie hervor zog, hielt er seine Dienstwaffe in der Hand. Verwirrt starrte Oliver ihn an. Was sollte das? Er begriff im ersten Moment nichts. Sein Verstand arbeitete langsam. Der Lauf der Waffe richtete sich auf die Tür, glitt dann aber langsam zur Seite.
Auf wen zielte Daniel? Sein Hals schnürte sich zusammen. Legte der Beamte auf ihn an?! Seine Herzschläge verlangsamten sich. Ihm wurde Schwindelig.
„Was machst …“, begann er heiser.
„Olli“, wisperte Daniel. „Komm her und bleib hinter mir!“
Die Worte brachen den Bann. Er eilte zu seinem Freund, der mit seiner Waffe den vermeintlichen Häschern folgte. Vor dem Glaseinsatz in der Tür hoben sich Schatten von Personen gegen das fahle Tageslicht ab. Automatisch nahm Oliver seine Abwehrhaltung ein. Für ihn stand außer Frage, dass es die Männer waren, vor denen Rüttgers in seiner Notiz warnte. Andererseits, woher wussten sie von seinem Aufenthaltsort? Er ging nicht davon aus, dass sie ihn von der Villa aus beschattet hatten … Dieser Schluss ließ nur zu, dass Rüttgers sie auf die Spur von Daniel und Oliver gebracht haben musste! Deshalb hatte er so lang das Meeting heraus gezögert!
Alle Puzzleteile passten ineinander: Die Verzögerungen während des Gespräches, das seltsame Verhalten des Anwalts, die Excelliste auf seinem Notebook und das Überwachungsverhalten der beiden Sekretärinnen. Einzig das Zudrücken der Bürotür, was ihm eher wie ein Schutz vorkam, blieb ungeklärt. Für Oliver stand außer Frage, dass Rüttgers ein Anwalt der Mafia war. Alles wies darauf hin: insbesondere die Verbindung seiner Eltern zu Rüttgers und zu Aboutreika. Sein Vater nutzte die juristischen Dienste schon seit vielen Jahren. Der Anwalt musste also in die Geschäfte eingeweiht gewesen sein.
Da sein Vater aus den schmutzigen Geschäften des Ägypters aussteigen wollte, vermutete er, dass Rüttgers an der Situation, den Morden, nicht unschuldig war. In Olivers Vorstellung gab es nur die Möglichkeit, tot aus einem solchen Vertrag heraus zu kommen. Seine Familie war tot, Rüttgers lebte und praktizierte noch. Der Verdacht des Verrats lag also nah. Alles in ihm spannte sich. Er hasste diesen widerwärtigen, aalglatten Mann nur noch mehr.
Oliver wurde schwindelig vor Zorn. „Daniel … Rüttgers …“
Der Beamte hob beschwörend die Hand, woraufhin Oliver verstummte.
Die zuckenden Schatten vor der Tür schienen nicht genau zu wissen, wo sie suchen sollten. Sie huschten hin und her.
Oliver hob beide Fäuste. Seine einzige Waffe war seine Kraft. Gegen eine Pistole war es lächerlich!
Reglos verharrte Daniel. Drei Personen, die draußen vor der Tür standen, berieten sich offenbar untereinander leise. Drei? Oliver überlegte. Er hatte nur zwei wahr genommen. Waren es Verfolger? Oliver wusste es nicht. Er beobachtete sie einige Sekunden. Einer von ihnen löste sich aus der Gruppe. Durch das gebrochene Glas konnte Oliver nur Schemen ausmachen. Dennoch sah es so aus, als würde einer von ihnen telefonieren, während er sich von den anderen beiden entfernte.
Oliver verstand nur undeutliches Gemurmel in einer ihm fremden Sprache. All das ging viel zu leise von statten, um Rückschlüsse zu ziehen. Als der Mann zurückkehrte deutete er über den Platz, in Richtung der Innenstadt und der Parkhauszugänge. Ein kleinerer Mann löste sich aus der Gruppe und entfernte sich zügig aus Olivers Sichtfeld. Der Zweite nahm den Weg parallel zum Marktplatz. Er warf Daniel einen prüfenden Blick zu. Sein Freund verharrte noch immer in der angespannten Pose auf den ersten Treppen des Windfangs. Der Lauf seiner Waffe folgte den Bewegungen des letzten Mannes, der erneut telefonierte. Oliver sah ihn dabei vor dem Haus auf und ab gehen.
„Der holt Verstärkung“, wisperte Daniel. Erschrocken betrachtete Oliver ihn. In Daniels Gesicht arbeitete es. Seine Kiefer mahlten. Adern traten an seinen Schläfen hervor. Langsam, so leise er konnte, ging er rückwärts.
Eine Wohnungstür schlug zu. Wuchtige, schwere Schritte kamen die Stufen herab. Das Geräusch hallte durch das gesamte Treppenhaus. Oliver fuhr erschrocken zusammen. Er wirbelte auf den Stufen herum. Ihm war vollkommen entfallen, dass Handwerker im Haus unterwegs waren.
Ihm blieb keine weitere Möglichkeit zu überlegen. Die Schritte erreichte die Zwischenetage zum Hochparterre. Wer auch immer kam, musste sie nun sehen. Oliver stockte der Atem, als er Kai gewahrte. Der Junge blieb erschrocken stehen. Wie schon einmal trug er schmutzige Handwerkerkleidung. In der Linken hielt er einen leeren Farbeimer voller Müll, in der Rechten tropfende Farbrollen.
„Was …“, murmelte Kai. Er verstummte, als er Daniels Waffe sah. Offenbar schaltete der Junge sofort. Er stellte die Eimer ab und winkte Oliver und Daniel hektisch.
Für einen kurzen Moment zögerte Daniel. Oliver ergriff seinen Arm und zog ihn einige Stufen hinauf. Stolpernd folgte ihm sein Freund. Auf dem Zwischenpodest befreite er sich von Olivers Hand und schob die Waffe zurück in ihr Holster. Neugierig spähte Oliver hinab. Der letzte Häscher stand noch immer vor der Tür. Nervös sah er zu Daniel, der ihm zunickte und mit raschen Sätzen aufschloss.
Wortlos zog Kai einen Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn Daniel. Fragend sah Oliver ihn an. Kai nahm seinen Eimer und die Rollen wieder auf.
„Dritter links“, sagte er schlicht.
*
Daniel entspannte sich keineswegs, als er die Tür schloss und nach seinem Handy tastete. Oliver hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Der durchdringende Geruch nach Farbe und Lösungsmittel erstickte ihn fast. Die Raufasertapeten erstrahlten in unnatürlichem Weiß, was vielleicht auch an den leeren Räumen und den fehlenden Gardinen liegen mochte. Auf dem nackten Estrich stand ein schmutziges, schwarzes Radio, aus dem laute Musik aus den Charts dröhnte. Oliver sah sich flüchtig um, bevor er an das Fenster – wie er vermutete – im Wohnzimmer trat.
Die Scheiben waren gekippt. Kalte Luft drang in die Wohnung. Er zog das Jackett enger um seine Schultern zusammen.
Es Half nichts. Sein Blick tastete über den Marktplatz bis zum Rathaus. Die Männer suchten sie entweder in den Häusern oder waren gegangen.
Allerdings fehlte ihm die Sicherheit dafür. Unten entdeckte er Kai, der Rollen und Pinsel in einen Lieferwagen warf und einen Besen heraus holte. Trotz der Kälte trug der Junge aus dem Stift nur ein T-Shirt.
Oliver spürte Daniels warmen Körper dicht hinter sich. Sein Freund legte ihm behutsam die Hand auf den Arm.
Daniel spähte an ihm vorbei nach draußen.
„Hast du jemand entdeckt?“, fragte Oliver leise.
Daniel schüttelte den Kopf.
„Vielleicht waren es einfache Passanten“, überlegte Oliver.
„Sicher nicht. Zwei habe ich vorhin schon in der Nähe der Kanzlei bemerkt“, entgegnete Daniel.
„Kanzlei!“, stieß Oliver hervor. Er erinnerte sich an seine Schlussfolgerung betreffs des Anwalts und einem direkten Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen. In raschen Worten erläuterte er seine Erkenntnisse und Vermutungen
„Ich informiere Roth.“ Er zückte sein Handy. Im gleichen Moment klopfte es sachte an der Tür.
Oliver schrak zusammen. Sein Blick fiel nach unten. Kai war nicht mehr in der Nähe des Wagens zu sehen. „Das müsste Kai sein“, rief er. Daniel lies das Handy sinken und trat schützend vor Oliver. Gleichzeitig zog er seine Waffe. Wortlos richtete er sie auf die Tür. Ohne nach hinten zu sehen reichte er Oliver sein Mobiltelefon weiter. „Die Zwei ist Roths Kurzwahl“, flüsterte er.
Oliver sah auf die Tastatur. Daniels Modell war alt und simpel, ein Monster aus mattem Kunststoff und hässlichen Farben. Er löste die Tastensperre, während Daniel sich der Tür näherte. Er drückte die Zwei und den Wahlknopf. Daniels Körperwärme haftete dem Gehäuse an. Mehrfach dröhnte das Freizeichen in Olivers Ohr. Er beobachtete Daniel, der lautlos zur Tür schlich. Zeitgleich drang aus dem Radio unerträgliches Gequäke, sodass Oliver sich kaum konzentrieren konnte.
„Roth!“, meldete sich der Kommissar.
Das Klopfen wiederholte sich.
„Wir sind in der Marktstraße, in einem Wohnhaus“, flüsterte Oliver. Er befürchtete, dass Roth ihn gar nicht verstand.
„Welche Hausnummer, Oliver? … Was ist passiert?!“, rief der Beamte erschrocken.
„Über dem Trachtenladen …“
Daniel öffnete die Tür einen Spalt breit. Kai schob sich in die Wohnung. Er sah bleich aus. Sein Atem ging schnell, obwohl er kaum gerannt sein konnte.
„Im Haus schleichen zwei Typen herum. Einer ist eben durch den Hinterhof gekommen, der andere ist auf dem Weg nach oben. Die habe ich vorher noch nie gesehen“, berichtete er mit zitternder Stimme.
„Wo sind die Beiden jetzt?“, fragte Daniel. Er versuchte ruhig zu klingen.
„Oliver!“, schrie Roth ihm ins Ohr. „Was ist passiert?“
„Wir wurden verfolgt und sitzen gerade in einer der sanierten Wohnungen fest“, erklärte Oliver hastig. „Zwei der Männer sind im Haus. Kai hat uns versteckt.“
„Kai?“, fragte Roth.
„Der Junge aus dem Stift, mit dem sie gesprochen haben. Er arbeitet wohl hier mit einem Malerbetrieb.“
„Gib mir Daniel!“
Oliver sah verzweifelt zu seinen Freunden. Er reichte Daniel das Telefon.
„Ja?“, fragte er. Trotzdem schenkte er Kai mehr Aufmerksamkeit. Der Junge deutete nach oben. „Einer ist da, der andere kommt ihm langsam entgegen: alle Etagen hoch.“
„Wo sind deine Kollegen?“, fragte Daniel ihn.
„Beim Mäcces“, erklärte Kai. „Futter holen.“
Daniel atmete tief durch. „Dann müssen wir wohl jetzt abwarten.“ Er hielt sich das Handy an das Ohr.
„Wir versuchen, hier ungesehen heraus zu kommen.“
Für einen Moment schwieg er. „Klar schaffe ich das.“
Einige Sekunden vergingen. „Schicken Sie einen Wagen her und kommen Sie zu unserem Treffpunkt.“
Er legte auf.
Oliver sah an ihm vorüber zur Tür. Er versuchte zu lauschen. Leider übertönte das Radio jedes Geräusch. Kai sah verzweifelt zu ihm. „Wer sind die Typen, Hoffmann?!“, fragte er. Anhand seines gequälten Minenspiels konnte Oliver deutlich erkennen, wie sehr Kai bereute, ihnen geholfen zu haben. Er hob die Schultern. „Ich weiß es einfach nicht“, gestand er.
Kai spannte sich. Seine Kiefer mahlten aufeinander. Er ballte beide Fäuste. „Offenbar wollen sie aber was von euch beiden!“
„Leise!“, ermahnte Daniel. Er lauschte.
Kai packte Oliver am Arm und zog ihn von der Tür fort. „In was steckst du da drin?!“, forderte er zu wissen.
„Was willst du hören?!“, zischte Oliver leise. „Die Wahrheit?!“
Kai nickte, womit er Oliver den Wind aus den Segeln nahm.
„Die kenne ich selbst nicht wirklich“, gestand er. „Ich weiß nur, dass ich gewarnt wurde und offenbar mein Vater in Lebensgefahr ist.“
Kai verdrehte die Augen. „Angeber!“
Verwirrt starrte Oliver auf Kai herab.
„Wir wissen ja langsam, dass du was Besonderes bist!“, fügte er abfällig hinzu. „Du Drama-Queen.“
In Oliver keimte neue Wut auf. Allerdings war jetzt nicht der passende Zeitpunkt, sich mit Kai zu streiten. „Danke für deine Hilfe“, sagte er schlicht. In seiner Stimme schwang verhaltene Wut mit, die an Kai vollkommen unbeachtet vorüber ging.
„Was soll das heißen?!“, fuhr er auf.
Wortlos drehte Oliver sich um und trat zu Daniel.
„Sie sind beide eine Etage weiter oben“, flüsterte der Beamte.
Kai räumte geräuschvoll die Planen zusammen, die den Estrich Nah den Wänden schützen sollten. Kommentarfrei drückte er eine Rolle davon in Olivers Arme. Die frische weiße Farbe hinterließ Flecken auf Hemd, Jeans und Jackett, die Kai mit einem breiten, boshaften Grinsen quittierte. Oliver war es egal. Die Art der Kleidung hasste er ohnehin. Er zog sich – trotz der Kälte – die Jacke aus, um sie in einen Farbtopf zu stopfen und krempelte dich die Ärmel hoch.
Kai lächelte. „Ich sehe, wir verstehen uns.“
Daniel reichte er eine Rolle mit Flies. Er selbst griff nach dem Radio und einem halbvollen Farbeimer.
„Los geht’s!“, rief er.
*
Insgeheim empfand Oliver vielleicht keine Sympathie, aber er war Kai dankbar für seine Hilfe.
Trotzdem gestalteten sich die drei Etagen bis zur Marktstraße als Gang auf glühenden Kohlen. Am liebsten wäre Oliver sofort losgerannt. Er hörte die Stimmen der zwei Männer über sich diskutieren. Sie reagierten natürlich, als Oliver und seine beiden Freunde die Wohnung verließen. Allerdings bildete Kai das Schlusslicht, wobei er genau darauf achtete, besonders viel Lärm mit den alten Folien zu machen und getrocknete Farbraspel im Treppenhaus zu verteilen. Gekonnt lenkte der Junge die Aufmerksamkeit auf sich.
Erst als sie den Bus erreichten, entspannte Oliver sich etwas. Trotz allem suchte er mit Blicken den gesamten Platz ab. Der dritte Mann musste sich noch in der Nähe aufhalten. Oliver war sicher, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Er warf die Folien und den Eimer in den Wagen und sah sich zu Kai und Daniel um, nachdem er sein verdrecktes Jackett wieder an sich genommen hatte. Er fror barbarisch in der Kälte. Mühsam nahm er sich zusammen.
„Danke“, flüsterte er.
Kai hob nur die Brauen. Kommentarlos nickte Daniel ihm zu und reichte ihm den Schlüssel für die Wohnung.
„Ich will euch beide in meinem Leben nicht mehr sehen müssen!“, zischte der Junge böse.
Oliver lächelte freundlich, was Kai aus dem Konzept brachte.
„Bleib’ hier draußen“, mahnte ihn Daniel. „Warte auf deine Kollegen und sorge dafür, dass immer viele Leute um dich herum sind.“
Kai knurrte kehlig. Für einen Moment machte es den Eindruck, als wolle er nichts mehr sagen. Doch schließlich knurrte er: „Ist okay. Verpisst euch!“
*
Nervös sah Oliver sich um, während Daniel das Parkticket bezahlte. Sein Blick schweifte durch das verglaste Häuschen nach draußen. Zwischen den entlaubten Zierhecken nahm er Bewegungen wahr. Er musste sich stark zusammen nehmen, um nicht sofort die Flucht zu ergreifen. Ein Stück entfernt erkannte er Kai, der am Wagen lehnte und rauchte. Er hoffte, dass seinem Freund nichts passierte. Gleichgültig wie Kai seine Hilfe verpackte, ihr davonkommen verdankten sie ihm. Er war eigentlich ein gutmütiger und hilfsbereiter Mensch, wenn auch oft mürrisch. Oliver fand keine Zeit, Daniel zu fragen, ob er wusste, dass Kai dort arbeitete. Für ihn grenzte es an einen zu großen Zufall.
„Komm“, sagte Daniel leise und legte seinen Arm um Olivers Schulter.
*
Obwohl Oliver niemand anderen in der Tiefgarage sah, fühlte er sich beobachtet. Sein Nacken kribbelte unaufhörlich. Er fror erbärmlich in seinem Hemd. Die Jacke nutzte ihm nichts mehr. Allerdings hielt ihn die Kälte aufmerksam und wachsam. Ständig glitt sein Blick zwischen den Reihen geparkter Fahrzeuge hindurch. Er erwartete einen Mann, der aus seiner Deckung hervor sprang, oder ein heranrasendes Auto, auch wenn er sicher war, dass die Reifen auf dem glatten Betonanstrich keine Haftung fanden.
Nichts dergleichen passierte. Viel eher hallten ihre Schritte in der niedrigen Tiefgarage nach. Goldenes Licht färbte die Autos in angenehme Farben um. Der helle Anstrich vermittelte den Eindruck von viel Freiraum. Das kategorische Fehlen aller tragenden Wände und die gelegentlichen, massiven Rundsäulen ergaben einen freien Blick durch die gesamte Etage.
In der Luft schwang der Rest schwacher Abgase und süßen Parfums mit.
Oliver fühlte sich dennoch beunruhigt. Die freien Flächen stellten für ihn eine Gefahr da.
Er konnte den Jeep bereits sehen. Allerdings mussten sie drei Parkreihen kreuzen. Automatisch spannte er sich wieder. Daniel reichte ihm die Parkkarte, während er nach dem Autoschlüssel suchte.
So, wie sein Blick umher irrte, schien auch er nicht sicher zu sein, dass sie allein waren. Daniel drückte ihm den Autoschlüssel in die Hand und zog seine Waffe.
Ein Schauer rann über Olivers Rücken.
Trotz der Situation ging Daniel langsam. Oliver beobachtete seinen Freund, der sehr genau darauf achtete, dass sie weitestgehend in der Nähe einer Deckung blieben.
Das entfernte Quietschen von Reifen ließ Olivers Blut in den Adern gefrieren. Unwillkürlich ging er einen Schritt schneller. Kalter Schweiß bildete sich auf Olivers Stirn. Er zitterte leicht.
Zwischen den Fahrzeugen schienen die Schatten in ständiger Bewegung zu sein. Etwas lauerte dort. Aus dem Augenwinkel nahm er eine rasche Bewegung wahr! Er fuhr herum. Als er hinsah, entdeckte er nichts.
„Mach den Wagen auf!“, befahl ihm Daniel.
Mit seinen kalten, steifen Fingern gelang es Oliver erst beim zweiten Anlauf, den automatischen Türöffner zu betätigen. Die Blinker flammten auf. Er erreichte die Beifahrertür des Jeeps und riss sie auf. Daniel eilte um den Wagen herum. Schnell zog sich Oliver in den Sitz und neigte sich aus dem Schwung heraus hinüber, um den Schlüssel in das Zündschloss zu stecken. In dieser Sekunde schlug etwas mit unglaublicher Gewalt gegen die Windschutzscheibe. Der Wagen bebte, doch das gepanzerte Glas hielt stand. Entsetzt fuhr Oliver zusammen. Sein Blick streifte Daniel, der gerade in letzter Sekunde einem Schraubenschlüssel auswich.
Seine Intuition hatte ihn nicht im Stich gelassen. Bevor Oliver etwas unternehmen konnte, erbebte der Wagen ein weiteres Mal. Oliver sah, wie sich das dunkle Metall des Chassis deformierte. Lack platzte ab.
‚Wenn der Schlag Daniel getroffen hätte’, hallte es in seinem Kopf. ‚Die Konsequenzen wären unvorstellbar!’
Oliver beobachtet einen Herzschlag lang die Situation. Er musste sich einen Plan zurecht legen, wie er Daniel unterstützen und den Angreifer ausschalten konnte.
Daniel kam nicht dazu, seine Pistole in Anschlag zu bringen. Sein Gegner war schnell. Er nutzte den Schwung, den er durch seine improvisierte Hiebwaffe gewann.
Der Beamte hatte immer größere Schwierigkeiten, sich vor den Hieben in Sicherheit zu bringen. Doch der Fremde änderte seine Taktik. Er packte Daniel am Kragen seiner Jacke und schleuderte ihn gegen die Fahrertür. Oliver hörte den dumpfen Aufschlag. Der Hinterkopf seines Freundes federte zurück. Daniel war nichts als eine Puppe, für den Mann. Gegen ihn besaß er nicht den Hauch einer Chance.
Daniel wurde erneut gegen die Türe geschlagen. Oliver zwängte sich über die Mittelkonsole auf den Rücksitz. Der Fremde stand seitlich zu ihm. Vielleicht er ihn treffen, wenn er die Tür mit aller Kraft aufstieß!
Lang zu überlegen half nichts! Er musste Handeln, bevor Daniel das Bewusstsein verlor. Oliver betätigte den Hebel und stieß mit beiden Füßen voran, die Tür auf. Sie traf den Fremden unsanft. Trotzdem wankte er nur, was Daniel einen weiteren Hieb ersparte. Mit einem Satz sprang Oliver hinaus. Offenbar nahm der Fremde ihn nicht als Gegner wahr, weil er sich lediglich auf Daniel konzentrierte. Mit seiner gewaltigen Faust versetzte er dem Beamten permanente Tiefschläge. Oliver sah seine Chance. Er schleuderte dem Mann das Jackett ins Gesicht. Die Ablenkung reichte, damit Daniel frei kam und einen Schritt zur Seite taumeln konnte. Oliver hatte nicht vor, dem Fremden eine Möglichkeit zu geben, seinem Freund nachzusetzen. Mit einem harten, geraden Schlag traf er seinen neuen Gegner unterhalb der Rippen in die Seite. Der zweite Hieb sicherte Oliver die volle Aufmerksamkeit des Mannes.
Groß war er nicht, aber bullig. Sein Gegner wog sicher zwanzig Kilo mehr als Oliver. Wenn es ihm gefiel, würde er schlicht über Oliver hinweg walzen. Leider war der Mann auch sehr schnell und besaß gute Nehmerqualitäten. Mit seiner Konstitution war er Oliver um Längen überlegen. Kampferfahrung und Zähigkeit ersetzten jede noch so ausgefeilte Technik.
‚Nun hilft mir nur noch zu beten’, dachte Oliver verzweifelt.
Die Angst um Daniel gab ihm neue Kraft. Darauf baute er. Zudem hatte Oliver nicht vor, fair zu kämpfen.
Als sein Gegner Angriff, hatte Oliver sich einen vagen Plan zurecht gelegt. Mit der Linken stieß er kurz und hart nach vorne, wobei er sofort wieder zurück sprang. Sein Gegner nahm den Schlag fast nicht wahr, wie er befürchtete. Im Gegenteil setzte er Oliver nach.
Je weiter er den Mann von Daniel fort lockte, desto besser! Oliver wich zwei Schwingern aus. Es fiel ihm nicht scher. Allerdings kam es ihm so vor, als habe der Fremde noch lange nicht sein ganzes Können bewiesen. Er blieb dennoch in der defensive, so weit es der geringe Platz überhaupt zuließ. Mehrfach stieß er beim ausweichen, oder unter den Schlägen hindurch tauchen gegen die geparkten Wagen. Wenn es ihm so ging, würde sein Gegner die gleichen Probleme haben, zumal er weitaus breiter war. Oliver nutzte den Schwung, den er durch sein erneutes Abtauchen gewann, um dem Fremden seine Faust in die Weichteile zu stoßen. Er traf nicht gut. Dennoch erzielte er Erfolg, als sein Gegner mit einem Schrei nach vorne kippte. Oliver ballte die Fäuste und riss sie hoch, um sie in der Abwärtsbewegung auf den Nacken seines Angreifers nieder fahren zu lassen. Seine ungedeckte Brust war ein gutes Ziel, was sich der Fremde nicht entgehen ließ. Er rammte seine Hand gegen Olivers Solarplexus. Keuchend taumelte Oliver zurück. Er fühlte sich, als sei er mit einem, fahrenden Zug kollidiert. Alle Luft entwich seinen Lungen. Er sah Lichtblitze vor zuckender Schwärze. Druck baute sich in seinen Nebenhöhlen auf. Er spürte, wie er gegen den Wagen schlug. Gerade halten konnte er sich nicht mehr. Wie ein nasser Sack sank er in sich zusammen.
‚Daniel!’, dachte er.
Am Rande seines Wachbewusstseins hörte Oliver Schritte hinter sich. Er ignorierte sie. Da der dumpfe Schmerz langsam abebbte, versuchte er, wieder auf die Füße zu kommen. Das Bild seines Gegners verschwamm vor seinen Augen. Vage erkannte er, dass der Fremde wieder angriff. Er glaubte zu erkennen, dass der Mann ein weiteres Mal gegen seine Brust zielte. Instinktiv drehte Oliver sich fort. Trotzdem traf der Hieb seine Schulter und traf mit der Gewalt eines Dampfhammers. Oliver wurde herum geschleudert. Ihm gelang es nicht mehr, sich abzufangen. Hart schlug er auf dem Estrich auf. Atemlos versuchte er den Schmerz zu verdrängen. Das Gelenk pochte. Trotzdem zwang er sich wieder auf die Füße. Der Fremde packte Oliver am Hemdkragen und zerrte ihn zu sich. Kraftlos stieß Oliver seine Hände gegen die breite Brust des Fremden.
„Aufhören!“, schrie Daniel mit überschnappender Stimme
Der Fremde ließ die Arme sinken, wobei Oliver gegen den Jeep stolperte. Matt hob er den Kopf und sah sich um. Sein Freund stand dicht hinter dem Fremden. In seiner Hand lag die Pistole. Er sah entsetzlich aus. Aus Mund und Nase rann Blut. Eine Platzwunde verunzierte seine Schläfe. Er keuchte vor Anstrengung und Schmerz. Es ging ihm schlecht. Trotzdem war Oliver glücklich.
Lediglich das unmotivierte Lächeln auf den Lippen des Fremden irritierte ihn. Einen Moment später erkannte er Schrecken in Daniels Gesicht. Die Schritte!
„Wollen wir uns denn weiterhin schlagen, meine Herren?“, fragte ein Mann hinter ihm. Oliver spürte, wie sich ein Lauf in seine Wirbel drückte. Das Metall war kalt. Er fuhr herum. Ihm gegenüber stand ein schlanker, hochgewachsener Araber. Oliver erkannte Aboutreika sofort wieder. Der Ägypter schien sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert zu haben. Seine elegante, schlanke Gestalt vermittelte Oliver das Gefühl, einem Panther gegenüber zu stehen. Auch jetzt erschien ihm der Ägypter als ausnehmend groß. Den Einzigen Unterschied stellte sein akkurat ausrasierter Bart dar. In seiner Gesamtheit war Aboutreika der Inbegriff eines Gentlemans. Oliver musterte ihn misstrauisch.
Auf den vollen Lippen seines Gegenübers lag ein vereinnahmendes Lächeln, dass seine dunklen, großen Augen nicht erreichte. Oliver schauderte.
„Darf ich Sie beide bitten, mir zu folgen?“
Oliver saß auf dem Rücksitz des Jeeps. Sein Jackett lag über seinen Knien. Der starrte gerade aus. Daniel fuhr den schweren Wagen. Der Mann, der sie zusammen geschlagen hatte, saß auf dem Beifahrersitz. Vor ihnen fuhr die Limousine Aboutreikas. Der anthrazitgraue Jaguar schnitt problemfrei durch den Verkehr. Oliver ärgerte sich, über seine Unvorsicht, mit der er Daniel nun auch noch geschadete hatte. Fieberhaft überlegte er, wie sie ihren Bewacher los werden konnten.
Noch einmal mit der Jacke anzugreifen wäre dumm, zumal der Mann Daniels Waffe hielt. Wenn sich ein Schuss löste, konnte alles Mögliche passieren, was er nicht wollte.
Zudem saßen im voran fahrenden Wagen Männer, die das geschehen im Jeep zusätzlich im Auge behielten.
Oliver gab nach einer Weile auf. Seufzend ließ er sich in das Polster sinken und schloss die Augen.
Zurzeit hatte er nicht die geringste Ahnung, wohin sie fuhren. Insgeheim hoffte er darauf, dass Kai sie vielleicht bemerkt hatte, als der Jeep aus der Tiefgarage rollte. Vielleicht fiel der Wagen auch den von Roth gesendeten Kollegen auf; insofern sie überhaupt da waren.
Wie sollten sie, wenn nichts Auffälliges geschah? Letztlich war das alles Wunschdenken.
In Oliver manifestierte sich Angst. Die Notiz Rüttgers’ ging ihm nicht aus dem Kopf. Wenn sein Vater und er in Gefahr waren, traf das erst recht auf Chris, Michael und Daniel zu. Ihm wurde wieder einmal bewusst, dass er mit seiner Neugier alles falsch gemacht hatte. Schlimmer noch: ihm waren die Hände gebunden. Er hatte nicht nur keine Idee, wie sie ihrem Bewacher entwischen konnten, sondern wie es aus dieser Situation noch weiter gehen konnte.
Wenn sie ihr Ziel erreichten, schwor er sich … was eigentlich? Oliver überlegte. Wut und Rache würden ihn kaum weiter bringen. Seine Hilflosigkeit bewegte ihn viel eher dazu, um das Leben Daniels und seiner Brüder zu bitten. Würde der Ägypter überhaupt so weit gehen? Aboutreika war kein Monster. Andererseits würde er Mitwisser nicht einfach frei lassen.
Nachdenklich nagte Oliver an seiner Lippe. Er rief sich den perfiden Plan in Erinnerung, mit dem Aboutreika seine Familie ausgeschaltet hatte. Eine stählerne Klammer legte sich um sein Herz. Dieser Mann besaß kein Gewissen.
Oliver sah aus dem Fenster. Für eine ganze Weile beobachtete er die Häuser, die an ihm vorüber zogen. Verwirrt stellte Oliver fest, dass Daniel den Wagen aus dem Kurviertel steuerte und Richtung Biebrich fuhr. Auf der Biebricher Allee bog er in die Nussbaumstraße ab. Die bislang schon prachtvollen Villen aus dem Klassizismus und Historismus gewannen an Prunk. Ihm wurde klar, wie schäbig das große Einfamilienhaus seiner Eltern im Vergleich hierzu wirken musste. Sein Blick verlor sich in den erschlagenden Details der Fassaden und Gartenanlagen. Für einen Moment vergaß er sogar, in welcher unglücklichen Lage Daniel und er sich befanden.
Als der Wagen langsamer wurde und Daniel hinter dem grauen Jaguar auf der Straße stehen blieb, reckte Oliver sich, um das Haus, besser sehen zu können. Eine hohe, Efeu überwachsene Mauer verwehrte ihm den direkten Blick. Er sah lediglich einige Türmchen, die den Zauber eines zu klein geratenen Dornröschchenschlosses besaßen. Allerdings fielen ihm auch die Kameras auf, die das große Tor und den inneren Hof überwachten.
Er schnallte sich ab und neigte sich nach vorne. Sein Blick fiel auf Daniels Dienstwaffe, die im Schoß ihres Bewachers lag. Oliver schluckte unwillkürlich. Ihm lag die Frage, was nun geschehen würde, auf der Zunge. Er verkniff sich jeden Kommentar, schon um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
Das Tor glitt mit einem leisen Scharren in die Mauer zurück. Der Jaguar rollte langsam an. Oliver sah zu Daniel. Sein verquollenes, blutiges Gesicht sah schrecklich aus. An seiner Schläfe pochte eine Ader. So weit, wie seine Kieferknochen hervor traten, knirschte er mit den Zähnen. Allerdings konnte man seinem Blick nicht ansehen was er dachte. Offenbar bemerkte er Olivers Blicke. Er sah auf. Sie beobachteten einander im Spiegel. Die Härte in seinen Zügen wich tiefem Bedauern. Langsam rollte der Jeep an. Er fuhr den großen Wagen auf den Innenhof. Kies knirschte unter den Reifen. Oliver drehte sich um. Das Tor schloss sich hinter ihnen. Es kam ihm vor, als besiegele dieses Bild ihrer beider Schicksal.
*
Daniel und Oliver wurden Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Die Räume übertrafen sogar den Komfort der Villa in der Hildastraße.
Trotz des verspielten, schlossartigen Gebäudes, sah die Einrichtung modern aus, wodurch Olivers Zimmer unpersönlich und leer wirkte.
Oliver wollte duschen und sich umziehen. Er fühlte sich widerlich. Als er sich im Bad auszog entdeckte er eine winzige, gut verborgene Kamera neben dem Spiegel über dem weiß lackierten Waschtisch. Die Linse richtete sich auf Dusche und Toilette. Erschrocken drehte sich Oliver um und suchte den Raum nach einer weiteren Kamera ab. Nach Sekunden entdeckte er sie diagonal zu der ersten. Sie deckte mit ihrem Radius den Bereich von Handwaschbecken und Tür ab. Aboutreika zeichnete alles auf.
Oliver schauderte. Es machte ihm nichts aus, wenn ihn jemand nackt sah – fast. Auf Aboutreika und seine perverse Bande traf das nicht zu. Das letzte bisschen Intimsphäre löste sich dadurch auf.
Rasch zog er sich wieder an.
Er warf sich sein schmutziges Jackett über. Nach einem kurzen, prüfenden Blick fand er auch in dem Gästezimmer drei weitere Kameras. Ärgerlich atmete er durch. „Dieses Schwein!“, knurrte er.
Er klopfte an die Verbindungstür zu Daniels Zimmer.
„Komm rein!“, rief sein Freund.
Oliver drückte die Klinke herab und trat ein. Daniel saß auf dem Bett, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, während seine Hände zwischen seinen Beinen pendelten. Er sah zu Oliver. Das Blut trocknete auf seinem Gesicht. Seine linke Wange verfärbte sich dunkel. Daniels aufgeschlagene Lippe zitterte. In seinen Augen loderte nackter Zorn. Oliver trat zu ihm. Der Beamte betrachtete ihn mit glasigen Augen.
„Wir stehen unter Beobachtung“, flüsterte Oliver. Er kniete vor Daniel nieder. Behutsam berührte er die Wange seines Freundes.
„Ich weiß“, entgegnete Daniel rau. Seine Stimme bebte. „Die Türen sind nicht abgeschlossen. Aber wir stehen unter unbedingter Beobachtung.“ Er atmete stockend ein. „Das ist sein persönliches Psychospiel mit uns. So etwas zerrt mehr an den Nerven, als eine Gefängniszelle.“
Oliver nickte besorgt. „Dir geht es sehr schlecht“, vermutete er.
Daniel zuckte mit den Schultern. Sein Blick umwölkte sich noch mehr. „Ich habe es versaut“, sagte er leise. „Wir leben zwar, aber das hätte nicht passieren dürfen, Olli. Meine Aufgabe war es, auf dich zu achten und dich zu beschützen.“ Er legte seine Finger um Olivers Handgelenk. Behutsam drückte er es zurück. Während er die brauen zusammen zog, flüsterte er: „Ich habe es vollkommen vergeigt!“
Oliver ließ sich nicht so schnell abschütteln. Er wollte Daniel nah sein, besonders jetzt. In ihm bohrte der Wunsch, Treue und Freundschaft zu demonstrieren. Behutsam verschränkte er seine Finger in Daniels. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Der Polizist sah ihn an. Trotz und Schmerz verdrängten seinen Zorn. „Olli …“, begann er.
„Ich will nicht, dass du dir Vorwürfe machst“, fiel Oliver ihm ins Wort. „Du hast doch alles getan, um mich zu beschützen. Ich war unvorsichtig.“
Daniel seufzte hilflos. „Ich bin erst ein paar Jahre im Dienst. Bislang war ich aber immer sicher, allen Situationen gewachsen zu sein“, erklärte er. „Mitzubekommen, dass man nicht der Held ist, der man sein will, ist ernüchternd.“
Oliver nickte. Er kannte das Gefühl. Gegenüber seinen Brüdern empfand er nicht anders. „Ich weiß genau, was in dir vor sich geht“, flüsterte er. „Aber das ändert nichts daran, dass du ein wunderbarer Mensch und mein engster Freund bist.“ Er biss sich auf die Unterlippe. Die nächsten Worte wogen schwer für Oliver. Sie entblößten seine Gefühle und seine Seele. „So nah wie du steht mir kein anderer Mensch. Deswegen vertraue ich dir blind.“
Wortlos löste Daniel seine Finger. Im ersten Moment gefror Olivers Seele. Hatte er zu viel gesagt?
Seine Bedenken schmolzen, als Daniel ihm über das Haar strich und ihn schließlich in die Arme nahm.
„Das weiß ich doch schon die ganze Zeit“, flüsterte er. „Das ist ja mein Problem. Ich darf meine persönlichen Gefühle nicht an die mir Schutzbefohlenen hängen. Aber genau das habe ich vom ersten Moment an getan. Du bist nicht einfach ein Fall, sondern mein Freund.“
Olivers Herz machte einen Sprung. Er klammerte sich an Daniel und vergrub sein Gesicht an dessen Brust.
Sein Freund, den er liebte …!
*
Daniel stöhnte leise, als Oliver seine Wunden auswusch und ihn verband. Die meisten Verletzungen waren oberflächlicher Natur. Schürf- und Platzwunden verunzierten sein Gesicht. Einige blaue Flecken und Beulen kamen hinzu. Behutsam tastete Oliver durch Daniels Haar, um nachzusehen, ob er sich möglicherweise mehr getan hatte. Schmerzhaft sog der Beamte die Luft zwischen den Zähnen hindurch.
„Das tut höllisch weh!“
Oliver nickte. „Kann gut sein, dass du eine Gehirnerschütterung hast“, murmelte er nachdenklich. Durch den dichten Haarschopf seines Freundes sah er wenig von der Kopfhaut.
„Ich glaube nicht, dass der …“, er deutete zu einer der Kameras, „mich auf gelben Urlaubsschein heim schickt.“
Oliver sah ihn fragend an.
„Ärztliche Krankmeldung für Berufstätige“, erklärte Daniel.
„Das wird Aboutreika tatsächlich nicht machen“, lächelte Oliver. „Ich will nur hier heraus, zusammen mit dir.“
Daniel seufzte. Er saß auf einem Badezimmerhocker. Resigniert nickte er. „Wenn ich nur eine Idee hätte, was er mit uns plant?!“, knurrte Daniel.
„Nichts Gutes“, vermutete Oliver. Er versuchte Daniels Blick einzufangen. Bisher konnte er immer problemfrei in dem Gesicht seines Freundes lesen. Allerdings entdeckte er nur hilflose Wut und eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Diese Antwort traf ihn tief.
Oliver löste sich von Daniels Seite, um das Tuch auszuwaschen, mit dem er seinen Freund bislang gereinigt hatte. Er fühlte sich schrecklich. Mit steifen Bewegungen drehte er das Wasser auf und ließ es laufen, bis es heiß wurde. „Was weißt du über Aboutreika?“, fragte er.
Er fixierte Daniel durch den Spiegel mit seinen Blicken.
Der Beamte zuckte die Schultern. „Bedingt viel“, entgegnete er. Sein Blick glitt zu den Kameras.
„Ich glaube, das ist langsam egal“, antwortete Oliver ernst. „Wenn sie uns umbringen, will ich wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
„Du kennst ihn wahrscheinlich sogar besser als ich“, murmelte Daniel nachdenklich.
„Dennoch würde mich interessieren, was du weißt.“
Sein Freund musterte ihn fragend. Oliver drehte das Wasser aus dem Lappen und legte ihn über den Beckenrand. Schließlich wendete er sich Daniel zu. Offenbar wagte dieser nicht, hier zu sprechen. Oliver verstand es. Vielleicht hielt er sich an der geringen Chance fest, die sein Schweigen bedeuten konnte. Nach einigen Sekunden Schweigens nickte Oliver resigniert. Wortlos trat er zu Daniel. Er setzte sich neben ihn auf den Wannenrand.
Behutsam tastete der Beamte nach Olivers Hand. Er drückte sie aufmunternd. „Noch ist nichts verloren“, lächelte er.
*
Je mehr Zeit verstrich, desto nervöser wurde Oliver. Niemand kam in eines der Zimmer, niemand schien näheres Interesse an ihnen zu hegen. Oliver verbrachte seine gesamte Zeit bei Daniel. Furchtbare Angst bohrte sich in seine Seele. Er ahnte, dass es sich hierbei um reine Taktik handelte. Auf diesem Weg würde Aboutreika tatsächlich seinen unsauberen Kampf gegen Olivers Familie gewinnen.
Trotzdem versuchte er sich nichts von seinen Gefühlen anmerken zu lassen. Das allgegenwärtige Kameraauge nahm alles auf.
Oliver saß neben Daniel auf dem Bett. Sein Schädel dröhnte vor Schmerzen. Die meiste Zeit kauerte er verkrampft auf der Kante. Sein Rücken fühlte sich wie eine einzige Muskelverhärtung an. Permanent knirschte er mit den Zähnen.
Daniel redete fast die ganze Zeit. Obwohl es Oliver sonst sehr wichtig war, jedes Wort seines Freundes aufzunehmen, hörte er den Erzählungen nicht zu. Sein Blick driftete aus dem Fenster. Die Dämmerung brach herein. In dem Raum flossen Mobiliar und Schatten ineinander. Er lauschte auf jedes Geräusch im Haus. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn jemand über den Flur ging. Sein Herzschlag beschleunigte sich in diesen Sekunden. Allerdings atmete er jedes Mal auf, sobald die Schritte verhallten.
Es war ein Psychospiel!
Schlimmer als das Warten war die unerträgliche Stille, die von Zeit zu Zeit durch ein hohes Kinderstimmchen durchbrochen wurde.
Oliver spannte sich. Seine größte Angst wollte er sich nicht vergegenwärtigen. Dennoch brannte sie sich tief in seine Seele. Die Vorstellung, dass Aboutreika seine Brüder haben konnte machte ihn wahnsinnig!
Bei jedem Rufen und jedem Schrei federte er auf die Füße. Daniel ergriff immer wieder seine Hand und zog ihn auf die Bettkante zurück.
„Nicht“, riet er. „Aboutreika hat sie nicht gefangen. Da bin ich mir sicher!“
Oliver atmete ein. Sein Körper fühlte sich wie eine Stahlfeder an, die man zu lang gespannt hielt.
„Was wenn er sie doch hat?“, fragte er. Panik lag in seiner Stimme.
„Hat er sicher nicht“, beruhigte ihn Daniel. Er strich über Olivers Arm und zog ihn dichter zu sich.
„Wer ist denn das Kind?“, fragte Oliver nervös. Er sah zur Tür.
„Vielleicht eine Bandaufnahme, vielleicht ein Film?“, schlug Daniel vor. Oliver versuchte seinen Blick fest zu halten. Er entwich. Daniel konnte seine eigenen Ängste offenbar selbst kaum kontrollieren. Oliver begriff, wie nah seinem Freund diese Situation ging. Er ballte die Fäuste. Länger sitzen bleiben konnte er nicht mehr! Mit ausgreifenden Schritten ging er im Raum auf und ab. Sein Herz raste. Ihm wurde heiß und kalt. Unter all den gemischten Gefühlen vergaß er alles andere Wichtige um sich.
„Kann es nicht sein, dass er unser Versteck ausfindig gemacht hat?“, fragte er.
Daniel schüttelte entschieden den Kopf.
„So viel weiß ich über diesen Mann: er ist kein schießwütiger Mafiosi, der ohne Rücksicht auf Verluste handelt. Dazu ist Aboutreika viel zu intelligent.“
Leider musste Oliver zugeben, dass Daniel recht hatte. Auch er schätzte Aboutreika nicht so ein. Wenn es um dreckige Arbeiten ging, so ließ er sie mit aller gebührenden Diskretion erledigen.
Trotzdem musste Oliver wissen, wessen Stimme er hörte! Was hinderte ihn daran, einfach das Zimmer zu verlassen? Schließlich standen die Türen offen!
Er sah zu Daniel. „Ich muss der Sache auf den Grund gehen!“
*
Tatsächlich konnten sie den Raum ungehindert verlassen. Oliver sah sich auf dem Flur gründlich um. Bis auf die allgegenwärtigen Kameras sah er nichts, was auf eine Wache hindeutete. Vor und hinter sich bemerkte Oliver hohe, schmale Fenster, die von prächtigen Seidenstoffen flankiert wurden. Gemälde hingen vereinzelt zwischen den Kassettentüren. Auf dem auskragenden Podest oberhalb der geschwungenen Stufen stand eine schlanke, gläserne Vitrine. Oliver fühlte sich an eines der sicherheitsverglasten Monster aus den Museen erinnert, die seine Mutter oft mit neuen Kunstgegenständen bestückte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren Kruken und Statuetten darin echt. So wie er den Ägypter in Erinnerung behalten hatte, war er kein Mann, der sich eine Replik leistete. Der Gedanke, dass sicher seine Mutter diese Gegenstände geschmuggelt hatte, drängte sich ihm auf. Bitterkeit erwachte in seiner Seele. Oliver musste sich mit etwas anderem beschäftigen! Er wendete den Blick ab.
Im Moment war es auffallend still in dem Haus. Lediglich die Geräusche der nahegelegenen Biebricher Allee drangen gedämpft herüber.
Daniel spannte sich neben ihm. Der rasche, sichernde Blick seines Freundes verunsicherte Oliver. Fragend sah er Daniel an.
„Wir sind nicht allein!“, entgegnete der Beamte. Er deutete nach oben. „Ich denke es kommt von da.“
„Du hast etwas gehört?“, fragte Oliver ungläubig. Daniel zuckte die Schultern, nickte dann aber. Oliver war sich nicht so sicher. „Vielleicht ein Bus oder Auto …“, begann er. Vehement schüttelte Daniel den Kopf. Anhand seines nicht gerade stabilen Zustandes wollte Oliver sich nicht auf sein Gefühl verlassen. Mit einer Handbewegung ließ er Daniel den Vortritt. „Nach dir.“
Insgeheim musste Oliver Daniel zustimmen. Etwas kribbelte in seinem Nacken. Immer wieder rann eine Gänsehaut über seine Arme. Er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Möglicherweise waren es die allgegenwärtigen Kameraaugen. Sichernd sah er sich um. Er entdeckte keine einzige Linse, ging aber davon aus, dass sie irgendwo gut versteckt, hingen.
„Wer seid ihr?“, fragte eine helle Kinderstimme von der Dachetage. Oliver zuckte zusammen. ‚Das Kind!’, dachte er. Langsam hob er den Blick. Leider war das Treppenhaus fast gar nicht ausgeleuchtet. Er erahnte einen helleren Fleck in den Schatten über sich. Daniel blieb abrupt vor ihm stehen, sodass Oliver in seinen Freund hinein stolperte. Die Gestalt wich zurück, bis sie aus Olivers Sichtfeld verschwand. „Daniel!“ Oliver deutete hinauf.
Der Beamte folgte seinem Fingerzeig.
„Er ist weg“, flüsterte Oliver enttäuscht. „Da war doch ein Kind, oder habe ich mich geirrt?“
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Sicher nicht!“, sagte er fest. „Wir sollten vorsichtig sein, um den Kleinen nicht zu verschrecken.“ Er zögerte kurz. „Vielleicht solltest Du voran gehen.“
Oliver nickte. Rasch schob er sich an seinem Freund vorbei. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er, die Treppe hinauf. Am Rande seines Bewusstseins fühlte er schwache Verwunderung, dass bislang niemand aufgetaucht war, um sie aufzuhalten. Besonders weil sie gemeinsam auf Kinderjagd gingen.
Nachdem er den Podest erreicht hatte, sah sich Oliver mit zusammengekniffenen Augen um. Von hier aus zweigten einige, wenige Türen ab. Er vermutete, dass sich dahinter Dachkammern befanden. In der Art Gebäude gab es noch die alten Gesindezimmer.
Hier oben kragte der Podest halbrund aus. Alte, verstaubte Truhen flankierten eine weitere Vitrine, die allerdings bis auf wenige, wohl weniger wertvolle Stücke, leer stand. An den Scheiben hatte sich eine feine Schicht Staub abgesetzt. Fingerabdrücke befanden sich auf dem Glas. Offenbar war es Aboutreika ziemlich gleichgültig, was mit seinen Kunstschätzen dieserorts passierte.
Von dem Kind entdeckte Oliver im ersten Moment nichts. Keine der Zimmertüren stand offen, nirgends drängte sich jemand in die Schatten der Rahmen. Ungläubig rieb er sich die Augen.
„Weg!“, murmelte er verwirrt.
Am Rande seines Sichtfeldes bewegte sich etwas.
Oliver drehte sich langsam in die Richtung. Weicher, staubiger Teppichboden schluckte seine Schritte, als er in die Mitte des Podestes trat. Erst jetzt erkannte er die kleine, zusammengekauerte Gestalt, die sich in den Spalt hinter der rechten Truhe drängte.
Oliver ging in die Knie. Er spürte, dass das Kind verschreckt war. Warten und ruhig bleiben lautete sein Plan. Geduldig hockte er sich auf den Boden. Staub stieg ihm in die Nase. Es kitzelte. Verhalten nieste er und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Daniel folgte ihm langsam, setzte sich neben ihn und legte Oliver schließlich die Hand auf den Rücken. „Ein kleines Kind?“, fragte er.
Oliver nickte. Er griff nach hinten und legte seinen langen Zopf über seine Schulter. Zumeist sprachen Kinder ihn auf sein langes Haar an. Vielleicht konnte er den Jungen damit locken. Tatsächlich schaute der Junge eine ganze Weile fasziniert zwischen ihnen hin und her. Oliver hegte wenig Zweifel daran, dass der Kleine je einen Punk mit buntem Schopf gesehen hatte. Dazu lebte er in diesem goldenen Käfig zu sicher. Er zog sein Haargummi auf und löste den Zopf. Mit großen, erstaunten Augen beobachtete ihn der Kleine. Nach einigen Sekunden zog er misstrauisch die Brauen zusammen. Er legte den Kopf schräg und richtete sich auf, um besser sehen zu können. „Warum hast du lange Haare?“, fragte der Junge, ohne hinter der Truhe hervor zu kommen. „Mein Vater hätte sie mir schon lang abgeschnitten …“ Er überlegte kurz, wobei er Oliver von Kopf bis Fuß betrachtete. „Du bist doch kein Mädchen“, sagte er entschieden
Oliver lächelte über die Worte. Sie kamen mit vollkommenem Selbstverständnis über seine Lippen. Ihm war klar, dass es in diesem Haushalt keine optische Abweichung von der Norm geben durfte. Oliver legte den Kopf schräg. „Weil ich anders bin als andere Jungen und weil ich mache, was mir gefällt.“
Der Kleine verfiel in grüblerisches Schweigen. Oliver fühlte, wie Daniel ihn von hinten umarmte und seinen Kopf gegen seine Schulter stützte. Diese Nähe tat gut.
„Warum hast du grüne Haare?“, fragte der Kleine. „Das ist doch unnatürlich.“
Daniel löste eine seiner Hände. Er fuhr sich durch seinen wilden Schopf. „Klar. Das kommt, weil ich so unheimlich gern grüne Gummibärchen esse.“
Oliver verdrehte den Kopf, um seinen Freund anzusehen.
„Spinner“, lächelte er.
Daniel grinste ihn breit an. „Und stolz drauf!“
Als Oliver wieder zu dem Kind sah, untersuchte es gerade seine eigenen Haare gründlich. Schließlich stand der Junge auf und trat langsam zu Oliver und Daniel.
Er war klein und zierlich. Schwarzbraune Locken hingen in seine Stirn. Trotz des schlechten Lichtes erkannte Oliver, dass die Haut den Jungen sehr dunkel war. Das hübsche Gesicht erinnerte mehr an die kindliche Ebenmäßigkeit eines Mädchens. Er trug Jeans und einen dicken Pulli, war aber Barfuss. Oliver schätzte ihn auf vielleicht neun oder zehn Jahre ein. Anhand des Verhaltens tippte er auf vielleicht acht Jahre. Allerdings konnte er nicht davon ausgehen, dass der Kleine sich verhielt wie Christian oder Michael. Seine Welt aus Abenteuern schien sich allein auf das Haus und die Schule zu konzentrieren. Er war der Inbegriff eines braven Kindes in gehobener Atmosphäre.
Er setzte sich Oliver gegenüber auf den Boden. Wortlos beobachtete er die beiden. Oliver legte den Kopf schräg, wobei er gegen Daniels Schläfe stieß.
„Wer bist du?“, fragte er.
„Jamal“, antwortete der Junge schlicht. Noch immer beobachtete er ihre Reaktionen. Der Blick erinnerte ihn an das strenge Klassifizieren, das er von Erwachsenen kannte. Oliver revidierte seine Meinung über ihn. Die Stille und Unsicherheit stammte von einem zu behüteten Leben. Jamal besaß offensichtlich einen klaren Verstand. Er nahm alles auf, verarbeitete die Informationen und entschied, ob er jemand anderem Vertrauen entgegen brachte, oder nicht.
Oliver betrachtete den Jungen eine Weile. Jamal war fraglos ein Araber oder Ägypter. Seine zweite Annahme lag näher, da Aboutreika auch Ägypter war. Möglicherweise war dieser Junge der Sohn des Mannes, der Daniel und ihn entführt hatte.
„Ihr gehört nicht zu den Kollegen und Freunden meines Vaters“, stellte Jamal fest, wobei er die Brauen nachdenklich zusammen zog.
Oliver nickte. „Mein Vater war mit deinem bekannt und befreundet“, antwortete er. Die Erwähnung der „Freundschaft“ schnürte ihm die Kehle zu. Das war eine glatte Lüge … Freunde taten sich nichts an! Daniel drückte ihn sanft, schwieg aber. Stumm lehnte Oliver sich an seinen Freund.
Jamal hob kritisch eine Braue. „Wer ist dein Vater?“
„Thomas Hoffmann“, sagte Oliver mit belegter Stimme. Die Niedergeschlagenheit konnte er kaum aus seinem Gemüt verbannen, wenn er daran dachte, wie übel Aboutreika seiner Familie mitgespielt hatte. Jamal senkte den Kopf. Er nagte betroffen an der Unterlippe. Oliver erkannte in seinen Augen Schrecken. Tom Hoffmann sagte ihm also etwas!
„Ich bin Oliver“, sagte er leise. Er lehnte seinen Kopf wieder gegen Daniels. „Das ist mein Freund Daniel.“
Jamal hob den Blick. Oliver fühlte sich von den Blicken des Jungen regelrecht durchbohrt.
„Wegen deiner Mutter haben sich meine Eltern getrennt!“, sagte Jamal bitter.
Oliver fuhr zusammen. „Wie?“, flüsterte er.
„Jamal?!“
Die tiefe, tragende Stimme Aboutreikas drang aus einer der unteren Etagen durch das Treppenhaus. Der Junge verzog genervt das Gesicht. Trotzdem erhob er sich.
„Ich bin hier oben, Papa!“, antwortete er, während er zur Brüstung trat und hinab sah.
„Sind meine beiden Gäste bei dir?“, fragte er. Seine Stimme klang süffisant. Oliver schauderte unter dem herablassenden Tonfall. ‚Gäste?’, dachte er. ‚So kann man das auch nennen!’
Ihm war klar, dass diese Wortwahl nur zur Erniedrigung diente. Er spürte, wie der Junge sie beobachtete. Offenbar war seinem Gesicht deutlich anzusehen, was er dachte. Er wollte sich nicht verstellen. Das Kind vor ihm sollte ruhig wissen, was er von Amman Aboutreika hielt!
Irritiert sah Jamal ihm in die Augen. Er zögerte sichtlich mit der Antwort.
„Wir sind hier oben!“, rief Oliver bestimmt. Aggression und Hass lagen in seiner Stimme. Sie klang fremd in seinen Ohren. Er hörte sich nicht mehr wie ein Junge, sondern wie ein Mann an.
„Oliver, Daniel und ich reden“, fügte Jamal hinzu.
„Aha“, entgegnete Aboutreika kalt. Es hörte sich an, als spie er das Wort aus. In Oliver wuchs die Wut. Er ballte die Fäuste. Gleichsam mit seinen hoch kochenden Gefühlen stiegen auch seine Kopfschmerzen.
Daniel löste sich von Oliver. Wortlos erhob sich der Beamte und reichte ihm die Hände. Er stand auf und schüttelte sein Haar zurück. Gemeinsam traten sie an die Brüstung. Aboutreika warf ihnen einen ärgerlichen Blick zu.
„Kommen Sie bitte herunter!“, befahl er, wobei er seine Stimme nicht sonderlich erhob. „Du auch, Jamal!“
Der Junge zuckte zusammen. Oliver legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Im ersten Moment wollte Jamal zurückweichen, entschied sich allerdings anders. Vertraut legte der Junge seine Hand in Olivers.
Irritiert beobachtete Aboutreika seinen Sohn. Oliver fühlte sich nicht weniger verwirrt. Er bemerkte, wie stark der Junge zitterte. Obwohl Aboutreika nicht so aussah, als würde er seinen Sohn schlagen, fürchtete Jamal sich vor ihm. Die Sicherheit, dass Jamal sich eher zu einem Fremden, den er nicht mochte, flüchtete, als zu seinem Vater, verlieh Oliver allerdings ein wenig Genugtuung.
Behutsam zog Oliver den Jungen zu sich. Es fühlte sich nicht anders an, als bei seinen Brüdern. Jamal suchte Schutz, indem er sich unter Olivers Arm verkroch und sich an ihm fest hielt.
„Bitte, meine Herren!“, drängte der Ägypter.
Daniel tauschte mit Oliver einen Blick. Anhand des Verhaltens und des gereizten Tonfalls lag auf der Hand, was der Schwachpunkt Aboutreikas war: Jamal.
Was würde passieren, wenn der Junge seinem Vater zu gefährlich wurde? Liebte Aboutreika seinen Sohn? Oliver konnte es sich nicht vorstellen. Viel mehr glaubte er, dass der Ägypter in Jamal ein Statussymbol und einen relevanten Teil seiner Tarnung sah. Wenn Jamal zu einer Gefahr wurde, bestand die Gefahr, dass Aboutreika sich seines Sohnes entledigte.
Oliver wollte – nein, musste Jamal helfen! Fieberhaft überlegte er, was Daniel und er machen konnten. In diesem Haus blieb nichts unbeobachtet, vermutlich auch nichts ungehört. Allerdings mussten sie hier heraus kommen und den Jungen mitnehmen, bevor er zu einem der Opfer des Ägypters wurde!
Für einen winzigen Moment kam Oliver ein perfider Gedanke, den er sofort wieder von sich schob. Er würde es nicht fertig bringen, Jamal als Verhandlungsgrundlage zu missbrauchen. Der Kleine schlang seine Arme um Olivers Taille. „Ich will noch ein Bisschen mit den beiden spielen“, bettelte er, plötzlich wieder ganz und gar Kind. Oliver begriff, dass Jamal seinem Vater eine vollkommen andere Person vorspielte, als er war. Insgeheim musste er den kleinen Jungen bewundern, fürchtete aber zugleich diese Doppelbödigkeit bei ihm. Wenn der kleine schon jetzt so durchtrieben war, wie würde er dann in fünf oder zehn Jahren sein?
Aboutreikas Augen verengten sich zu Schlitzen. Er schwieg. Allein die Stille galt als ein Befehl. Vorsichtig löste Oliver Jamals Arme von sich, kniete vor ihm nieder und ergriff seine Hände. „Es war schön, dich kennen gelernt zu haben.“
Jamal sah trotzig zu ihm. Es dauerte einige Sekunden, bis Oliver begriff, dass der Junge nicht ihn ansah, sondern an ihm vorbei ins Leere starrte. ‚Show!’, dachte Oliver erschrocken.
„Vielleicht sehen wir uns noch einmal“, flüsterte Daniel, der dem Kleinen sanft durch sie Locken strich.
„Versprochen?“, fragte Jamal leise. Sein Blick war seltsam. Wut, Angst, aber auch Hoffnung lagen in seinen großen Kinderaugen.
Oliver nickte. „Ganz sicher.“
*
„Es war klug, nichts zu unternehmen“, sagte Aboutreika, während er mit einer Handbewegung Oliver und Daniel Platz in seinem Büro anbot. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass seine Worte eine versteckte Drohung waren. Oliver wurde bei den Worten heiß und kalt zugleich. Ganz banale Angst flutete durch seinen Körper. Die Präsenz Aboutreikas war erschlagend. Er verströmte Gefahr. Für Oliver reichte das Gefühl an ein Zusammentreffen mit einem hungrigen Tiger heran. Mühsam kämpfte er die Gedanken nieder. Das Letzte, was Oliver ihm zeigen wollte, war Schwäche!
Er setzte sich gegenüber dem Ägypter in einen unbequemen, modernen Stuhl. Daniel bezog hinter Oliver Position. Aboutreika sah allein in dieser Geste offenbar einen Angriff.
„Bitte setzen Sie sich!“, sagte er. Obwohl Aboutreika seine Stimme nicht erhob, verbarg sich darin ein unbestreitbarer befehl. Die Temperatur in dem Raum schien merklich abzukühlen.
„Danke, ich ziehe es vor, zu stehen“, entgegnete Daniel fest.
Oliver sah nicht zu ihm, aber er fühlte die warme, raue Hand seines Freundes, die sich auf seine Schulter legte und ermutigend zudrückte.
Aboutreika ließ sich in seinen Bürostuhl sinken und schlug die Beine übereinander. Mit beiden Ellenbogen stützte er sich auf die Armlehnen, während er langsam die Fingerspitzen gegeneinander legte.
„Wie Sie wollen, Herr …“ Er löste sich kurz und griff demonstrativ nach Daniels Dienstausweis, der auf dem Schreibtisch zusammen mit Waffe und Handy lag. Oliver war überzeugt, dass er Daniels Namen nicht ablesen musste. Alles war nur eine Show. Dennoch las Aboutreika den Namen ab, bevor er zu Daniel sah. „…Kuhn“, beendete er mit einem kühlen Lächeln. „Die Sturheit der unterprivilegierten Subkulturen, nehme ich an, oder?“
Er forderte Daniel absichtlich heraus. Oliver hielt den Atem an. So gut kannte er seinen impulsiven Freund allemal!
Der Beamte blieb ruhig. Er ließ sich nicht reizen. Seine Hand zuckte nicht einmal.
Die Situation entspannte sich etwas. Aboutreika nickte stumm. Sein Blick glitt zu Oliver zurück.
„Ich hoffe, dass es Ihnen in meinem Haus an nichts mangelt“, sagte er leise.
Vage erinnerte sich Oliver, dass sein Vater ihm viele Jahre zuvor geraten hatte, einen Araber nie in seiner Gastfreundschaft zu beleidigen. Trotzdem schwieg er. Anstatt dessen ließ Oliver seinen Blick von seinem Gegenüber abdriften. Zuerst war es nur Teil seiner persönlichen Demonstration von Unnachgiebigkeit, nach Sekunden fand er allerdings viele Details in dem Büro, die seine Aufmerksam beanspruchten.
Weniger die Einrichtung reizte ihn. Etliche Möbel glichen denen im Büro seines Vaters. Viele Schränke schienen sogar Duplikate zu sein. Oliver schob es darauf, dass Aboutreika ebenfalls Ingenieur war.
Interessanter erschienen ihm einige Fotographien auf dem Tisch und an der Wand. Sie waren meisterhaft; Schwarzweiß-Bilder, in herausragender Qualität. Sie erinnerten Oliver sofort an die Aufnahmen in der Kanzlei.
Leider besaß er nicht den perfekten Blick, um zu sagen, dass die Bilder von Rüttgers stammten.
Im Gegensatz zu den Aufnahmen des Anwalts, befanden sich hier immer Personen im Fokus, keine Gebäude.
Die Vorstellung, dass Aboutreika Bilder von Menschen um sich haben wollte, widersprach Olivers Vorstellung von dem Ägypter. Es bedingte, dass er menschliche Gefühle besaß. Daran zweifelte Oliver allerdings.
Nachdenklich sah er Aboutreika an. Der Ägypter wartete stumm. Er vermittelte das Gefühl zu lauern.
„Ich will Ihnen einige Fragen stellen“, sagte er so fest es ihm möglich war. Es gelang ihm überraschend gut.
Aboutreika hob eine Braue. „Sicher. Nur werde ich mir die Freiheit herausnehmen, darauf nach Bedarf zu Antworten.“ Seine dunkle Stimme besaß ein warmes Timbre. Trotzdem klang sie schneidend kalt.
„Weshalb haben Sie uns entführen lassen?“
Oliver musste schlucken, obwohl der Ägypter ihm keinen Anlass dazu gab. Im Gegenteil lächelte er.
„Du und dein Freund, ihr seid meine Gäste“, sagte er leise.
Olivers Kopfschmerzen zogen sich zu einem brüllenden Ball aus Schmerzen zusammen. Er senkte den Kopf. Verzweifelt versuchte er, das betäubende Gefühl hinter seinen Schläfen auszublenden. „Gäste“, wiederholte er matt. „Hätte nicht eine einfache Einladung gereicht?“
Aboutreika hob eine Braue, wobei er seinem Sohn fast ähnelte. „Wenn du mir verrätst, wie ich dich hätte erreichen sollen, wäre das wohl auch kein Problem gewesen.“
Oliver rieb sich die Schläfen. Die Antwort entbehrte einer gewissen Logik nicht. Allerdings war etwas falsch daran …
„Dann war es also Zufall, dass Ihre Schläger uns getroffen haben und Habicht mehrfach im Haus Markgrafs herum lungerte?“, fragte Daniel kalt. Der Spott in seiner Stimme ließ keinen Zweifel an seinem Misstrauen gegenüber Aboutreika.
Langsam lehnte sich der Ägypter in seinem Sessel zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust. An seinem rechten Ringfinger trug er einen polierten Ehering. Das einzige Schmuckstück, wie Oliver feststellte. Es schien fast, als habe Daniel die Sorte Frage gestellt, deren Antwort er verweigerte.
Trotzdem nickte er nach einer Weile. Möglicherweise reichte ihm die Zeit, sich etwas zurecht zu legen.
„Markgraf?“, fragte er. „Lebt der alte Mann denn noch?“ Seine Worte klangen scheinheilig. Olivers Wut erwachte wieder. „Tun Sie …“
Daniel brachte ihn mit einem Sanften Druck seiner Hand zum Schweigen.
Belustigt hob Aboutreika die Brauen. „Vor Jahren habe ich ihn das letzte Mal gesehen.“ Er überlegte offensichtlich. Oliver wusste, dass es nur gespielt war. Seine Gefühle brandeten immer höher. Er hasste dieses verlogene Scheusal!
„Wir sind beide Kenner und Liebhaber besonderer, antiker Bücher ägyptischen Ursprungs. Seine Leidenschaft hat mich einzelne Kunstschätze gekostet.“ Sein falsches Lächeln wurde zu einem hässlichen Verziehen der Lippen. „Wenn du seinen Nachlass regelst, mein lieber Oliver, denk’ bitte an mich. Ich habe hohes Interesse an Markgrafs Büchern. Sie wären mir einen Teil meines Vermögens wert …“
„Geht es Ihnen immer nur um Besitz?!“, zischte Oliver.
Darauf schwieg Aboutreika. Um seine Lippen zuckte es. Der Blick seiner dunklen Augen wechselte zwischen Spott, Bewunderung und Zorn. Trotzdem fasste er sich rasch. „ich meine es sehr ernst, mein Lieber“, sagte Aboutreika. Oliver erschrak. Der Klang seiner Stimme verriet, dass an dieser Stelle das Spiel endete. Der Ägypter wollte tatsächlich die Bücher! Ein Schauer rann über Olivers Rücken.
„Mein Großvater lebt!“, sagte er. Seine Stimme bebte leicht.
„Um auf Ihre Einladung zurück zu kommen“, bog Daniel das Gespräch um, wobei er ‚Einladung’ betonte, „würde mich interessieren, inwieweit Sie wussten, dass wir bei Rüttgers waren. Ihre Ochsen …“
„Ich wurde informiert“, entgegnete Aboutreika ungerührt. „Die Chance, den Sohn meines Freundes und Kollegen zu sehen und ihm betreffs dieser schrecklichen Sache mein Beileid auszusprechen, wollte ich mir nicht entgehen lassen.“ Er stockte nicht einmal bei dieser Lüge. Oliver empfand immer mehr Entsetzen über die Kaltblütigkeit Aboutreikas. Der Ägypter sprach unverwandt weiter. „Allerdings kam ich in der Wilhelmstraße an, als du und dein Freund bereits unterwegs zu eurem Wagen wart.“
Oliver kniff die Augen zusammen. „Rüttgers!“, vermutete er.
Aboutreika hob eine Braue. Die Geste drückte seine Verachtung für den Anwalt aus. Dieses Mal schwieg er.
„Warum wurde Daniel zusammen geschlagen?!“, fragte Oliver scharf. Bei diesen Worten erregte sich sein Gemüt endgültig. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und der Boden unter seinen Füßen bebte. Durch das Adrenalin in seinem Blut wurde ihm fast schwindelig.
„Ein wirklich bedauerlicher Zufall“, entgegnete Aboutreika ruhig. „Schicken Sie mir die Rechnung des Arztes, Herr … Kuhn.“ Er deutete mit einer Schwachen Kopfbewegung Richtung Daniel.
„Unterlassen Sie dieses infantile Spiel“, antwortete Daniel kalt.
„Sie sind ein neues Gesicht für mich“, entgegnete Aboutreika gelassen. „Für mich arbeiten zu viele Leute. Ich merke mir selten den Zusammenhang zwischen Gesicht und Namen.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf den Schreibtisch und Daniels Unterlagen. „Insbesondere, wenn mein Gegenüber viele Namen hat.“
Die Warnung stand offen im Raum. Aboutreika würde kaum zögern, das Wissen über Daniel eines Tages gegen ihn zu nutzen. Der junge Beamte enthielt sich eines Kommentars. Ihm war offensichtlich klar, dass ihr Überleben an jeder Reaktion und jeder Frage hing. Oliver überlegte, ob Habicht irgendwann in der gleichen Situation gewesen war. Angesichts eines Mannes wie Amman Aboutreika konnte er sogar verstehen, warum Matthias sich der Gewalt gebeugt hatte.
Für einen Moment wollte er den Ägypter direkt auf seinen Cousin ansprechen, unterließ es aber. In ihm drängten tausend Fragen, aber die Wenigsten konnte er gefahrlos stellen.
„Sie waren – wie Sie sagten - der Freund meines Vaters und meiner Mutter“, begann Oliver vorsichtig. Er erwähnte Silke, um zu sehen, wie Aboutreika reagierte. „Warum haben Sie nicht versucht zu verhindern, was passiert ist?“ Die Beantwortung dieser Frage wäre für Aboutreika mit einem Schuldeingeständnis zu vergleichen. Oliver spürte, wie Daniels Finger sich in seine Schultern krallten. In der Mimik des Ägypters zuckte es. Er schwieg. Sein Blick verlor sich jenseits des Raumes im Nichts.
„Ich bin ihr Freund“, antwortete er. Seine Stimme schien von irgendwoher zu kommen. Oliver kam es so vor, als spräche er aus seiner Erinnerung heraus. Genauso schnell wie dieses Phänomen auftrat, verschwand es wieder. Er fasste sich. In seinen Augen flammte Boshaftigkeit auf. „Ich bin so sehr Freund deines Vaters“, sagte er betont, „dass ich Tom anbieten möchte, euch - dich und deine Brüder - aufzunehmen.“ Seine Stimme klang wieder kalt. Oliver zuckte entsetzt zusammen. „Niemals!“, stieß er impulsiv hervor. Aboutreikas Mundwinkel zuckten ungehalten. Eine Mischung aus Belustigung und Zorn zeichnete sich auf seinen ebenmäßigen Zügen ab. Plötzlich begriff Oliver, dass er in eine Falle tappte. „Haben sie uns deswegen hier her gebeten?“, fragte er kalt.
Der Ägypter nickte. „Ich sehe es als Dienst an meinem Freund Tom an.“ Er lächelte herablassend. Für Oliver war es lediglich ein verziehen der Lippen, ohne jedes Gefühl. Christian, Michael und er waren für Aboutreika lediglich Ware, die er kaufte, um sich seine Freiheit, sein Seelenheil und das Recht über den besitz der Familien Hoffmann und Markgraf zu sichern. Oliver wurde bei all dieser hintergründigen Perfidität schlecht.
„Wir haben immer noch unseren Großvater.“ Oliver zog die Brauen zusammen und richtete sich unwillkürlich in seinem Stuhl gerade auf.
„Walter Markgraf ist ein 90jähriger Greis, dessen Vergangenheit ein schmutziger, widerlicher Moloch ist“, entgegnete Aboutreika entspannt. „Glaubst du wirklich, dass ihr an ihm noch nennenswerten Spaß haben werdet?“
Diese Worte lösten in Oliver tiefe Schuldgefühle gegenüber seinem Großvater aus. Er sprang auf.
„Wie können Sie nur so gefühllos über Menschen reden?!“
Ohne mit der Wimper zu zucken antwortete Aboutreika: „Weil es die Wahrheit ist. Silke sprach oft von ihm und seinen radikalen Ansichten.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn er sein Geschäft verliert, ist sein Leben beendet, Oliver.“
Bevor Oliver etwas sagen konnte, erwiderte Daniel scharf: „Das mag stimmen. So etwas auszusprechen ist gefühllos und zeugt von Ihrer mangelnden Sensibilität!“
Oliver schluckte hart. Er sah über die Schulter zu Daniel. „Mein Großvater hatte mir vor einigen Tagen gesagt, dass ich hart werden muss, um all das nicht mehr an mich heran kommen zu lassen.“ Erschrocken sah Daniel ihn an. Ruhig wendete Oliver sich dem Ägypter zu. „Er hatte recht.“
Aboutreika lächelte kalt. „Die Einstellung hilft dir in Zukunft. Deswegen bin ich der Meinung, dass du dich leichten Herzens für meine Obhut entscheiden wirst. Schließlich bin ich beinah so etwas wie ein Anverwandter.“
Zähneknirschend starrte Oliver ihn an. „Die Optionen kenne ich“, knurrte er. „Wir kommen in Heime.“
Eine Braue Aboutreikas zuckte hoch. Er lächelte nicht. In seiner Mimik lag stumme Zustimmung.
Oliver erstarrte innerlich. „Das ist Erpressung.“
„Nein, nur das Gesetz“, entgegnete der Ägypter leise. Oliver wusste, dass er recht hatte. Dennoch verabscheute er die Berechnung Aboutreikas. Der Druck in Kopf und Herz stieg immer stärker an. Wirbelnde Gedanken, unausgesprochne Worte und Hass, der sich in seine Seele fraß, elektrisierten ihn. Er spürte regelrecht, wie der Damm aus Angst diesen Gefühlen nicht mehr stand hielt. Eine Woge aus Kraft erfasste ihn. Das war der Moment, in dem er zum Gegenangriff ansetzte! Oliver sprang auf. „Sie brechen mich nicht!“, schrie er.
Aboutreika lächelte falsch. Mit entsetzen wurde Oliver bewusst, dass er erneut in eine Falle gegangen war!
Im gleichen Moment spürte er, wie Daniel ihn in den Stuhl zurück drückte. Behutsam ergriff er Olivers Hände und hielt sie fest. Das Gefühl half ein Wenig. Ihm wurde schwindelig. Betäubt sah er Aboutreika an.
„Sie sind grausam“, flüsterte er.
*
Aboutreika gab Oliver Bedenkzeit. Allerdings verlangte er von Daniel, vorerst bei ihm zu bleiben. Im ersten Moment schien es, als wolle der Ägypter dafür sorgen, dass Oliver freier entscheiden konnte. Doch Aboutreikas Angebot deutete auf Zwang hin, also diente diese Taktik nur dazu, Oliver die Bezugsperson zu nehmen um ihn zu verunsichern. Er fühlte sich bereits auf dem Weg zu dem ihm zugewiesenen Zimmer einsam. Ihm fehlte der Austausch mit Daniel. Oliver verstand die Denkweise Aboutreikas. Dieser Mann demonstrierte seine Macht über Menschen nicht durch Brutalität und wilde Drohungen, sondern durch die Verzweiflung, in die er seine Opfer lockte. Trotzdem saß Oliver in seiner Falle.
Er trat in den dunklen Raum. Seine Finger tasteten nach dem Lichtschalter. Er fand keinen Dimmer oder Hebel. Schließlich verzichtete er ganz auf das Licht. Erschöpft ging er zu dem Bett hinüber und ließ sich in die Kissen fallen. Schmerz und Angst pressten ihm in der stillen Einsamkeit des fremden Raumes die Luft fast ab. Verzweifelt vergrub er sein Gesicht.
Mit jeder Entscheidung, die er fällte, bereitete er seiner Familie und Daniel größere Probleme. Wütend auf seine eigene Unfähigkeit, den richtigen Weg zu wählen, schlug er mit seiner Faust in die Decken. Ohne seine unnachgiebige Neugier wäre er nie in dieser Sackgasse geendet!
Oliver suchte nach einem Schuldigen, konnte aber nicht einmal den Ägypter dafür verantwortlich machen. Er hegte keinen Zweifel daran, dass der Aboutreika ihn genauso benutzte, wie jeden anderen Mensch, dessen Weg er kreuzte. Durch seine depressiven Eindrücke getrübt, sah Oliver jede Entscheidung, die er bislang abgelehnt hatte, als besser an.
Nach einer ganzen Weile Herumirrens in seiner näheren Vergangenheit, gelang es ihm, sich wieder auf die letzte Unterredung zu konzentrieren.
Die Drohung in Aboutreikas Worten war unmissverständlich. Er würde dafür sorgen, dass die Familie auseinander gerissen wurde, wenn Oliver nicht auf sein Angebot einging. Davon abgesehen bedeutete es, dass er sie als Druckmittel gegen Tom einsetzen konnte.
Ein weiterer Punkt war Daniel. Er würde Daniel sicher nicht mehr sehen können. Die Tatsache, dass er Polizeibeamter war, würde Aboutreika sicher zu nutzen wissen. Oliver ging allerdings davon aus, dass Daniel nie auf ein derartiges Angebot eingehen würde. Er schauderte. Der Gedanke traf ihn nicht weniger tief, als ein Leben ohne seine kleinen Brüder. Selbst jetzt vermisste er sie schmerzlich.
Was würde aus Walter, was aus Matthias? Sein Herz zog sich zu einem klumpen aus Stein zusammen. Oliver rollte sich auf die Seite und zog die Beine an den Körper. Hilflos schluchzte er. Die Entscheidung, die er zu treffen hatte, berührte so viele Leben und veränderte sie nachhaltig. Welche Wahl war die richtige? Gab es hier überhaupt ein richtig oder falsch? Er barg das Gesicht in seinen Händen. Eine Woge heißer Tränen brach sich Bahn. Der Druck in seinen Schläfen nahm wieder zu. Die Gefühle stauten sich in ihm an. Er glaubte fast, zu explodieren. Sein Schädel … Höllische Kopfschmerzen pochten hinter seiner Stirn und seinen Augen, die ihn fast betäubten. Er krümmte sich zusammen. Diese Situation war unerträglich.
Mit beiden Händen drückte er gegen seine Schläfen.
Die Schmerzen ebbten langsam zu einem erträglichen Maß ab. Dennoch fühlte er sich schwach und ausgebrannt. Es gelang ihm nicht einmal, sich zu bewegen. Reglos blieb er auf dem Bett liegen. Seine Tränen rannen unaufhörlich über sein Gesicht und versickerten im Stoff. Trotzdem war er wieder in der Lage, nachzudenken. Er zwang sich die Situation zu zerlegen und die Konsequenzen zu erwägen. Er musste herausfinden, wem er auf welche Art am wenigsten schadete.
Für Matthias war es vielleicht schon zu spät. Aber seiner Freundin Natalie konnte er vielleicht noch helfen, wenn er an seine Einwilligung Bedingungen knüpfte. Wie es für seinen Großvater weitergehen sollte, wusste er nicht. Er fürchtete, dass der alte Mann abgeurteilt und in ein Heim gebracht wurde. Oliver konnte sich denken, dass das sein Tod war. Vielleicht konnte er Schutz und Freiheit für seinen Großvater zur Bedingung machen.
Damit würde er auf Aboutreika zugehen. Die Bedeutung einer Einwilligung für seinen Vater, sowie den nachlass Walters, auf den der Ägypter aus war, bedeuteten nichts Gutes. Oliver schloss verzweifelt die Augen. In jedem Fall schadete er seiner Familie.
Langsam stemmte er sich vom Bett hoch. Er brauchte alle Kraft dazu. Ihm war schwindelig und übel. Wankend stand er auf. Der Boden kippte unter ihm fort. Zugleich verlor die Welt um ihn alle Konsistenz.
*
„Olli!“
Daniels Stimme drang in sein Unterbewusstsein und löste eine Lärmflut aus. Mühsam kämpfte er sie in seinem benommenen Zustand nieder. Ihm war kalt. Seine Zähne schlugen aufeinander. Zitternd hob er die Lider. Obwohl lediglich schwaches Licht über den Boden kroch, brannte es sich in seine Netzhäute, um als stechender Schmerz hinter seiner Stirn zu explodieren. Oliver schloss die Lider. So gut er konnte barg er sein Gesicht. Daniels behutsame Umarmung nahm er kaum wahr. Er spürte durch wattige Schleier, wie sein Freund ihn vor der Helligkeit schützte. Die Kopfschmerzen sanken herab. Trotz allem blieb das Gefühl, keine Kraft zu haben. Obwohl er sich krank fühlte, entspannte er sich wieder etwas.
„Mein Gott, Olli“, flüsterte Daniel. „Hast du mir eben einen Schrecken eingejagt.“ Er fühlte die rauen Finger seines Freundes, die behutsam über seine Wange Strichen.
„Daniel“, murmelte Oliver erleichtert. Seine Zunge fühlte sich schwer an. Er lallte etwas, als habe er zu viel getrunken.
„Du hast Fieber“, sagte Daniel leise. „Der Tag war zu viel für dich.“
Oliver versuchte den Kopf zu schütteln. Die Welt um ihn kippte zur Seite. Vorsichtshalber ließ er es.
„Was hat er dir noch gesagt?“, hauchte er.
„Später“, flüsterte Daniel. „Darüber reden wir später.“
Behutsamer Druck und die Wärme von Daniels Körper drangen zu Oliver. Er lehnte sich an seinen Freund. Für Sekunden drifteten seine Gedanken in erlösende Schwerelosigkeit ab. Oliver merkte, wie sich die Belastung in seinem Herzen abbaute. Daniel. Ein Leben ohne seinen Freund konnte er sich nicht mehr vorstellen. Wenn er sich für Aboutreika entschied, würde er Daniel verlieren. Stöhnend vergrub er sein Gesicht an Daniels Brust.
„Du musst etwas essen und trinken.“
Oliver wurde schlecht, sobald er nur an Nahrung dachte. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ihm war bewusst, dass er seit vielen Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte. Vielleicht baute sein Körper deswegen ab. Vorsichtig atmete er durch. Sein Mageninhalt hob sich. Trotzdem zwang er sich, zu vollem Bewusstsein zu kommen. Es gab immer irgendwo Kraftreserven, die er angreifen konnte. Schließlich war er groß, muskulös und zäh! Mit Daniels Hilfe gelang es ihm, sich aufzurichten.
Licht und rasche Bewegungen waren seine Feinde. Er verlor schnell das Gleichgewicht. Daniel stützte ihn.
Momentan fühlte Oliver sich kurzatmig und unendlich müde.
„Wie ist das nur passiert?“, fragte Daniel.
Oliver seufzte. „Keine Ahnung.“
Während ihn der Beamte behutsam zum Bett lotste, fing sich Olivers Gleichgewichtssinn langsam wieder.
In den weichen Kissen begann er sich tatsächlich zu erholen. Der Stoff war noch immer feucht von seinen Tränen. Im Moment musste Oliver wirklich wie ein verheultes Kind auf Daniel wirken. Doch jetzt war nicht der Moment, den jungen Beamten von seinen Qualitäten und seiner Stärke zu überzeugen.
Oliver kam es vor, als sei das der Augenblick der Wahrheit, der er sich stellen musste: der Spiegel.
Er verdrängt den Gedanken.
„Was hat Aboutreika gesagt?“, fragte er leise.
Daniel sah ihn ernst an. „Er kennt meinen Geburtsnamen“, flüsterte er.
Oliver nickte betroffen. „Das dachte ich mir. Er steht sicher in deinem Dienstausweis“, vermutete er.
Daraufhin schwieg Daniel. Mit gesenktem Kopf sah er zur Seite. „Natürlich“, murmelte er. Bittere Wut loderte in seinen Augen. „Ich habe ihn bislang nicht einmal dir genannt. Selbst meine Kollegen nennen mich alle Daniel Kuhn.“ Er ballte die Fäuste. Seine Adern traten auf dem Handrücken deutlich hervor. Oliver brannte es auf der Zunge, Daniel zu fragen, wie sein wirklicher Name lautete. Aber er brachte es nicht fertig. Behutsam nahm er die Hand seines Freundes und umschloss sie. Nur langsam lösten sich Daniels verkrampftet Finger. „Was kann er mit dem Wissen anstellen?“, fragte Oliver.
Daniel hob die Schultern. „Viel. Er hat mich in der Hand. Glücklicherweise bin ich gegen Habicht unbedeutend in meiner Arbeit.“ Er sah zu Oliver. „Namen sind in der Punk- und Skin-Szene unbedeutend. Ich sorge lediglich dafür, dass es generell zu keinen allzu schweren Ausschreitungen zwischen den beiden Seiten und den uniformierten Kollegen kommt, konzentriere mich auf mehr politische Ermittlungen, und Ähnliches.“ Er lächelte verkrampft. „Ich liebe den Job, weil ich nun auch ein Punk bin. Freiheit bedeutet mir alles. Wenn ich Pech habe, war es das. Dann versauere ich im Büro, hinter meinem Schreibtisch.“
Oliver wusste nicht, was er sagen sollte. Stumm hielt er Daniels Hand fest.
Der Beamte neigte sich herab. Für einen Sekundenbruchteil erschrak Oliver, als sich ihm Daniels Gesicht näherte. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Was geschah gerade?
Erschöpfung, Erwartung und Angst bauten neuen Druck in ihm auf. Wollte Daniel ihn …
Der Beamte neigte sich über Oliver, bis seine Lippen beinah sein Ohr berührten.
„Die Zahlenkolonnen“, flüsterte er. „Ich weiß, was sie bedeuten!“
Daniels warmer Atem kitzelte auf der Haut. Oliver nahm im ersten Moment nur das elektrisierende, schöne Gefühl der Nähe wahr und gab ich ihm hin. Er hörte kaum auf das, was sein Freund sagte … Bis die Worte sinngemäß in seinen Verstand sickerten!
„Was?!“, hauchte er aufgeregt. „Das, was du bei meinem Vater im Büro gefunden hast … und ich bei Rüttgers?“
„Genau“, antwortete Daniel leise. „Es sind laufenden Nummern der Kameramitschnitte. In seinem Büro kam einer seiner Mitarbeiter vorhin mit einer der Aufnahmen herein und stellte Aboutreika dazu Fragen. Die beiden haben in ihrer Landessprache geredet, aber ich konnte einen Blick auf die DVD werfen. Sie besaß eine solche Nummer.“
Oliver hielt die Luft an. „Dann hat mein Vater sicher Nummern notiert, die Aboutreika belasten können.“
Daniel lächelte. „Das denke ich mir ja.“
„Wenn wir nur hier heraus …“ Oliver verstummte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Tür lautlos aufschwang. Er fuhr zusammen. Schmerzen und Erschöpfung wichen aus seinen Gliedern. Daniel sah über die Schulter. Erschrocken sog er die Luft zwischen den Zähnen ein.
„Du?“
Die zierliche Gestalt Jamals lehnte sich von innen gegen die Tür. Einige Sekunden beobachtete er Oliver und Daniel.
„Jamal, was ist los?“, fragte Daniel leise.
Der Junge schwieg. Unsicher nagte er an seiner Unterlippe. Offenbar schien er mit sich zu kämpfen. Sein Blick bohrte sich in Olivers. „Was wirst du machen?“, fragte er. Seine Stimme klang hart.
Verwirrt betrachtete Oliver ihn. „Wovon redest du?“
„Der Vorschlag von meinem Vater“, entgegnete Jamal. Er klang nicht mehr wie ein kleiner Junge. In seiner Haltung spiegelte sich die Kälte Aboutreikas wieder.
Oliver richtete sich schwerfällig auf. Als er saß, fing sich seine schwankende Welt wieder.
„Du hast gelauscht“, stellte Oliver fest.
Jamal schwieg.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Oliver nach einigen Sekunden tonlos. Er sah den Jungen an. Vielleicht war er der Spion seines Vaters. Aber er glaubte nicht daran. Die Spannungen zwischen Amman und Jamal Aboutreika glichen denen zwischen ihm und seinem Vater.
Gleich wie Oliver sich Entschied, die Kameras beobachteten sie permanent. Der Ägypter war sicher schon informiert.
Jamals Augen verengten sich zu Schlitzen. Seine Lippen zuckten. „Ich hasse deine Mutter und dich und deine ganze Familie!“, zischte er.
Eine kurze, heiße Welle Zorns durchflutete Oliver. Trotzdem wisperte eine leise Stimme, dass der Junge alles Recht dazu besaß.
„Das wird meine Wahl kaum beeinflussen“, antwortete Oliver kühl. Sein Kopf begann erneut zu schmerzen. „Ich muss danach entscheiden, was den wenigsten Schaden anrichtet. Aber das ist vermutlich unwichtig für dich.“
Jamals Augen weiteten sich. „Was meinst du damit?“
„Wenn ich das Schicksal meiner beiden kleinen Brüder in die Hände deines Vaters lege, sind sie vielleicht sicher und können verhältnismäßig behütet aufwachsen. Chris und Micha sind wahrscheinlich auch immer in meiner Nähe, aber ich besiegele das Schicksal meines Vaters, meines Großvaters und meine Cousins und seiner Gefährtin.“
Aus dem Augenwinkel sah er zu Daniel. „Und ich würde meinen besten Freund verlieren.“
Er wendete sich Jamal wieder zu. „Du würdest mich nur noch mehr hassen, obwohl ich dir nichts getan habe.“ Er beobachtete die Gefühlsfluktuationen in der Mimik Jamals. Ihm wurde wieder schwindelig. Daniel stützte ihn. „Andererseits wird dein Vater dafür sorgen“, murmelte er erschöpft, „dass ich meine Brüder nicht wieder sehe, wenn ich mich gegen ihn entscheide.“
Betroffen senkte Jamal den Kopf. „Ich dachte, er wollte es, weil er deine Mutter liebte.“
„Kann der Mann lieben?“, fragte Daniel hart.
Jamals Augen verengten sich. „Was soll das heißen?!“, fragte er lauernd.
„Meine Mutter war auch nur sein Werkzeug“, erklärte Oliver kurzatmig.
Schweigend löste Jamal sich von der Tür und trat näher. Seine Schultern hingen herab. Die Worte schienen ihm die Kraft zu rauben.
„Ich weiß ja“, flüsterte er niedergeschlagen.
Oliver sah ihn mitleidig an. Mühsam, fast wie ein alter Mann, ließ sich Jamal neben ihm nieder. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Behutsam berührte Oliver ihn an der Schulter. „Jamal, warum bist du hier, bei ihm, nicht bei deiner Mutter? Warum tust du dir einen solchen Vater an?“
Der Junge stöhnte auf. Alles Leid lag in diesem Laut. Trotzdem kam kein Wort über seine Lippen.
„Wahrscheinlich hat sein Vater das Sorgerecht erhalten, weil er finanziell sicher ist“, erklärte Daniel leise. „Oder er hat sich seinen Sohn gekauft; sozusagen als Statussymbol.“
Olivers Herz zog sich zusammen. „Das wäre grausam.“
Er legte seine Arme um den Jungen und zog ihn beschützend an sich. Diese Geste war nicht böse gemeint. Oliver dachte sich nichts dabei, doch Jamal versteifte sich vor Schreck. Automatisch wich er zurück. Oliver begriff, dass seine Berührung von dem Jungen falsch aufgenommen wurde. Offenbar gab es niemand, der ihm auch körperliche Zuwendung gab.
Aus großen, entsetzten Augen betrachtete Jamal ihn. Sein Blick war eine Mischung aus Anklage und Ablehnung.
„Entschuldige“, sagte Oliver leise. „Wenn es meinen Brüdern nicht gut geht, kommen sie zu mir und suchen nach meiner Nähe …“
Jamal presste die Lippen aufeinander. Die Verbitterung des Jungen kam Oliver unfassbar groß vor. Er war noch so jung. Trotzdem wirkte er müde und alt. Argwöhnisch betrachtete Jamal Daniel, der offenbar Nähe demonstrieren wollte, indem er seine Arme um Oliver schlang.
„Ich bin nicht dein Bruder und Daniel auch nicht“, zischte Jamal. Oliver nickte schwach. „Aber Daniel ist mein Freund“, entgegnete er. „Der einzige, der ständig für mich da ist.“
Bei diesen Worten wurde Oliver bewusst, dass Daniel tatsächlich alle eigenen Belange für ihn zurück stellte, nur um bei ihm zu sein. Diese Erkenntnis gab für Oliver den Ausschlag. Seine Entscheidung stand fest. Er würde lieber ein Heim und alle nachfolgenden Probleme in Kauf nehmen, als seinen Freund zu verlieren, oder Aboutreika die Macht in die Hand zu geben, seine Familie zu manipulieren. Er atmete tief durch. Die Last auf seinen Schultern verschwand nicht ganz, aber er fühlte sich wieder etwas wohler. Für ihn stand außer Frage, dass die Konsequenzen drakonisch sein mochten. Trotzdem würde er sich nie unterordnen!
Er sah Daniel an und lächelte, bevor sein Blick zu Jamal glitt. Die Art des Jungen ihn zu beobachten, hatte etwas Beunruhigendes an sich. Wahrscheinlich würden sie nie miteinander aus kommen. Für Oliver stand fest, dass dieses ablehnende, unsichere Verhalten Resultat mangelnder Zuneigung war. Jamal mochte seinen Vater vielleicht irgendwann einmal bewundert haben, aber in seinem Kampf um Anerkennung musste er wohl gescheitert sein. Aboutreika züchtete sich seinen eigenen Henker heran. Eines Tages, wenn Jamal alt genug war um sich gegen seinen Vater aufzulehnen und aus dem Leben, in das er gezwängt wurde, auszubrechen, würde es zu einem grausamen Kräftemessen kommen. Zumindest sah Oliver dieses Ergebnis als logische Schlussfolgerung, wenn Jamal nicht mit mehr Liebe aufwuchs. Wortlos hielt ihm Oliver seine Hand hin. Vielleicht war es nur eine Geste, die der Kleine nicht wahr nahm. Oliver hoffte aber, dass Jamal darauf einging. Der Blick des Jungen flackerte. Unsicher rutschte er hin und her. Er kämpfte mit sich. Angst und Verwirrung machten sich in seinem Gesicht breit. Irgendetwas in ihm wollte fliehen, aber eine andere Macht hielt ihn fest. Schließlich sprang er auf. Einen Herzschlag lang blieb er stehen und starrte zu Oliver hinab, der seine Hand nicht zurück zog. Keuchend wich er zur Tür zurück, riss sie auf und rannte fort. Oliver sah ihm nach. Das Flurlicht brannte in seinen Augen. Obwohl er wusste, wie gering die Chance war, dass Jamal auf sein Angebot einging, fühlte er tiefe Enttäuschung in sich.
*
Nach Stunden der Schlaflosigkeit, die er in dem fremden Zimmer mit ruhelosen auf- und ablaufen verbrachte, betrat er lautlos Daniels Raum. Sein Freund lag auf dem Bett, alle Gliedmaßen von sich gestreckt und schlief fest. Oliver bewunderte seine Ruhe. Ihn machte die Umgebung nervös. Trotz der Tatsache, dass er zum Umfallen erschöpft war, fand er keinen Schlaf.
Eine Weile setzte er sich neben ihn auf den Boden. Er beobachtete Daniels friedvolle, tiefe Atemzüge. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er bewegte sich kaum. Zeitweise zuckten seine Lider. Wovon träumte er?
Oliver überlegte, wie weit sich Daniel in seinen Träumen verstrickte und wie real sie wohl sein mochten. Da er sehr viel Fantasie besaß, waren seine Nächte oft angefüllt mit unterschiedlichsten Schrecken und Abenteuern. Seit dem Tod seiner Familie nahmen die Träume immer finsterere Züge an. Aber wohin flüchtete sich Daniels Geist?
Oliver richtete sich auf und strich ihm das Haar aus der Stirn. Sein Freund regte sich leicht unter der Berührung. Seine Lider flatterten, aber er erwachte nicht.
Seufzend sah Oliver sich um. Was wohl Aboutreika über sein Verhalten dachte, wenn er die Bandaufnahmen sah?
Eigentlich war es ihm egal. Allerdings wusste er nicht, ob er dem Ägypter damit in die Hände spielte.
Er suchte nach den Kameraaugen unter der Decke. Bei der Dunkelheit konnte er kaum erkennen, wo sich die kleinen Geräte befanden. Langsam erhob er sich und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Wahrscheinlich besaßen die Geräte eine Art Restlichtverstärker, sodass sie auch Bilder lieferten, wenn es dunkel war. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe. Er konnte nicht untätig hier herum sitzen und warten. Andererseits …
Die Tür seines Zimmers schwang auf. Oliver fuhr zusammen. Barfuss huschte er hinüber. In dem schmalen Lichtkegel erkannte er die hochgewachsene Gestalt Aboutreikas. Olivers Herz setzte einen Moment aus. Eis rann durch seine Adern.
Der Ägypter stand ihm reglos gegenüber. Schaudernd wich Oliver zur Wand zurück. Zugleich regte sich sein Widerspruchsgeist.
„Lassen Sie mir so wenig Bedenkzeit?“, fragte er. Seine Stimme klang fester als er dachte. Dennoch schien Aboutreika zu spüren, dass Oliver Angst hatte.
Die Stille, die von ihm ausging, vermittelte eine unausgesprochene Drohung. Er schwieg. Langsam kam er näher. In Oliver spannte sich jeder Muskel bis zum zerreißen an. Reflexartig nahm er eine bessere Position ein, um sich gegen ihn wehren zu können. Einen knappen Meter vor Oliver blieb Aboutreika stehen. Seine Mimik verschwamm mit den Schatten im Raum. Dieser Mann blieb für Oliver eine uneinschätzbare Gefahr. „Ich gebe dir bis morgen früh Zeit“, sagte er. Seine Stimme klang heiser. „Dann verlange ich deine Entscheidung!“
„Warum kommen Sie mitten in der Nacht in mein Zimmer?“
Oliver wusste nicht, woher er die Dreistigkeit nahm, so forsch zu reagieren. Alles in ihm fürchtete diesen Mann.
Aboutreika trat einen Schritt näher. Oliver stieß vor Schrecken gegen die Wand. Das matte Flurlicht fiel auf das Profil Aboutreikas. Die Kiefermuskeln traten deutlich hervor. Seine Augen lagen tief in den Schatten seiner Brauen. Über seiner schmalen Adlernase reichte eine steile Falte bis zu seinem Scheitel. Er griff unsanft in Olivers Haar. Mit einem Ruck zog Aboutreika ihn zu sich. Es tat nicht weh. Allerdings spürte Oliver die Erniedrigung in der Geste. Seine Angst schlug in Zorn um. Ohne nachzudenken packte er Aboutreikas Handgelenk und drückte mit aller Gewalt seinen Daumen in die Pulsadern des Ägypters. Dessen Lippen zogen sich zurück. Sein Gesicht gerann zu einer Grimasse. Er verkrallte seine Fingernägel in Olivers Kopfhaut. Die Schmerzen gerannen zu einem weißen Glühen. Verbissen drängte Oliver die sie zurück.
Aboutreika stieß ihn mit aller Gewalt zurück. Olivers Hinterkopf schlug gegen die Wand. Hinter seinen Lidern blitzen Lichtpunkte auf. Wankend suchte er nach Halt, wobei er die Hand des Ägypters los ließ. Seine Knie wurden weich. Er knickte ein, schob sich dann aber wieder hoch. Aus zusammengekniffenen Augen sah er Aboutreika an. Der Ägypter war nur geringfügig größer als er. Oliver konnte ihm in die Augen sehen. Unmerklich wich sein Gegenüber zurück. Oliver spürte den hasserfüllten Blick des dunkelhäutigen Mannes. Er erwiderte ihn.
„Du bist deinem Vater erschreckend ähnlich!“, zischte der Ägypter.
„Leider habe ich kein Messer“, entgegnete Oliver kalt.
Er rechnete mit einem Schlag, der allerdings ausblieb.
Anstatt dessen erntete er ein kehliges Lachen. Oliver sah ihn abfällig an. Er wusste nun, dass Aboutreika eine Schwachstelle hatte. Allerdings wusste Oliver nicht, ob ihn die Ähnlichkeit zu Tom so aus dem Konzept brachte, oder die Tatsache, dass er sich wehrte. In jedem Fall musste irgendetwas an seiner Art, Haltung oder dem Aussehen den Ausschlag für seine Reaktion gegeben haben. Offenbar konnte sich der große Mann in persönlichen Konflikten nicht ganz so gut kontrollieren, wie er es seinen Geschäftspartnern vorspielte.
Daniel schob sich von einem Moment zu anderen vor Oliver.
„Finger weg von ihm!“, zischte er.
Oliver spürte die Wärme seines Freundes, als dieser ihn vorsichtig aus der Gefahrenzone schob. Aboutreika hob eine Braue. Wortlos löste er sich von seinem Platz und verließ das Zimmer.
*
Daniel fuhr zu Oliver herum. „Ist alles in Ordnung?“
„Irgendwie. Nur schneide ich mit irgendwann echt die Haare ab. Dauernd nutzt jemand sie, um mich daran an die Leine zu nehmen“, murmelte Oliver, während er seine Kopfhaut massierte.
Daniel seufzte. „So lang du dumme Sprüche reißen kannst, bist du okay.“
„So was in der Art“, entgegnete Oliver. Erschöpft ließ er sich gegen die Wand sinken.
„Warum war der Kerl in deinem Zimmer?“, hakte Daniel nach. „Hat er dir irgendwas angetan?“
Oliver schüttelte den Kopf. „Ich glaube er wollte mir lediglich drohen.“ Nachdenklich rieb er sich den Hinterkopf. „Aber etwas war seltsam“, murmelte er. Oliver versuchte sich Aboutreikas Verhalten wieder minutiös in Erinnerung zu rufen. „Als er direkt vor mir stand, hat plötzlich die Fassung verloren. Mir kam es vor, als habe er mich zum ersten Mal wirklich angesehen.“
„Er sagte, du ähnelst deinem Vater.“
Oliver lachte humorlos auf. „Leider sehr wahr“, bestätigte er. „Du meinst, daran lag es?“
Daniel nickte. „Vielleicht fürchtet er ihn.“ Er hob die Schultern. „Du bist in seinem Haus, rachsüchtig, verbissen in die Aufklärung verstrickt, kannst dich frei bewegen … klar ist der nervös.“
Erschöpft ließ Oliver sich auf die Bettkante sinken. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Daniel setzte sich vor ihm auf den Boden.
„Hast du dich schon entschieden?“, fragte er leise.
Oliver nickte. „Ich weiß nicht, ob Aboutreika uns nur als Druckmittel haben will. Vermutlich steckt mehr dahinter. Aber ich habe nicht vor ihn zu unterstützen“, murmelte er gedämpft. „Besonders wenn wir die Bandaufnahmen seiner Kameras haben.“
Daniel nickte. Seine Mine blieb ausdruckslos. Trotzdem funkelten seine Augen heller als zuvor.
Behutsam legte Oliver seine Hände auf Daniel Schultern und neigte sich vor. „Ich muss herausfinden, was Aboutreika plant und wo die Wurzeln für die Zusammenarbeit seiner und meiner Familie liegen. Warum waren meine Eltern für ihn so wichtig?“
Daniel verzog die Lippen. „Antiquitäten!“, erklärte er gedämpft. „Aboutreika sagte es selbst. Er will den Nachlass deines Großvaters.“
Oliver zog die Brauen zusammen. „Du meinst, meine Mutter hat ursprünglich für meinen Großvater gearbeitet, in dem sie für ihn wertvolle Bücher besorgte, stahl oder schmuggelte?“
Daniel nickte. „Es geht um den Schmuggel echter ägyptischer Kostbarkeiten und den Verkauf an Museen, Auktionshäuser und Privatinteressenten“, entgegnete er. „Dein Großvater hat sicher das Haus nicht von dem Erlös seines kleinen Buchantiquariats und den Mieteinnahmen halten können.“
„Dafür war meine Mutter wichtig für beide“, keuchte Oliver.
Daniel warf ihm einen warnenden Blick zu. Trotzdem erschütterte ihn die Nachricht zu sehr, um sich sofort wieder zu fangen.
„Als ich vorhin in seinem Büro stand, konnte ich einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen“, erklärte Daniel. „Auf dem Tisch stand eine gerahmte Fotographie, die Aboutreika als etwa zwanzigjährigen zeigte. Mit dabei waren ein weiterer Mann, der dir sehr ähnlich ist und zwei sehr junge Frauen: die eine blond, die andere brünett.“ Er holte tief Luft. „Die Blondine hat ebenfalls Ähnlichkeit mit dir. Ich vermute mal, dass es deine Mutter ist.“ Atemlos lauschte Oliver ihm. „Sie ist diejenige, die von Aboutreika in den Armen gehalten wird.“
Oliver zuckte zusammen. „Dann waren die beiden zusammen?“
„Nach Freundschaft sah das nicht aus“, entgegnete Daniel ernst. „Tom und die zweite Frau waren wohl eher einfache Freunde.“
„Dann hat sie meinen Vater geheiratet, aber nie geliebt?“, fragte Oliver ungläubig. Er schüttelte den Kopf. „Als ich klein war, hatte ich immer das Gefühl, dass sie sich abgöttisch liebten.“
„Warum dann der Verrat an ihm und der Mord?“, fragte Daniel. Seine Stimme blieb leise, verriet aber seine Anspannung.
Oliver wiegte den Kopf. „Damals waren wir eine wirkliche Familie. Sie haben sich geliebt und im gleichen Zug auch mich. Wir waren glücklich.“ Er atmete tief durch. Daniel hörte ihm wortlos zu. „Die beiden konnten die Abende nicht erwarten, bis ich ins Bett musste und kamen morgens kaum raus.“ Er lächelte. „Sie haben wahrscheinlich jede Nacht miteinander geschlafen. Morgens lagen sie oft nackt einander in den Armen, wenn ich zu ihnen unter die Decke kam.“ Er sah Daniel an. „Ich bin mir sicher, dass sie sich geliebt haben. Wenn Aboutreika mit meiner Mutter zuvor zusammen gewesen sein sollte, hat er meinen Vater und sie wahrscheinlich aus Rache entzweit!“
Daniel seufzte leise. „Was für ein Mensch ist das nur? Er ist vollkommen uneinschätzbar.“
„Zumindest erklärt es Aboutreikas Handlungen“, flüsterte Oliver. „Er hat sich an allen auf seine Art gerächt.“
„Du hast ihn an seinen Rivalen Tom erinnert“, murmelte Daniel. „Deswegen ist er ausgerastet!“
„Ich muss mit meinem Vater reden“, flüsterte Oliver. „Er ist der Einzige, der die letzten Puzzleteile zusammenfügen kann.“
Daniel seufzte. „Sie überwachen uns, haben mir meine Dienstwaffe und den Autoschlüssel abgenommen. Weit kämen wir nicht.“
Oliver nickte schwach. „Leider. Vielleicht kann ich später mit Aboutreika reden und du versuchst Jamal zu finden. Der Junge hasst mich. Er ist sicher glücklich, wenn er uns los ist.“
„Nein, er hasst dich nicht“, entgegnete Daniel ernst. „Er hat nur nicht begriffen, was für ein Monster sein Vater ist.“
„Wahrscheinlich …“, begann Oliver, wurde aber von Daniel unterbrochen.
„Du bist ein sehr herzlicher, unvoreingenommener Mensch, der – nach dem, was du mir eben erzähltest – mit Liebe und viel Körperlichkeit aufwuchs und das auch an seine Geschwister weiter gegeben hast. Selbst wir umarmen uns sehr viel und halten uns aneinander fest.“ Oliver schoss das Blut in die Wangen, aber Daniel ging nicht weiter darauf ein. „Jamal hingegen ist in einer gefühlskalten Atmosphäre aufgewachsen. Er kann sich nicht mit einer Person wie dir identifizieren, weil er nie gelernt hat, Wärme und Liebe zu geben. Ihm fehlt die Sensibilität dazu. Der Kleine ist die Zielscheibe aller Unzulänglichkeiten seines Vaters. Deswegen ist er vor dir weggelaufen. Das ist ihm unheimlich. Aber er würde in deiner Nähe schnell Vertrauen lernen, Gemeinschaftssinn und die Vorzüge eines großen Bruders, der bereit ist, jederzeit für ihn da zu sein.“
Olivers Wangen glühten nur noch heißer. Er senkte den Blick.
„Ich würde Jamal am liebsten aus diesem Museum befreien“, sagte er leise. „Bei Chris und Micha würde er auftauen …“
Lächelnd gab Daniel ihm einen leichten Schubs. „Du brauchst wirklich ständig jemand, um den du dich kümmern und den du beschützen kannst.“
Oliver hob die Schultern. „Ich bin eben immer der ältere Bruder gewesen.“
„Jamal wäre vermutlich sehr froh, wenn …“
Die Türangel knarrte leise. Oliver und Daniel zuckten zusammen. Mit Schrecken dachte Oliver daran, dass jedes ihrer Worte auf Band aufgezeichnet worden war.
Allerdings hob sich nicht Aboutreikas Silhouette gegen das fahle Flurlicht ab, sondern Jamals.
Oliver löste seine Hände von Daniel und stand auf. Auch der Beamte erhob sich.
„Was machst du um diese Uhrzeit hier?“, fragte Daniel.
Schweigend zog Jamal etwas aus seiner Hosentasche und hielt es Daniel hin. Gegen das Flurlicht erkannte Oliver den eigenartig tropfenförmigen Wagenschlüssel des Jeep Grand Cherokee.
„Ihr solltet gleich gehen“, erklärte er. „Im Moment schläft alles und die Kameras sind aus.“
Oliver ließ sich nicht zweimal bitten. Er zog seine Schuhe an und schlüpfte in das mitgenommene Jackett. Nur Daniel zögerte. „So einfach geht das nicht“, sagte er leise. „Zum einen wird dein Vater dir dafür den Hals umdrehen, zum anderen brauche ich meine Sachen: Waffe, Ausweise und Handy. In den Händen dieses Mannes wären sie mein Untergang.“
Jamal rollte mit den Augen. „Die sind sicher in dem Safe meines Vaters. Die Kombination habe ich nicht!“
Oliver sah zu Daniel. In den Augen seines Freundes lag tiefe Sorge. „Vielleicht kommen wir an deine Sachen.“ Mit wenigen Schritten stand er neben Jamal. „Zieh dich an“, bat er seinen Freund. Oliver vermutete, dass die Kombination nicht willkürlich gewählt wurde, sondern mit Bezug auf ein Datum oder eine Person. „Jamal und ich können uns den Safe mal ansehen.“ Er überlegte kurz. „Vielleicht finden wir auch weitere Video-Aufzeichnungen.“
*
Vorsichtig sah Oliver zu den Kameras unter der Decke des Flures. Die Signaldiode der Geräte blieb schwarz.
„Überwacht nachts niemand die Kameras?“, fragte er, an Jamal gewendet. Der Junge hob den Kopf und sah hinauf. Er zuckte nervös mit den Schultern. Misstrauisch beobachtete Oliver ihn.
„Schon“, gestand Jamal halblaut. „Allerdings wird zwischen Mitternacht und fünf Uhr in der Früh nur noch alle halbe Stunde kontrolliert.“ Er schob seinen Schlafanzugsärmel hoch und sah auf eine viel zu teure und wuchtige Uhr. „Wie haben nur wenig Zeit. Bis auffällt, dass ich die Überwachung ausgeschaltet habe, vergeht zwar eine Weile, aber mehr als fünf Minuten gibt uns das auch nicht.“
Oliver presste die Lippen aufeinander. „Du spielst mit deinem Leben, Jamal“, warnte er ihn.
Der Junge zuckte mit den Schultern. Oliver gewann den Eindruck, dass dieses Kind gar keine Vorstellung von der Gefahr hatte, die sein Vater bedeutete. Vorerst wollte er nicht näher darauf eingehen. Für ihn stand außer Frage, dass er den Jungen mitnehmen musste …
Ihm viel im Zusammenhang mit den Kameras wieder ein, was Daniel erzählte. „Sag’ mal, hast Du hier schon mal von 17-stelligen Zahlenkolonnen gesehen?“
„Keine Ahnung“, entgegnete er.
Nachdenklich legte Oliver die Stirn in Falten. Daniel war sich sicher, dass es sich dabei um einen Code der Kameraaufnahmen handelte … Der Gedanke entglitt Oliver angesichts der Eile. Jamal lief vor ihm den Gang entlang, bis sie die Treppen erreichten. Nervös lauschte Oliver in die Stille der Villa. Bis auf seinen Herzschlag und den leisen Atem Jamals hörte er nichts. ‚Erstaunlich’, dachte er. ‚Wie gut mussten die Wände gedämmt sein!’
Der Junge stand reglos, mit bloßen Füßen, neben ihm. Seine Hand ruhte auf dem kunstvoll gedrechselten Ebenholzgeländer. Vor ihnen verschwand die Teppichüberdeckte Treppe in diffusen Schatten. Unbehaglich trat Jamal von einem Fuß auf den anderen. Oliver spürte die Körperwärme des zierlichen Jungen.
Unschlüssig nagte Jamal an der Unterlippe.
„Was hast du?“, fragte Oliver sehr leise.
„Ich weiß, dass wir den Safe nicht aufbekommen“, sagte er leise. In seiner Stimme lag feste Überzeugung. Oliver hob eine Braue. „Versuchen sollten wir es aber.“
Jamal zuckte mit den Schultern. Während Oliver sich bereits in Bewegung setzte, blieb der Junge noch immer stehen.
„Was ist?“, fragte Oliver, während er angespannt über die Schulter sah. Jamal nickte unmotiviert. Sein Gesicht hellte sich auf. Rasch eilte er die Stufen hinab, an Oliver Seite. Seine warme Hand legte sich in Olivers. „Komm mit“, bat er leise.
*
Verwirrt folgte Oliver Jamal in den Flur, in dem auch Aboutreikas Büro lag. Allerdings schlich sich Jamal an dem Zimmer vorüber und eilte zu einem Raum, schräg gegenüber.
Die Zimmertür war klein und unscheinbar gegen die meisten Doppelflügligen. Jamal sah sich kurz um und legte schließlich das Ohr an das polierte Holz. Oliver schwieg nervös. Er spähte den Gang hinab. Unverwandt lauschte er auf jedes Geräusch im Haus. Er sorgte sich um Daniel. Ihr Zeitfenster schrumpfte sichtlich. Lieber wollte er sich keine genaue Vorstellung machen, wenn einer von Aboutreikas Männern sie auf dem Flur sah.
Das metallene Ächzen des Türknaufs schnitt unnatürlich laut durch die Stille. Oliver hielt erschrocken die Luft an. Besorgt sah er zu Jamal, der bereits die Tür einen Spalt breit aufgeschoben hatte. Vorsichtig spähte der Junge in den dunklen Raum. Oliver versuchte die Finsternis mit seinen Augen zu durchdringen. Er konnte nicht einmal die schwache Reflektion der Straßenlaternen wahrnehmen. Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken. In ihm schrie alles nach Flucht. Dieses Haus war unheimlich, sein Herr ein Monster und dieser Junge wurde ihm immer fremder.
Plötzlich flammte Neonlicht auf. Oliver kniff irritiert die Augen zusammen. Die Helligkeit hinterließ ein unscharfes Negativ hinter seinen Lidern. Er fühlte, wie Jamal ihn an der Jacke ergriff und in das Zimmer zerrte. Im ersten Moment wollte er sich wehren, gab aber rasch auf. Als sich seine Augen an die grelle Beleuchtung gewöhnt hatten, begriff er, wohin ihn Jamal gebracht hatte. Sie standen in der Sicherheitszentrale!
Oliver schob die Tür ins Schloss, bevor er sich kurz und gründlich in den ungeheizten Raum umsah. Die Monitore, und PCs erinnerten an den Empfang der Firma, in der sein Vater und Aboutreika arbeiteten. Auch wenn die Monitore gerade nichts weiter als den blauen Windows-Anmeldebildschirm anzeigten, kannte Oliver die wechselnden Aufnahmewinkel, die normalerweise auf dem Sekundärbildschirm ablaufen sollten. In eine feste Schalttafel waren Telefon und eine Soundanlage eingebaut, sowie ein Alarm- und Brandmeldesystem, wie Oliver es von seinem Vater kannte. In diesem Raum gab es weder Fenster, noch eine Heizung, aber eine Klimaanlage brummte leise. Dennoch konnte es hier nicht wärmer als vielleicht fünfzehn Grad sein.
„Wie schnell kann man die Kameras wieder starten und den Alarm auslösen?“, fragte Oliver nervös.
Jamal zuckte die Schultern. Etwas unschlüssig stand er an dem Schaltpult und sah sich um.
„Weiß ich nicht. Aber hier irgendwo lagern die Festplatten, auf denen sich alle Kameraaufnahmen befinden müssten.
„Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte Oliver.
Jamal sah über die Schulter. „Die siebzehn Zahlen sind kein Code, sondern einfach die Angabe der Aufnahmen.“
Oliver wurde hellhörig. Er straffte sich. Tatsächlich begannen die Zahlenkolonnen auf dem PC Rüttgers und in den Notizen seines Vaters alle mit 20 oder 200. Schlagartig begriff er! Mit der flachen Hand schlug er sich gegen die Stirn. „Das sind Jahreszahl, Monat, Tag, Uhrzeit …“
Jamal nickte eifrig. „Kelim hatte mir das mal erzählt“, erwiderte er ernst. „Die Zahlen unterteilen sich noch in Stunden, Minuten und Sekunden und Kamera.“
Oliver schluckte hart. „Warum haben Rüttgers und mein Vater diese Nummernkolonnen bei sich stehen?“
Jamal zuckte hilflos mit den Schultern. „Weiß nicht“, sagte er, von einem Fuß auf den anderen trat. Oliver zog seine Jacke aus und legte sie dem Jungen um die Schultern. Jamal gefror zu Eis. Der Schrecken, der ihn ergriff, ließ ihn bleich werden. Trotzdem behielt er Olivers Jackett an.
„Danke“, murmelte er.
Oliver sah ich an. „Sag’ mal, wo befinden sich diese Festplatten?“, fragte er. „Weißt du das?“
Jamal wiegte den Kopf. „Sie sind in einem der Schränke unter dem Pult weggeschlossen.
Oliver trat an dem Jungen vorbei, ging in die Knie und rüttelte an den versenkbaren Griffen des Pultes. Nichts tat sich. Für einen Moment überlegte Oliver, ob er hier etwas zum Aufbrechen fand, verwarf aber die Idee vorerst.
„Ist das Büro Deines Vaters offen?“, fragte er Jamal.
Schweigend zog der Junge die Brauen zusammen, nickte aber.
Oliver spürte neue Entschlossenheit in sich.
„Ich muss irgendwie an diese Aufnahmen kommen!“
*
Bis auf einen Brieföffner, Stifte und einige Büroklammern lag nichts Hilfreiches auf dem Tisch.
„Lass mich raten, entweder hat Dein Vater die Schlüssel für den Sicherheitsraum bei sich, oder einer seiner Männer hat sie?“, fragte er an Jamal gewendet. Der Junge verzog die Lippen und wies zum Safe. „Möglicherweise sind sie auch da drin.“
Oliver stand im Büro vor einem digital gesicherten Wandsafe. Angesichts des Gerätes verließ ihn der Mut. Das kleine Zahlenfeld gab nicht preis, wie lang die Kombination sein musste. Selbst wenn er daran nicht scheiterte, so würde er vor dem Fingerabdrucksystem kapitulieren müssen. Er spürte, wie Jamal ihn argwöhnisch beobachtete. Oliver rieb sich die Schläfen.
„Könnte er Daniels Sachen an einem anderen Ort aufbewahren?“
Jamal schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“
Seufzend hob Oliver die Schultern. „Dein Vater wird wohl kaum herunter kommen und das Ding hier öffnen. Von daher …“ Er unterbrach sich. Sein Blick fing den Jamals ein. Der Junge reichte ihm noch nicht bis zur Brust.
„Warum hilfst du uns beiden eigentlich?“, fragte er.
„Ich …“, Jamal senkte den Kopf. „Keine Ahnung. Vielleicht weil ich ihn hasse.“
Oliver legte dem Jungen die Hand unter das Kinn und drückte seinen Kopf behutsam hoch. „Niemals vor einem anderen den Blick senken Jamal. Besonders nicht vor mir. Du musst deine Gefühle nicht verstecken. Ich verstehe gut, was in dir vor sich geht.“
„Ach ja?“, fragte der Junge schwach. „Wenn mein Vater meine Gefühle mitbekommt, würde er mich eher dafür totschlagen.“
„Das macht er auch, wenn er mitbekommt, dass du uns geholfen hast“, entgegnete Oliver. „Ich will nicht, dass du hier allein zurück bleibst.“
„Nein“, entgegnete Jamal ernst. „Ich werde bleiben. Er soll wissen, dass ich gegen ihn bin. Anders kann ich mich nicht an ihm rächen.“ In seiner Stimme schwang weder Zorn noch Hass mit. Jamal legte Oliver schlicht seine Beweggründe dar. Anhand der tiefen Ernsthaftigkeit Jamals, empfand Oliver Respekt vor dem Jungen.
„Wenn dein Vater nur wüsste, wie stark du wirklich bist“, flüsterte Oliver. Überrascht hob Jamal die Brauen. Oliver lächelte, bevor er ihm durch die dichten, dunklen Locken strich. Dieses Mal wich Jamal ihm nicht aus. In den dunklen Augen las Oliver Wehmut. Der Junge war einsam.
„Ich hoffe, dass zumindest wir zwei uns wiedersehen.“
Über Jamals Lippen huschte ein scheues Lächeln. Trotzdem schwieg er.
„Lass uns gehen.“
Gerade als sie das Büro verlassen wollten, entdeckte Oliver das Bild von dem Daniel gesprochen hatte. Es zeigte tatsächlich seine Eltern. Tom konnte höchstens Anfang zwanzig sein, Silke schien gerade von der Schule gekommen zu sein. Offenbar befanden sie sich an Bord eines großen Segelbootes. Aboutreika stand in herrischer Pose am Steuer, während Silke sich lachend an seine Taille klammerte und er seine Hand besitzergreifend auf ihrer Hüfte hielt. Die Art wie sie sich berührten ließ keinen Zweifel daran, dass sie damals ein Paar waren. Links von ihnen kniete Tom auf dem Boden. Vor ihm lagen haufenweise Seile ausgerollt. Er sortierte sie offenbar. Auf der Reling saß eine zierliche Frau mit einem wilden Lockenschopf. Einzelne Strähnen wehten ihr in die Augen. Sie war bedeutend hübscher als Silke und, wie es aussah fröhlich und bedrückt zugleich. Der Blick zu Silke sprach von Eifersucht. Die Aufnahme war sehr scharf.
„Das ist meine Mutter“, erklärte Jamal. „Sie erzählte mir vor der Trennung von meinem Vater, dass sie mit deiner Mutter gut befreundet war. So eng, dass sie wie Schwestern aufgewachsen sind.“
Oliver sah ihn verwirrt an. „Ich habe sie aber nie gesehen. Aboutreika schon, aber niemals deine Mutter.“
Er fügte geistig der Liste von Fragen an Tom einen weiteren Punkt hinzu.
„Sie heißt Kerstin“, erklärte Jamal leise. Liebevoll strich er seiner Mutter mit einem Finger über das Gesicht.
„Warum bist du nicht bei ihr?“, fragte Oliver impulsiv.
„Sie hat in der Stadt ein Reisebüro. Nach der Scheidung ging es nicht mehr gut. Sie hat wohl sehr hohe Schulden. Deswegen bin ich hier.“
Oliver presste die Kiefer aufeinander. Wie ungerecht konnte die Welt sein? Zählte Liebe nicht mehr als Geld?
„Wo bleibt ihr?!“
Entsetzt fuhr Oliver zusammen, als Daniel lautlos in das Büro huschte.
„Erfolg?“, fragte er.
Oliver schüttelte den Kopf und deutete auf den Tresor. „Völlig unmöglich.“
Daniel wendete sich an Jamal. „Wo war mein Autoschlüssel?“
Der Junge deutete auf den Schreibtisch. „Der einzige Jeepschlüssel hier kann wohl nur dir gehören“, antwortete er. Olivers Blick strich über den Tisch und zu dem Bürocontainer. „Kann es sein, dass er Daniels Sachen dort deponiert hat?“, fragte er Jamal.
„Das macht er nur, wenn Leute nicht lang hier bleiben und am kommenden Tag Wagen und Personen fort sind.“
Die Worte jagten Oliver eisige Schauer über den Rücken. Jamals Aussage klang nach einer sehr endgültigen Abreise.
Daniel schien diesen Hinweis verstanden zu haben. Er trat zu dem Container und rüttelte an den Schubladen. Logischerweise waren sie verschlossen. Seufzend suchte er nach etwas, womit er die Fächer aufbrechen konnte. Olivers Blick huschte über den Tisch.
„Vielleicht der Brieföffner?“ Oliver deutete auf ein verchromtes, stilisiertes Messer.
Daniel nickte. „Schauen wir doch mal, ob wir bereits auf seiner Abschussliste standen!“
*
Während Daniel seinen Waffengurt umschnallte und rasch die Pistole kontrollierte, inspizierte Oliver einen Bund mit kleinen Sicherheitsschlüsseln. Jamal hielt sich dicht an seiner Seite. „Soll ich mal probieren, ob einer für das Schaltpult passt?“, fragte er leise. Nervös sah er auf die Uhr.
Oliver beschloss, sich nicht von der Unsicherheit anstecken zu lassen. Ihnen unterliefen Fehler, wenn sie sich jetzt aus dem Konzept bringen ließen.
„Wovon redest du?“, fragte Daniel gedämpft.
Oliver gab Jamal den Bund und machte eine rasche Handbewegung. „Moment, erzähle ich gleich.“
So schnell, wie der Junge aus der Tür über den Flur huschte, konnte Oliver gar nicht folgen.
Sichernd sah er sich auf dem Gang um. Es war immer noch nichts zu sehen oder zu hören. Langsam kehrte doch seine Nervosität zurück. Er huschte ebenfalls über den Flur und drängte sich durch die Tür in den Sicherheitsraum.
Jamal kauerte auf dem Fußboden. Mit fliegenden Fingern probierte er die Schlüssel aus. Oliver bewunderte sein Tempo. Er konzentrierte sich eher darauf, Wache zu halten. Sein Blick glitt zur Tür hinaus. Er lauschte angestrengt.
Das leise Rumpeln hinter sich ignorierte er.
„Es müsste doch längst Kontrolle sein, oder?“, wisperte er.
Jamal schwieg. Oliver drehte sich um. Der Junge drückte eine gepanzerte Doppeltür auf.
„Mist!“, fluchte er.
„Was?“
Oliver trat zu ihm. Er sah in den offenen Schrank. Hier standen mindesten dreißig schwarz glänzende, vollkommen identisch aussehende Festplatten. Er knirschte mit den Zähnen. Schließlich griff er nach den letzten fünf und zog sie hervor. Er wusste nicht, nach welchem System hier abgelegt wurde. Ihm blieb auch nicht die Zeit, sich über den Dateninhalte zu informieren. Möglicherweise hatte er vollkommen unwichtige Aufnahmen erwischt. Trotzdem blieb er dabei.
Jamal nahm auch zwei davon aus den Fächern. Schließlich breitete er Olivers Jacke auf dem Boden aus und packte so viel er konnte hinein.
Bewundernd half Oliver Jamal.
„Du hast Ideen“, lächelte er. Irritiert sah ihn der Junge an, lächelte dann aber. Oliver nahm die schwere Ladung auf den Rücken. „Lass uns zu Daniel gehen, okay?“
*
Im Büro sah Daniel sich den Inhalt des Containers an. Er legte mehrere Fotographien von Frauen nebeneinander auf die Tischplatte, als Oliver mit Jamal eintrat.
„Komm schnell!“, forderte Oliver ihn auf.
Nachdenklich hob Daniel eine Hand. „Wartet“, bat er leise.
„Was ist das?“, fragte Oliver neugierig. Er Lud die Festplatten ab und trat zu Daniel.
Reglos schaute der Beamte auf die Bilder herab.
Von einem Moment zum anderen begriff Oliver. Eine der Frauen erkannte er sofort wieder. Karin, die Sekretärin von Dr. Rüttgers.
„Sie ist wohl auch involviert“, murmelte Oliver besorgt.
Daniel nickte. Er tippte auf eine andere Aufnahme. Die junge Frau auf dem Bild trug ihr dunkles Haar streng zurück genommen. Sie sah ernst aus. Ihr Gesicht war ausnehmend schön, aber von strenger Härte. Aus hellen, kalten Augen sah sie in die Kamera.
„Wer ist das?“, fragte Oliver.
„Ich habe sie nur einmal gesehen“, murmelte Daniel. Aber ich glaube, dass sie das ist …“
„Wer?“, rief Oliver ungehalten.
„Natalie“, antwortete Daniel.
Erschrocken sah Oliver zu Jamal. Der Junge stand neben dem Schreibtisch. Er sah unverwandt auf das Foto. „Sie habe ich schon oft gesehen. Sie arbeitet seit Jahren mit meinem Vater zusammen. Seit Berlin. Er hat sie, weil sie eine besonders gute Schützin ist, glaube ich …“
Oliver sah Jamal gequält an. „Dein Leben ist in Gefahr. Wenn er das hier mitbekommt, bringt er dich um!“
Der Junge sah ihn wissend an, ging aber nicht darauf ein.
„Gibt es irgendetwas, das uns helfen kann, gegen deinen Vater vorzugehen?“, fragte Oliver verzweifelt.
Stumm schüttelte Jamal den Kopf. Impulsiv zog Oliver ihn an sich und barg ihn in seinen Armen. Die dünnen Arme Jamals schlangen sich fest um seine Taille. Er presste sich mit aller Kraft an Olivers Brust. In der Sekunde schlug die Bürotür gegen die Wand. Aboutreika stand im Rahmen. Sein Gesicht war eine unbewegte Maske, aus der Oliver seine Reaktionen nicht ablesen konnte. Allerdings verriet die Haltung Stolz und Überheblichkeit.
„Du hast dich entschieden“, sagte er nur schlicht, während er Oliver fixierte. Er ignorierte Daniel, der seine Waffe auf ihn richtete. „Du lässt also alle anderen für deinen Fehler büßen?“, fragte Aboutreika.
Oliver atmete tief durch. Er zog Jamal nur noch enger an sich. „Ich beschütze die, die ich liebe“, sagte er leise. Er sah zu Daniel. „Geht dein Handy noch?“
Sein Freund nickte lächelnd. Mit der linken zog er es aus seiner Hosentasche und hielt es Oliver hin. „Du kennst die Kurzwahlen ja.“
*
Oliver saß neben Daniel auf dem Beifahrersitz. Sein Blick verlor sich in der Dunkelheit auf der Autobahn. Die Digitalanzeige der Uhr zeigte an, dass es auf vier Uhr zuging. Für einen Besuch in der JVA war es definitiv zu früh. Trotzdem reichte ein Anruf von Frau Meinhard bei Rüttgers aus. Der Anwalt machte es möglich.
In vielleicht einer halben Stunde erreichten sie – wenn alles gut ging – Weiterstadt.
Trotz aller Anspannung dachte Oliver die ganze Zeit an Jamal. Er hoffte von ganzem Herzen, nicht auch noch ihm geschadet zu haben. Auf eine paradoxe Weise gehörte der Junge für ihn zur Familie. Er war Ellis Bruder, genau wie die Zwillinge und er selbst.
Das Geheimnis um diese verwirrende Vergangenheit konnte nur Tom noch lüften. Vier Menschen, die irgendwann Freunde waren schadeten sich so sehr, dass drei davon auf der Strecke bleiben mussten. Oliver schluckte hart. Das Bild auf dem Schreibtisch blieb in seiner Erinnerung präsent. Damals gab es keine Probleme. Wenn die vier gewusst hätten, was ihr Schicksal sein würde … Oliver zuckte zusammen. Vier?!
„Daniel, wer hat das Foto von den vier anderen damals gemacht?“, fragte er aufgeregt.
„Was? Wovon redest du?“ Daniel sah kurz zu ihm, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Autobahn.
„Das Bild auf Aboutreikas Schreibtisch! Es war eine Aufnahme von einer Segeltour. Damals müssen fünf Leute an Bord gewesen sein!“
„Selbstauslöser?“, schlug Daniel vor.
Oliver schüttelte den Kopf. „Bei Wind und Wellen würde die Aufnahme nichts werden. An Kerstins Haaren sah man, dass es wohl stürmisch war.“
Daniel schluckte hart. „Der Fotoapparat muss auf einem Stativ gestanden haben. Das Bild ist sehr gut und sehr klar.“
‚Rüttgers! Von ihm sind sicher auch die ganzen anderen Bilder in Aboutreikas Büro!’, schoss es Oliver durch den Kopf. Die Aufnahmen in seiner Kanzlei besaßen zwar ästhetisch einen höheren Anspruch, waren technisch aber genau so gut.
„Rüttgers ist der fünfte!“, rief Oliver.
Daniel warf ihm sein Handy zu. „Ruf Roth an. Er soll Meinhard und Bernd bescheid geben. Hoffmann und Habicht müssen unter speziellen Schutz gestellt werde. Wir brauchen Verstärkung in Weiterstadt.“
Ohne ein weiteres Wort trat er das Gaspedal durch. Er beschleunigte den Geländewagen rücksichtslos auf der schmalen Autobahn. Oliver wurde unsanft in das Sitzpolster gedrückt. Er warf einen Blick auf den Tacho und erschrak. Die Nadel rückte beharrlich auf 200 Stundenkilometer vor. Unwillkürlich krallte Oliver sich in die Armlehne der Beifahrertür.
Es war ihm im ersten Moment kaum möglich, seinen Halt aufzugeben, besonders als sich der Jeep in die lange Kurve zum Mainspitzdreieck legte. Daniel schaltete zurück. Der Motor heulte protestierend auf. Oliver fiel es im Moment sehr schwer, seinem Freund so weit zu vertrauen, dass sie die JVA in einem Stück erreichten. Trotz allem zwang er sich, das Telefon zu ergreifen und Frau Meinhard anzurufen.
Oliver fiel ein flackerndes Licht hinter ihnen auf. Er beobachtete die Scheinwerfer im Außenspiegel. Der Wagen beschleunigte im gleichen Maß wie der Jeep. Allerdings sprang das Fahrzeug wie ein Ball auf der unsanierten Fahrbahn.
„Wir werden verfolgt“, sagte Oliver alarmiert.
„Ich weiß. Die Karre habe ich seit Wiesbaden im Rückspiegel“, entgegnete Daniel angespannt. „Wenn Rüttgers seine Finger in der Sache hat, haben wir neue Probleme! Er ist eine nicht einzuschätzende Größe in dem Fall.“
„Was denn, Kuhn?“, fragte Frau Meinhard in Daniels Worte.
„Oliver hier“, meldete sich Oliver.
Sie stöhnte entnervt auf. „Was habt ihr zwei denn jetzt schon wieder gerissen?“
Oliver ging gar nicht auf ihre Worte ein. „Wir werden von einem anderen Wagen verfolgt!“, rief er.
„Bist du sicher?“, fragte sie.
„Sehr sicher“, entgegnete Oliver. „Ist es möglich, in der JVA anzurufen und meinem Vater und Matthias Habicht mehr Schutz zu gewähren?“
„Warum?“, fragte sie lauernd.
„Daniel und ich sind uns fast sicher, dass Dr. Rüttgers in den Fall involviert ist. Er war damals, in den Achtzigern, ein Freund von Jamals und meinen Eltern gewesen.“
„Macht ihn das zu einem Verbrecher?“, fragte sie zweifelnd.
„Das kaum“, rief Oliver. „Allerdings sind wir überfallen und entführt worden, als wir gerade erst aus seiner Kanzlei heraus waren. Außer Ihnen, Roth, Daniel und mir wusste niemand, wohin wir wollten.“
Sie knirschte mit den Zähnen. „Verstärkung bewilligt. Ich fahre selbst gleich los.“
*
Oliver fühlte sich noch immer erschöpft, zugleich zerrte die innere Unruhe an ihm. Sein Blick huschte immer wieder zu dem Wagen, der ihnen folgte. Nervös nagte er an seiner Unterlippe. Daniel hingegen schien mit jeder Minute ruhiger zu werden. Trotz der halsbrecherischen Geschwindigkeit behielt er den großen Wagen im Griff. Seine Hände lagen fest, aber nicht verkrampft auf dem Lenkrad. Er konzentrierte sich vollkommen auf die Autobahn. In Abständen sah er in den Rückspiegel. Die Gerade Strecke der A60 unterstützte ihn.
Leider galt das auch für den Wagen, der sie verfolgte. Oliver drehte sich nervös im Sitz um. „Kannst du ihn abhängen?“, fragte er.
Daniel schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht.“
Ein LKW scherte auf die Überholspur aus, um einen langsameren Laster zu überholen.
Oliver fuhr zusammen. Eiseskälte flutete durch Olivers Adern. Instinktiv krallte er sich in den Sitz. Vor seinem geistigen Auge sah er Daniel bereits mit über zweihundert Stundenkilometer in den Container des 40-Tonners rasen. Trotz der Schrecksekunde behielt Daniel den Wagen im Griff. Er zog das Steuer nach rechts. Der Jeep vollführte einen ungelenken Satz, geriet aber nicht ins Schlingern. Unbeirrt lenkte Daniel auf die Leitplanke zu.
Zugleich hupte der LKW-Fahrer, dem das Manöver nicht entging. Olivers Ohren dröhnten. Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Fahrer blockieren, in dem er ein Stück nach rechts zog.
Olivers Herz raste vor Angst. Er begriff, dass sein Freund den Standstreifen ansteuerte. Allerdings bezweifelte er, dass sie zwischen Leitplanke und LKW hindurch passten. Trotz allem versuchte Daniel es.
Erneut hupte der Fahrer. Mit einem kleinen Schwenker nach rechts, zog er seinen Truck wieder gerade und zog noch ein Stück nach links, um keinen Unfall zu verursachen. Trotzdem schien die Lücke viel zu eng zu sein. Daniels Gesicht war eine Maske. Anstrengung und Angst lagen in seinen Zügen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Trotzdem trat er das Gaspedal durch.
Oliver kniff die Augen zusammen. Im Geiste hörte er bereits Metall kreischen. Innerlich schloss er mit seinem Leben ab.
Der Jeep machte einen kleinen Satz Richtung Leitplanke, als er in ein Schlagloch geriet. Daniel korrigierte nicht sondern hielt den Lenker eisern ruhig. Schwarze Landschaft und die graue Plane des Lasters Flatterte. Oliver hörte das Knarren der Schnallen, die an der LKW-Planke befestigt waren. Der Truck bewegte sich etwas von Daniels Wagen fort. Die dumpfe Hupe dröhnte mehrfach. Von einem Moment zum nächsten fuhr sich Daniel frei. Er zog auf die Fahrspur zurück. Hinter ihnen gaben beide LKW-Fahrer zornig Lichthupe. Olivers Herz machte einen erleichterten Satz. Sein Kopf befreite sich von dem Druck. Erleichtert sank er in die Polster zurück. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr sich sein ganzer Körper verkrampft hatte. Auch Daniel atmete auf. Mit einem Seitenblick erkannte Oliver, dass alle Farbe aus den Zügen seines Freundes gewichen war. Offenbar hatte er selbst nicht an den Erfolg dieser Aktion geglaubt. Er atmete tief durch.
Keiner von ihnen sprach diese Aktion an. Erschöpft senkte er die Lider, richtete sich dann aber auf, um zu beobachten, ob ihr Verfolger dieselbe Wahnsinnsaktion betrieb. Hinter ihnen vielen die Scheinwerfer der Trucks zurück. Der andere Wagen blieb hinter ihnen. Ihr Schatten schien es aufgegeben zu haben.
Oliver fand auf dem Weg gar nicht die Zeit, sich mental auf den Mann vorzubereiten, der seine Familie auseinander gerissen und ihn fast zu einem Krüppel gemacht hatte. Er zitterte am ganzen Leib, als Tom in den Besucherraum geführt wurde. Sein Vater hatte sich verändert. Er schien um Jahre gealtert zu sein. Sein kurzes, blondes Haar wies erste graue Strähnen auf. Sein Oberlippenbart verlor die rötlich blonde Farbe. Aus tiefliegenden, lauernden Augen beobachtete er Oliver und Daniel. In seine markanten, maskulinen Züge gruben sich um Mund und Augen tiefe Linien. Sie verliehen seinem Gesicht noch mehr seiner gnadenlosen Härte. Oliver schauderte. Er erkannte Tom kaum wieder. Gerade in den letzten Stunden weilte seine Erinnerung bei dem Vater, den er aus seiner frühen Kindheit kannte. Diesen Mann wollte Oliver beschützen. Die Person ihm gegenüber sprengte das Bild und negierte alle liebevollen Gefühle mit seinem unversöhnlichen Hass. Oliver gewann den Eindruck, dass alle Männer aus der Familie ihn zutiefst verachteten. Trotzdem sah er Tom in die Augen.
„Sie sind Polizist?“, erkundigte sich ein Justizvollzugsbeamter noch einmal bei Daniel. Dieser nickte.
Der Mann wendete sich an Tom. „Sie sollten vielleicht mit Ihrer Unterredung auf Ihren Anwalt warten.“
Tom beachtete den Beamten nicht.
„Oliver.“ Er nickte seinem Sohn zur Begrüßung nur unpersönlich zu.
„Hallo Vater“, entgegnete Oliver kühl. Er fühlte sich betäubt und fremd. Eigentlich wollte er das nicht. Es entsprach nicht dem, was er fühlte. Erschrocken fragte Oliver sich, was er tatsächlich empfand. Seine Seele befand sich im Aufruhr. Gedanken und Erinnerungen wirbelten durcheinander. Er wusste, dass er einem Mörder gegenüber saß. Zugleich war der Mann aber auch sein Vater. Mit unumstößlicher Sicherheit wusste er, dass seine Eltern sich geliebt hatten und Oliver das Produkt dieser ersten, schönen Zeit war. Er erinnerte sich an all die wunderbaren Tage und die Nähe der beiden Menschen, die seine Eltern waren. Sie waren seine Zuflucht und seine Wärme …
Der Vortex seiner Gefühle laugte ihn aus. Oliver ließ sich auf dem Stuhl nach hinten sinken. Er rieb sich mit beiden Händen die Schläfen.
Was wollte er Tom doch gleich alles Fragen? In seinem Kopf herrschte dahingehend vollkommene Leere. Nur eine einzige Sache drängte aus ihm heraus.
„Warum hast du es getan?“
*
Irritiert blinzelte Tom. Er fasste sich sehr schnell wieder.
„Weil ich nicht anders konnte“, entgegnete er. „Silke hat mir keine Wahl gelassen.“
„Womit?“, fragte Oliver. Seine Stimme klang zu tief. Er fühlte sich erschöpft und tränenschwer.
„Mit ihrer Wahl.“
„Bitte! Ich habe nicht die Zeit, auf deine dummen Spiele einzugehen!“, murmelte Oliver genervt. „Kannst du mir auch in vollständigen Sätzen antworten?!“
Zuvor hätte er nie einen solchen Ton angeschlagen. In den letzten Tagen hatte sich alles geändert. ‚Hart werden?’, dachte Oliver. Wenn es bedeutete, dass man auch standhafter wurde und mehr einstecken konnte, so war Oliver unterdessen hart.
In den Augen seines Vaters blitzte Zorn. Die Mundwinkel zuckten nervös.
Oliver ließ sich ungerührt nach vorne sinken. Er ignorierte die Reaktion. Mit beiden Armen stützte er sich auf der Tischplatte ab. „Es gibt wahnsinnig viele ungeklärte Fragen, auf die nur du eine Antwort geben kannst.“
Sein Vater schwieg. Oliver warf ihm einen Blick zu. Die Mimik Toms verschloss sich.
„Ich will erst mal nicht darauf eingehen, warum du getötet hast. Viel wichtiger ist: Mutter hat Marc umgebracht.“
Es war keine Frage sondern eine Feststellung. Oliver wollte seinen Vater überrumpeln. Offensichtlich gelang es ihm auch.
Tom atmete scharf ein. Trotzdem schwieg er.
„Warum?“, fragte Oliver leise. Sein Blick drang in den seines Vaters. „Wollte sie dich verletzen oder reizen?“
Toms Lippen bebten.
„War es Rache an dir, weil sie dich nicht mehr geliebt hat?“, fragte Oliver beinah sanft.
Schweigend senkte Tom den Blick. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. „Sie hat mich geliebt“, antwortete er. Seine Stimme klang matt. „Es gab eine Zeit, in der sie mich hasste. Trotzdem hat sie mich geliebt.“
Er redete wirr. Oliver wusste, wie wenig seine Eltern miteinander auskamen. Sie gingen sich aus dem Weg oder stritten.
„Warum Marc?“, fragte Oliver beharrlich.
„Er stammte aus jener Zeit“, antwortete Tom ruhig. Sein Blick klärte sich. „Nach Ellis Geburt war es am Schlimmsten. Ich ertrug ihren mutwilligen Fehltritt nicht. Sie gehörte zu mir. Niemand dürfte sonst mit ihr …“
„Vater!“, insistierte Oliver. „Sie hat ihn vergiftet!“
Tom senkte den Kopf.
‚Ein gebrochener Mann’, dachte Oliver entsetzt. Sein Herz zog sich zusammen. Tiefes Mitleid tränkte seine Gefühle.
„Und du hast die Schuld für Marcs Tod auf dich genommen“, fügte Oliver leise hinzu.
Stumm sah sein Vater an ihm vorbei ins Leere. Er hörte die Worte offenbar kaum. Viel mehr driftete er in seine eigene Welt ab. „Sie hat geschrien, als ich ihr das Kind machte“, murmelte er zusammenhangslos. Er vergrub das Gesicht in Händen. Wortlos starrte Oliver seinen Vater an. Dieser sonst so starke Mann stand am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Das Geständnis der Vergewaltigung seiner Frau schien seinen Vater unaufhaltsam von der starken, harten Persönlichkeit fort zu treiben, die er einst war.
„Deswegen hasste sie Marc“, murmelte Daniel wie zur Bestätigung. Scheinbar hatte er alle offenen Punkte mit dem Justizvollzugsbeamten geklärt. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Oliver. Sorge lag in Daniels Augen.
Oliver beobachtete ihn einige Sekunden. Ein Schauer rann über seine Arme. Die feinen Härchen auf seiner Haut stellten sich auf. Oliver merkte, dass er fror. Die Kälte kam von innen heraus und kroch durch seinen Leib bis in seine Fingerspitzen.
Ahnungen wurden durch die Bestätigung Toms nun zur Gewissheit.
„Was hat Aboutreika mit euch zu tun?“, fragte Oliver leise. „Woher kanntet ihr ihn überhaupt?“
Tom hob den Kopf. Seine Haut schien alle Farbe zu verlieren.
„Amman?“, fragte sein Vater. Ein schriller unterton schlich sich in seine Stimme. ‚Angst!’, erkannte Oliver. Trotzdem nickte er.
„Amman“, wiederholte sein Vater tonlos. Er zögerte einen Moment, bevor er weiter sprach. „Wir haben zusammen studiert. Er und ich waren Freunde.“ Er überlegte kurz und nickte bestätigend. „Amman war mein engster Freund. Vom ersten Moment an …“ Erneut brach er ab. „Vielleicht nahmen wir es mit der Unzertrennlichkeit zu ernst“, fügte er hinzu.
Sein Geist schweifte in die Vergangenheit. Mit gläsernem Blick murmelte er: „Er nahm mich überall hin mit. Amerika, Britannien, Indien, Ägypten“, zählte er auf. Oliver sah seinen Vater erstaunt an. Offenbar waren die Freunde wirklich unzertrennlich. Tom fasste sich wieder etwas. „Ich wurde zum Dauergast im Haus von Ammans Vater. Der alte Aboutreika liebte mich wie seinen Sohn. Jeden Sommer verbrachten wir in Ägypten und lebten wie die Könige in der Villa seiner Familie. Ich begriff ihren Reichtum nicht.“ Er sah Oliver an. „Du weißt, dass ich aus einer reichen Familie komme, auch wenn davon keiner mehr lebt.“ Oliver nickte unsicher. „Viel weiß ich nicht …“
Tom schien in Redelaune zu sein. „Als Fünfjähriger habe ich meine Eltern verloren“, erklärte Tom. Deswegen hat mich meine Patentante in Berlin zu sich genommen. Sie war reich und viel zu alt, um meine Erziehung noch allein zu übernehmen, weswegen ich in Internaten war.“ Er lächelte. „Schweiz, Frankreich, England …“ Mit einer Hand machte er eine wegwerfende Bewegung. Das alles war nur nicht mit dem Reichtum der Aboutreikas gleichzusetzen. So lebten Könige.“
Oliver hatte eine vage Ahnung von dem, was sein Vater andeutete. Aboutreika musste sich in der Villa in Wiesbaden fast wie in einem Käfig fühlen, wenn er so viel Reichtum gewohnt war.
„Ich weiß“, murmelte er.
Tom schien die Worte nicht mitzubekommen, denn er sprach weiter: „Anfangs dachte ich, der Prunk sei Überbleibsel der Kolonialzeit. Aber ich irrte mich. Ammans Vater war Kunstkenner und Historiker. Er kaufte und verkaufte für das Museum. Erst sehr spät begriff ich, dass er ägyptisches Kulturgut zu horrenden Preisen auf dem Kunstmarkt anbot. Er tat das still, ohne dass es auffiel. Trotzdem stand er an der Spitze eines großen Antiquitätenhehlerrings. Amman war nur zu bereit die Aufgaben entgegen zu nehmen, die sein Vater für ihn bereit hielt. Irgendwann bezog er mich in seine Kalkulationen mit ein.“ Sein Blick traf Olivers. Allerdings hielt Tom nicht lang stand. Oliver bemerkte, wie er die Lider senkte, als sei ihm peinlich, darüber zu reden. Die Schultern seines Vaters hingen herab. Er war nicht mehr der starke, selbstbewusste Mann. „Aboutreika erkannte die Vorteile eines seriösen Europäers.“ Er seufzte. „Genaugenommen war ich nichts anderes als ein Leibwächter. Doch das war mir egal. Ich wurde zu Ammans Schatten, seinem Beschützer in allen Lebenslagen.“ Tom schüttelte den Kopf. „Wir waren noch halbe Kinder, nur wenig älter als du es jetzt bist. Trotzdem traten wir auf wie weltmännische Geschäftsmänner auf. Uns bewegte nichts. Das Schicksal eines einzelnen war gleichgültig, so lang es unseren Geschäften diente.“
Oliver schluckte. Seine Worte klangen danach, als wären die beiden schon sehr früh über Leichen gegangen. Trotzdem unterbrach er seinen Vater nicht.
„Wir waren Unterhändler zwischen Ägypten und Deutschland. Das Geschäft lief nie so gut wie in dieser Zeit.“ Tom rieb sich mit beiden Händen über den Kiefer. „Wir hatten alles. Geld, einen Ruf, unser Studium, was uns deckte, Anwälte, die uns aus allen unangenehmen Lagen befreiten und natürlich uneingeschränkten Erfolg bei Frauen.“ Er lächelte schief. In seinen Zügen lag kein Bisschen Humor. „Mich würde es nicht wundern wenn du noch viele Halbgeschwister hättest, die alle älter sind.“
Oliver verzog angewidert die Lippen. „Bleib beim Thema“, forderte er seinen Vater auf. Mit einer nachlässigen Handbewegung wischte Tom den Kommentar seines Sohnes davon. „Wir fühlten uns wie die Könige. Unser Jagdinstinkt fand neue Beute, als wir in Kairo zwei Mädchen kennen lernten. Sie waren gerade aus der Schule heraus und begannen mit ihren Studien.“
„Jamals Mutter und meine“, murmelte Oliver, wobei er Daniel ansah, der gebannt an Toms Lippen hing und lauschte. ‚Unheimlich’, dachte Oliver. Selbst in diesem Zustand reichte das Charisma seines Vaters, um einen starken Mann wie Daniel in seinen Bann zu schlagen!
Unbeirrt fuhr Tom fort: „Silke war die Schöne, Abenteuerlustige. Sie maß sich in allem mit uns. Kerstin hielt sich in vielen Dingen eher zurück. Es fiel mir nicht leicht, sie zu begreifen. Sie blieb – trotz allem Vertrauen zu mir – immer eine Fremde unter uns.“
Oliver verstand, woher Jamal diese Art geerbt hatte. Seine Mutter war nicht anders als er.
„Silke stand in Ammans und meinem Interessenmittelpunkt. Besonders ihre Liebe zur Antikkunst und ihre intensiven Suche nach einem jahrhunderte alten, ägyptischen Werk, was dein Großvater, Walter, unbedingt haben wollte, weckte unser beider Jagdinstinkt. Bis dahin wussten Amman und ich nichts darüber“, erklärte er offen. „Silke verriet uns den Wert. Es war unbezahlbar.“ Er atmete tief durch. „Unser Verlangen nach ihr und dem Kunstschatz wuchs ins unermessliche.“
Olivers Hände wurden feucht. Nervös wischte er sie sich an seinen Hosen ab. Ihm gefiel nicht, mit welchem Fanatismus sein Vater von jener Zeit redete. Es schien fast, als lebe er noch immer darin. Der Verdacht, dass sich Toms Seele in diese Zeit flüchtete, lag nahe. Die Wirklichkeit zu ertragen würde bedeuten, in den Spiegel zu sehen und das zu akzeptieren, was seinem Vater entgegen blickte. Traurig gestand sich Oliver ein, dass sein Vater kein Schreckgespenst mehr war, sondern ein zu bedauerndes Geschöpf, dessen Seele zerstört wurde.
Unbeirrt sprach Tom weiter. „Wir gaben vor Silke zu helfen, doch anhand der Informationen, an die sie kam, sicherten wir uns ihre Beute.“ Er lachte. Offenbar fühlte er sich bei der Erinnerung unglaublich wohl. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön es war, ihr das Buch vor der Nase weg zu schnappen! Aber wir rechneten nicht mit ihren anderen Talenten!“
Oliver tauschte mit Daniel einen Blick. In den Zügen des Beamten lag Anspannung. Auch Oliver stellte fest, dass sein Herz schneller schlug. Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. „Als Amman und ich unseren Sieg feierten, kamen Silke und Kerstin dazu. Es war eine unbeschreibliche Nacht. Am folgenden Tag ging es Amman und mir elend.“ Bei dieser Erwähnung begriff Oliver sofort, welches besondere Talent seiner Mutter er angesprochen hatte. Damals schien sie bereits Gifte gemischt zu haben. Daniel flüsterte etwas, dass in den Worten Toms unter ging. „Eine gute Woche ging es uns so dreckig wie noch nie zuvor in unserem Leben. Der Arzt der Familie Aboutreika stellte eine akute, wenn auch recht ungefährliche Vergiftung bei uns beiden fest. Zu allem Überfluss vertrugen sich die Mittel, die Silke Amman und mir verabreicht hatte, nicht mit der Medizin des Doktors.“ Er lächelte versonnen. „Sie tat alles, um an das Buch zu kommen. Schließlich hatte sie Erfolg.“
Aboutreikas Worte hallten in Olivers Ohren wieder. Er verlangte nach den Büchern und dem Besitz Markgrafs. Erneut baute sich in ihm Druck auf. Er schauderte unter der Vorstellung, dass der Ägypter fast zwanzig Jahre seines Lebens in die Jagd nach den Kunstschätzen Walters investiert hatte.
„Was war das für ein Buch?“, fragte Oliver seinen Vater.
„Es war ein recht außergewöhnliches, wertvolles Buch“, erklärte Tom redselig. „Die Schriften Maimonides. Das Buch heißt Ma'amar Techiat Ha-Metim.“
Oliver nagte an seiner Unterlippe. „Wirklich ein Buch?“, fragte er.
Die Brauen seines Vaters zogen sich düster zusammen. „Ja, aus dem 12. Jahrhundert“, entgegnete er. Er straffte sich. Erschrocken bemerkte Oliver, dass sein Vater wieder zu seiner alten, abweisenden Form zurück kehrte. Die Gegenwart holte ihn ein.
„Ist es so viel wert?“, fragte Oliver unbeirrt.
„Da es sich um das handschriftliche Original handelt …“ Sein Vater ließ den restlichen Satz unvollendet.
Oliver schluckte. Wenn Walter sich nicht davor scheute, seine Tochter einzusetzen, um an Kunstschätze zu gelangen, wie weit würde er für andere seltene, berühmte Bücher gehen?
„Warum ist Mutter darauf eingegangen?“, fragte Oliver leise.
„Ehrgeiz, der Reiz des Spiels und der endgültige Gewinn?“, schlug Tom vor. „In jedem Fall stand Walter Markgraf dahinter. Er sammelte antike Bücher aus allen Ländern, besuchte regelmäßig Auktionen und verlor mehr als einmal fast sein gesamtes Vermögen. Aber er verkaufte oft einzelne, unbedeutende Stücke weiter. Essentiell betrieb er im Kleinen das, was Amman und ich mit großer finanzieller Unterstützung taten.“
Olivers Vater kam ins Stocken. Er schlug die Augen nieder. Viel leiser, mit tiefem bedauern in der Stimme, fügte er hinzu: „Walter benutzte seine Tochter.“
Oliver schoss vor Wut das Blut in den Kopf. Er sprang auf und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Die Platte knackte leise. „Ihr etwa nicht?!“, brüllte er seinen Vater an. „Aboutreika und du, ihr habt euch ihre Position und ihre Liebe zu Antiquitäten genau so zu Nutze gemacht. Wegen euch drei Idioten wurde sie zur Schmugglerin, Diebin und Mörderin!“ Tränen brannten in seinen Augen. Mühsam drängte er sie zurück. Tom sah ihn gelassen an, schwieg aber.
Oliver drängte seinen Zorn zurück und setzte sich wieder. Erschöpft ließ er sich nach hinten sinken. „Alles, was wir herausgefunden haben, entspricht also der Wahrheit“, sagte er gezwungen ruhig. „Du bist nichts als ein dreckiger Auftragsmörder für Aboutreika, Mutter ein Werkzeug, meine Geschwister und Jamal sind die Opfer und Aboutreika ein Ungeheuer.“
Olivers Vater ließ die Worte unkommentiert im Raum stehen. Bleierne Stille hing in dem Zimmer. Olivers Kopf dröhnte wieder. Er sah zu Daniel, der schweigend seine Schläfen rieb. Der Beamte erwiderte seinen Blick.
„Du weißt, dass Daniel Kommissar ist?“, fragte Oliver seinen Vater. Seine Stimme klang schneidend.
Tom ignorierte die Worte.
„Alles was du sagst, sagst du zugleich einem Beamten.“
Tom ließ sich nach hinten sinken und schlug die Beine übereinander. Geduldig verschränkte er seine Finger auf der Tischplatte.
„Mutter nutzte Gifte?“, fragte Oliver unvermittelt.
Tom sah zwischen dem Justizbeamten und Daniel hin und her, bevor er nickte. „Ja“, entgegnete er mit hochgezogenen Brauen. „Alles, was sie beherrschte, lernte sie aus den Büchern und Aufzeichnungen ihrer Großmutter.“
Oliver schluckte. „Was weißt du über diese Frau?“ Seine Stimme klang belegt.
„Viel“, antwortete sein Vater. „Genug um zu sagen, dass sie alle Menschen hasste.“ Oliver spürte, wie sein Vater ihn beobachtete. „Wie weit bist du in deinen Ermittlungen gegangen?“, fragte Tom kühl. „Wie vielen hast du bereits geschadet?“ er zog eine Braue hoch.
„Vielen“, murmelte Oliver betäubt.
Tom verzog die Lippen zu einem abfälligen Lächeln. „Das ist das Erbe beider Familien.“
„Was?!“, Oliver sprang vor Wut auf. Sein Stuhl kippte zurück. Daniel fing ihn, bevor er gänzlich zu Boden polterte und stellte ihn wieder hin. Behutsam drückte er Oliver auf die Sitzfläche. Seine kräftigen Finger vergruben sich in Olivers Haar. Die Wärme Daniels beruhigte Oliver ein wenig. Wie boshaft konnte Tom noch werden?
„Wer war diese alte Frau?“, fragte Oliver mühsam beherrscht.
„Das bestgehütete Geheimnis der Markgrafs“, entgegnete Tom.
Er lächelt kühl. Oliver erhob sich erneut. Er hielt es kaum noch mit Tom in einem Raum aus. „Ich nehme an“, begann er. „dass sie alle Frauen unseres Großvaters vergiftet hat, oder?“
Tom zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sein Vater war wieder ganz der Alte! Oliver sehnte sich danach, ihm die Faust in den Magen zu rammen!
„Rache, oder?“, fragte er leise.
Tom schwieg. Er sah nachdenklich an Oliver vorbei.
„Es ging um ein zweites Kind, hatte Großvater gesagt“, fuhr Oliver fort. Seine Stimme klang schneidend. Noch immer weigerte Tom sich zu antworten. Weswegen war er nur jetzt so verstockt?! „Vater!“, brüllte Oliver ihn an. Sein Kopf fühlte sich kochend heiß an. „Kennst du das Geheimnis?!“
Endlos langsam wendete Tom sich ab. Er schwieg eine Weile, bevor er sich dazu überwand, etwas zu sagen. „Am Tag unserer Hochzeit habe ich Silke geschworen, nie etwas darüber zu sagen.“
Alle Kraft wich aus Oliver. Er umklammerte die Armlehnen seines Stuhls. „Gut“, sagte er leise. „Dann will ich dir meine These unterbreiten.“ Er straffte sich mühsam. „Ein Teil davon sind Aussagen meines Großvaters, ein anderer Teil Vermutungen.“ Offensichtlich – bemerkte Oliver – reizte er die Neugier seines Vaters. Tom sah ihn aus dem Augenwinkel an. Die Aufmerksamkeit reichte Oliver. „Walters Mutter war mit einem weiteren Kind schwanger. Sie verlor es durch einen Unfall, bei dem er die Verantwortung trug.“ Ruhig hörte sein Vater zu. „Damit zog er sich bereits ihren Hass zu.“ Oliver überlegte kurz. Das Bild von Frau Hirsch neben seinem Urgroßvater gewann an Klarheit. „Als ihr Mann sich in seine Geschäftspartnerin verliebte und sie heiraten wollte, richtete sich ihr Hass gegen alle Menschen.“
Ein tiefes Seufzen entrang sich Toms Brust. „Walter hat die Affäre seines Vaters mit dessen Geschäftspartnerin weiter getragen. Warum …“ Olivers Vater hob die Schultern. „Ich kann nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich wollte er die Liebe seiner Mutter durch den Verrat zurück gewinnen.“
Oliver schauderte bei den Worten. „Glaubst du?“, fragte er. Seine Stimme klang unangenehm kindlich in seinen eigenen Ohren. Sein Vater beobachtete ihn einige Sekunden Stumm. Seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. Schließlich nickte er. „Kinder handeln so, wenn sie sich verlassen vor kommen. Sie tun alles für Liebe und Zuwendung.“
Oliver spürte einen Stich in seiner Brust. ‚Das kannst du nicht beurteilen!’, schoss es ihm durch den Kopf. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, bevor er seine Gedanken aussprach.
„Wenn Sie so viel Verständnis für andere Kinder aufbringen“, sagte Daniel mit drohender Stimme. „warum haben Sie sich dann nicht besser um ihre eigenen Kinder gekümmert und Ihnen die Liebe vorenthalten, die sie sich wünschten?!“
Erschrocken hielt Oliver den Atem an. Er kannte die reizbare Natur seines Vaters. Tatsächlich entstand auf dessen Stirn eine steile Falte, die von den Brauen bis fast an den Haaransatz reichte. Toms Wangen verloren alle Farbe, bevor rote Flecken darauf entstanden. Aus zu Schlitzen verengten Augen sah er Daniel einige Sekunden an. Oliver fürchtete, dass sein Vater vor dem jungen Beamten ausspucken würde. Glücklicherweise tat Tom nichts Derartiges. Stumm suchte er den Blick seines Sohnes.
„Ernas Hass konnte Walter damit nicht abwenden“, antwortete Tom leise. Oliver war froh, dass er nicht weiter auf Daniels Worte einging. „Wahrscheinlich gärte das Gefühl in ihr über viele Jahre.“
„Sie wollte sich rächen. Das hat die alte Frau ja hinlänglich bewiesen“, murmelte Daniel. Olivers Vater warf ihm einen kurzen Blick zu. „Ja“, entgegnete er kühl. Daniel ignorierte das Verhalten von Olivers Vater. „Die Rache seiner Mutter begann in dem Moment, in dem Walter sich das erste Mal verliebte. Rachel, oder?“ Er wendete sich Oliver zu, der nickte. „Frau Hirschs Tochter aus erster Ehe“, vervollständigte Oliver. „Sie wuchs neben Walter auf … wie eine Schwester.“ Aus irgendeinem unerklärlichen Grund raste Olivers Herz. Die Vorstellung, dass all diese unterschiedlichen Menschen unter einem Dach lebten und sich ihren eigenen Tod heran züchteten, erschütterte Oliver. Sein Urgroßvater, Frau Hirsch, Rachel und Walter lebten in emotionaler Blindheit gegenüber dieser Frau. Sie verliehen Ernas Hass den Nährboden und trieben sie dazu, einen grausamen Plan im Schatten der Ausläufer des zweiten Weltkrieges zu entwickeln. Einerseits empfand Oliver tiefes grauen, wenn er an seine Urgroßmutter dachte, andererseits tat sie ihm leid. Sie verlor binnen kurzer Zeit alles: Familie, Glück und Sicherheit, während alle anderen um sie herum von ihrem Leid profitierten und es ihr täglich demonstrierten. Unweigerlich entstand daraus eine Monstrosität, zu der Erna wurde. Verstört strich Oliver sich über Stirn und Augen. Für einen winzigen Moment überlegte er, ob sie jemals glücklich gewesen war, und ob sie sich über die Kinder ihrer Enkelin Silke gefreut hätte. Die Antwort lag im Moment jenseits des Vorstellbaren für Oliver, weswegen er die Idee von sich schob.
„Im dritten Reich wurden Verbrechen gegen jüdische Mitbürger nicht bestraft. Sie waren …“, begann Daniel, wurde aber von Tom unterbrochen.
„Juden waren Freiwild, Herr Kuhn. Rachel und ihre Familie lieferten sich vollkommen in Ernas Hände. Sie deckte offiziell die Familie Hirsch, schützte sie sogar vor dem Regime, hegte dabei aber eigene Hintergedanken.“ Er richtete sich auf und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte. Oliver sah ihn gespannt, mit klopfendem Herzen an. Die groben Eckpunkte kannte er, aber seinem Vater schien die gesamte Geschichte bekannt zu sein.
„Walter trat auf Ernas Wunsch bereits sehr Früh in die Partei ein. Er konnte nicht überblicken, was passierte. Damals war er noch zu jung. Er wollte nur wieder seiner Mutter gefallen. Als Junge war er in der HJ, später Parteimitglied und Soldat, ein Frontkämpfer.“
Nervös rieb Oliver sich die Schultern. „Fiel die Verbindung seines Vaters mit der Familie Hirsch durch die Nachbarn nicht auf?“, fragte er.
Tom nickte müde. „Doch“, entgegnete er. „Sie kannte keine Gnade. Um der Familie Hirsch ein langsames, grausames Ende zu setzen, veränderte sie die Vorzeichen so, dass sie als die hilflose Retterin, Walter aber der willige NS-Mörder dastand. Rachel durchschaute sie. Die junge Frau liebte Walter scheinbar. Sie waren – wie er mir sagte – verheiratet und hatten ein gemeinsames Kind.“
„Wie konnte das denn gehen?“, fragte Daniel. „Jeder, der die Ehe vollzogen hätte, wäre sofort …“
„Was weiß ich!“, knurrte Tom ungehalten. „Möglicherweise war es symbolisch. Vielleicht gaben sie sich das Eheversprechen gegenseitig, oder aber ein Rabbiner oder systemkritischer Pfarrer haben sie getraut. Darüber sprach Walter nie!“
Daniel hob beide Hände. „Ist gut“, beruhigte er Tom.
„Vater“, wendete sich Oliver an Tom. „Du bist nicht in der Position, so überreagieren zu können.“
Er klang kühl und gefasst. Allerdings spürte er, dass ihn diese emotionale Anspannung, die in der Luft lag und die vielen Höhen und Tiefen des Gesprächs, auszulaugen begannen. Er fühlte sich erschöpft. Da sein Vater nicht reagierte, sah Oliver ihn an. „Bitte, können wir einfach nur beim Thema bleiben?“
Tom atmete tief durch. Offenbar vertrieb er mühsam seine Wut. „Also gut“, sagte er. „Der Rest der Geschichte ist recht simpel: Erna leistete die Vorarbeit, Vertrauen, Verunsicherung und Demotivation, während sie Walter unter druck setzte. Zuerst mit seiner Position, dann mit Rachel und seiner Tochter Ruth. Sie zwang ihn, alle zu vergiften und sie einzumauern.“ Wut und Hilflosigkeit überschwemmten Olivers Verstand. „Wenn er sie geliebt hätte …“, brauste er auf.
„Olli, vergiss das“, beruhigte ihn Daniel. „Wir können uns nicht vorstellen, wie das Leben im Kriegsdeutschland war.“
Tom nickte zustimmend. „Du konntest nichts laut aussprechen, was gegen die Auffassung von Partei und Staat ging, musstest dich ruhig und linientreu verhalten, oder du warst tot.“
Leises Zähneknirschen signalisierte Oliver, was Daniel davon hielt.
„Er war bereit, mit seiner Familie zu sterben“, erklärte Tom. „Aber das ließ Erna nicht zu. Sie manipulierte ihn, setzte ihn unter Drogen und zerbrach ihn. Er zog danach in den Krieg. Wahrscheinlich hoffte er auf den Tod.“
Olivers Herz schlug schwer.
„Warum kam er zurück?“, fragte er.
Sein Vater fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. „Walter erkannte seine Chancen. Erna war eine Mörderin, die sich in seine Hände begab. Nach dem Krieg hatte er alle Skrupel verloren. Ich denke, er war abgestumpft, durch das Töten und hasszerfressen genug, um sich rächen zu wollen, wodurch diese Symbiose zweier Menschen entstand, die einander am liebsten umbringen wollten.“
Oliver biss sich auf die Lippe. „Dagegen seid ihr zwei harmlos“, murmelte er.
Nachdenklich nickte sein Vater. Er ließ Olivers Worte unkommentiert.
Daniel stand auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. „Das alles verzahnt sich vollständig mit dem gegenwärtigen Fall.“
Oliver sank auf seinem Stuhl zusammen. Bislang hatten sie nur die Zusammenhänge in der Vergangenheit erörtert. Allerdings fehlten ihm noch duzende Details zu der Beziehung zwischen Aboutreika, Rüttgers und seinen Eltern. Er fühlte sich so erschöpft, dass er glaubte zusammenbrechen zu müssen. Insgeheim fragte er sich, ob er überhaupt noch die Kraft aufbrächte, mehr zu erfahren. Wortlos umarmte Daniel ihn.
Hinter ihnen öffnete sich die Tür. Oliver sah sich irritiert um. Hinter Dr. Rüttgers – der ihm bereits eine Gänsehaut bereitete - trat eine junge, zierliche Kriminalbeamtin ein. In sein dumpfes Bewusstsein drang ein unangenehmes Kribbeln. Er kniff die Augen zusammen und versuchte das Gefühl zu verdrängen. Irgendetwas störte Oliver an dem Erscheinungsbild der Frau, die sich dezent, nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, in den Hintergrund zurück zog. Sie gehörte nicht zu dem ihm bekannten Stab um Meinhard oder Weißhaupt.
„Tom, dieser junge Mann ist Kriminalbeamter!“, warnte Rüttgers seinen Mandant mit einem Blick zu Daniel. „Du solltest dir überlegen, wie viel du Preis gibst.“
„Entspannen Sie sich!“, zischte Daniel aggressiv. Der Blick des Anwalts gefror. Seine Pupillen zuckten nervös. Trotzdem schien er sich bestens im Griff zu haben, denn er erwiderte gar nichts. Oliver starrte Rüttgers aus zusammengekniffenen Augen an. Seine Haltung verriet Nervosität. Die gewohnte Überheblichkeit, die ihm zu Eigen war fehlte. Rüttgers wirkte gehetzt, abgespannt und erschöpft. Schließlich gelang es Oliver, seinen unsteten Blick einzufangen. Bereits nach einer Sekunde senkte der Mann den Kopf. Er konnte Oliver nicht stand halten.
Tom zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche.
„Reg’ dich ab, Werner!“, sagte er kalt. „Im Moment kann mich unser Gesprächsthema gar nicht belasten.“
Der Anwalt zog verärgert die Brauen zusammen. Einen Herzschlag später kehrte allerdings der unsichere Ausdruck in seine Augen zurück. Oliver musterte die junge Beamtin, die sich geschickt hinter dem Anwalt, außer Sicht ihrer Kollegen aufhielt, genauer. Sie war eine ungewöhnlich zierliche Frau. Ihr dunkles Haar steckte im Kragen ihrer Uniformjacke. Verwirrt sah Oliver zu Daniel. Er versuchte, seinen Freund auf die fremde Erscheinung aufmerksam zu machen. Leider gelang es ihm nicht, sich unauffällig in sein Sichtfeld zu schieben. Er sah wieder zu der Fremden. Ausdruckslos begegnete sie Olivers Blick, sah dann aber zu Rüttgers auf. Irgendwie kam sie ihm vertraut vor. Die Art, wie sie an seiner Seite stand, machte Oliver stutzig. Sie hielt den Anwalt am Oberarm fest. Ihre Rechte lag auf ihrer Dienstwaffe. Sein ungutes Gefühl gewann Nahrung. Rüttgers hatte sie nicht vorgestellt. Eine schreckliche Ahnung manifestierte sich in ihm. War das möglicherweise Natalie?! Rasch wendete er sich zu seinem Vater um. Tom beachtete sie nicht. Er zündete sich eine Zigarette an.
Oliver ergriff Daniels Hand.
„Kann das Natalie sein?“, wisperte er.
Der Beamte wendete den Kopf. Oliver wagte nicht, dem Blick seines Freundes zu folgen. Offenbar bemerkte der Anwalt Olivers Misstrauen. „Tom, ich würde dich gerne allein sprechen!“, drängte Rüttgers eindringlich. „Mir ist es lieber, wenn du keinen Fragen ohne vorherige Absprache mit mir beantwortest!“
„Sei nicht albern!“, wies ihn Tom zurecht. „Ich sitze bereits im Gefängnis.“
„Das ist die falsche Einstellung“, rügte ihn der Anwalt. „Aber ich bin nicht gewillt dieses Thema weiterhin mit dir hier durchzusprechen.“
Tom lächelte kühl. „Umso besser.“
Er wendete sich von Rüttgers ab zu Oliver. „Wo waren wir doch gleich …?“
Daniel löste sich von Oliver. „Das ist Natalie Dujong!“, stieß er hervor.
Für Oliver brach nahezu gleichzeitig die Hölle los.
Die Miene seines Vaters erstarrte. Sein eingefallenes Gesicht verlor alle Farbe. Der Justizvollzugsbeamte, der zur Aufsicht und dem Schutz Toms anwesend war, griff nach seiner Dienstwaffe. Einen Herzschlag später fiel ein Schuss. Daniel reagierte in der Sekunde. Er riss Oliver mit sich zu Boden. Unbewaffnet, wie er war, blieb ihm nichts anderes, als Deckung zu nehmen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Oliver, dass der Uniformierte hinter Tom in sich zusammen sank. Sein Vater nutzte den Moment und hechtete über den Tisch hinweg.
Unwillkürlich zog Oliver den Kopf zwischen die Schultern, spannte sich allerdings gleich wieder zum Sprung. Ein Anschlag! Aber Rüttgers wäre nicht so wahnsinnig … Daniel schlang beide Arme um ihn und nahm ihm kurzzeitig die Sicht, als er sich schützend vor Oliver kauerte.
Ein weiterer Schuss fiel. Dicht neben ihm und Daniel schlug die Kugel Funken aus dem Estrich. Bevor der Schock wirken konnte, drehte Oliver sich weg. Sein Freund warf sich über ihn und riss Oliver gänzlich zu Boden. Er sah sich gehetzt um. Offenbar suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Auf dem Flur wurden rufe laut. Oliver hörte schwere Stiefel auf dem Boden. Der Beton unter ihm bebte von den schweren Schritten. So weit er an Daniel vorbei sehen konnte, erkannte er Tom, der über den Tisch hechtete. Natalie legte die Pistole auf ihn an, riss die Waffe aber in letzter Sekunde hoch und richtete sie gegen sich. Rüttgers warf sich zur Seite. Sein Gesicht war eine einzige, jämmerliche Grimasse.
Mit einem einzigen harten Schlag traf Olivers Vater Natalie vor der Brust. Der Schuss löste sich, verlor sich aber in einer unkontrollierten Handbewegung. Die Kugel schlug in einer Wand ein. Daniel löste sich von Oliver. Er federte hoch.
Natalie stolperte nach hinten, wendete sich aber vor einem weiteren Hieb weg. Ihr Gesicht war eine Grimasse des Schmerzes. Tom setzte seiner Gegnerin nach. Während Rüttgers sich rasch in Sicherheit brachte, ergriff Olivers Vater die Waffenhand der Frau und verdrehte sie. Geschmeidig wie eine Katze folgte sie der Bewegung. Sie wirbelte unter seinem Griff um ihre Achse und rammte ihm ihren Ellenbogen in die Brust. Tom keuchte. Obwohl sie ihm offenbar die Luft aus den Lungen presste, fand er die Kraft, sie nicht loszulassen. Daniel suchte nach einer Möglichkeit zum Angriff. Sie bewegte sich in Toms Griff geschickt und weich. Jede Lücke in ihrer Deckung machte sie mit ihrer Geschicklichkeit wett.
Daniel erreichte sie. In einem Sekundenbruchteil reagierte er, indem er ihr beide Beine unter dem Körper weg zog Natalie verlor das Gleichgewicht. Sie lies die Waffe fallen, während sie den Angriff auszugleichen versuchte. Mit einem Griff packte Daniel sie im Nacken und verdrehte ihr den Arm auf den Rücken. Hysterisch schrie sie auf, wehrte sich aber nicht mehr. Zwei wütende Männer waren offenbar auch für sie zu viel.
Oliver sprang auf. Ohne auf die Frau zu achten, setzte er über den Tisch zu dem Beamten. Der Mann lag keuchend auf der Seite. Seine Finger krampfte er um den Griff seiner Pistole. Er bebte unter den Schmerzen, die der ungezielte Schuss angerichtet hatte. Blut quoll aus seinem Bauch. Sein Hemd färbte sich dunkel. Offenbar rann das Leben in irrem Tempo aus seinem Körper. Irgendwo hatte Oliver gelesen, dass Schusswunden dieser Art qualvoll waren. Wenn dieser Person nicht binnen einer Stunde geholfen wurde, starb sie.
Ohne recht zu wissen was er tun sollte, riss Oliver sein Hemd auf und streifte es von den Schultern. Ihm war nicht klar, wie er die Blutung bei einer solchen Wunde stoppen sollte. Trotzdem versuchte er es. Mit beiden Händen drückte er den Stoff auf die Schussverletzung. Heißes, klebriges Blut quoll hervor. Das Gesicht des Beamten wurde bleicher. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Lippen bebten. Unter flackernden Lidern sah er auf.
„Was soll ich tun?!“, fragte Oliver ihn. „Sie müssen doch so was wie erste Hilfe gelernt haben?“
Der Beamte keuchte, antwortete aber nicht. Fast panisch presste Oliver das blutnasse Hemd auf die Wunde. Der Beamte verdrehte die Augen. Offenbar tat Oliver ihm weh, aber die Blutung nahm ab. Mit den Augen suchte er nach dem Namen des Beamten. Auf der Hemdbrust stand M. Hauser. Oliver schluckte. „Ich will Ihnen nicht weh tun, Herr Hauser, aber ich habe keine Ahnung, wie ich die Blutung sonst aufhalten kann.“
Die Lider des Mannes senkten sich bestätigend.
Oliver lächelte ihn gequält an. „Bitte bitte, bleiben Sie am Leben!“
Hinter ihm keuchte die Natalie auf. Oliver fand keine Zeit, sich nach ihr umzusehen. Draußen löste sich ein weiterer Schuss. Einen Herzschlag später drangen die ersten Beamten gewaltsam in den Raum ein.
Oliver wagte nicht, sich umzusehen. Er konzentrierte sich auf den Beamten.
„Bitte bleiben sie wach, Herr Hauser“, flüsterte Oliver. „Hilfe ist unterwegs. Ihre Kollegen haben gleich alles unter Kontrolle.“
Hauser bebte am ganzen Leib. Seine Lider senkten sich. Er schien wegzudämmern. Vielleicht erreichte ihn auch nur der Schockzustand. Oliver konnte es nicht sagen.
„Bitte, hören Sie mich?!“, flehte Oliver. Hauser schrak hoch. Aus matten Augen sah der Mann zu ihm.
Hinter ihnen gingen die Justizvollzugsbeamten schnell und hart vor.
„Ich brauche Hilfe!“, rief Oliver verzweifelt. „Schnell!“
Zwei Männer eilten zu ihm. Einer der Beiden kniete neben seinem Kollegen Hauser nieder und übernahm Olivers Position, während der andere nach einem kurzen Blick die Situation erfasst hatte. Er griff nach seinem Sprechfunkgerät und schaltete es ein. Seismisches Knacken drang aus dem Gehäuse.
„Günther, wir brauchen einen Notarzt und einen Rettungswagen“, gab er an einen Kollegen weiter. Oliver sah, wie er die Sprechtaste losließ und abwartete.
„Braucht ihr Verstärkung?“, fragte eine elektronisch verzerrte Männerstimme.
„Nein, alles unter Kontrolle, aber Hauser ist verletzt.“
Der Beamte begegnete Olivers Blick sehr ernst. „Wie es aussieht, ist es eine Bauchwunde. Er verliert viel Blut.“
Besorgt wendete Oliver sich dem verwundeten Mann zu.
Benommen dämmerte Hauser weg.
„Nicht einschlafen“, rief Oliver. Er ergriff Hausers Hand und drückte sie. Die Lider des Beamten flackerten. Schwach erwiderte er die Geste. „Reden Sie mit mir, Herr Hauser“, bat er eindringlich.
„Du …“ Hausers Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. „… Hoffmanns Sohn?“
Oliver nickte. „Ja“, bestätigte er leise. „Der Älteste.“
Mühsam quälte sich Hauser ein Lächeln ab. „Er redet selt…“ Keuchend schloss er die Augen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes.
„Ich weiß, er redet nicht über uns“, sagte Oliver. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Beamten mussten seinen Vater und Natalie bereits aus dem Raum gebracht haben, denn einzig Rüttgers und Daniel standen mit zwei Uniformierten zusammen.
„Redet viel von dir“, murmelte Hauser in seine Beobachtungen hinein. Oliver sah ihn überrascht an. „Er hat von mir erzählt?“, fragte er verwirrt. Hauser nickte schwach. Die Reaktion berührte Oliver. Sein Herz schlug schneller. Gegenüber Hauser empfand er tiefe Dankbarkeit.
„Ist Vater wieder in seine Zelle zurück gebracht worden?“, fragte Oliver.
„Ist er, Junge“, antwortete ihm Hausers Kollege, der bisher geschwiegen hatte. Er drückte Olivers Hemd auf die Wunde. „Der Arzt sollte bald da sein. Du kannst dich vielleicht erst mal waschen gehen. Wir kommen schon klar.“
Oliver ignorierte die Ironie in den Worten. Obwohl er Hauser nicht kannte, mochte er den Beamten und fühlte sich allein deswegen schon verpflichtet, bei ihm zu bleiben. Ihm war egal, ob das Blut an seinen Armen trocknete und er nur noch ein dünnes T-Shirt trug. „Ich bleibe bei Herrn Hauser!“, beharrte er. „So lange, bis der Notarzt da war und ich weiß, dass es ihm gut geht!“
*
Nachdem ein Arzt die Notversorgung von Hauser übernommen hatte, wurde der Beamte nach Darmstadt in die nächste Klinik abtransportiert.
Oliver wurde schwindelig. Er hatte in den vergangenen Tagen alle grenzen der Erschöpfung mehrfach überschritten.
Ein älterer Vollzugsbeamter führte ihn zu Daniel und Rüttgers, die in einen Aufenthaltsraum auf ihn warteten. Nachdem er sich die Hände und Arme gewaschen hatte, setzte er sich zu seinem Freund. Besorgt legte ihm Daniel die Lederjacke über die Schultern.
Schweigend bereitete ein Beamter Kaffee und Tee, während ein anderer sich in einen unbequemen Holzstuhl, gegenüber Oliver nieder ließ.
Der Mann war zwischen vierzig und fünfzig, unglaublich groß und beeindruckend breit. Sein rundes Gesicht strahlte eine gewisse Ruhe und Gemütlichkeit aus. Anhand von Haar-, Augen- und Hautfarbe schätzte Oliver ihn nicht als deutschstämmig ein. Leider konnte er nicht im Entferntesten klassifizieren, welcher Nationalität der Beamte war.
Jemand stellte einen Keramikbecher mit Kaffee vor ihm ab. Er nickte dankbar. Mit beiden Händen umklammerte er die heiße Tasse. Bislang fand er nicht die Zeit, seine Situation zu überdenken. Langsam sickerten die Ereignisse der letzten Minuten in sein Bewusstsein. Erst jetzt realisierte er, dass Schüsse gefallen waren. Einer traf Herrn Hauser, ein weiterer schlug dicht neben Daniel und ihm ein, während der letzte, Dank seines Vaters, in die Wand ging. Wollte die Verrückte zuerst alle anwesenden Beamten ausschalten?
Oliver wendete den Blick zu Rüttgers. Er wollte wissen, warum dieser Wahnsinnige die schießwütige Frau mitgebracht hatte. Insgeheim er bezweifelte, dass der Anwalt Natalie freiwillig zu seinem Mandanten geführt hatte. Er war sich unterdessen auch sicher, sie in dem Sekretariat mit Rüttgers und seiner Sekretärin gesehen zu haben. Ebenso sicher war er, dass der Anwalt von Olivers Ausflug in sein Zimmer wusste und ihn gedeckt hatte.
„Ich bin Redouan al Marwadi, der Abteilungsleiter.“ Mit einem Blick wies er auf die Schulterklappen hin, die ihn als ranghöchsten Beamten auszeichneten. Anhand der Sprachmelodie glaubte Oliver, einen gebürtigen Hessen vor sich zu haben. Ein leichter Darmstädterdialekt lag in seinen Worten. „Dieses Ereignis wird gründlich untersucht. Es ist mir vollkommen unverständlich, auf welchem Weg eine Fremde bewaffnet so weit in unsere Anstalt eindringen konnte.“
Oliver zog die Brauen zusammen. „Wahrscheinlich kann Ihnen Herr Rüttgers darauf antworten!“, entgegnete er.
Al Marwadis Mimik veränderte sich kein Bisschen. Aber seine dunklen Augen fassten den Anwalt ins Visier. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte Rüttgers den durchdringenden Blick.
„Anhand ausgewerteter Überwachungsaufnahmen kam sie tatsächlich mit Ihnen herein“, begann al Marwadi. Er lehnte sich zurück. Der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. „Sie hat sich als Kriminalbeamtin eingetragen, als Natalie Dujong.“ Seine Lippen zuckten. „Trifft das zu, Herr Rüttgers?“
Der Anwalt setzte sich etwas bequemer hin, schlug die Beine übereinander und strich sich sein Jackett glatt. „Bedauere, ich habe diese Frau das erste Mal auf dem Parkplatz der JVA gesehen“, antwortete Rüttgers.
„Weswegen Sie sie mit nach drinnen nahmen, oder wie?“, fragte al Marwadi, mit hochgezogenen Brauen.
„Sie können die Außenüberwachung durchgehen. Darauf dürfte klar werden, dass sie mich …“
„Mit einer Waffe bedrohte, ich weiß“, fiel ihm der Beamte ins Wort. Rüttgers warf ihm einen kalten Blick zu. Oliver begriff, dass die beiden Männer einander keine Sympathien entgegen brachten. „Sie müssen aber zugeben, dass Sie nicht gerade überrascht gewirkt haben.“
Rüttgers hob die Schultern, wobei er das Gesicht verzog, als sei es eine Lappalie.
Er faltete die Hände auf der Tischplatte. „Es war nicht das erste Mal, dass ich mit einer Waffe bedroht wurde.“
Oliver legte die Stirn in Falten. „Sie haben mich gestern mit diesem seltsamen Zettel gewarnt. Warum haben Sie nichts zur Sicherheit meines Vaters unternommen?“
„Entschuldige, Oliver“, wendete Rüttgers sich an ihn. Lässig fuhr er mit der Hand durch das stellenweise bereits schüttere Haar. „Nachdem ich mitbekam, was dir und Herrn Kuhn passiert ist, habe ich mich natürlich darauf konzentriert, mit Frau Meinhard zusammen zu arbeiten, um dich zu finden. Thomas steht unter sehr kompetenter Bewachung.“ In seine Stimme schlich sich boshafte Ironie. Er bedachte Marwadi mit einem überheblichen Seitenblick. Glücklicherweise ignorierte der Wachbeamte den Affront.
Oliver knirschte verärgert mit den Zähnen. In seinen Augen versuchte Rüttgers sich aus der Affäre zu ziehen und anderen Personen seine Pflichten aufzubürden. „wo wart ihr eigentlich in den letzten Stunden?“, erkundigte sich der Anwalt. Es klang nicht scheinheilig, aber auch nicht glaubwürdig. Er legte kaum genug Betonung in seine Worte, um Oliver die Möglichkeit für Rückschlüsse zu gestatten.
„Natürlich waren wir bei Aboutreika!“, fuhr er den Anwalt zornig an.
„Mäßige dein Temperament, Junge“, wies Rüttgers ihn zurecht. In Oliver stieg der innere Druck bis zur Explosion an. Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl polternd umkippte.
In seiner Wut wollte er nichts weiter, als den Anwalt für seine Taten ans Messer zu liefern.
„In Aboutreikas Haus hängen verdammt viele von Ihren Fotos!“, fauchte er. Der Anwalt blieb ruhig. „Ich bin Hobbyfotograph.“ Ein angespannter Ton wob sich in seine Stimme. „Was weiß ich, wer auf meinen Ausstellungen alles meine Bilder kauft?“
Oliver schnaubte. Selbst wenn Rüttgers die Wahrheit sagte, klang es nur wie eine Ausflucht. „Sie sind ein aalglatter Lügner!“, zischte er.
„Sei froh, dass du noch minderjährig bist“, entgegnete Rüttgers kühl. „Verleumdung …“
„Verleumdung?“, fragte Daniel lauernd. „Es dürfte sich nachvollziehen lassen, an wen Sie ihre Fotos verkaufen.“
Der Anwalt presste die Lippen aufeinander. Verärgert sah er an dem jungen Beamten vorüber. Er schwieg.
Oliver beschloss, seine Taktik zu ändern. Mühsam dämpfte er seine Wut herab, bis er sich wieder weit genug im Griff hatte. Ein Blick zu Marwadi sagte ihm, dass der Justizbeamte nicht vor hatte, in irgendeiner Weise einzugreifen.
„Wovor haben Sie versucht mich zu warnen?“, fragte Oliver.
Schweigend sah Rüttgers zu Boden. Der Anwalt ignorierte ganz offensichtlich seine Worte. Doch so schnell wollte Oliver nicht aufgeben. „Ihnen muss die Gefahr bekannt gewesen sein! Natalie Dujong war gestern bei Ihnen und Ihrer Sekretärin. Ich habe Sie drei im Büro zusammen stehen gesehen!“
Daniel spannte sich. Auch der Beamte lehnte sich neugierig über den Tisch. „Sie haben – vielleicht nicht freiwillig – Natalie hierher gebracht!“, zischte Daniel.
Rüttgers ließ ihn aussprechen. Darüber hinaus schwieg er einen Moment. „Du hast bereits Amman Aboutreika kennen gelernt“, sagte er, an Oliver gewendet. Es war keine Frage sondern eine schlichte Feststellung. Oliver presste die Lippen aufeinander, nickte aber. „Er war der Mann, der deinen Vater während des Prozesses schwer belastete. Damit lenkte er alle Aufmerksamkeit - die der Anwaltschaft, der Presse und der Polizei - auf Tom. Dein intensives Suchen, der Zwischenfall mit deinem Cousin Habicht und die Tatsache, dass du Indizien für den Mordes an deinem Bruder Marc gegen Silke aufbringen konntest, haben dich in große Gefahr gebracht. Du hast sogar aufgedeckt, dass Tom und ich aus dem Syndikat aussteigen wollten. Aboutreika musste etwas unternehmen.“
Oliver sah zu Daniel. Sein Freund legte ihm eine Hand auf die Schulter. Erschöpfung lag wie ein grauer Schleier über seinen Zügen.
„Hinter allem steckt Aboutreika“, flüsterte Oliver bitter. ‚Auch hinter Rüttgers!’, dachte er wütend.
Daniel neigte sich zu ihm. „Du kannst ihm sicher nicht alles nachweisen. Wenn wir Natalie vernommen haben, sind wir einen Schritt näher an ihm dran. Vielleicht haben wir ihn irgendwann wirklich.“
„Glauben sie das ernsthaft?“, fragte Rüttgers lakonisch. „Vorhin hat sie schon versucht, sich das Leben zu nehmen, als ihr Plan scheiterte. Aus ihr bekommt die Polizei nichts heraus.“
„Überlassen Sie das der Kripo und uns“, mischte sich Marwadi ein.
Oliver senkte die Lider. „Eine andere Frage“, begann er.
Entnervt rollte Rüttgers mit den Augen, schwieg aber.
„Wenn Sie und meine Eltern aussteigen wollten, waren diese seltsamen Zahlenkolonnen also ihre Rückversicherung?“
Rüttgers nickte müde. „Das waren belastende Aufnahmen der Überwachungskameras: sie dokumentieren die wenigen Male, in denen Aboutreika sich zu den falschen Worten und Handlungen hinreißen lies.“ Er sah auf. „Es war Toms und meine Lebensversicherung. Das war auch der Grund, weswegen Amman Silke manipulierte. Er setzte sie mit Tom, ihrem Vater und euch Kindern unter Druck. Sie musste handeln.“
„Diese Irre riskierte das leben all ihrer Kinder?!“, fuhr Daniel unbeherrscht auf.
Wütend funkelte der Anwalt ihn an. „Nein!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sie handelte nach Aboutreikas Plan. Er verlangte, dass Tom in eine Zwangslage kam. Er sollte in vollkommene Verzweiflung gestürzt werden, sodass er sich das Leben nimmt. Werkzeug dazu war Silkes und ihr Tod durch seine Hand. Wie sollte Amman ahnen, dass Tom sich selbst der Polizei auslieferte?!“
Oliver starrte ihn ungläubig an. „Mein Vater sollte in den Tod getrieben werden?“, fragte er. „Wenn Aboutreika auf Schuldgefühle bei ihm baute, kannte er ihn nicht wirklich.“
Rüttgers wiegte den Kopf. „Bei deiner Mutter verhielt sich das anders. Tom hat Silke mehr geliebt, als jeden anderen Menschen auf der Welt. Sie bestimmte sein Schicksal. Kein anderer konnte ihn so glücklich machen, oder so tief treffen.“
Oliver wusste, dass Rüttgers die Wahrheit sagte. Stumm beobachtete er den Anwalt.
„Nur sie konnte mit ihrem Mord an Marc eine solche Reaktion in ihm hervor rufen.“
„Alles geplant?“, flüsterte Daniel. Rüttgers warf ihm einen knappen, strafenden Blick zu, nickte aber. „Sie sollte ihn in den Selbstmord treiben.“
Oliver schnaubte wütend. „Auf Kosten von meinen Geschwistern!“, fügte er hinzu.
„Leider ja.“ Rüttgers beruhigte sich etwas. „Am ehesten fiel die Wahl auf die beiden Kleinen. Silke hasste Marc und Tom hasste Elli. Es war klar, dass die beiden Kinder sterben mussten.“ Er senkte den Blick. „Ich habe lang gebraucht, um über diesen perfiden Plan hinweg zu kommen“, gestand der Anwalt heiser. „Dass es dich auch erwischt hat, Oliver, lag nicht in der Absicht deiner Eltern. Allerdings hast du dich Tom entgegen gestellt, um Elli, vor ihm zu beschützen. Er war in Raserei …“
Oliver hob eine Hand. „Danke, Herr Rüttgers“, murmelte er erschöpft. „Mehr will ich nicht mehr hören.“
Chris und Michael saßen mit Lukas zusammen am Frühstückstisch, als Oliver und Daniel zurückkamen. Die Zwillinge sprangen beide auf und umarmten ihren großen Bruder. Stumm klammerten sie sich an Oliver fest. Tränen rannen über ihre Wangen. Keiner der Zwillinge sagte ein Wort. Müde, aber erleichtert drückte Oliver beide Jungen an sich. Ihre Emotionen brachen sich erleichtert Bahn.
Wortlos trat Lukas zu ihnen und wartete, bis sich der erste Ansturm der Wiedersehensfreude gelegt hatte.
„Ihr beide seht völlig fertig aus“, sagte der Zivilbeamte mit einem Kopfnicken zu Oliver und Daniel. „Ihr solltet euch ausruhen, bevor die Meute kommt.“
„Welche Meute?“, fragte Oliver. Seine Stimme schwankte bedenklich. Er ließ seine Brüder los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lider.
„Meinhard, Roth, Weißhaupt, die beiden Weiber vom Jugendamt und die Seelsorgerin“, zählte Lukas auf. „Vermutlich in der Reihenfolge.“
Entsetzt drehte sich Oliver zu Daniel um, der nur mitleidig nickte.
„Bitte verschont mich“, flüsterte Oliver. „Gebt Daniel und mir wenigstens die Zeit, wieder zu Atem zu kommen.“
Lukas klopfte ihm auf die Schulter.
„Unsere Chefs kommen irgendwann heute Abend.“
„Beruhigend“, knurrte Daniel missmutig, wobei er Olivers Hand ergriff. „Wir duschen, essen was und schlafen erst mal! Fragen werden später beantwortet.“
„Aber …“, schnappte Chris, der es nun doch nicht mehr aushielt, abzuwarten.
„Später!“, fuhr Daniel ihn an. „Lukas wird euch das, was er von Frau Meinhard hört, ohnehin haarklein erzählen.“
„Wir wollen es von euch hören“, antwortete Chris verärgert. „Ihr wart wenigstens dabei!“
Daniel schnaubte. „Sieht man wohl!“ Er wies mit einer Hand auf sein geschwollenes Gesicht und die blauen Flecken.
Die Augen Christians leuchteten. „Erzähl!“, bettelte er. Michael seufzte. Wahrscheinlich sehnte er sich nicht weniger nach einer ausufernden Erklärung, aber er zwang sich zur Ruhe. „Chris“, sagte er leise. Mit beiden Händen ergriff er die Schultern seines Zwillings und zog ihn mit sanfter Gewalt zum Tisch zurück.
„Um vier seid ihr wach!“, befahl Chris in einem Anflug von Größenwahn. „Dann will ich alles wissen!“
Oliver verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Wenn du um vier in mein Zimmer stolperst, trete ich dich wieder vor die Tür, damit das klar ist!“
Chris überhörte die Spitze. Lachend ließ sich sein kleiner Bruder wieder auf einem der teuren Stühle nieder.
„Bis später!“, rief er.
*
Nach dem Duschen ließ sich Oliver in das weiche Bett fallen und schlief fast augenblicklich ein. Er bekam erst mit, dass sein Freund in vertrauter Nähe an seiner Seite lag, als er gegen Nachmittag von Daniels Handy geweckt wurde. Der Klingelton war grell und laut.
Panisch fuhr Oliver zusammen. Aufsetzen konnte er sich nicht. Daniels Arm lag quer über seiner Brust. Der Beamte nahm den größten Teil des Bettes für sich in Anspruch. Er schlief auf dem Bauch, alle Gliedmaße von sich gestreckt. Wie üblich ließ sich Daniel durch den Lärm nicht stören. Friedlich schlief er weiter. Oliver seufzte.
„Daniel?“, fragte er leise. Das Schnarchen seines Freundes antwortete ihm.
Leider wollte der Anrufer nicht aufgeben. Oliver ging davon aus, dass es möglicherweise etwas Wichtiges war.
Behutsam schob Oliver Daniels Arm von sich herab und stand auf. Ihm war immer noch leicht schwindelig. Trotzdem konnte er sich halbwegs sicher bewegen. Unbeholfen tastete er sich an den Fotoalben seines Großvaters vorbei zu Daniels Jacke. In der Innentasche fand er das Gerät. Frau Meinhards Nummer wurde angezeigt.
Eilig nahm er das Gespräch an.
„Hallo Frau Meinhard?“, meldete er sich. „Oliver hier.“
„Hallo“, begrüßte sie ihn knapp. „Wo ist denn Kuhn?“
„Daniel schläft“, entgegnete Oliver mit einem Blick zu seinem Freund, der nun das gesamte Bett für sich vereinnahmte. Sie seufzte schwer. „Der Typ ist eine echte Pflaume.“
Oliver lachte leise. Er wendete sich von Daniel ab und trat an die Balkontür. Vorsichtig schob er die Vorhänge zur Seite und sah dem rotgoldenen Sonnenball zu, wie er sein letztes, intensives Licht über die Stadt schickte.
„Sie rufen sicher nicht an, um sich mit mir über Daniels Qualitäten zu unterhalten.“
„Nicht wirklich“, entgegnete sie. „Kannst du ihn wecken?“
Oliver sah über die Schulter. Daniels Schlaf war tief.
„Wenn es nicht so wichtig ist, würde ich lieber warten, bis sie später hierher kommen.“
Sie atmete tief ein. Offenbar rauchte sie wieder ihre elektronische Zigarette. „Für dich ist es auch wichtig“, sagte sie. Neugierig straffte Oliver sich. „Worum geht es?“
„Aboutreika ist geflohen“, sagte sie leise.
Olivers Herz stockte. „Bitte?“, hauchte er verstört. „Wie …“
Der warme Körper Daniels lehnte sich plötzlich von hinten gegen Oliver. Seine große Hand lag direkt über Olivers Herz. Behutsam drehte er das Handy so, dass er mithören konnte.
„Seine Anwälte haben ihn binnen kürzester Zeit auf freiem Fuß gehabt. Er stand unter der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen und sich zur Verfügung der Polizei zu halten“, erklärte sie. „Allerdings hat er sich aus dem Staub gemacht.“
„Verdammt!“, fluchte Daniel. „Konnten Sie ihn nicht festsetzen?!“
„Kuhn, mäßigen Sie Ihren Tonfall! Ich bin Ihre Vorgesetzte! Sie sind nicht unter ihren versoffenen Punk-Freunden!“, zischte sie.
„Ist Jamal okay?“, fragte Oliver besorg in ihre Worte.
„Jamal?“ Offensichtlich wusste Frau Meinhard nicht, wovon er sprach.
„Aboutreikas Sohn!“, rief Oliver aufgebracht. „Das ist der Junge, der Daniel und mir geholfen hat!“
Er hörte ein rascheln und undeutliche Worte am anderen Ende der Leitung. Daniel warf ihm einen besorgten Blick zu.
„Ich zieh’ mich an. Wir fahren zu Aboutreika. Wenn Jamal nicht da ist, besuchen wir seine Mutter und wenn wir ihn dann noch nicht haben …“ Er schwieg. Oliver starrte ihn fassungslos an.
„Kein Junge“, meldete sich Meinhard wieder.
„Daniel und ich fahren sofort los zu Aboutreikas Villa. Wenn Jamal nicht da ist, suchen wir ihn bei seiner Mutter“, informierte er sie.
„Du bleibst gefälligst bei Lukas!“, zischte sie entnervt.
Oliver angelte nach seiner Cargopants und einem ausgeleierten Wollpulli. Er beschloss, sie zu ignorieren.
„Ich schicke Weißhaupt und Roth mit ein paar Streifenwagen hin. Bleibt ihr zur Sicherheit in eurem verdammten Versteck!“
„Niemals!“, schnaubte Oliver böse. „Jamal verdanken wir, dass wir noch leben und konnten nur wegen ihm fliehen.“
„Tut, was ihr nicht lassen könnt!“, fauchte Meinhard wütend. „Wenn ich es verbiete, hört ihr beiden ja ohnehin nicht auf mich! Sag’ Kuhn, dass das Konsequenzen für ihn hat!“ Sie schnaubte. „Vielen Dank“, rief Oliver erleichtert.
*
Weißhaupts Audi stand bereits vor der Villa Aboutreikas. Der Berliner Kommissar wartete ungeduldig auf das Eintreffen von Oliver und Daniel. Er lehnte an der Mauer des Anwesens, rauchte und zwirbelte das Flatterband, was zur Absperrung des Geländes verwendet wurde, um seine Finger.
„Wie seht ihr denn aus?“, fragte er besorgt. Oliver, der sich in seine Kapuzenjacke eingewickelt hatte, sah ihn fragend an. „Warum?“
„Ihr seid total zusammengeknüppelt worden!“, rief er. Daniel zuckte mit den Schultern. „Du solltest erst mal die anderen sehen“, entgegnete er. Wahrscheinlich sollte es scherzhaft klingen, aber seine Stimme war viel zu ernst. Weißhaupt musterte ihn zweifelnd.
„Wo ist Roth?“, fragte Daniel. „Steckt im Verkehr fest, wie immer“, erklärte Weißhaupt.
„Verdammt, woher kommt der Mann denn immer?“, fragte Oliver ihn.
„Er wohnt in Hofheim und kommt täglich nach Wiesbaden“, entgegnete Daniel. „Davon abgesehen kenne ich keinen Autofahrer der sich so sklavisch an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält, wie er.“
„Außerdem“, fügte Weißhaupt hinzu, „wurde er von Meinhard abkommandiert, die mit den uniformierten Kollegen auseinander zu setzen.“
Oliver stöhnte. „Dann stehen wir noch ewig hier!“
In Weißhaupts Mimik las er grimmige Zustimmung.
Unruhig sah Oliver sich um. Sie mussten Jamal vor dem endgültigen Einbruch der Nacht finden!
Das Tor stand weit offen. Der Kies war aufgewühlt von unzähligen Fahrzeugen. Olivers Blick strich über die Fassade der Villa. Keine der Kameras lief noch. Obwohl er davon ausgegangen war, dass sich hier noch Beamte der Spurensicherung aufhielten, war das Grundstück verlassen. „Wann können wir mit der uniformierte Verstärkung rechnen?“, fragte Oliver.
„Kommt irgendwann, wenn Roth sie auf den neusten Stand gesetzt hat“, knurrte Weißhaupt verärgert. „Die Meisten sind auf der Suche nach diesem ägyptischen Schleimscheißer Aboutreika. Der Kerl ist leider abgetaucht. Bahnhöfe, Flughäfen, Grenzübergänge …“ er hob die Schultern. „Gerade läuft eine Großfahndung nach ihm.“
Oliver sah Weißhaupt in die Augen. „Sie kennen doch seine Angewohnheiten am Besten. Würde er einfach so das Feld räumen?“
„Nicht unbedingt“, entgegnete der Kommissar. „Der Kerl ist einerseits sehr vorsichtig und hat sich bisher nie in eine für ihn verfängliche Situation begeben, dass wir ihm auch nichts nachweisen konnte, andererseits ist er ein Araber und ziemlich rachsüchtig veranlagt.“
„Konnte man denn die externen Festplatten schon auswerten?“, fragte Daniel. Weißhaupt wiegte den Kopf. „Ein paar wenige sind in Bearbeitung. Hinweise haben wir Dank Rüttgers und den Notizen aus dem Büro deines Vaters“, erklärte er. „Das ist tatsächlich belastendes Material.“
Oliver starrte ihn auffordernd an. Allerdings schwieg sich Weißhaupt zu genaueren Definitionen des belastenden Materials aus.
Daniel sah die Straße hinunter. „Wenn die Kollegen nicht gleich auftauschen, gehen wir zu dritt rein!“, knurrte er.
„Zu gefährlich!“, steuerte Weißhaupt energisch dagegen.
Oliver atmete tief durch. Er dachte an Jamal. Der kleine Junge hatte ihm in der letzten Nacht sein Vertrauen geschenkt. Wenn Oliver noch länger zögerte, verspielte er vielleicht seine Chance, Jamal zu finden. Schließlich verfärbte die Dämmerung den Himmel bereits nachtschwarz.
Kommentarlos duckte er sich unter dem Flatterband vor dem Hoftor hindurch und eilte über den Kiesparkplatz.
„Du hast deinen Schützling gar nicht im Griff!“, fluchte Weißhaupt hinter ihm.
Oliver hörte nur Daniels Lachen und seine rasch näherkommenden Schritte.
„Warte!“, rief der Beamte.
Eilig sprang Oliver die Stufen zur Eingangstür hinauf und wendete sich zu Daniel um. Ihm fiel auf, dass Weißhaupt sich flüchtig umsah. Gleichgültig wie sehr der Kommissar auch polterte, offenbar schien er erleichtert zu sein. Oliver lieferte ihm einen Grund, das Gelände betreten zu können. Eilig folgte Weißhaupt seinem jüngeren Kollegen, der bereits den Parkplatz hinter sich gelassen hatte.
„Danke“, murmelte Daniel als er zu Oliver aufschloss. „Ich habe gehofft, dass du den direkten Weg wählst.“
Nervös sah Oliver ihn an. „Ich habe Angst um Jamal“, gestand er. Sanft legte Daniel ihm die Hand auf die Schulter.
„Ich auch, Olli.“
„Könnt ihr mal zusehen, dass ihr ins Haus kommt?!“, knurrte Weißhaupt, als er ankam. „Ich will nicht unbedingt in die Verlegenheit kommen, zu rechtfertigen, warum wir hier draußen herum stehen und reden, anstatt dass ich euch aufgehalten habe.“ Er blinzelte Oliver zu und grinste verschwörerisch. Sein Oberlippenbart zuckte.
Nervös nickte Oliver und befeuchtete seine Lippen.
Wortlos wendete er sich zur Tür. Er zweifelte daran, dass sie offen war. Vorsichtig drückte er gegen den Messingknauf. Er traf auf leichten Widerstand, bevor das Schloss mit einem gedämpften Geräusch aufsprang. Verwirrt sah Oliver zu Daniel zurück. In den Zügen seines Freundes erkannte er neue Anspannung. Synchron zu Daniel zog auch Weißhaupt seine Waffe.
„Was …“, begann Oliver. Weißhaupt deutete mit seiner Pistole auf ein kleines, kaum sichtbares, zerschnittenes Sigel. „Hier interessiert sich offenbar jemand nicht sonderlich für polizeilich verplombte Türen“, knurrte er.
„Habe ich sie nicht gerade zerstört?“, fragte Oliver verwirrt.
Weißhaupt betrachtete die Plombe aus der Nähe, bevor er den Kopf schüttelte. „Die Ränder sind zu glatt. Wurde vermutlich mit einem Taschenmesser durchtrennt“, erklärte der Beamte leise. Er sah zu Daniel. „Kümmere dich um Oliver. Ich will nicht, dass dem Kleinen was passiert.“
Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Auto zurück. „Fragt am Besten wo die verdammte Verstärkung bleibt!“
Daniel schnappte vernehmbar nach Luft. Wut stand in seinen Augen. „Du solltest dich auch nicht allein in …“
„Verpisst euch zu der verdammten Karre!“, zischte Weißhaupt. Sein Schädel verfärbte sich Zornesrot. Entschlossen wendete er sich der Tür zu. Vorsichtig schob er sie einen Spalt breit mit seiner Waffe auf. Tiefe, schattenlose Dunkelheit empfing ihn.
Oliver regte sich nicht. Atemlos beobachtete er Bernd Weißhaupt. Daniel schob sich in sein Sichtfeld.
„Olli, geh zum Auto zurück“, bat er eindringlich. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er zum Jeep, während er sein Handy zog und ihm reichte. „Wenn wir innerhalb von fünf Minuten keine Rückmeldung geben und die Verstärkung ausbleibt, ruf’ bitte Irene Meinhard an.“
Er wusste, dass er für Daniel eine Belastung war, weswegen Oliver sich umdrehte und ein paar Schritte ging. „Viel Glück“, sagte er leise. Daniel antwortete ihm nicht mehr. Als Oliver zurück sah, war sein Freund bereits durch die Tür in das Hausinnere geschlüpft.
Sekunden verstrichen, in denen Oliver mit Wut im Bauch und einer unerklärlichen Leere in sich durch den Spalt nach innen stierte. Sein Herz raste. Er fürchtete um seine beiden Freunde. Mit mahlenden Kiefern drehte er sich um. Seine Hand krampfte sich um das Kunststoffgehäuse des Handys. Konnte er einfach so gehen? Sicher bereitete er Daniel und Weißhaupt nur Probleme, wenn er ihnen folgte. Das war ihm bewusst. Zugleich verstand er nicht, weshalb er noch warten sollte, bevor er die Kommissarin kontaktierte. Möglicherweise lag es daran, dass die beiden Männer gegen ihre Vorschriften verstießen.
Mit raschen Schritten entfernte Oliver sich vom Haus.
Innerlich sträubte er sich dagegen. Er hasste es, wie ein Kind fortgeschickt zu werden. Besonders weil Daniel und er bisher fast ausschließlich nur aufeinander angewiesen waren und gemeinsam alle Probleme gemeistert hatten. Der Gedanke löste in ihm eine Woge von Gefühlen aus, die seinen klaren Verstand fortschwemmen wollten. Um ein Haar wäre er auf dem Absatz umgekehrt. Anstatt dessen drückte er die Kurzwahl von Frau Meinhard. Zugleich suchte er sich – nah der Mauer – einen Platz, von dem aus er die Eingangstür im Blick behalten konnte.
„Was ist denn, verdammt!“, zischte die Kommissarin gereizt.
„Ich bin es“, antwortete Oliver mit gedämpfter Stimme.
„Oliver, was ist denn?“, fragte sie, etwas versöhnlicher.
„Wir sind an Aboutreikas Villa“, begann er.
Sie stöhnte. „Ja, weiß ich. Was weiter?!“
„Das Polizeisigel wurde durchgeschnitten. Weißhaupt und Daniel sind rein gegangen …“
„Idiotenpack!“, brüllte sie unvermittelt. Ihre Stimme war so laut, dass das Mikrofon im dem Handy knackte. Oliver atmete tief durch. „Wo bleibt die Verstärkung?“, fragte er leise.
„Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte“, entgegnete sie immer noch gefährlich laut. „Wir haben Sonntag. Die Kollegen von der Streife müssen sich erst mal sammeln und die Anweisungen von ihrem Einsatzleiter erhalten.“
Oliver stöhnte. „Können Sie kommen?“, fragt er.
In das Gespräch hinein klopfte ein anderer Anrufer an. Oliver hielt das Display so, dass er lesen konnte, wer anrief. Der Name Bernd flimmerte auf grünem Grund.
Während Frau Meinhard sprach, unterbrach Oliver sie. „Weißhaupt ruft an. Ich melde mich gleich!“
Eilig legte Oliver die Leitung um.
„Ja …“
„Oliver“, rief Weißhaupt gehetzt. „Sag’ Meinhard, dass die Spurensicherung sofort kommen soll!“
*
Rasch gab Oliver die Bitte weiter, blieb aber nicht mehr in seinem Versteck. Egal was seine beiden Freunde sagen würden, wenn sie ihn erwischten, er musste wissen, was dort drinnen passiert war. Die Sorge um Jamal drückte ihm die Luft ab.
Mit ausgreifenden Schritten eilte er zum Haus zurück, stieß die Tür auf und sah sich um.
Samtene Dunkelheit empfing ihn. Er konnte fast gar nichts erkennen. Nur langsam hoben sich schwache Schatten der Einrichtung etwas weiter ab. Oliver zögerte. Angespannt lauschte er in die Stille hinein. Das schwache Rauschen des Verkehrs drang zu ihm. Im Gebälk des Hauses knackte es vernehmlich. Oliver fuhr zusammen. Sein Blick huschte über die dichten Teppiche, die seine Schritte schluckten, zu der Treppe in die oberen Etagen. Er spannte sich, bis seine Muskeln schmerzten. Das Knarren alten Holzes wiederholte sich. Ging möglicherweise jemand über ihm entlang? Oliver versuchte sich einzureden, dass es nur Daniel und Bernd sein konnten. Auf seinen Unterarmen bildete sich trotzdem eine Gänsehaut. Langsam schlich Oliver zu der Treppe hinüber. Er wartete vor der ersten Stufe. Erneut lauschte er.
Nervös legte er die Hand auf das stark ornamentierte, wuchtige Geländer. Das glatte, kühle Holz fühlte beruhigte ihn aus irgendeinem Grund. Leise drang ein entferntes Rascheln hinab. Vorsichtig folgte er dem Geräusch hinauf. Die Etage darüber war, Dank der Straßenlaternen, besser beleuchtet. Auf der Auskragung stand die Vitrine mit einigen ausgesuchten Kunstschätzen. Gegenüber befanden sich Büro und Überwachungszentrale. Ein leises Kratzgeräusch ließ Oliver zusammen fahren. Es kam von oben. Er sah automatisch hinauf. Ihm war schleierhaft, wo sich seine beiden Freunde aufhielten.
Grob konnte er lokalisieren, dass der Laut aus dem zweiten Stock drang. Wahrscheinlich hielten sie sich in der Etage auf.
Lautlos huschte er hinauf, hielt sich aber in den Schatten des Treppenschachts. Auf den letzten Stufen blieb er stehen und spähte vorsichtig er in den Flur. Durch die offenen Türen fiel wieder schwaches Licht von der Straßenbeleuchtung herein. Nur in einem Raum war die Tür angelehnt. Elektrisches Licht viel in einem schmalen Streifen auf den Teppich. Er fuhr zurück.
Dicht an die Wand gedrückt lauschte er. Es irritierte ihn, dass er nicht einmal die Stimmen von Weißhaupt und Daniel wahrnahm. Sein Atem beschleunigte sich. Oliver fühlte, wie sein Herz hart schlug. Er sorgte sich um seine Freunde.
Einmal mehr fragte er sich, ob Jamal noch im Haus war.
Vorsichtig löste er sich von der kühlen Feinputzwand. Lautlos trat er in den Gang. Ihm gegenüber erkannte er einen dunklen Handabdruck auf der Wand. Oliver fuhr zusammen. ‚Blut!’, schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl er nur Teile des Handtellers und der Finger erkennen konnte, war ihm klar, dass diese Spur von einem Kind, nicht von einem Erwachsenen stammte.
„Jamal!“, keuchte Oliver erstickt.
Erschrocken über die Intensität seiner Worte in dem ruhigen Haus, sah er zu der angelehnten Tür. Er hörte keine Schritte oder Stimmen. Offenbar hatte ihn niemand gehört. Für einen Moment überlegte Oliver, ob er nach Daniel und Weißhaupt rufen sollte, verwarf den Gedanken aber. Mühsam setzte er sich in Bewegung und zwang sich, den Blutfleck etwas genauer zu betrachten. Anhand der dunklen Färbung stand außer Frage, dass er schon einige Stunden alt sein musste. Oliver fühlte sich durch diese Erkenntnis kein bisschen beruhigt. In Kombination mit Weißhaupts Anruf ergab sich daraus ein erschreckendes Bild!
Über ihm Schwang eine Bodentür auf.
Gelbes Licht fiel über die Treppen. Olivers Herz machte einen Sprung. Angst wallte in ihm auf.
„Hier sind überall Blutspuren“, knurrte Weißhaupt.
„Die sind sicher von dem toten Kerl hier unten“, antwortete Daniel grimmig. „Das war übrigens der Typ, der Olli und mich so zugerichtet hat.“
Entsetzt spannte Oliver sich. Er sah zu der halb geschlossenen Tür hinüber. ‚Der Hüne aus der Tiefgarage!’, zuckte es durch seinen Kopf.
„Der Junge ist trotzdem nicht zu finden.“
„Ich weiß!“, entgegnete Daniel scharf. „Als Olli und ich hier waren, haben wir ihn hier gesehen. Meinem Gefühl nach war das sein Lieblingsversteck.“
Oben verlosch das Licht. Die schweren Schritte Daniels polterten die Stufen herab. Der Strahl einer Stablampe huschte ungerichtet über die Wände. „Der Kleine ist da oben sicher auch angegriffen worden. Aber er ist nun mal nicht mehr da!“, fauchte Weißhaupt. Er ging kaum weniger leise hinter Daniel. Nervös sah Oliver sich nach einem Versteck um. Einerseits war er erleichtert, dass Jamal nicht hier oben und wahrscheinlich am leben war, andererseits wollte er sich nicht von seinen Freunden erwischen lassen. Eilig huschte er eine Etage nach unten. Die Schritte folgten ihm. Innerlich fluchte er, während er eine weitere Treppe hinab nahm.
Im ersten Stock schaltete einer seiner Freunde das Flurlicht ein.
„Schau mal!“, rief Daniel. Hier ist überall Blut!“
„Ich denke, die Spur könnte uns zu Jamal führen“, entgegnete der Kommissar. „Pass auf, dass du keine Spuren zerstörst!“
Daniel stöhnte entnervt. „Bernd, bitte!“
‚Jamals Weg führt also hinab!’ Entschlossen sah Oliver sich im Erdgeschoss um. Dank des wenigen Lichtes erkannte er immer noch nichts. Er zog das Handy aus der Tasche und schaltete das Display ein. In dem fahlen Licht erkannte er am Geländer der Treppe dunkle Sprenkel und einen weiteren Handabdruck. Sie verloren sich im Nichts.
Resigniert seufzte Oliver.
Er öffnete leise einige Türen. Bis auf verschiedene Marken der Spurensicherung fand er nichts. Ärgerlich ging er zurück zur Treppe.
„Ich schaue mal, ob bei Olli alles klar ist!“, rief Daniel.
„Mach, mach!“, murrte Weißhaupt. „Mir ist langsam egal, wegen was ich suspendiert werde!“
Oliver fuhr zusammen. Rasch schob er das Handy in seine Jackentasche und sah sich nach der Tür um. Daniel eilte bereits die Stufen hinab. Der Weg nach draußen war abgeschnitten. Instinktiv drängte er sich unter den Treppenlauf in die Schatten. Er wartete mit angehaltenem Atem, bis Daniel das Haus verließ.
Ein kühler, dumpfer Lufthauch streifte ihn. Es roch nach Moder und Alter. Oliver fühlte sich an den Keller im Haus seines Großvaters erinnert. Wahrscheinlich war es genau das: Der Keller.
Er hatte sich nicht getäuscht. Hinter einer schmalen, unscheinbaren Tür wehte aus der Schwärze der feuchte Geruch eines alten Kellers hinauf. Kälte empfing ihn. Schaudernd rieb sich Oliver über beide Arme. Er sah rein gar nichts. Ohne Licht würde er sich hier bestenfalls den Hals brechen. Daniels Handydisplay würde ihm vielleicht auch hier weiter helfen. Entschlossen packte er es aus.
Draußen hörte er den Kies unter Daniels Stiefeln knirschen.
„Olli?“
Oliver fühlte sich seinem Freund gegenüber wie ein Schuft.
„Olli, wo bist du?!“ In der Stimme Daniels schwang Angst mit.
Es würde wohl nur Minuten dauern, bis Daniel ihn über Weißhaupts Handy anrief. Oliver sah zur Tür. Er wollte gerade umdrehen, als ein leises Wimmern aus den Tiefen des Gewölbes drang.
„Jamal?“, fragte Oliver leise.
Unter ihm raschelte es. Jemand weinte.
Oliver tastete nach einem Lichtschalter. Etwas Vielbeiniges krabbelte über seinen Handrücken. Angeekelt schüttelte er das Tier ab. „Mist!“, flüsterte er atemlos. Rasch schaltete er das Handy ein. Kränklich fahles Licht beschien weiß gekalkte, unregelmäßige Wände und ausgetretene, graue Stufen. Olivers Herz pochte heftig, als er sich an den Abstieg wagte. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er einen kleinen Vorraum, von dem aus sich ein unübersichtliches Gewölbe öffnete. Oliver konnte die Ausmaße in dem geringen Licht kaum erahnen. Dicht neben sich entdeckte er alte, defekte Möbel, die von einer dichten, schmierig feuchten Staubschicht und grauen Spinnweben überzogen wurden. Es stank nach Schimmel und nassem Mauerwerk. Zu seinen Füßen huschte Ungeziefer in dem Dreck.
„Jamal?“, rief Oliver gedämpft.
Stille antwortete ihm. Lediglich kleine Chitinbeinchen kratzten über den Steinboden. Beklommen sah er sich um. Das Licht des Displays erlosch. Oliver glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Sofort drückte er eine Taste. Die fahle Helligkeit erschreckte ihn nicht weniger. Finger schlossen sich um sein Bein. Entsetzt schrie Oliver auf. Das Handy rutschte ihm aus der Hand. Instinktiv befreite er sich und wirbelte herum. In der Displaybeleuchtung erkannte er eine kleine, bebende Gestalt, die sich auf dem Boden zusammengekauert hatte. „Jamal!“, rief er.
*
Oliver saß in einem prunkvollen Clubsessel des Salons. Auf seinem Schoß kauerte Jamal, dessen zierlicher Körper vollkommen unterkühlt war. Seit Oliver ihn im Keller entdeckt und nach oben getragen hatte, ließ sich der Junge nicht dazu bewegen, seinen Nacken loszulassen. Nur unter Mühen gelang es Oliver, seine Jacke auszuziehen und sie Jamal um den unterkühlten Körper zu legen.
Routiniert, wie er es von seinen Geschwistern gewohnt war, hatte Oliver den Jungen abgetastet, um zu sehen, ob er stärker verletzt war. Einige Male verzog Jamal vor Schmerz die Lippen, schwieg aber eisern. Seine Kleidung fühlte sich klamm an. Sie war voller Blut und stark verschmutzt. Anfängliche Versuche, Jamal zu waschen und zu verbinden, gab er rasch auf. Die verzweifelte Angst des Jungen überstieg alles, was Oliver bislang kennen gelernt hatte. Er vermutete, dass es mit Dem zusammen hing, was er von Daniel und Weißhaupt gehört hatte. Der Angriff auf Jamal musste das Vertrauen in erwachsene Männer zutiefst erschüttert haben, weswegen er Schutz bei Oliver suchte.
Nach einer Weile gab er sich damit zufrieden, Jamal eng an sich zu drücken und ihn zu wärmen.
Vor Weißhaupt versteckte Jamal sich in Olivers Armen. Lediglich Daniels Nähe akzeptierte er, obwohl er eine Zeit lang auswich, wenn der junge Beamte die Hand nach ihm ausstreckte. Nach einer Weile begnügte sich Daniel damit, neben Oliver und Jamal auf der Lehne des Sessels zu sitzen. Im Gegensatz zu dem Jungen gestattete Oliver nur zu gern die Vertraulichkeiten seines Freundes, weshalb er die schwere Wärme von Daniels Hand auf seinem Rücken genoss. Das unmerkliche Streicheln jagte Oliver wohlige Schauer durch den Körper.
Weißhaupt kauerte auf der Kante des anderen Sessels, links von Oliver. Die Hände des Kommissars pendelten zwischen seinen Beinen, während er die Ellbogen auf den Knien abstützte.
Ihnen gegenüber stand Irene Meinhard, die gerade ein Telefongespräch beendete. Sie sah verärgert, aber auch erleichtert aus.
„Der Notarzt kommt gleich“, sagte sie leise mit einer Kopfbewegung auf Jamal. „Für den anderen brauchen wir nur noch einen Leichenwagen.“
Erschrocken klammerte sich der Junge fest. Seine abgebrochenen Nägel drangen durch Olivers Shirt. Jamal vergrub seinen Kopf. Tränen versickerten in Olivers Hemd. Der kleine Körper bebte.
Oliver hatte nur eine vage Vorstellung von dem Schrecken, dem Jamal ausgesetzt worden war. In seiner Fantasie erhob sich dieser monströse Mann wie ein Berg aus Muskeln über dem Jungen und schlug mit gnadenloser Grausamkeit auf ihn ein. Oliver kannte den Anblick von seinem Vater. Nur damals war es ihm immer möglich gewesen, dazwischen zu gehen, oder Toms Wut umzulenken. Doch Jamal musste sich diesem Mann allein stellen. Eine Woge von Zuneigung und Mitleid ergriff ihn. Oliver vergrub seine Hand in den dichten Haaren des Jungen und kraulte ihn liebevoll. Offensichtlich erging es Daniel nicht anders. Erneut streckte er seine Finger nach Jamal aus. Er zögerte kurz, bevor er dem Jungen über den Kopf streichelte. Ihre Hände berührten sich. Dieses Mal ließ Jamal es zu.
Daniel warf seiner Vorgesetzten einen bösen Blick zu.
„Sie reden Jamal Schuldgefühle ein, die er nicht haben muss“, sagte er wütend. Meinhard zuckte mit den Schultern. Offenbar war es ihr vollkommen egal.
Oliver wendete den Blick von ihr ab und konzentrierte sich auf den weinenden Jungen. Er vermutete, dass Jamal seinen Angreifer in Notwehr getötet, oder zumindest tödlich verletzt hatte. Näheres wollte er in Gegenwart Jamals weder von Weißhaupt, noch von Daniel erfragen. Jamal hatte – seiner Ansicht nach – genug mitgemacht, um vorerst in Ruhe gelassen zu werden. Unter all den schweren und weniger schweren Verletzungen, die Jamal davon getragen hatte, wogen die Wunden in seiner Seele weitaus mehr. Es würde sicher Jahre dauern, bis der Junge darüber hinweg kam. Deswegen verstand er auch nicht, warum Frau Meinhard so unsensibel reagierte.
„Vernommen werden muss er trotzdem!“, gab sie scharf zurück. „Außer Ihrem zweiten Schützling weiß leider niemand, was sich hier abgespielt hat …“ Sie warf Jamal einen strafenden Blick zu. „Insbesondere in einem polizeilich gesperrten Gebäude.“ Die Kommissarin machte Daniel Vorwürfe. Oliver begriff nicht, warum ausgerechnet sein Freund generell Blitzableiter für diese Frau spielen musste. Er tastete nach der Hand Daniels, die immer noch auf Jamals Hinterkopf lag. Stumm sahen sie einander an. Oliver erkannte die nur schwer zurückgehaltene Wut in Daniels Blick.
„Es geht um Aboutreika!“, zischte Meinhard. „In dem Fall ist mir vollkommen egal, wie es euch oder dem Kleinen geht. Dieser Mann muss gefasst werden, bevor er noch Schlimmeres anrichtet!“
Jamal wand sich in stummen Krämpfen in Olivers Armen. Es fühlte sich an, als wolle der Junge sich in seinem Körper verkriechen. Er ließ sich mit Jamal im Sessel zurück sinken. Zärtlich barg er ihn in seinen Armen.
„Jamal kann nicht vernommen werden“, sagte Daniel gezwungen leise. „Er steht unter Schock. Davon abgesehen wissen wir nicht, was ihm angetan wurde. Er muss erst einmal untersucht und behandelt werden.“
Sie schwieg. Daniel seufzte. „Sorry, jetzt mal ganz privat: Das kannst du nicht machen, Irene!“
Mit theatralischem Augenrollen hob sie beide Hände. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Daniel fort: „Davon abgesehen muss seine Mutter informiert werden und ein Psychologe sollte anwesend sein.“
Meinhards Gesicht gefror. Lediglich um ihre Mundwinkel zuckte ein Muskel. Sie starrte auf ihren jungen Kollegen herab. „Sie vergreifen sich im Ton, Kuhn!“
Oliver fiel auf, dass sie sein vertrauliches Du ignorierte.
Daniel zuckte mit den Schultern. „Ist mir egal!“, gab er mit erhobener Stimme zurück, während er aufstand. „Suspendier’ mich, wenn du kannst!“ Er trat zwischen Oliver, Jamal und die Kommissarin. Meinhard schwieg. Vorsichtig lehnte sich Oliver zur Seite, um sie zu beobachten. Ihr Gesicht verhärtete sich mit jedem Moment mehr.
„Ich weiß, dass das Recht dieses Mal auf meiner Seite ist!“, sagte Daniel. Oliver merkte, dass er auch noch das letzte Bisschen seiner jungenhaften Natur ablegte. Für ihn war Jamals Schutz wichtiger.
Unangenehme Stille senkte sich über den Raum. Oliver spürte die zornige Spannung in der Luft. Sein Nackenhaar richtete sich auf. Selbst Jamal schien diese Situation aufzufallen. Obwohl noch immer Tränen über seine blau geprügelten Wangen rannen, lauschte er gespannt. Oliver sah, wie er den Kopf zu Daniel umwendete.
Langsam erhob sich Weißhaupt. „Ich kann Ihre Position verstehen, Frau Meinhard. Aber ich bin selbst Vater und sehe, wie schlecht es Jamal geht. Wir müssen …“
„Weißhaupt!“, fuhr sie ihm ins Wort. „Sie und Kuhn sind doch die beiden Koryphäen, die sich alle Regeln zurecht biegen, wenn es um die Jagd auf Aboutreika geht! Wir haben ihn fast. Mit der Aussage Jamals finden wir ihn schneller!“
Weißhaupt ballte die Fäuste. Er musste sich offensichtlich schwer zurückhalten, nicht zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. „Daniel hat recht. Sie nutzen jede Möglichkeit, Aboutreika fertig zu machen. Aber nicht auf die Kosten des Kleinen. Jamal braucht Menschen um sich, die ihn mit Verständnis und Liebe behandeln. Sie beschuldigen und bedrängen das Kind.“
Jamal sog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum.
„Ich werde nicht länger mit Ihnen beiden Diskutieren!“, entgegnete Meinhard. Ihre Stimme klang gezwungen ruhig. Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig. Auf diesem Weg konnte sie Jamals Blick einfangen. Gefasster als zuvor fuhr sie fort: „Selbst wenn sich Aboutreika die Finger nicht selbst schmutzig macht, so ist er ein gewalttätiger Verbrecher, der nicht zurückschreckt, seine eigenen Kinder töten zu lassen.“
Oliver spürte, wie Jamals Körper sich in seinen Armen versteifte. In seiner Mimik fing sich Schrecken und Angst. Während er den Jungen beobachtete wurde ihm klar, dass Jamal erst jetzt begriff, wie knapp er dem Tod entkommen war.
„Kann er Jamal noch gefährlich werden?“, fragte Oliver leise. Meinhard nickte. „Deswegen steht das Haus seiner Mutter bereits unter polizeilicher Überwachung. Die beiden müssen, genau wie du und deine Brüder vorerst an einen sicheren Ort gebracht werden.“ Sie machte eine kurze Pause, sprach aber rasch weiter, bevor einer ihrer Kollegen ihr erneut ins Wort fallen konnte. „Bevor Aboutreika nicht hinter Schloss und Riegel sitzt, ist Jamal überall in Gefahr.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Davon abgesehen kann der Junge ihn schwerer belasten als jeder andere Mensch. Schließlich hat er die letzten Jahre bei seinem Vater gelebt und sicher haufenweise Informationen aufgeschnappt, die Aboutreika zum Verhängnis werden können.“ Ihr Tonfall normalisierte sich endgültig. Sie ließ sich schwer in einen Sessel sinken. Zeitgleich lösten sich Daniel und Weißhaupt aus ihrer Position. Erschöpfung schien Daniel zu ergreifen. Er verstand Meinhards Einwände offenbar, auch wenn sie ihm nicht gefielen. Müde setzte sich auf die Lehne, während Weißhaupt hinter seinen Sessel trat, und sich schwer abstützte. Auch in seiner Mimik lag tiefe Resignation. „Entweder er entkommt uns, oder wir begehen eine psychische Gewalttat an dem Kleinen“, resümierte er.
Die Kommissarin beobachtete ihre beiden jüngeren Kollegen an. „Ihr vergesst einen Grundsatz: bindet euch nicht mit euren Gefühlen an den Fall.“
Unwillig schnaubte Weißhaupt. „Was ist mit Ihnen?“, fragte er herausfordernd. „Thomas Hoffmann war all die Jahre Ihr Fokus.“
Sie hob kraftlos die Schultern. Widerspruch war zwecklos „Ich weiß“, gestand sie. Sicher ist, dass diese Fälle mir noch über lange Zeit den Schlaf rauben werden.“ Sie unterbrach sich, während sie ihre elektrische Zigarette aus der Tasche nahm und sie zwischen die Lippen hob. „Wir müssen weiter machen, bis wir sicher sein können, dass sie geklärt sind.“
Daniel hob eine Hand und deutete auf Oliver und Jamal. „Uns geht es nicht anders. Wir nehmen die Fälle genauso ernst. Aber unser Fokus ist das Leben der Jungen.“
Meinhard wollte etwas sagen, doch Weißhaupt unterbrach sie rasch. „Jamal ist so alt wie meine Tochter. Dass ich persönliche Gefühle in diesen Fall einbinde, steht außer Frage, oder?“ Ihm musste diese Situation mehr zusetzen, als es den Anschein erweckte.
Meinhard lehnte sich zurück, senkte die Lider und nickte. Offensichtlich wollte sie ihren Kollegen keine weitere Moralpredigt halten. „Roth hat Jamals Mutter kontaktiert. Sobald der Kleine versorgt wurde, wird Frau Dr. Richter bestellt und dann kann die Vernehmung statt finden.“
Jamal keuchte auf. Mit beiden Händen krallte er sich in Olivers Shirt und Nackenmuskeln. Der helle Schmerz ebbte rasch ab. Verzweifelt barg Jamal das Gesicht an Olivers Hals. „Er hat Angst“, sagte Oliver leise. Behutsam drückte er den Jungen wieder an sich. „Ich bin nicht sicher, ob Jamal bereit ist, schon zu reden.“
„Aber es könnte seine Seele etwas entlasten“, entgegnete Frau Meinhard.
Oliver wiegte den Kopf. „Wenn er auch nur in einigen Grundzügen Ähnlichkeit mit meinen Brüdern hat, ist das nicht gesagt. Kinder reden nur mit Menschen, denen sie absolut vertrauen. Sie, Herr Weißhaupt und Herr Roth sind Jamal vollkommen fremd. Daniel und mich kennt er und scheint uns zu vertrauen.“
Sie hob die Brauen, schwieg aber. Ruhig sog sie an ihrer Elektrozigarette. Die Kommissarin wartete.
„Seit ich ihn gefunden habe, schweigt er“, fügte Oliver an.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Oliver, wie Jamals Hand sich von seinem Hemd löste und sich in Daniels Ärmel verkrallte. Meinhard rollte mit den Augen. „Okay, ist ja gut! Ihr habt mich überzeugt.“ Verärgert wuchtete sie sich aus dem Sessel hoch und deutete auf Daniel. „Sie führen die Befragung und schreiben das Protokoll!“
*
Wie bei ihrer letzten Begegnungen, empfand Oliver die Psychologin als unangenehm. Frau Richter saß schweigend, auf ihre Weise fast bedrohlich, neben Jamal. Möglicherweise lag es auch an dem kalten Neonlicht im Vernehmungszimmer des BKA. Die Schlagschatten veränderten sie optisch zu einer boshaft grinsenden Puppe. Ihre sonst gelöste Haltung hatte sich in dem Moment verändert, in dem sie auf Oliver traf. Ihre Mimik gefror augenblicklich. Ihm war schleierhaft, weswegen sie auf diese Weise auf ihn reagierte. Was hatte er getan, um ihre unversöhnliche Wut auf sich zu ziehen? Leider fand er keine Gelegenheit, sie nach dem Grund zu fragen. In gleicher Weise wie Frau Richter reagierte auch Jamals Mutter, als sie eintrat. Die leicht verhärmten Züge der einstmals schönen Frau drückten Antipathie gegenüber Oliver aus. Sie zog automatisch die Brauen zusammen und verengte die Augen. Der Anblick gab Oliver das Gefühl, einer wütenden Katze gegenüber zu stehen. Er verstand, warum sie ihn verabscheute, ohne ihn zu kennen: schließlich war er der Sohn der beiden Menschen, die an ihrem Unglück eine große Mitschuld trugen. Trotzdem traf es ihn. Sein Blick glitt zu Jamal, der sauber und verarztet neben ihm saß und erleichtert über die Schulter zu ihr sah. Unter dem Tisch krampfte der Junge trotz allem seine Finger verbissen um Olivers Hand. Ihre Lippen verzogen sich ärgerlich, als sie es bemerkte.
„Mama!“, rief er.
„Jamal, mein Engel!“ Eilig schritt sie auf ihn zu und umarmte ihn, wobei sie darauf achtete, ihn so zu drehen, dass er Oliver loslassen musste. Tatsächlich umklammerte der Junge schluchzend seine Mutter. Erst jetzt entspannte sich ihr Gesicht. Stumm presste sie ihr Kind an sich und küsste seine Wangen. Die tiefe Erleichterung in ihrem Gesicht berührte Oliver.
Tränen schimmerten in ihren großen Augen. Alles Leid, was Aboutreika über Mutter und Sohn gebracht hatte, brach nun aus ihr hervor. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in Jamals dichten Locken.
„Ich liebe dich!“, flüsterte sie erstickt.
Der Tonfall und die Ernsthaftigkeit der Worte versetzten Oliver einen schmerzhaften Stoß. Seine Knie wurden weich. Er spürte plötzlich das gesamte Ausmaß seines Verlustes und die Last der Verantwortung, die auf seine Schultern nieder drückte.
Schwach klammerte er sich an die Kante des Tisches. Ihm war schwindelig und schlecht. Fast verzweifelt sah er zu Daniel, der auf dem Tisch sein Notebook und zwei Aufnahmegerät aufbaute. Ordner, aus denen Ausdrucke hervor quollen, mit denen offenbar selten besonders vorsichtig umgegangen wurde, lagen neben dem Rechner. Seine Nervosität verriet, dass es sich um Daniels erste Vernehmung handelte. Die geschäftige Aktivität und die zuckenden, nervösen Finger des jungen Beamten waren ein weiteres Indiz. Er versuchte so wenig wie möglich vom klassischen Protokoll abzuweichen. Der Anblick half Oliver, sich wieder zu fangen. Langsam umrundete er den Tisch und legte Daniel die Hand auf den Unterarm.
„Wird schon schief gehen“, versuchte er ihn aufzumuntern. Daniel sah ihm in die Augen. Die Hektik verflog. Er schenkte Oliver ein dankbares Lächeln. „Willst du bei mir bleiben?“, fragte er, wobei er auf den Stuhl des Schreibers neben seinem deutete. Oliver nickte. „Ich lasse dich nicht allein“, versprach er.
„Ich glaube“, meldete sich Frau Richter mit erhobener Stimme zu Wort, „dass die Anwesenheit von Oliver Hoffmann eher abträglich ist.“
Oliver erstarrte innerlich. Er sah sie verletzt an.
„Jamal …“, begann er.
„Jamal ist ein Kind, dem schlimmes angetan wurde“, viel sie ihm Scharf ins Wort. „Die Situation ist deiner viel zu ähnlich. Deswegen halte ich es für unklug, zwei seelisch geschädigte Jungen bei einer solchen Vernehmung zusammen zu lassen. Du könntest die Objektivität Jamals beeinflussen.“
Oliver schluckte hart. Er ahnte bereits, dass ein solcher Einwand kommen würde. Mit einem kurzen, resignierten Blick zu Daniel nickte er. „Ich warte draußen, okay?“
„Nein!“, schrie Jamal auf. Seine Stimme schnappte über.
Erschrocken schob seine Mutter ihn auf Armeslänge von sich, während sie ihren Sohn besorgt musterte. Oliver biss sich auf die Unterlippe, als Frau Richter von Jamal zu ihm zurück sah. Ärgerlich presste sie die Lippen aufeinander.
Oliver streifte Daniel leicht mit den Fingern. Für einen Herzschlag umfasste der Beamte Olivers Hand und hielt sie fest, bevor er sie unwillig wieder frei gab.
Der kurze Druck tat gut.
Oliver löste sich und trat zu dem Jamal. Der Junge verschränkte seinen kleinen Finger in Olivers vergleichsweise riesige Pranke. Sofort beruhigte er sich. Wut funkelte in den Augen von Jamals Mutter. Oliver ignorierte sie. Wortlos strich er Jamal über die Wange. Der Junge löste sich von seiner Mutter und umschlang Olivers Taille. Er zitterte am ganzen Körper. „Bleib!“, rief er.
Die Sonderbehandlung Olivers missfiel der Psychologin so sehr wie Jamals Mutter. Dennoch durfte er bleiben. Wortlos stellte sich Oliver hinter Jamals Stuhl und legte ihm, so wie Daniel es bei ihm tat, beide Hände auf die Schultern. Daniel räusperte sich um Aufmerksamkeit zu erhalten. „Für den Anfang stelle ich dir keine Fragen, sondern lasse dich einfach erzählen, okay, Jamal?“
Der Junge nickte unsicher. Mit beiden Händen fuhr Daniel sich durch das Haar, wodurch er die grünroten Strähnen nur noch mehr durcheinander brachte. Oliver musste lächeln. Scheinbar fing Daniel seine Geste auf. Er entspannte sich etwas. Schließlich schaltete er das Tonbandgerät ein.
Nach einer kurzen Pause, die er offenbar zum Besinnen brauchte, nannte Daniel Aktenzeichen, Datum und Uhrzeit. Er schaltete das Gerät kurz ab, rieb sich den Nasenrücken und die Augen, bevor er den On-Knopf wieder herab drückte, um Name und Alter Jamals zu nennen, sowie den körperlichen und seelischen Zustand des Jungen in kurze Worte zu fassen. Seine Stimme klang dabei monoton. Oliver wurde bewusst, dass Daniel gerade nach Lehrbuch handelte. Als der Beamte sich an Jamal wendete, taute er auf. Freies Sprechen lag ihm mehr.
„Jamal, nun erzähl mir in deinen Worten, was passiert ist, seit wir uns das letzte Mal im Haus deines Vaters gesehen haben.“ Er beugte sich im Stuhl nach vorne und beobachtete den Jungen.
Verunsichert begegnete Jamal Daniels Blick. Er sah zu seiner Mutter, die unwillkürlich seine Hand ergriff und herzlich drückte. Ihn in die Arme zu nehmen wagte sie offenbar nicht, solang Oliver hinter ihrem Sohn stand.
„Einer der Polizisten sagte, dass eine Kommissarin sich um mich kümmern würde und gleich käme …“ Er brach ab und sah zu seiner Mutter.
„Erzähl alles“, bat sie ihn in ruhigem Tonfall, wobei sie ihrem Sohn mit einer Hand durch das dichte Haar strich.
Jamal schluckte hart. „Die Frau, die kam um mit mir zu reden, war gar keine Polizistin!“, sagte er leise. In seiner Stimme schwang etwas zwischen Trotz und Wut auf die Beamten mit. Oliver spannte sich. Er tauschte einen raschen Blick mit Daniel. „Natalie?“, wisperte er. Daniel legte ärgerlich den Finger über die Lippen und deutete auf Jamal.
Frau Richter musterte Oliver mit undeutbarem Blick, während Jamals Mutter sich ausschließlich auf ihren Sohn konzentrierte. „Sie sagte“, setzte Jamal wieder an. „sie würde mit mir an einem ruhigen Ort reden wollen.“ Er ballte beide Fäuste. „Sie ging mit mir nach draußen, zu ihrem Auto …“ Seine Stimme erstickte. Sanft massierte Oliver Jamals Schultern und seinen Nacken. Die Muskeln des Jungen hatten sich vollständig unter seinen Fingern verhärtet. Jamal kämpfte mit seiner Selbstbeherrschung. „Was war dann?“, fragte Daniel vorsichtig nach.
„Sie hat mich zu einem Auto gebracht“, keuchte er. Die Tränen raubten ihm den Atem. „Onkel Kelim hat da auf mich gewartet!“, stieß er hervor.
Oliver sah, dass Daniel Zwischenfragen stellen wollte, sich aber vorerst beherrschte. Er notierte etwas.
„Kelim?“, flüsterte Jamals Mutter tonlos. Oliver bemerkte, dass ihr Gesicht alle Farbe verlor. Ihre Lippen zitterten. Es schien so, als wolle auch sie mehr sagen, allerdings konnte sie nicht sprechen.
Jamal nickte. „Ja, er hat mich festgehalten und schlug mich. Aber ich habe mich gewehrt. Trotzdem ist er losgefahren.“ Er rieb über seine dicke Wange und die verbundene Stirnwunde. „Ich glaube, er war sicher, dass ich bereits tot bin, denn er hat sich nicht um mich gekümmert. An einer Ampel bin ich irgendwie aus dem Auto gekommen.“ Er hob den Blick. „Ich wollte zu den Polizisten ins Haus zurück!“, rief er. „Der große, dunkelhaarige mit dem roten, runden Gesicht hatte versprochen, auf mich aufzupassen.“
Oliver dachte an Bernd Weißhaupt. Wahrscheinlich meinte Jamal ihn. „Als ich zurück kam, war aber niemand mehr da. Ich bin durch das Kellerfenster ins Haus gekrochen.“
Er schluckte seine Tränen hinunter. „Überall war weißes Pulver, Markierungen und so was …“ Er überlegte kurz. „Wie in den Filmen“, erklärte er. Daniel lächelte und nickte still. „Ich bin durch das Haus gelaufen …“ Jamal sah zu Oliver hoch. Der Junge ergriff seine Hand, bevor er sich wieder Daniel zudrehte. Trotz der moralischen Unterstützung durch Oliver zögerte er. „Onkel Kelim war plötzlich da“, flüsterte er. Seine Stimme bebte deutlich. „Er war wütend und voller Blut. Ohne etwas zu sagen, kam er auf mich zu und schlug mich.“ Jamal holte tief Luft. „Ich bin weggelaufen … keine Ahnung wohin. Onkel Kelim hat mich eingeholt und in die Vitrinen auf dem Dachboden gestoßen. Da ging alles drin kaputt …“ Er verstummte. Mit gesenktem Kopf, seine kleinen Finger fest um Olivers Hand gekrampft, murmelte er: „Die dicken Scherben …“ Seine stimme brach.
„Hören Sie auf“, bat Jamals Mutter leise. Daniel begegnete ihrem Blick. Er griff nach dem Aufnahmegerät und stellte es an. „Ist okay.“
Plötzlich schüttelte Jamal den Kopf. „Er hat mich gewürgt und immer wieder mit dem Kopf auf den Boden geschlagen!“, rief er. Daniel drückte die Aufnahmetaste gerade noch rechtzeitig. „Ich habe mich nur mit einer Scherbe gewehrt“, stieß Jamal hervor. Er verfiel in endgültiges Schweigen.
Jamals Mutter saß stocksteif neben ihrem Sohn. Oliver konnte nicht sagen, ob sie wegen des Handelns ihres Kindes die Fassung verlor, oder weil sie nicht begreifen konnte, wie man einem kleinen Jungen so etwas antun konnte. Er empfand für sie nicht weniger Mitleid als für Jamal.
Daniel tauschte mit Frau Richter einen Blick. Die Psychologin nickte ihm zu.
„Jamal, kannst du mir mehrere Fragen beantworten?“, fragte er vorsichtig, um die Aufmerksamkeit des Jungen zurück zu erlangen.
Stumm starrte Jamal zu Boden. Oliver spürte, dass er sich vollständig verspannt hatte. Es kam ihm vor, als befände sich der Junge unter Schock, ausgelöst durch die Erinnerung an das Geschehene. Schweigend wartete Daniel. Er verschränkte die Hände auf der Tischplatte.
Die Stille in dem kleinen Raum nahm erschreckend betäubende Ausmaße an, die selbst Oliver lähmten. Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hob Jamal den Kopf. Mühsam rang er um seine Fassung. Oliver drückte aufmunternd seine Hand.
„Wann hat dich diese Frau abgeholt?“, fragte Daniel langsam. Jamal reagierte nicht gleich. Er schien durch Daniel hindurch zu sehen. Als er versuchte mit seinen verhärteten Muskeln ein Schulterzucken zu bewerkstelligen, begriff Oliver, dass Jamal gerade alle Details noch einmal erlebte. „Ich weiß es nicht“, murmelte er matt. „Sie kam, als ihr weggefahren seid.“
In Daniels Gesicht zuckte es. Er biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. ‚Wir hätten ihn mitnehmen müssen!’, dachte Oliver. Er spürte die Wut auf sich selbst. Ein Blick in Daniels Augen genügte, um ihm klar zu machen, dass sein Freund sich ebenfalls schuldig fühlte.
Für einen Moment schaltete Daniel das Tonband aus und barg das Gesicht in den Händen. Die Erkenntnis ging ihm sehr nah.
„Sorry“, murmelte er nach einigen Sekunden. Er straffte sich, bevor er das Tonband wieder einschaltete. Seine Stimme schwankte, als er sagte: „Du wurdest wahrscheinlich zwischen drei und viertel nach drei Uhr morgens entführt.“ Jamal sah ihn nur dumpf an. Die schmalen Schultern seiner Mutter zuckten. Oliver war bewusst, dass sie weinte. Stumm nahm er ein zerknautschtes Päckchen Taschentücher aus der Beintasche und reichte es ihr. Im ersten Moment ignorierte sie es. Schließlich griff sie danach, wobei sie seinen blick mied. Daniel notierte sich etwas und sah dabei zu Jamal hoch. „Kannst du mir die falsche Polizistin beschreiben?“, fragte er.
„Sie war dunkelhaarig mit einem Zopf“, erklärte Jamal langsam. Seine Stimme klang, als würde sie von einem weit entfernten Ort kommen.
„Wie alt war sie?“, fragte Daniel geduldig.
Jamal blinzelte. Er schien aus seiner Erinnerung auftauchen zu wollen. „Alt!“, sagte er gefasst. „Mindestens so alt wie du!“
„Jamal!“, fuhr ihn seine Mutter erschrocken an. Daniel winkte ab. „Schon gut. Für einen Zehnjährigen sind alle Menschen über fünfzehn alt.“
Zögernd sank sie in ihrem Stuhl zurück, richtete sich aber Kerzengerade auf, als sie bemerkte, wie nah sie Oliver kam. Daniel deutete auf die beiden Frauen. „War sie schlank und etwa so groß wie Frau Richter, oder eher wie deine Mama?“ Mit einer Handbewegung forderte er die Frauen auf, sich kurz zu erheben. Jamals Mutter war zierlich und klein, während Frau Richter recht groß war. Sie reichte Oliver zumindest bis zu den Wangenknochen. Jamal zuckte mit den Schultern. „Eher wie Mama“, sagte er. „Und sie war sehr dünn, bis auf hier.“ Jamal deutete auf seine Brust. Alle Anwesenden verstanden den Jungen. Die unbeholfene Angabe bewegte die Psychologin sogar zu einem verhaltenen Lächeln.
„Hat sie dir einen Namen genannt?“, fragte Daniel.
„Nein“, entgegnete Jamal leise.
Oliver presste die Kiefer aufeinander. Für ihn stand außer Frage, dass es sich um Natalie handeln musste. Die Beschreibung war zwar vage, aber sie traf auf die junge Frau zu. Davon abgesehen hatte sie mit geringer Verzögerung Oliver und Daniel verfolgt.
„Ich zeige dir später eine Frau und du sagst mir, ob sie es war, oder nicht“, schlug Daniel vor. Jamal nickte beklommen. „Ich habe sie aber schon einmal gesehen“, murmelte er. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf Jamal. Der Junge schrumpfte merklich in seinem Stuhl. „Einmal, in Berlin …“, flüsterte er und sah schuldbewusst zu seiner Mutter.
Oliver atmete hörbar ein. Er hatte Redeverbot. Für ihn stand fest, dass es sich um Natalie handelte.
Daniel notierte wieder etwas, bevor er erneut den Kopf hob. „Weißt du noch, wann das war?“, fragte er.
Jamal zuckte erneut mit den Schultern. „Mama war da das letzte Mal mit.“
„Im Sommer vor dreieinhalb Jahren waren wir zusammen in Berlin“, half seine Mutter aus. „Jamal blieb einen Tag allein mit seinem Vater, während ich mich mit Silke Hoffmann getroffen habe. Ansonsten war ich immer in der Nähe meines Kindes.“
Ihr Blick streifte Oliver. Unversöhnlicher Hass lag in ihren Augen.
Daniel senkte die Lider und hob eine Hand. „Bitte nichts Persönliches in diese Befragung einfließen lassen!“, rief er sie zur Ordnung. Jamals Mutter wendete sich brüsk von Oliver ab.
Sein Hals fühlte sich trocken an. Diese Situation glich einer Farce. Trotzdem arbeitete Olivers Gehirn fieberhaft. Dieser Zeitraum deckte sich mit der Enttarnung von Matthias Habicht. Langsam gerann der schwache Verdacht, dass Natalie schon länger Teil von Aboutreikas Organisation war, zu einer Gewissheit. Damit stand außer Frage, wer seinen Cousin vor Jahren verraten hatte. Dumpf pochender Kopfschmerz erwachte in seinen Schläfen. Schaudernd sah er zu Daniel, der unmerklich nickte. Dachten sie das gleiche?
Daniel Räusperte sich. Er nahm das Tonbandgerät hoch. „Dem Zeugen werden zu gegebenen Zeitpunkt Aufnahmen von der verdächtigen Beamtin Natalie Dujong vorgelegt.“ Er wendete sich wieder an Jamal. „In welchem Verhältnis steht dein Onkel Kelim zu dir?“
Oliver spürte, wie alle Kraft aus dem Jungen wich. Jamals Finger entglitten seinen. Der Kleine erschlaffte. Müde sank Jamal zurück. Er fuhr sich mit beiden Händen über die verquollenen Augen.
„Kelim ist der älteste Bruder von Amman. Er ist seit einer Weile die rechte Hand meines Exmannes“, erklärte Jamals Mutter. Mit einem Seitenblick zu Oliver fügte sie hinzu: „Seit Amman Tom nicht mehr vertraute.“
Oliver senkte die Lider. Er verstand die Anspielung.
Behutsam löste er seine Hände von Jamals Schultern.
„Ich warte bei Weißhaupt“, sagte er leise.
*
Weißhaupt saß nervös an seinem Schreibtisch. Dem Kommissar ging es kaum anders als Oliver. Natürlich hatte er den Beamten von dem Verhör in Kenntnis gesetzt und seinen Verdacht gegen Natalie geäußert. Seitdem lenkte Weißhaupt sich damit ab, indem er Oliver alles erzählte, was er von der jungen Frau wusste. Das Resümee fiel dürftig aus. Trotz den Jahren, die ihre Abteilungen miteinander gearbeitet hatten, wusste der Kommissar nur, dass sie mit Habicht liiert war und aus einem reichen Haushalt stammte. Auf Anhieb wusste er nicht einmal, seit wie viel Jahren sie für die Spurensicherung tätig war. Er schloss seinen Monolog, indem er anmerkte: „Die Frau war mir unsympathisch. Sie ist hübsch und hohl wie eine Puppe. Keine Ahnung, was Mathes an der gefunden hat.“
Oliver atmete tief durch. Er zuckte die Schultern. „Habicht liebt sie. Wahrscheinlich ist sie bei ihm ganz anders und verbirgt ihre Art einfach nur vor Menschen, die sie nicht sonderlich gut kennt.“
Weißhaupt gab einen dumpfen Laut on sich, der Zustimmung oder Ablehnung sein konnte.
„Ich gehe mir einen Kaffee holen“, sagte Oliver leise, wobei er auffordernd zu Weißhaupt sah.
„Ich komme mit!“, knurrte der Kommissar.
Auf dem Flur kamen ihnen einige Beamte entgegen, die sich miteinander unterhielten. Oliver ignorierte sie. Aus dem Augenwinkel sah er zu Weißhaupt. „Gibt es eigentlich schon Ergebnisse von der Vernehmung Natalies?“, fragte er leise.
Der Beamte schüttelte den Kopf. „Roth ist deswegen noch in Weiterstadt.“ Nervös fuhr er sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen dünnen Bart. „Wir stehen so dicht davor!“ Er machte eine vage Handbewegung. „Es kann doch nicht sein, dass uns Aboutreika wieder durch die Lappen geht!“
Er schwenkte in eine kleine Teeküche ein und blieb vor einem großen, roten Automat stehen. Zwei Beamte standen zusammen an einem runden Stehtisch. Als Weißhaupt eintrat grüßten sie knapp. Oliver erinnerte sich, sie in der Begleitung Meinhards gesehen zu haben. Der Kommissar nickte ihn kurz zu. „Wenn wir ihn jetzt nicht festnageln können, gehen Jamal und seine Mutter erst mal in ein Zeugenschutzprogramm.“ Er drückte auf die großen, schwarzen Tasten. Begleitet von einem mechanischen Surren sprang ein Plastikbecher in eine Auffangklammer. Ein leises Brodeln kündigte an, dass Wasser erhitzt wurde. Wenig später plätscherte dünner, schwarzer Kaffee herab. Weißes, halb verflüssigtes Pulver und Zucker wurden durch andere Leitungen in den Becker gepumpt. Nervös trommelte Weißhaupt mit seinen kräftigen Fingern gegen die Plexiglasabdeckung. „Die beiden wären dann auch erst mal aus meinem Einzugsbereich heraus“, sagte er missmutig.
„Denken Sie, Aboutreika wäre jetzt noch so wahnsinnig, seiner Ex-Frau und seinem Sohn etwas anzutun?“, fragte Oliver, der Weißhaupts Becher entnahm und ihm reichte.
Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Nicht nach dem Dämpfer, den er bekommen hat. Kelim Aboutreika und Natalie Dujong dürften sein letztes Aufbegehren hier gewesen sein.“
Oliver nickte. Er suchte sich Kaffee mit Milchpulver aus. Während der Apparat das Gemisch zubereitete, sah er zu dem Kommissar.
„Oliver, wenn Aboutreika sich jetzt nach Ägypten absetzt, waren all die Jahre Arbeit, die ich in den Fall investiert habe genauso umsonst, wie der Tod deiner Mutter und deiner Geschwister.“
Mühsam atmete Oliver durch. „Ich weiß“, flüsterte er. „Herr Weißhaupt …“
„Bernd“, unterbrach der Kommissar ihn. „Sag Bernd zu mir.“
Oliver lächelte. „Danke.“ Er nickte ihm zu, straffte sich allerdings gleich wieder. „Wie lang werden meine Brüder und ich unter Polizeischutz bleiben?“
Weißhaupt zuckte mit den Schultern. „Ich denke, das hängt ebenfalls von unseren Erfolgen gegenüber Aboutreika ab.“
Anspannung schlich sich in Olivers Mimik. „Wie soll es danach weiter gehen?“, fragte er leise. „Unser Leben hängt vollkommen in der Schwebe. Wir wissen alle drei nicht, ob wir getrennt werden, wie es unserem Großvater geht und wie wir wieder Fuß fassen können.“
Nachdenklich nahm Bernd einen Schluck. Ohne es recht zu registrieren, verzog er die Lippen. „Ich vermute, die beiden Damen vom Jugendamt und Frau Richter haben schon einen Plan für euer zukünftiges Leben.“
Ärgerlich stieß Oliver die Luft durch die Nase aus. „Ich kann es mir ungefähr vorstellen“, knurrte er. „Chris und Micha komme in eine kleine, familiäre Wohngruppe und ich in ein Wohnheim oder eine Wohneinheit mit gelegentlicher sozialpädagogischer Betreuung; wie mir gesagt wurde, damit ich mein zukünftiges Leben besser in den Griff bekomme.“
Mitgefühl flammte in Bernds Augen auf. „Ich wünschte, dass ich darin etwas für dich tun könnte, Oliver …“
„Bernd, Olli!“
Die Stimme Daniels drang über den Flur in den kleinen Raum.
Weißhaupt trat hinaus und hob die Hand. „Hier!“
Sekunden später betrat Daniel den Raum. Seine Augen leuchteten, als er sich an Oliver vorbei zu dem Automat schob. Er zog sich ebenfalls einen Kaffee. Er ignorierte Oliver und Bernds neugierig bohrende Blicke in seinem Rücken. Als er sich umdrehte und an seinem Kaffee nippte, versetzte Bernd ihm einen unsanften Tritt gegen das Schienbein. „Los, sag’ was!“, forderte er Daniel barsch auf.
„Ist ja gut!“, gab Daniel zurück. Er grinste. „Dank des Kleinen wissen wir nun sicher, dass Natalie bereits vor mehr als drei Jahren für Aboutreika gearbeitet hat. Sie ist vermutlich die Person, die Matthias Habicht …“
„Die Vermutung kenne ich schon von Oliver“, unterbrach ihn Bernd rasch. „Was weiter?“
Irritiert sah Daniel ihn an, fing sich aber rasch.
„Offensichtlich sollte Aboutreikas älterer Bruder Jamal dazu bewegen, dass der Junge uns gegenüber nichts verrät. Aber die unvermittelte Gewalt hat Jamal dazu getrieben, sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen. Eigentlich hat er Kelim nur einmal eine Scherbe über Brust und Hals gezogen, aber er hat …“
„Ich habe es gesehen“, bog Bernd ab. Sein Seitenblick zu Oliver verriet, dass er keine genaueren Beschreibungen zuließ.
„Er ist verblutet, oder?“, fragte Oliver.
Bernd trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, während Daniel nickte.
„War das der Kerl aus der Tiefgarage?“ Oliver sah seinem Freund in die Augen.
„Ja“, entgegnete Daniel.
„So ein Schwein!“, stieß Oliver wütend aus. „Jamal hatte doch nicht den Hauch einer Chance.“
„Leider“, antwortete Daniel leise. Er hob die Schultern. „Monster wie die Aboutreikas sollte man zu gegebener Zeit kastrieren, damit sie sich nicht fortpflanzen können!“, zischte Bernd. Er presste seine geballte Faust so stark zusammen, dass die Knöchel weiß hervor traten.
„Zumindest hat Jamal den Angriff überlebt“, entkräftete Daniel Bernds Worte.
„Was kam bei der Befragung sonst noch heraus?“, fragte Oliver.
Daniel trank einen Schluck. „Aboutreika hat ein weiteres Haus in Taunusstein und zwei Villen in Berlin.“ Er legte eine Kunstpause ein, bevor er weiter sprach. „Wenn er so blöd ist, um im Land zu bleiben, wo ihn unterdessen mehrere Personen schwer belasten können, wäre es also möglich, dass wir ihn dort abpassen.“
Bernd atmete tief durch. „Ich glaube nicht, dass er einen solchen Fehler macht.“ Er sah Daniel an. „Hast Du schon mit meinem Vorgesetzten gesprochen?“
„Wegen einer Überwachung?“, fragte Oliver neugierig.
Bernd nickte. „Nicht nur die Häuser, sondern auch die Zufahrtsstraßen, Bahnhöfe und die Flughäfen müssen überwacht werden.“
Daniel nickte. „Ist erledigt.“
Oliver sah Daniel an. „Was geschieht nun?“
Im Nachhinein bereute Oliver die Frage. Daniel und er wurden von Frau Meinhard wie kleine Jungen nach Hause geschickt. Im Auto regte sich der junge Beamte so sehr darüber auf, dass er in der Hildastraße, fast einen Unfall mit einem geparkten Wagen gebaut hätte.
Kurz vor der Einfahrt zur Villa blieb Daniel stehen und stellte den Motor ab. Er schlug wütend mit beiden Händen gegen den Lenker.
„Scheiße!“, schrie er.
Oliver verstand Daniels Wut. Daniel hatte sich den Tag mit der Befragung und dem Papierkram um die Ohren geschlagen, dürfte aber nichts weiter unternehmen. Generell erkannte niemand die Leistung des jungen Kommissaranwärters an. Ohne ihn und seine enge Freundschaft zu Oliver stünde die Kripo immer noch am Anfang ihrer Ermittlungen.
Er konnte die Kommissarin nicht verstehen. Sein eigener Zorn auf sie mochte andere Hintergründe haben, aber er hasste es auch, wie ein Kind behandelt zu werden.
Dank des übereilten Aufbruchs der Beamten, blieb ihm gar nicht die Zeit blieb, sich noch einmal von Jamal zu verabschieden.
Nachdem sich Daniel etwas beruhigt hatte und auch sein Verstand wieder klarer arbeitete, legte er seinem Freund die Hand auf den Unterarm. „Ich bin mir sicher, dass sie Aboutreika auch in Wiesbaden Taunusstein nicht finden werden“, sagte er leise. „Der Mann ist viel zu intelligent, um sich in die Schusslinie zu begeben.“
Wütend nickte Daniel. „So schätze ich ihn auch ein. Der ist entweder direkt vor unserer Nase und zieht die Strippen, oder er ist bereits in Kairo.“
Mit einem zögernden Nicken bestätigte Oliver die Annahme, wobei er schauderte. Der Gedanke, dass Aboutreika in ihrer Nähe sein konnte, möglicherweise sogar das Versteck kannte, baute ihn nicht sonderlich auf.
Daniel seufzte resigniert. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht.
„Dicht trifft es sehr, dass du aus deinen Ermittlungen ausgeschlossen wirst“, sagte Oliver leise. Es war eine Feststellung, keine Frage.
Daniel nickte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf.
Mit gehobener Braue musterte Oliver ihn.
Gequält stöhnte Daniel auf. „Klar geht es mir gegen den Strich. Du willst doch auch bis zum Ende dabei sein, oder?“
Oliver nickte. Eine Woge von Zorn stieg in ihm auf. Er fühlte sich nicht weniger auf ein Abstellgleis abgeschoben.
Er nickte abgehackt. Dieses Mal griff Daniel nach seiner Hand. „Andererseits will ich gar nicht, dass der Auftrag endet“, erklärte er leise. Er sprach nicht weiter. Oliver wusste zu genau, worauf sein Freund anspielte. Wenn der Fall gelöst und Aboutreika mit all seinen Handlangern festgesetzt wurde, gäbe es diese kleine, gemeinsame, emotionale Welt, in der sie sich bewegten, nicht mehr. Daniel würde an seinen Fall im Stift zurück kehren und Olivers Leben … Er verdrängte den Gedanken. Momentan war er sich all seiner Gefühle überdeutlich bewusst. Er litt unter den bevorstehenden Trennungen. Sicher würden Daniel und er Freunde bleiben, sich schreiben und telefonieren, aber er konnte nicht riskieren, dass die Tarnung seines Freundes durch Unvorsicht seinerseits aufgedeckt wurde. Still sank er in dem Sitz des Jeeps zusammen. Einzig der warme, feste Händedruck Daniels drang in seine Welt.
Oliver verlor das Gefühl für Zeit. Lang saßen sie nebeneinander, die Hände ineinander verschränkt. Jeder hing seinen Gedanken nach, niemand sprach. Oliver wagte nicht einmal Daniel anzusehen. Irgendwann hörte er das rascheln von Daniels Lederjacke.
„Ich habe noch keine Ahnung, wie ich das anstelle und wie lang es dauern wird“, sagte der junge Beamte. „Aber ich hole dich und deine Brüder zu mir.“
*
Die Nachricht von Daniels Beschluss löste bei Chris und Michael Jubel aus. Oliver saß stillvergnügt in einem der gemütlichen Sessel des Salons, neben Lukas, der sich darüber amüsierte, wie die Zwillinge durch den Raum tobten und Daniel dabei wie Indianer umtanzten.
Oliver verlagerte sein Gewicht im Sessel und legte die Beine über die Lehne. Sein Herz fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen leicht an. Daniels Worte hatten ihn befreit. Im Moment kam nichts Schlimmes an ihn heran. Er räkelte und streckte sich.
Christian nahm Anlauf und sprang Daniel auf den Rücken. Seinem Bruder schien die Spannung zwischen ihm und dem Beamten entfallen zu sein. Allein die Aussicht, dass sie zusammen bleiben konnten, machte ihn übermütig. Daniel zog ihn auf seinen Rücken. Mit beiden Armen umschlang Chris seinen Hals und presste sich fest gegen den Beamten. „Hey, erwürg’ mich nicht!“, keuchte Daniel. Der Hilferuf tangierte Chris nicht sonderlich. Er kuschelte sich nur noch fester an den jungen Mann.
Oliver zog die Brauen zusammen und pfiff schrill durch die Zähne. Beide Zwillinge, aber auch Daniel zuckten zusammen.
„Chris!“, rief Oliver streng. „Übertreib’ es nicht!“
Sein Bruder lockerte den Griff und rutschte über Daniels Rücken zu Boden. „Ich freue mich doch bloß!“, schrie er verärgert.
Oliver setzte sich wieder auf. „Das kannst du ja, aber ohne Daniel zu erwürgen, klar?!“
Chris schob die Unterlippe vor und zog die Brauen zusammen.
Daniel und Michael beobachteten ihn. Der Anblick drückte allen Ärger Christians aus. Trotzdem wirkte es lächerlich. „Vorsicht …“, grinste Oliver. „Dein Gesicht kann so festwachsen!“
„Das is’ ne Lüge!“, insistierte Chris schrill. Unwillkürlich hielt Oliver sich die Ohren zu. „Nicht so laut!“, zischte er. „Ich bin doch nicht …“
Ein Handy klingelte. Es klang nicht nach Daniels Apparat.
Lukas, der bislang amüsiert zugesehen hatte, griff in seine Hosentasche und meldete sich.
Olivers Euphorie verschwand von einem Moment zum anderen. Ohne ersichtlichen Grund versetzte ihn das Geräusch in Panik. Sein Herz raste vor Angst. An Lukas’ Mimik konnte er ablesen, dass es sich um eine schlechte Nachricht handelte.
Der Beamte sah Oliver direkt in die Augen. Mitleid erwachte in seinem Blick. Er hörte nur zu. Das schreckliche Gefühl in Oliver wurde zu einer undefinierten Gewissheit.
„Frau Meinhard“, sagte er leise, während er sein Handy an Oliver weiter reichte. Zögernd griff er danach, während sein Blick zu Daniel glitt, der Chris gerade in den Arm nahm. In der Mimik seines Freundes lag tiefe Sorge. Wortlos kam Michael zu Oliver und umschlang ihn fest.
„Frau Meinhard?“, fragte Oliver mit belegter Stimme.
„Mein Beileid“, sagte sie leise. Ihre Tonlage klang dumpf und erschöpft. In Oliver schrillten alle Alarmsirenen.
„Was ist passiert!“, rief er.
„Dein Großvater ist vor etwa zwanzig Minuten im Krankenhaus gestorben“, entgegnete sie.
Oliver atmete gezwungen tief durch. „Woran?“, flüsterte er erstickt. Er spürte keine Tränen in den Augen, aber seine Stimme versagte.
Mit aller Gewalt zog sich sein Herz zusammen. Er fühlte sich Walter gegenüber schuldig. Insgeheim wünschte er sich, nie so tief gebohrt zu haben.
„Das will ich Dir lieber nicht am Telefon sagen“, gestand die Kommissarin. Michael, der vor dem Sessel kniete, drückte sich enger an Oliver. Wortlos vergrub er sein Gesicht an der Brust seines großen Bruders. Aus dem Augenwinkel bemerkte Oliver, wie Lukas sich erhob und zu Daniel ging. Im Flüsterton unterhielten die Beamten sich. Rasch huschte Chris unter Daniels Arm fort und eilte zu Oliver und Michael. Mit der gleichen Inbrunst wie sein Zwilling, umklammerte er seinen großen Bruder. Oliver schlang einen Arm um die Jungen.
„Keine Rücksicht!“, forderte Oliver. Sein Herz schlug hart.
Meinhard zögerte, bevor sie zähneknirschend antwortete.
„Er hat sich erhängt.“
*
Oliver stand vor der Tür des Raumes, in dem die Leiche seines Großvaters aufgebahrt worden war. Seine Brüder saßen zusammen mit Lukas und Frau Meinhard in der Cafeteria des Klinikums. Oliver hatte den Jungen nicht untersagt mitzukommen. Trotzdem wollten sie nicht. Er verstand, warum sie sich weigerten. Schließlich war der Anblick schrecklich. Auch Oliver fiel es schwer. Daniel und Roth waren beide bei ihm. Der ältere Beamte unterhielt sich mit einer Stationsschwester. Sie alle warteten auf den leitenden Stationsarzt, der sie zwar hier her bestellt hatte, aber auf sich warten ließ.
„Was fühlst du?“, fragte Daniel leise. Er stand hinter Oliver. Die Hände seines Freundes lagen vertraut auf Olivers Schultern. Daniel massierte ihn leicht.
„Schuld“, entgegnete Oliver. Er wunderte sich, dass seine Stimme wieder klar und fest klang „Ich habe ihn nicht geliebt, aber ich fühle mich schuldig.“
Daniel ließ seine Schultern los und umfing Oliver fest.
„Musst du nicht“, flüsterte er. „Dein Großvater hat das Schicksal immer selbst gewählt.“
Stumm schmiegte Oliver sich an seinen Freund. Die Worte kamen nicht an ihn heran, aber Daniels Nähe linderte seinen negativen Gefühlen.
„Wer von Ihnen beiden ist Oliver Hoffmann?“
Die tiefe Stimme des Arztes ließ Oliver zusammenfahren. Er sah den schlanken, hochgewachsenen Mann an. Er war vielleicht Anfang vierzig. Dem Gesichtstyp nach vermutete Oliver in ihm einen Inder oder Iraner.
Aus dunklen, fast schwarzen Augen beobachtete ihn der Arzt. Mitgefühl lag in seinem Blick. Seine vollen Lippen zuckten leicht.
„Ich bin Oliver Hoffmann“, entgegnete er.
Daniel ließ Oliver aus seiner Umarmung
„Mein Name ist Ajit Divari“, stellte er sich vor. „Ich bin der leitende Neurologe.“ Der Arzt reichte Oliver die Hand.
Mit einer knappen Kopfbewegung zu Daniel fragte er: „Ihr Freund?“
Oliver nickte. „Daniel Kuhn“, stellte er den Beamten vor.
Unverholen neugierig musterte Divari Oliver und Daniel, bevor er sich wieder fasste. Offenbar nahm der Arzt an, dass die Verbindung der beider über normale Freundschaft hinaus reichte. Oliver war nicht in der Verfassung, ihn darüber aufzuklären.
„Hat etwas darauf hingewiesen, dass Olivers Großvater Selbstmord begehen wollte?“, fragte Daniel.
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sein Lebensmut sank zwar erheblich“, gab er zu. „Aber ich hatte den Eindruck, dass er der Zeit lieber ihren Lauf lassen wollte.“
Roth trat heran und nickte. „Laut der Stationsschwester hat er sich aus der Krankenhausbibliothek heute erst Gustav Freitags gesammelte Werke kommen lassen. Wie verrückt wäre man, sich dann, wenige Stunden später, umzubringen?“
Der Arzt nickte. „Das dachte ich mir auch.“
Oliver tauschte einen verwirrten Blick mit Daniel. „Aber warum hat er sich denn dann …“, begann Oliver.
„Vorhin war ein Streifenbeamter hier“, unterbrach Divari ihn. „Nach der Unterredung mit diesem Mann muss es wohl passiert sein.“ Bevor einer der Beamten eine Zwischenfrage stellen konnte, fügte der Arzt hinzu: „Die Schwester“, er wies mit dem Kopf zu der Frau, mit der Roth gesprochen hatte. „sagte mir, er sei vollkommen verstört und in Aufruhr. Er verlangte offenbar nach Papier und Stift. Als sie nicht schnell genug zu Stelle war …“ Er hob die Schultern.
Erschrocken fuhr Oliver zusammen. „Worum ging es bei dem Gespräch mit dem Polizist?“, fragte er alarmiert.
„Es wurde wohl in seinen Laden eingebrochen“, entgegnete der Arzt verwirrt. „Warum fragen Sie?“
„Wurden Bücher gestohlen?“ Oliver hörte, wie seine Stimme überschnappte.
Der Arzt hob nur die Schultern. Olivers Herz hämmerte. Er hatte nicht vergessen, was Aboutreika von Walter haben wollte. Er begann zu zittern.
Roth klopfte Oliver beruhigend auf die Schulter, bevor er sich an den Arzt wendete. „Darf ich mit Ihnen und ihrem Personal sprechen?“
Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Klar“, entgegnete er. „Passt zeitlich zwar nicht, ist wohl aber sehr wichtig, oder?“
Oliver sah wie Roth nickte. „Ist es. Ihr Patient wurde auf recht unorthodoxe Weise in den Tod getrieben.“
„Mord?“, fragte der Arzt zweifelnd.
Roth wiegte den Kopf und nickte schließlich.
„Darf ich meinen Großvater noch einmal sehen?“, fragte Oliver leise.
Der Arzt zögerte, bevor er die Tür öffnete.
„Bitte“, sagte er schließlich.
Oliver blieb reglos neben dem Bett seines Großvaters stehen. Der Kopf des Leichnams wurde von einem Handtuch unter dem Kiefer stabilisiert. Trotz Nackenkissen lag der Schädel in einem unnatürlichen Winkel. Die Augen Walters quollen hervor. Sie standen weit offen. Der leere, stumpfe Blick verlor sich im Nichts. Jeder Glanz fehlte. Die gelblich, bleiche Haut spannte sich um seinen kantigen Schädel. Sie wirkte noch trockener und transparenter als zuvor. Der Anblick hatte nichts Menschliches an sich. Walter Markgraf sah aus wie ein Skelett, über das man Folie gelegt hatte. Altersflecken, dunkle Hämatome und das schüttere, verblichene Haar verliehen dem Leichnam einen noch unheimlicheren Hauch.
„Sein Aussehen is nun schrecklicher denn je“, flüsterte Daniel. Reglos blieb der Beamte hinter Olivers stehen. „Zuvor war er mir schon unheimlich, aber jetzt?“
Oliver verstand Daniels Eindrücke nur zu genau. Er konnte sie nicht so einfach in Worte fassen, weil sie aus seinem Mund respektlos geklungen hätten, aber er empfand Walter nicht anders.
Es kostete Oliver einige Überwindung, an das Bett heranzutreten. Der schale Geruch, der ihm in die Nase drang mischte sich mit dem schwachen hauch von Urin und Fäkalien. Schaudernd fiel ihm wieder ein, dass sich bei den meisten Menschen im Zusammenhang mit einer solchen Todesart der Darm noch einmal entleerte. Mit aufeinandergebissenen Kiefern starrte er auf seinen Großvater herab. Mühsam versuchte er, betont flach zu atmen.
Trauer und Wut, die ihn bislang begleitet hatten, wichen einem gewissen Grad des Ekels. Innerlich weigerte er sich sogar, den alten Mann anzustarren. Trotzdem ging eine grauenhafte Faszination von ihm aus.
Erneut fühlte er sich bei dem Gedanken wie ein Schwein. Bei seinem Großvater hatte er den Zeitpunkt verpasst, sich zu entschuldigen. Warum fühlte er sich nun so zerrissen? Reue und Abscheu beherrschten ihn.
Oliver fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Feuchtigkeit haftete an seinen Fingern. Ohne es zu bemerken weinte er. Offenbar überwog die positive Seite in ihm.
‚Werde hart!’, hallte die Stimme des alten Mannes in seinen Ohren nach.
Die Härte, mit der Walter sein Leben bestritten haben musste, wies Oliver jetzt erst recht von sich.
„Ich bin nicht hart“, murmelte er. „Wenn ich es wäre, würde niemand mehr um dich weinen, oder an dich und deine Werke denken.“ Behutsam berührte er die Hand seines Großvaters. Er fühlte die klamme Haut. Die knochigen Finger Walters waren weich und beweglich. Aus dem Inneren der Faust strömte noch immer schwache Wärme.
„Die Leichenstarre setzt nicht so schnell ein“, sagte Daniel leise. „Das dauert mindestens sechs Stunden.“ Offenbar interpretierte er Olivers Handeln und seine Mimik falsch.
„Habe ich mal gelesen“, sagte Oliver leise, ohne wirklich darüber nachzudenken. Er Hielt die Hand seines Großvaters weiterhin fest.
Daniel trat an das Kopfende des Klinikbettes. Kritisch betrachtete er Walter, wobei er Gesicht und Kiefer abtastete. Vorsichtig schob er das Handtuch herab. Der Kopf kippte in bizarrem Winkel zur Seite. Gleichzeitig öffnete sich der Mund und die dick angeschwollene, blaue Zunge fiel heraus. Oliver fuhr zusammen. Er ließ die Hand des alten Mannes los. Aus den verkrampften Fingern des Toten segelte ein zerknülltes Stück Papier zu Boden. Sekunden lang starrte Oliver das entstellte Gesicht und die taillierten, rund um den Hals gehenden Hämatome an. Daniel neigte sich zögernd über den Toten.
Behutsam, als sei Walter aus Glas, hob Daniel dessen Kopf an, um sich die Verletzungen anzusehen.
„Genick, Kehlkopf und Zungenbein deutlich sichtbar gebrochen“, murmelte Daniel. „Als habe er sich aus großer Höhe oder mit viel Gewalt an einem Strick stranguliert.“ Er sah zu Oliver.
„Ich kenne die Zimmer in der Klinik. Da kannst du dich nirgends erhängen, außer du hilfst selbst nach“, erklärte Oliver.
Daniel presste die Kiefer aufeinander. „Ist ja logisch“, entgegnete er. „Ich muss mal mit Roth und dem Personal reden. Kommst du den Moment klar?“
Schaudernd wendete Oliver den Blick ab, nickte aber. Er rechnete nicht damit, dass jemand anderer als Walter selbst seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Der Umkehrschluss daraus besagte nur, dass der alte Mann sich auf unglaublich gewaltsame Weise umgebracht hatte.
Daniel strich ihm über den Hinterkopf. „Bin gleich wieder bei dir.“
Nachdem Daniel den Raum verlassen hatte, Oliver sah zu Boden. Halb unter dem Bett lag der zerknitterte Zettel, der Walters Fingern entglitten war. Eilig kniete er nieder und hob ihn auf. Es war ein bunt bedruckter Fetzen Papier aus einer Illustrierten. Walter hatte mit einem dicken, grünen Filzstift in seiner kantigen, unruhigen Handschrift über die gedruckten Zeilen geschmiert. Oliver wendete den Abriss, bis er es entziffern konnte:
Ma'amar Techiat Ha-Metim
Beschütze meine Bücher
Ma'amar Techiat Ha-Metim: davon hatte Aboutreika gesprochen.
Oliver starrte lange Zeit auf den ägyptischen Titel. Das ‚Buch des Mamoides’, dachte er. Wahrscheinlich fehlte just dieses Werk im Archiv des Antiquariats. Er steckte den Zettel ein.
„Aboutreika!“, zischte Oliver. „Er war es also wirklich!“
Wut wusch seinen Ekel fort. Ohne Scheu zu empfinden, richtete er den Kopf eines Großvaters und bettete seinen Kiefer vorsichtig auf dem Handtuch. Fast liebevoll streichelte er über Walters kühle Wangen. „Ich verspreche dir, dass ich deine Bücher bewahre und beschütze.“
Daniel trat unvermittelt ein. Oliver sah sich zu ihm um. Still reichte er dem Beamten den Zettel seines Großvaters.
Eilig überflog Daniel die Notiz, legte die Stirn in Falten, während er Oliver aber den Abriss zurück gab. „Aboutreika wollte dieses Buch schon vor Jahrzehnten haben“, sagte Oliver. „Meine Mutter hatte es aber für die Sammlung meines Großvaters gestohlen. Davon sprach er mir gegenüber in seinem Haus.“
Daniel ergriff Olivers Hände und zog ihn zu sich. Wärme umfing ihn. Die großen Hände des Beamten gruben sich sanft in sein Haar. Die Berührung tat gut, Oliver sog die Zärtlichkeiten in sich auf. Er lehnte sich an Daniels Schulter und schloss die Augen. „Wollte er sich an meinem Großvater rächen?“, fragte er gedämpft.
Daniel vergrub seinen Kopf in Olivers Locken. Er zögerte. Seine Herzschläge drangen durch Leder und Stoff, sodass Oliver sie deutlich wahr nahm. „Ja, ich denke schon“, flüsterte er.
*
Sie verließen zu fünft das Klinikum und fuhren zum BKA. Roth und Daniel unterbreiteten der Kommissarin ihre Erkenntnisse und Vermutungen. Frau Meinhard konnte es sich kaum verkneifen Daniel mit unterschwelligen Anschuldigungen zu traktieren. Zugleich sendete sie die Notiz von Olivers Großvater an die Spurensicherung. Oliver sah darin kaum nennenswerten Sinn. ‚Sollte es ihr um Fingerabdrücke gehen’, dachte er. ‚sind die sicher von ihm, Daniel und Roth ohnehin vernichtet worden.“ Trotzdem schwieg er dazu. Die Kommissarin war gereizt. Sie rauchte fast ständig fuhr grundlos alle Untergebenen an.
Die unsägliche Laune milderte sich erst, als sie sich in den Fall hinein zu denken begann. Der Arbeitseifer und neues Feuer erfüllten sie. Sofort ordnete sie eine Obduktion an, der Oliver – wenigstens pro forma – zustimmen musste. Roth kümmerte sich um den Kontakt zu den uniformierten Beamten des ersten Polizeireviers und deren Hauptkommissar. Für Oliver stand außer Frage, dass Aboutreika nicht nur das geraubt hatte, was er begehrte, sondern zugleich einen Mitwisser beseitigte und damit Oliver und seine Brüder einschüchtern wollte. Die Subtilität, jemand in den Selbstmord zu treiben, war bezeichnend für Aboutreika. Oliver schauderte bei dem Gedanken, dass der Ägypter noch immer ganz nah sein konnte und er seine Brüder nie vor diesem Monster in Sicherheit bringen konnte.
*
Lukas, der sie zu Hause mit einem Magazin und einem heißen Tee in der Hand erwartete, hört sich Olivers Kurzform der Ereignisse an, winkte aber ab, um mit Daniel zusammen die Zwillinge ins Bett zu bringen. Beide Jungen waren auf der Rückfahrt von Klinik und BKA im Auto eingeschlafen. Auch Oliver ging es kaum anders. Mit einem Kuss auf die Stirn seiner Brüder und einem müden Gruß, verabschiedete er sich aus der Unterhaltung seiner Freunde.
Erschöpft betrat Oliver sein Zimmer. Er schaltete das Licht nicht ein, sondern warf nur seine Jacke von sich, wobei er den Sessel nur knapp traf, bevor er aus seinen Kleidern schlüpfte und sich auf das Bett fallen ließ. Trotz der aufwühlenden Ereignisse fühlte er sich unheimlich müde. Gähnend zog er die Decke über sich und rollte sich zusammen. Er spürte, wie sich ihm jeder Gedanke entzog und von einer wolkigen Masse in seinem Unterbewusstsein verschluckt wurde, bevor er ihn ergreifen konnte.
Nur zu bereitwillig ergab er sich dem Schlaf.
*
Traumlose Finsternis hielt ihn gefangen, bis das Geräusch der Türklinke ihn kurz hochschrecken ließ. Der ihm vertraute Schritt Daniels blieb aus. Angespannt lauschte Oliver. Die Stille im Raum erschlug ihn nahezu. Lediglich das Blut rauschte in seinen Adern. Als er sich sachte bewegte, raschelten seiner langen Haare auf dem Kissen. Jemand atmete. Das Geräusch klang nicht wirklich angestrengt. Zugleich wusste Oliver, dass ein Fremder in seinem Zimmer war. ‚Aboutreika!’, schoss es durch seinen Kopf. Der Blick des Fremden bohrte sich in seinen Rücken. Die feinen Härchen in Nacken und auf den Unterarmen richteten sich auf. Oliver spürte eine Woge Panik in sich.
Entsetzt hob er die Lider. Ein schmaler, hellerer Streifen Licht, der vom Flur herein drang, zeichnete sich an der Fensterwand ab. Der verzerrte Schatten eines Menschen erhob sich. Aus dem Hochparterre drangen die gedämpften Stimmen von Daniel und Lukas aus dem Salon hinauf.
Der Fremde verströmte einen deutlichen Hauch von Aftershave. Er kannte den Geruch. In Aboutreikas Villa lag er allgegenwärtig in der Luft.
Panisch fuhr Oliver im Bett herum. Gleichzeitig wollte er sich aufsetzen.
Amman Aboutreika hob den Finger an die Lippen und lächelte gekünstelt liebenswürdig. Sein Bart fehlte. Ebenso hatte er sich das Haar drastisch gekürzt und trug schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Er wirkte auf Oliver um Jahre jünger. Trotzdem handelte es sich um den Ägypter.
Aus kalten Augen musterte er Oliver, während sein Lächeln zu einer Maske gefror.
‚Wie - verdammt – konnte er uns ausfindig machen?!’ dachte Oliver entsetzt. In einem Teil seines Verstandes hämmerte eine weitere Frage: Wie konnte Aboutreika die Kameras und Sicherheitsvorkehrungen im Haus unterwandern?
Es musste einen Verräter geben! Die Lösung dieser Frage verschob Oliver vorerst. Viel wichtiger war, dass sie alle mit heiler Haut davon kamen.
Im Bruchteil einer Sekunde schätzte Oliver seine Chancen ein. Ihm blieben zwei Möglichkeiten: er konnte schreien. Dass Aboutreika eine Waffe bei sich trug, wagte Oliver zu bezweifeln. Allerdings wusste Oliver nicht, wie schnell die Reflexe des Ägypters waren. Er kannte nur seine Kraft, die er definitiv nicht unterschätzte.
Die andere Option lautete: abwarten und reagieren, wenn Aboutreika etwas tat. Ihm erschien diese Lösung fast klüger. Alarm würde ihn vielleicht zu Handlungen zwingen, deren Auswirkung Oliver nicht überblicken konnte.
Allerdings wollte Oliver für diese Theorie nicht unbedingt die Hand ins Feuer legen. Aboutreika hasste ihn und seine Familie. Er wollte sich rächen. Wenn er also hier auftauchte, unter lauter Polizisten, musste er einen Plan verfolgen.
Oliver setzte sich auf die Bettkante und beobachtete den Ägypter. In ihm spannte sich jeder Muskel an. Er wollte bereit sein, einen Angriff abzuwehren, oder Aboutreika mit einem, vielleicht zwei harten Schlägen, kampfunfähig zu machen.
„Wie haben Sie es geschafft, ins Haus zu kommen?“, fragte er. Seine Stimme klang nicht annährend selbstsicher. Sie bebte leicht. Der Ägypter lächelte kalt, schwieg aber.
„Was machen Sie, wenn ich Daniel und Lukas rufe?“, fragte Oliver leise.
Aboutreikas Lächeln verschwand von seinen Lippen. „Ruf’ sie, wenn dir danach ist, Oliver“, entgegnete er herablassend. „Bis sie hier sind habe ich mein Handwerk an dir bereits beendet …“ Er ließ offen, was er meinte.
„Ein direkter Mord?“, fragte Oliver. Obwohl die Angst in ihm zunahm, fand er mehr Sicherheit in seiner Stimme. „Sie machen sich die Finger nicht schmutzig. Das übernehmen andere für Sie!“
Aboutreika verschränkte die Arme vor der Brust. Drohend und riesig erhob er sich. Sein Schatten fiel über Oliver.
„Nein?“, fragte er leise.
Erzwungen ruhig griff Oliver nach seiner Hose, die neben ihm auf dem Boden lag, erhob sich und streifte sie über. Er zweifelte daran, dass Aboutreika ihn angreifen würde, so lang er sich anzog.
„Warum sind sie hier?“, fragte Oliver.
Der Ägypter trat tiefer in den Raum. Die Tür ließ er offen. Irritiert sah Oliver an ihm vorüber. Was wollte dieser Wahnsinnige? Er musste wirklich nur nach seinen Freunden rufen …
Der Fehler in seiner Denkweise wurde ihm einen Herzschlag später bewusst. Vor Daniel und Lukas würden Christian und Michael hier sein! ‚Wieder eine von Aboutreikas Drohungen, die man nur begreift, wenn man um die Ecke denkt!’, überlegte Oliver verärgert. ‚Dir tue ich nicht den Gefallen zu schreien!’
„Ich will mich gebührend von meinem Patenkind verabschieden.“ Aboutreika lächelte süffisant. Oliver schluckte hart. Sein Herz schlug hart und schmerzhaft. Ihm war klar, dass der Ägypter nicht log. Solche Tricks hatte er nicht notwendig. Seine Macht bestand aus dem Wissen über andere Menschen. Daraus zog er seine Vorteile. Was konnte mehr schockieren als die blanke Wahrheit?
„Warum haben Sie nicht schon zuvor versucht, mich auf Ihre Seite zu zwingen?“ Oliver erhob sich und schloss seine Hosen. „Als mein Pate waren Sie immer in der Lage, mich zu sich zu holen!“
Mit vor der Brust verschränkten Armen und gespreizten Beinen blieb Aboutreika stehen. Erschrocken stellte Oliver fest, dass Aboutreika bereits in seinen persönlichen Raum, den er auch für einen Angriff brauchte, eingedrungen war.
„Nicht, so lang’ dein Großvater noch lebte.“
Oliver hatte das Gefühl, sein Blut gerann zu Eis. „Haben Sie ihn deswegen …“
Aboutreika lächelte still. Er trat noch ein Stückchen näher an Oliver heran. Instinktiv wollte er zurück weichen, konnte aber nicht. Die Bettkante stoppte ihn. Panik ballte sich wie ein schmerzhaftes Geschwür in seinen Eingeweiden zusammen. Der sehnige Körper des Ägypters berührte Olivers. Das Gefühl erinnerte an einen elektrischen Schlag. Ekel und Angst krochen in ihm hoch.
Erschrocken stieß er beide Hände vor, doch Aboutreika verkrallte seine Finger in Olivers Haar. Die Berührung war nicht brutal, aber herrisch. Seine Lippen neigten sich zu Olivers Ohr. „Wir sehen uns wieder, Oliver“, versprach er höhnisch. „Mein Eigentum und meine Existenz kannst und wirst du mir nicht nehmen!“ Seine Lippen berührten Olivers Ohrmuschel. „Schrei ruhig …!“
Oliver schrie nicht. Er raffte allen Mut und alle Kraft zusammen. Unsanft ergriff er Aboutreika an den Schultern und ließ sich nach hinten fallen. Sein Gegner keuchte überrascht. Instinktiv lockerte Aboutreika seinen Griff, während er versuchte, sich abzufangen. Auf den Aufprall und das Gewicht des Ägypters hatte Oliver sich bereits vorbereitet. Trotzdem tat es weh, als Aboutreika kurz auf ihm zu liegen kam, nur um sich sofort von ihm herab zu rollen.
„So nicht!“, fauchte Oliver. Er krallte sich an den Schultern seines Gegners fest und vollführte die Seitenrolle mit. Sein Schwung reichte, um Aboutreika auf den Rücken zu drücken. Als er sich aufrichten wollte, wand sich der Ägypter wie ein Aal unter ihm. Geschickt setzte er Hände, Arme und Beine ein, keine Angriffsfläche mehr zu bieten. Oliver gelang es nicht, sich länger an seinem Gegner fest zu halten. Unbeholfen kippte er von ihm herab, in die Kissen. Aboutreika nutzte diese kurze Atempause, um vom Bett hoch zu federn und einige Schritte Abstand zu Oliver zu gewinnen. Seine Bewegungen waren geschmeidig und elegant. ‚Offensichtlich betreibt er Kampfsport’, schoss es Oliver durch den Kopf. Wut und Schrecken mischten sich in ihm. Seine Chancen schmolzen. Trotzdem sprang er auf. Herablassend sah der Ägypter ihn an. Dieses Gerangel war ihm zuwider. Er brachte seine Kleidung in Ordnung, bevor er sich mit beiden Händen durch das kurz geschorene Haar strich.
„Ein plumpes Monster, wie dein Vater!“, stieß er abfällig aus. Hinter dem Ägypter flammte auf der Galerie Licht auf.
„Daniel, Lukas!“ Michaels helle Stimme drang zu Oliver. „Olli wird angegriffen!“
Erst jetzt wurde Oliver bewusst, dass er bei dem Gerangel weder auf seine Brüder noch seine Freunde geachtet hatte. Obwohl die Beamten alarmiert worden waren, verhielt Aboutreika sich ruhig und gelassen. Langsam wendete er sich der Tür zu. Eine Hand schob er in die Hosentasche, die andere lag locker auf seinem Oberschenkel.
Oliver schluckte. Die gelassene Pose Aboutreikas erschreckte ihn mehr, als eine Flucht oder ein Angriff.
‚Was plant er?’, fragte Oliver sich. ‚Gibt es doch einen Verräter im Haus?’
Christian sah um die Ecke in Olivers Zimmer. Im Licht des Flures erkannte Oliver das blanke Entsetzen im Gesicht seines kleinen Bruders. „Das ist Aboutreika!“, schrie er. Der Ägypter beachtete ihn nicht. Die Zwillinge waren nicht seine Opfer … noch nicht!
Trotzdem wollte Oliver kein Risiko eingehen. „Weg!“, schrie er Christian zu. Leider kam der Befehl zu spät. Für Oliver überschlugen sich die Ereignisse. Oliver sprang entsetzt vor. Gleichzeitig stürzte sich Chris mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten auf den Ägypter. Im ersten Moment überrumpelte er Aboutreika mit seinem ungestümen Angriff. Er stolperte einen Schritt voran, bevor er sich fing. Christian hielt ihn mit beiden Armen umklammert und rammte ihm seine kleinen, knochigen Fäuste in den Bauch und die Seite. Oliver griff nach Aboutreikas Armen und wollte sie auseinander biegen, verfehlte ihn aber. Er sah Tränen der Verzweiflung in den Augen seines Bruders. Das sonst so hübsche Jungengesicht war eine einzige grauenhaft verzerrte Maske aus Hass. Seine Haut rötete sich, während die glatten Strähnen seines Ponys in seine Augen stachen. Gurgelnde Geräusche drangen aus seiner Kehle. Er war nicht mehr in der Lage zu sprechen. Aboutreika griff in den Nacken des Jungen und vergrub seine große Hand darin. Aus Christians Wut wurde Schmerz. Der Junge schrie gellend auf.
Alle Angst Olivers wich blankem Zorn. Adrenalin flutete seinen Verstand. Er fühlte sich entschlossen und stark. Am Rande seines Bewusstseins hörte er die schweren Schritte seiner Freunde. Mit aller Kraft packte er Aboutreikas Handgelenk, mit dem er Christian hielt, und drückte zu. Er spürte wie Bänder und Pulsadern unter seinen Fingern sprangen. Unter der Gewalteinwirkung stöhnte Aboutreika vor Schmerz. Rasch ließ er Chris los. Im gleichen Moment hob er seine Linke und schlug Oliver hart gegen die Schläfe. Der Schmerz blieb aus. Lediglich ein dumpfes Rauschen zog durch Olivers Kopf, was relativ schnell verebbte. Sofort hob Aboutreika seine Hand. Sie traf mit noch größerer Gewalt. Olivers Wut züngelte in einer Lohe auf, die seinen Verstand fast fort spülte. Mit der freien Faust schlug er zu. Ihm war nicht klar, wo er traf. Zielsicherheit war ohne Bedeutung. Er wollte Aboutreika Schmerzen zufügen, weswegen er den Druck auf die Pulsadern des Ägypters weitrer verstärkte. Und seine Faust mit aller Gewalt in die Eingeweide des Mannes rammte. Aboutreika versuchte, sich zu entwinden. Den Moment nutzte Oliver, um sein Knie hochzureißen. Er traf, allerdings verfehlte er wohl die Weichteile, denn Aboutreika blieb auf den Füßen.
Die gleiche Verbissenheit, die Oliver in sich fühlte, starrte ihm aus den schwarzen Augen seines Gegners entgegen. Ein weiterer Schlag traf seine Schläfe. Etwas in Olivers Optik flackert. Er sah auf dem rechten Auge für einen winzigen Augenblick nichts mehr, bevor das Bild wieder erschien. Seine Boxhiebe erlahmten kurz. Die Chance ließ sich Aboutreika nicht entgehen. Er stieß seine Faust in Olivers Solar Plexus. Keuchend kippte er nach vorn, gegen den Ägypter, der seine Finger in Olivers Haar verwob und seinen Kopf zurück riss. Trotzdem gab Oliver Aboutreikas rechtes Handgelenk nicht frei. Verschwommen nahm er Wahr, dass Bewegung um ihn herum entstand. Er hörte Stimmen, die er im ersten Moment nicht mehr zuordnen konnte.
Plötzlich ließ der Ägypter ihn los und stieß ihn von sich. Keuchend taumelte Oliver zurück. Seine Beine gaben nach. Jemand fing ihn auf. Der Geruch nach Zigaretten und Leder verriet ihm, dass es sich um Daniel handelte. Noch immer krampfte seine Hand um Aboutreikas Handgelenk. Er spürte die Hitze, die von der wunden Haut ausging. Ihm war nicht klar, was er angerichtet hatte. Als sich seine Finger endlich lösten, schrie Aboutreika vor Schmerzen auf. Oliver versuchte einen Blick auf ihn zu erhaschen, aber der Fokus seiner Augen funktionierte nicht mehr. Die Welt um ihn verschwamm.
Daniel zerrte ihn zu sich herum. „Oh mein Gott!“, flüsterte er. „Micha, ruf den Notarzt!“
Oliver trat durch die Glastürdrehtür der Klinik ins Freie. Binnen der letzten fünf Wochen hatte sich das goldene Herbstwetter, was September und Oktober angehalten hatte, in kalten, grauen Nieselregen verwandelt.
Durch den Kampf mit Aboutreika hatte Oliver sich recht schwere Verletzungen am Auge zugezogen. Es war – laut seinem Arzt - fraglich, ob sich der Sehnerv je wieder ganz beruhigen würde. In jedem Fall musste er jetzt eine Brille tragen, die er zeitweise vergaß mitzunehmen, oder, wenn er sie auf der Nase trug, damit unter die Dusche stieg. Oliver konnte sich an diese Situation nicht gewöhnen. Sie war ihm genauso fremd, wie sein ganzes, neues Leben.
Obwohl nach Aboutreikas Inhaftierung der Alltag in seine abenteuerliche, teils sehr emotionale Welt brach, kam Oliver von vielen Erlebnissen nicht los.
Insbesondere Aboutreikas eigenartiges Verhalten beschäftigte ihn. Er verstand nicht, warum der Ägypter sich auf so bizarre Weise der Polizei auslieferte. Sicher stand einer von seinen durchtriebenen, komplexen Plänen dahinter. Oliver schloss aus, dass der Ägypter eine ausufernde Schlägerei, bei der sie beide verletzte wurden, mit einkalkuliert hatte. Möglicherweise ließ er sich auch nur festnehmen, um seine Häscher zu verspotten. Wenn es seinen Anwälten gelang, ihn aus dem Gefängnis zu holen, triumphierte er über den Polizeiapparat und die Familien Hoffmann und Markgraf. Oliver schätzte ihn durchaus so ein, auch wenn die Beweislage gegen Aboutreika sprach. Unter der Oberfläche der laufenden Ermittlungen brodelte etwas. Das spürte er.
So, wie es aktuell um den Ägypter stand, würde er für mehrere Jahre die Gastlichkeit der deutschen Gefängnisse genießen können. Trotzdem wollte Oliver nicht beschwören, dass sein Gegner nicht bereits seinen Rückzug geplant und alle dafür notwendigen Rädchen bereits in Gang gesetzt hatte. So lang der Prozess nicht beendet wurde, konnte sich das Blatt noch immer wenden.
Der mentale Wechsel zwischen Gericht, Polizei und seinem Alltag verstörten Oliver zeitweise.
Er sah in den grauen Himmel, grub nach einer Zigarette in seiner Jackentasche und zündete sie sich in der Hohlen Hand an. Tief inhalierte er den Rauch.
Er kam etwas zur Ruhe. Unwillkürlich strichen Bilder aus dem Gericht und seinem neuen Zuhause, in dem er sich nicht wohl fühlte, an seinem inneren Auge vorüber.
Allein der Aufenthalt in der Jungendwohngruppe, in die ihn Frau Richter und die beiden Damen vom Jugendamt eingliedern wollten, gerann zu einer Farce. Zeitgleich mit ihm kam ausgerechnet Kai in die gleiche Einrichtung. Das eisige Schweigen zwischen ihnen irritierte die anderen vier Jungen, mit denen sie zusammen leben mussten. Die Gemeinschaft drohte sogar sich zu spalten. Schlimmer wurde es, als Oliver gestattet wurde, zumindest eines der Tiere aus der Zucht seines Großvaters zu behalten. Wahrscheinlich, so vermutete er, war es Mitleid von der Seite der Pädagogen. Auf diese Weise konnte Oliver sich intensiv um etwas kümmern. Es war die jüngste, aber auch die größte und dickste Stallhäsin seines Großvaters, der er den Namen Opa gab. Alle anderen Tiere blieben im Haus zurück. Eine Nachbarin Walters wollte sich vorerst um die Hasen und Tauben kümmern, bis eine gerichtliche Regelung über die Erbverwaltung existierte.
Durch die Sonderregelung mit dem Haustier fand Kai einen Vorwand, die Stimmung gegen Oliver verstärkt zu beeinflussen. Einer Aussprache ging er aus dem Weg.
Oliver begann sich zurück zu ziehen. In den letzten Tagen konzentrierte er sich einzig auf die Lernerei. Es blieb nicht aus, dass er zurückgestuft wurde und das Schuljahr wiederholen musste. Darüber hinaus gewann er den Eindruck, dass die lange Zeit ohne Unterricht und Bücher ihm die Fähigkeit genommen hatte, vernünftig in ein normales, geordnetes Schülerdasein zurück zu kehren. Er begriff nicht langsamer als zuvor, allerdings fiel es ihm schwer offen zu sein. Er schwieg, hielt sich zurück oder ignorierte aufdringliche Menschen. Mit seinen alten Freunden sprach er auch nicht mehr sonderlich oft. Sie hielten sich aus seinem Leben zurück. Oliver war bewusst, dass diese Veränderung von ihm ausging. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Seine Welt lag in Scherben hinter ihm und seine Perspektive, seine Brüder wieder bei sich zu haben, hing an einer einzigen Person: Daniel.
In den vergangenen Wochen holte Oliver seine Brüder täglich in ihrer Wohneinheit ab und brachte sie nach der Schule wieder zurück. Die Zwillinge begleiteten ihn – wenn sie durften – zur Klinik. Allerdings drang Frau Richter darauf, dass seine Brüder mehr Zeit mit gleichaltrigen Kindern verbrachten und einen Bezug zu ihrer Heimmutter aufbauten. Oliver litt nicht weniger unter der Situation, als Chris und Michael. Das einzig Positive war die neue Nähe, die zwischen ihm und Jamal Aboutreika entstand. Der Junge besuchte seit Kurzem die gleiche Klasse wie Christian und Michael. Er schloss sich allmorgendlich den Brüdern an. Oft verbrachte er die Zeit nach der Schule mit Oliver. Seine Mutter mochte diese Vertrautheit der beiden gar nicht. Trotzdem verbot sie Jamal den Kontakt zu Oliver nicht.
Von Frau Meinhard hörte Oliver sehr oft. Sie unterrichtete ihn über alles, was Aboutreika betraf. Roth hielt sich bedeckt. Er arbeitete nach ihrer Aussage zusammen mit Bernd an stichhaltigen Beweisen, die dem Ägypter endgültig das Handwerk legen sollten. Daniels Besuche allerdings waren für Oliver immer etwas Besonderes. Seine Nähe und Freundschaft hielt unerschütterlich. Er besuchte Oliver mindestens einmal in der Woche und verwendete jedes bisschen Restfreizeit, um die Vormundschaft für die Brüder zu bekommen.
Daniel …
Insgeheim freute Oliver sich schon auf den kommenden Abend. Daniel hatte sich angekündigt.
Er lächelte in sich hinein, während er noch einmal an seiner Zigarette zog und sie von sich schnippte.
Kälte umfing Oliver, als er die Stufen vor der Horst Schmidt Klinik zum Parkplatz hinab stieg. Er schlug den Kragen von Daniels Lederjacke hoch und sah in den trüben Himmel hinauf. Die tief hängenden, dunklen Wolken kündigten den ersten Schnee an. Er schob seine klammen Hände in die Taschen. Wahrscheinlich rauchte er in letzter Zeit zu viel. Oliver merkte, dass er wesentlich schneller fror als in den vorangegangenen Jahren.
Er hob den Blick. An Samstagen fuhren die Busse unregelmäßig. Er war sich nicht sicher, wie lang er unten, an der Straße warten musste. Wie üblich hatte er keine Uhr am Arm und sein Handy lag abgeschaltet in seinem Wohnheimzimmer. Trotzdem eilte er mit ausgreifenden Schritten über den Parkplatz, zur Bushaltestelle hinunter. In der Haltebucht stand Lukas’ Jeep. Daniel lehnte im Fahrersitz. Er döste offensichtlich bei voller Beschallung durch die Punkrockband S.I.K.
Glücklicherweise warteten nur wenige Leute auf den Bus. Oliver klopfte lächelnd gegen das Beifahrerfenster. Er freute sich unheimlich über Daniels Anwesenheit. Allerdings irritierte ihn, dass sein Freund ihn nicht mit dem alten Passat abholte, der ihm gehörte. Offensichtlich kam er direkt aus Biebrich vom BKA.
Daniel hob die Lider und erwiderte Olivers Lächeln. Mit einer Handbewegung winkte er ihn herein.
Als Oliver sich in den Beifahrersitz fallen ließ, drehte Daniel die Musik leise.
„Lieb dass du mich abholst“, rief Oliver lachend.
Wortlos nahm Daniel ihn in die Arme und drückte ihn an sich.
Die Euphorie, die er bei ihren Treffen normalerweise verströmte, fehlte vollkommen. Er wirkte ernst und abgespannt. Trotzdem hielt er Oliver eine ganze Weile fest.
„Was ist los“, flüsterte Oliver, während er sich an Daniel klammerte. Der junge Beamte seufzte schwer und vergrub sein Gesicht an Olivers Hals. Warmer Atem strich über seine Haut.
„Daniel!“, rief Oliver alarmiert. Sein Herz schlug schneller. Undefinierte Angst kroch kalt durch seine Adern. In seinem Hals bildete sich ein harter Kloß.
„Ist das Vormundschaftsgesuch abgelehnt worden?“, fragte Oliver vorsichtig.
Daniel schüttelte schweigend den Kopf. Er atmete schwer. Schließlich schob er Oliver von sich, ergriff aber seine Hände. „Aboutreika ist heute auf freien Fuß gesetzt worden.“
*
Meinhard, Roth und Bernd erwarteten Oliver und Daniel bereits in dem Büro der Kommissarin. Allen drei Beamten war dieselbe dumpfe Resignation anzumerken, die Daniel in sich trug.
Nachdem Oliver alle begrüßt hatte, sah er zu Frau Meinhard. „Wie konnte dieses Monster frei kommen?“, fragte er erschüttert. „Gab es denn nicht genug Beweise seiner Schuld?“
Sie senkte den Kopf und trat an das Fenster ihres Büros. Offensichtlich überließ sie Roth und Bernd die Erklärung.
Der betagte Kommissar wechselte mit Weißhaupt einen knappen Blick, bevor er sich an Oliver wendete. „Das ist auf Ermittlungsfehler zurückzuführen“, begann er ruhig. Seine Tonlage machte Oliver dennoch nervös. „Darüber hinaus hat ein ganzes Geschwader Anwälte unsere Beweisführung auseinander genommen.“ Er machte eine Kunstpause. Oliver schnappte nach Luft, schwieg aber. „Der Hauptgrund gegen die Zulässigkeit der Beweise und Indizien war, dass nicht unsere Spurensicherung oder wir sie gefunden haben, sondern du, Oliver.“
Die Worte trafen ihn mit Urgewalt. Entsetzt fuhr er zurück. „Was?“, keuchte er atemlos. „Weil ich …“ Daniel legte ihm die Hände auf die Schultern und drehte Oliver zu sich um. „Seine Anwälte haben uns ausgehebelt, das ist die eine Seite, aber die Zeugenaussagen von Habicht und Rüttgers sind beide zurückgezogen worden. Habicht kneift aus Angst, Rüttgers fürchtet sicher seine Verbindung zu dem Fall und den unvermeidlichen Gesichtsverlust. Er wäre als Anwalt nichts mehr wert, wenn er mit einem Mann wie Aboutreika in Verbindung gebracht würde. Einzig die Aussage deines Vaters gegen seinen ehemaligen Freund steht noch. Es ist der einzige Grund, weswegen uns der Fall nicht weggenommen wird.“
Oliver sah ihn an. „Dann beginnt alles von Neuem?“, fragte er. Daniel schüttelte erschöpft den Kopf. „Heute früh ist Aboutreika mit seiner Bande von Anwälten nach Ägypten zurück geflogen.“
„Wirklich?“, fragte Oliver zweifelnd.
Bernd nickte. „Roth und ich waren bis zum Start der Maschine dabei.“
„Droht meinen Brüdern und Jamal noch Gefahr?“, fragte Oliver.
„Die Organisation selbst besteht“, sagte Bernd erschöpft.
Es war keine direkte Antwort, Oliver interpretierte sie als Zustimmung.
„Was sollen wir also unternehmen?“ Oliver sah in die Runde.
Bernd knirschte mit den Zähnen. Bevor er etwas sagen konnte, drehte sich Meinhard um. „Das ist wahrscheinlich das einzig Positive an der ganzen Sache.“ Sie seufzte tief, während sie eine Unterschriftenmappe auf ihrem Schreibtisch hoch nahm und Oliver hin hielt.
Verwirrt ergriff er die Mappe und schlug sie auf. Offizielle Briefe mit dem Kopf des Familiengerichtes Wiesbaden lagen darin.
„Ließ dir den Kram gründlich durch“, sagte sie streng. Er betrifft ohnehin eher deine Brüder als dich. Du bist bereits alt genug, um selbst zu entscheiden, bei wem du leben möchtest.“
Olivers Herz machte einen Satz. Er vergaß sogar Aboutreika für einen Moment. Seine Augen weiteten sich vor Freunde.
„Wusstest du davon?“, fragte er an Daniel gewendet.
Sein Freund schüttelte verblüfft den Kopf.
„So kann zumindest immer ein Beamter auf euch aufpassen“, sagte Meinhard. Ihre Braue zuckte nach oben. „Damit passiert weniger, und meine Männer können sich mehr auf ihre Arbeit, als auf das Kinderhüten konzentrieren!“
*
Als Oliver endlich alle Papiere gesichtet hatte, fühlte sich sein Kopf aufgeblasen und leer an, obwohl er Unmengen Informationen in sich aufgesogen hatte. Daniel lag neben ihm auf dem Bett und schlief. Behutsam tippte Oliver ihn an.
Daniel murmelte undeutlich und blinzelte. Über seine Lippen huschte ein Lächeln. „Ich bin wieder eingeschlafen“, stellte er müde fest. Oliver grinste. „Sind wir denn dann bei dir sicher?“, fragte er.
Mühsam richtete Daniel sich auf die Ellenbogen auf. Er nickte, wobei er eine Grimasse zog. „Ich denke doch …“
„Wo wohnst du eigentlich?“, unterbrach ihn Oliver.
Langsam ließ sich Daniel wieder zurück sinken. „Ich muss mir wohl erst mal was suchen, was groß genug ist, um dich und die zwei Kleinen unterzubringen.“
Oliver schob die Papiere zusammen und legte sich neben Daniel. „Ich nehme nicht viel Platz weg.“
Der Beamte nickte wissend. „Zurzeit wohne ich in einer Dachwohnung im Westend“, erklärte er.
Oliver beobachtete ihn neugierig. Zum ersten Mal kam er dem Geheimnis nah, wer sich tatsächlich hinter seinem Freund verbarg. „Wer bist du?“, fragte er. „Erzähl’ mehr von dir.“
Daniel seufzte. Es klang nicht entnervt, sondern zufrieden.
„Was willst du wissen?“, fragte er.
„Alles“, schlug Oliver vor.
Daniel rollte sich auf den Bauch. In seinen Augen funkelte der Schalk. „Also Geboren wurde ich …“
Lachend gab Oliver ihm einen Schubs. „Blödmann!“ Er wurde wieder ernst. „Ich will wirklich wissen, wer du bist. In Zukunft verbringen wir unser Leben miteinander.“
Daniel betrachtete ihn einige Sekunden still, bevor er nickte. „Ich weiß“, entgegnete er. „Und ich will es auch gar nicht anders haben.“
Wortlos schlang Oliver seine Arme um Daniel und drückte den Kopf seines Freundes gegen seine Brust. Für einen Moment befürchtete er Widerstand, doch Daniel ließ sich darauf ein. Er schmiegte sich an Oliver.
„In den kommenden Wochen muss ich lernen, mich mehr zu beherrschen, Olli“, sagte er leise. „Zumindest so lang, bis du endlich sechzehn wirst.“
Still streichelte Oliver durch Daniels Haar. Sein Herz schlug schnell. Glück flutete durch seinen Körper und elektrisierte ihn. Mit diesen Worten hatte Daniel ihm einige Fragen beantwortet. Er gewann die ersten Einblicke in das Leben seines Freundes. Oliver wusste, dass er es lieben würde, gleichgültig, ob Aboutreika immer noch eine Bedrohung war oder nicht. Er lebte im hier und jetzt, mit seinen Brüdern, seinen Freunden und Daniel.
„Sag’ mal“, flüsterte er. „Soll ich dich weiterhin Daniel nennen?“
Eine leichte Bewegung in den rotgrünen Haaren signalisierte ihm Zustimmung. „Ja.“
„Wie ist dein richtiger Name?“, fragte Oliver ihn.
Daniel lachte und vergrub sein Gesicht an Olivers Brust, während seine Finger sanft über seinen Bauch strichen.
„Eric Marcus Daniel Meinhard-Kuhn.“
Tanja Meurer . Zietenring 12 . 65195 Wiesbaden
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Texte: Tanja Meurer
Lektorat: Julia Raschke
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Juliane, Julia und Anna