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Teil I

Trösten ist eine
Kunst des Herzens.
Sie besteht oft nur darin,
liebevoll zu schweigen
und schweigend
mitzuleiden

 

 

 

*

 

 

Ich stehe vor der riesigen Glasfront unseres Hauses. Schaue hinaus in den Garten. Die Koniferen wiegen sich im Wind. Ein leichtes Rauschen dringt bis zu mir in die Wohnstube. So richtig beruhigen kann ich mich jedoch nicht.

Mein Mann ist ein Architekt im Auslandseinsatz. Er kommt heute heim und möchte etwas mit mir besprechen. Wenn ich nur wüsste was? Am Telefon hat er sich sehr ernst angehört.

Noch immer stehe ich am Fenster. In meiner Hand halte ich ein Glas Wein. Ich stehe dort und merke nicht, dass Merle, meine kleine Tochter, sich von hinten anschleicht. Merle erfasst meine Hand. Wir schauen nun gemeinsam in den Garten, wechseln jedoch kein Wort miteinander. Starren einfach nur hinaus, die kleine Pforte stets im Blick. Ihr Blick ist leer - genau wie der meine. Sie wartet so sehr. Aber der Vater kommt nicht.

Langsam legt sich der Abend über das Land. Ich bringe Merle zu Bett. Ihren Papi wird sie nicht mehr sehen.

 

Am späten Abend erscheint er dann doch noch. Ich empfange ihn wie immer mit einem Glas Wein. Heute aber stelle ich es ab und laufe ihm entgegen - möchte ihm um den Hals fallen. Ich freue mich so auf seine Überraschung, worüber er mit mir reden möchte. Und was tut er? Er weist mich kühl ab.

"Elsa, wir müssen reden", beginnt er das Gespräch.

Ich jedoch reagiere auf das soeben Geschehene gereizt. Schmettere ihm lautstark ein "Na, dann schieß mal los!", entgegen.

"Ich weiß gar nicht wie ich anfangen soll. Nach all den Jahren!", erklärt er mir mit gesenktem Blick.

"Nach all den Jahren?" Fragend schaue ich ihn an.

"Ja, nach all den Jahren!", flüstert er fast unhörbar.

"Was willst du hier?", will ich wissen.

"Die Scheidung!", sagt er mir ungeniert ins Gesicht. Hält meinem Blick stand.

Ich springe wie von Sinnen auf. Gehe auf ihn los. Mit meinen Fäusten will ich auf ihn einschlagen, doch er hat sie fest im Griff.

"Scheidung - Scheidung - Scheidung", schreie ich immer wieder.

"Wieso nur? Was war so falsch an unserer Ehe?", möchte ich von ihm wissen.

"Du weißt es, und zwar ganz genau", antwortete er nun auch ziemlich lautstark.

"Ich weiß es? Nichts weiß ich!"

"Dein ewiges Getrinke, hat unsere Ehe zerstört. Du liebst den Wein mehr, als mich und Merle!", schreit er mich an. "Und du? Du willst nicht wissen worum es geht?"

Ich ringe nach Luft. Ich weiß was für mich auf dem Spiel steht. Wie nur kann ich ihn zurück gewinnen?

"Das kann ich ändern! Ab morgen trinke ich keinen Tropfen Wein mehr." Mit einem Lächeln auf dem Gesicht, behaupte ich dies.

"Es ist zu spät! Ich habe eine andere Frau...“, erwidert er darauf.

Ich werde leichenblass.

"Eine andere Frau?", schreie ich wie von Sinnen. "Was hat sie, was ich nicht habe?", möchte ich mit tränenerstickter Stimme von ihm wissen.

"Sie hat Format!", sagt er ganz ruhig.

"Ach und ich habe keines?", bin ich weiter am keifen.

"Du hast mal eines besessen! Es ist im Laufe der Jahre ersoffen", brüllt er mich an. "Du bist doch im Bann der Lilith", setzt er noch hinzu.

"Hier sind die Scheidungspapiere." Vor meinen Augen knallt er diese wutentbrannt auf den Tisch. "Schicke diese bitte unterschrieben an die angegebene Adresse!"

Ich sitze schreiend und zugleich schluchzend auf dem Sofa.

 

Er hat sich das Gespräch ganz anders vorgestellt. Ist enttäuscht, dass alles so gekommen ist. Nach all den Jahren, nun so eine Trennung. Er möchte sie so gern noch einmal in den Arm nehmen. Warum ist diese Frau nur so? Er steht wortlos auf und geht aus dem Raum.

Meine Gedanken schlagen Purzelbaum. Er geht jetzt bestimmt zu Merle. Ich bin nicht im Stande ihm zu folgen.

Noch einmal schaut er in die Wohnstube hinein. Sagt ganz leise und gedrückt: "Ich habe euch schon eine kleine Wohnung besorgt. Lasse sie noch renovieren und richte sie auch für euch ein. Die ersten Monate zahle ich noch die Miete. Bis dahin wirst Du ja sicher eine Arbeit gefunden haben. Ich melde mich, wenn der Umzug vonstatten geht."

Das sind die letzten Worte, die ich an diesem Abend von ihm höre. Dann beginne ich laut und hemmungslos zu weinen. Ich starre die Papiere an. Möchte sie am liebsten zerreißen. Mein Herz pocht, als wolle es mir zerspringen.

Mein Mann schleicht leise in Richtung Merles Zimmer.

Merle liegt in ihrem Bettchen. Hat alles mit angehört. Sie weint.

Sie sieht einen kleinen Lichtschein in ihr Zimmer dringen. In diesem Lichtschein bewegt sich ein riesen Schatten auf sie zu. Merle schließt ihre Augen. Ihr Papi muss nicht wissen, dass sie alles mit angehört hat. Als der Schatten vor ihrem Bett steht, verhält sie sich ganz ruhig. Obwohl sie ihrem Papi so gern um den Hals fallen möchte. Er beugt sich zu ihr herunter. Sie spürt seinen warmen Atem über ihrem Gesicht. Ihr Papi gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

"Verzeih mir mein Schatz, aber es geht nicht anders!", sind seine Worte, die er an sie richtet. Dann dreht er sich um und geht. Merle weiß, das es ihm weh tut. Sehr sogar! Seine Haltung ist gebückt, als er ihr Zimmer verlässt. Sie erkennt es im Lichtschein. Dann wird es wieder dunkel in ihrem Zimmer.

Heute Nacht kann Merle nicht schlafen. Die vielen Worte schwirren ihr im Kopf herum. Müde wälzt sie sich in ihrem Bett. Kann einfach nicht einschlafen. Der laute Streit quält sie. Ihre Augen sind rot geweint. Sie steht auf! Nimmt ihr Kuschelkissen und tappst zu mir, ins Schlafzimmer.

Auch ich liege wach in meinem Bett, mit verweinten und verquollenen Augen. Lautlos krabbelt sie zu mir in mein Bett. Sie fragt nichts. Kuschelt sich einfach nur an. Wir genießen es. Die Nähe zueinander, erkennen wir in dieser Nacht.



*



Am anderen Morgen, schleiche ich müde ins Bad. Ich schaue in den Spiegel. Erschrecke! Soll das verquollene Etwas dort, was mir aus dem Spiegel entgegenschaut, etwa Ich sein. Der Schreck fährt mir in die Glieder. Ich schleiche zurück in mein Schlafzimmer.

Die kleine Merle schläft noch immer fest. Ihre Wangen glühen ganz rot. Für einen kleinen Moment genieße ich diesen Anblick. Dann drehe ich mich um und gehe wieder fort. Ich lasse Merle einfach weiterschlafen. Trinke während dessen ein Glas Wein.

Müde schleiche ich durch das Haus. Nehme leise Abschied von alldem, was mir lieb und teuer geworden ist.

Was nur soll ich für mich mitnehmen?

Alles ist mir lieb und teuer.

"Aber vielleicht ändert sich ja doch noch etwas?", denke ich. Schenke mir ein zweites Glas Wein nach.

Auf etwas anderes habe ich einfach keinen Appetit.

Als Merle dann angestapft kommt, springe ich auf und hole ihr Milch aus dem Kühlschrank. Gieße diese in ein Glas. Wenn ich keinen Appetit habe, geht es meinem Kind wohl auch so. Schließlich ist sie genau so traurig wie ich.

Merle sitzt ganz ruhig am Tisch. Auf dem Schoß ihr Kuscheltier. Sie drückt es eng an sich. Spürt die Kälte, die sich langsam um sie ausbreitet.

Dann schenke ich mir schon wieder ein Glas Wein nach. An mein Kind denke ich nicht.

Leise krabbelt Merle von ihrem Stuhl und geht in ihr Zimmer. Sie weiß: Es lohnt sich nicht, nach einem weiteren Gals Milch zu fragen. Auch nicht nach ihrem heißgeliebten Nutellabrötchen. Sie weiß, dass ihre Mama traurig und mit sich selbst beschäftigt ist.

 

Ich starre vor mich hin. Höre und sehe nichts um mich herum. Ich nehme die Flasche Wein und mein nochmals gut gefülltes Glas. Damit gehe ich in das Wohnzimmer.

Nun stehe ich wieder vor der großen Glasfront. Schaue hinaus. Einfach nur hinaus. Hinaus - auf die Gartenpforte. Zu der Gartenpforte, wo mein Mann gestern aufrechten Ganges hereingeschritten kam. Dieses Bild zeigt sich nun wieder vor meinem inneren Auge. Ich spüre wie in meinen Augen die Tränen aufsteigen. Sie kullern schon bald über meine Wangen.

Plötzlich durchdringt mich ein warmer Schauer. Merle steht ganz leise neben mir. Ergreift meine Hand. Traurig schaut sie zu mir auf und legt ihr kleines Lockenköpfchen an meinen Körper. Der Druck unserer beiden Hände wird immer stärker. Wir fühlen uns innerlich verbunden. Ein Gefühl nach dem wir gerade lechzen. Wir fühlen uns wohl dabei.

Als unsere Mägen im Gleichklang knurren, laufen wir zum Kühlschrank und holen uns zwei Becher Schokoladenpudding heraus. Diese schlingen wir in uns hinein. Merle ist zufrieden.

Ich fühle mich kraftlos. So kraftlos wie nie zuvor. Bin einfach nicht im Stande, mir und Merle ein leckres Mittagsmahl zu kochen. Nein, ich trinke lieber noch ein Gläschen Wein. Schon schenke ich mir mein Glas randvoll.

Ich sitze auf der Couch und beginne hysterisch zu lachen. Merle, die sich an mich kuschelt und meine gerade noch vorhandene Wärme genießt, zuckt zusammen und schleicht zurück in ihr Zimmer. Ich trinke mein letztes Glas aus und mache mich sogleich auf den Weg, um mir eine neue Flasche zu holen.

Die Tür zu Merles Zimmer ist nur angelehnt. So hört sie immer wieder mein fürchterliches Lachen. Mein kleiner Schatz jedoch, spürt das ich ihre Umarmung - ihren Trost brauche. Doch sie kann gerade nichts schönes an mir entdecken. Meine Haare haben keinen Glanz. Sie liegen ganz zerzaust um meinen Kopf herum. Meine Augen sind rot geweint. Dieses Lachen, wenn meine Augen und der Mund weit aufgerissen sind - ich meine großen weißen, aber egalen Zähne zeige. Nein, da traut sich Merle nicht heran! Merle macht dieser Anblick Angst. Immer wieder zuckt sie zusammen, wenn sie mich lachen hört. Sie schleicht in die Küche. Holt sich einen weiteren Schokoladenpudding aus dem Kühlschrank. Schlingt ihn in sich hinein.

 

Sie geht in ihr Zimmer. Kuschelt sich in eine Ecke ihres Bettes. Drückt Schäfchen, ihr Lieblingskuscheltier, das sie schon seit ihrer Geburt besitzt, ganz dicht an sich. So, wie sie es immer tut, wenn sie Sorgen hat. Schäfchen erzählt sie nun all ihre Sorgen.

"Warum nur will mein Papa uns nun nicht mehr sehen?" beginnt sie das Gespräch. Wartet auf eine Antwort. Doch Schäfchen hört nur zu – sagt aber nichts.

"Er hat meine Mama zu einem Monster gemacht", fährt sie fort.

"Auch wenn es um sie herum immer so kalt ist, so liebe ich sie doch. Und ich glaube: Auch sie liebt mich. Sie kann es nur nicht zeigen", erzählt sie ihrem Schäfchen. Es immerfort streichelnd.

"Sie kann keine Liebe mehr zeigen. Ich fürchte mich so vor ihr!", sagt sie zum Schäfchen, als ihr auch schon dicke Tränen über das Gesicht kullern.

Sie streichelt ihr Schäfchen. Es sagt nichts. Wie immer ist Merle ganz allein mit ihren Sorgen. Aber es tut gut, über all die Sorgen die sie plagen, zu reden. Schon wieder beginnt es im Inneren ihres Bauches zu rumoren. Ein flaues Gefühl macht sich in ihr breit.

Wieder macht sie sich auf die Suche nach mir.

Im Wohnzimmer erwartet Merle ein göttliches Bild. Ich liege, wie ein Embryo zusammengekauert auf der Couch und schlafe. Neben mir stehen schon drei leere Flaschen von dem guten Wein. Merle setzt sich neben die Couch, direkt auf den kalten Fliesenboden. Sie ist noch immer in ihrem Nachthemd - wie ich auch! Sie streichelt mich. Sie rüttelt an mir. Ich schlafe einfach weiter. Zu sehr hat mich alles mitgenommen. Ich brauche einfach diese Ruhe. Denke nicht an mein Kind.

Merle beginnt leise zu weinen. Brummelt immer wieder vor sich hin: "Ich hab ja solchen Hunger."

Sie mag keinen Schokoladenpudding mehr. Der macht nicht satt. Immer weiter ruckelt sie an mir herum. Wird immer energischer in ihrem Tun.

Endlich öffne ich meine Augen. Ihr Blick ist leer. Unter den Lidern haben sich dunkle Schatten gebildet. Ich bekomme rund um mich herum nichts mit. Merle nimmt meine Hand. Sagt ganz leise aber bestimmt: "Mama, ich hab ja so einen Hunger."

Nur schlecht kann ich mich erheben. Mein Kopf ist so schwer. In ihm dreht sich alles. Ich nehme mein Kind an die Hand. Bewege mich schwankend, mit Merle an der Hand, in die Küche. Dort möchte ich ihr ein schönes Nutellabrötchen schmieren. Sie protestiert lautstark: "Ich möchte kein Nutellabrötchen und auch keinen Schokoladenpudding. Ich möchte ein Butterbrot mit Wurst!" Ich tu wie mir geheißen. Merle verschlingt mit einem Heißhunger zwei ganze Schnitten.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich schon den ganzen Tag vergammelt habe, ohne an mein Kind zu denken. Im Moment bin ich schließlich ganz allein für sie verantwortlich.

Merle weiß jetzt wie es geht und bestimmt sogleich: "Und jetzt gehen wir beide raus vor die Tür. Raus in den Park auf meinen Lieblingsspielplatz!" Sie weiß, dass es auch mir gut tut. Doch mir passt dies überhaupt nicht. Ich fühle mich nicht gut. Ziehe mich schweigend zurück. In mich versunken kleide ich mich an. Merle hüpft fröhlich in ihr Zimmer. Kleidet sich auch an. Wir treffen uns in der großen Diele des Hauses wieder. Merle fasst mich an die Hand. Dann treten wir gemeinsam vor die Tür.

Es ist ein wunderschöner Sonnentag. Dies ist mir völlig entgangen, vor lauter Grübeleien. Eine Sonnenbrille versteckt meine verquollenen Augen, mit den tiefen dunklen Augenringen.

Direkten Weges gehen wir in den nahegelegenen Park. Ich setze mich auf eine Bank. Genieße die letzten Sonnenstrahlen, welche meinen Körper zart umspielen. Merle tobt sich so richtig mit ihren kleinen Freunden aus. Ich jedoch ziehe mich von allem Geschehen zurück. Habe Schwierigkeiten mich zu den anderen Müttern zu setzen.

Also bleibe ich auf meiner Bank alleine sitzen. Warte bis die Sonne am Horizont untergeht. Als es dann kühler wird, rufe ich Merle zu mir und begebe mich mit ihr auf den Heimweg.

 

Mir geht es etwas besser. Ich mache zum Abendessen einen leckeren Salat. Dieser Tag geht für uns beide richtig schön aus. Merle kann beruhigt ins Bett gehen.

Ich jedoch hänge weiter meinen Gedanken nach. Trinke noch eine Flasche Wein. Um dann auch geschafft ins Bett zu fallen.

Ich bekomme mein Leben nicht mehr selbst in den Griff. Meine Probleme ertränke ich im Wein. Nur so erscheint mir mein Leben noch attraktiv.

Ein trauriges, graues Leben beginnt für uns beide. Mit vielen Tiefen - aber auch Höhen.



*



Am Ende des Monats steht mein Mann unerwartet vor der Tür. Er hat ein paar Umzugskartons unter seinen Arm geklemmt. Mit traurigen Augen sagt er zu mir: "Elsa, es ist soweit. Die Wohnung ist fertig renoviert und auch möbliert. Packe bitte die Sachen zusammen, die ihr für euer neues Leben braucht. Am Wochenende kommt der Möbelwagen und bringt alles in das neue Domizil." Er steht vor mir, wartet auf irgendeine Reaktion meinerseits. Doch nichts dergleichen geschieht. Ich sacke nur in mir zusammen. Meine Schultern fallen nach vorn. Ich sehe aus wie ein kleines Häufchen Elend. Traurig und ganz leise dreht er sich um und geht.

Merle steht jetzt auch in der Tür. Ruft ganz weinerlich ein "Papa" hinter ihm her. Als er sich umdreht und seine Hand zum Winken hebt, da schiebe ich die kleine Merle beiseite und knalle die Tür mit einem lauten Rumps zu. Warm rinnen ihm die Tränen über die Wangen.

Auch ich habe mit mir zu kämpfen. Ich versuche die starke Mutter vor meinem Kind zu spielen. Es will mir nicht so recht gelingen. Ich greife gleich wieder zu meinem Seelentröster.

 

Merle sitzt wieder in ihrem Zimmer. Mit ihrem Schäfchen in der Bettecke. Weint leise vor sich hin. Heute mag sie nicht sprechen. Sie hofft, Schäfchen versteht ihre Sorgen auch so. Ihr Zimmer darf mit in die neue Wohnung. Das freut sie sehr. Als ihr Tränenfluss versiegt ist, klettert sie aus ihrem Bettchen. Beginnt schon einmal, die ihr am liebsten gewordenen Sachen in eine Ecke zu packen. Diese müsssen unbedingt mit. Merle packt und packt.

 

Ich sitze noch immer da, ringe nach Luft und kann es einfach nicht fassen. Er setzt mich einfach so vor die Tür. Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Dafür, dass ich nichts von alldem gemerkt habe.

Ich, die 7 Jahre lang an seiner Seite war, ihm immer den Rücken stärkte. soll nun Platz machen für eine andere Frau. Werde einfach so in eine Wohnung abgeschoben. Alles Grübeln nützt nichts, auch ich muss langsam ans Packen denken. Wieder schleiche ich durch die Wohnung. Überlege was ich mitnehmen soll. Zuersteinmal werde ich meine vielen Bücher einpacken. Lieblingsstücke die ich einmal geschenkt bekam. Meinen kostbaren Schmuck. Nichts werde ich ihm und dieser Person lassen.

Langsam füllen sich die Umzugskisten mit allem möglichen Hausrat, Büchern, Schmuck und Andenken. Meine Kleidung werde ich erst am Samstag in Säcken verstauen. Auch die Tiffany Lampe kommt in einen Karton. Die, woran auch er so sehr hängt. Soll er sich doch grün und blau ärgern. Die Lampe kommt mit! Nach dieser Aktion bin ich echt geschafft. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Sicher werde ich noch einige Kleinigkeiten später einpacken müssen. Ein Großteil jedoch ist geschafft.

Auch Merle hat schon alles gut verstaut in ihrem riesengroßen Karton. Aber igendwie reicht der Platz nicht aus. Alles soll mit und der Karton ist schon übervoll.

Ich nehme Merle in den Arm. Sage zu ihr: "Von ein paar Sachen wirst du dich wohl trennen müssen!"
Merle jedoch schüttelt mit dem Kopf. Sie möchte doch alles mitnehmen. Die schöne warme Kuscheldecke. Ihre Kuscheltiere. Ihre vielen Bücher. All ihr schönes Spielzeug.

Warme Tränen rinnen ihr über die Wangen.

Sie schaut mich an und fragt: "Warum macht Papa das mit uns?"

Ich schaue sie mit meinem leeren Blick an. Kann nur mit den Schultern zucken.

Mit den Worten: "Wir werden das schon schaffen!", versuche ich Merle zu trösten. Streichele ihr über die Wange.

Merle kuschelt sich ganz eng an mich. Genießt dieses Gefühl überaus.

 

Ich merke erst jetzt, wozu ich alles in der Lage bin. Genieße diese Situation, bevor die Kälte mein Herz wieder erstarren lässt. Die Kälte, vor der ich mich selbst immer so fürchte. Gegen die ich nichts ausrichten kann, wenn sie wieder von mir Besitz ergreift.

Warum nur, kann ich meine Gefühle nicht so zeigen, wie all die anderen um mich herum. Ich bin nicht so kühl, wie alle von mir denken. Das ist nur zum Schutz. Eine äußere Hülle, die ich auch ab und an mal ablege. Nur lange hält es nie an. Dann verstecke ich mich wieder hinter dieser Hülle. Und zur Zeit noch mehr denn je.

Angst macht sich wieder in mir breit. Langsam schiebe ich Merle von mir. Ich will es nicht! Es geschieht einfach so - aus mir heraus. Ich will nicht, dass meine kleine Merle die Anspannung in mir spürt. Meine Sehnen schlängeln sich wie Drahtseile durch meinen Körper. Die Muskeln in mir erhärten.

Wortlos erhebe ich mich von der Couch. Versuche noch weitere Liebhaberstücke in die Kartons zu verpacken. So recht will es mir nicht gelingen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mit jedem Stück, was durch meine Hände geht, sind ja auch Erinnerungen verbunden. Schöne Erinnerungen - die sich mit den Bösen vermischen.

Ich bin dem Zusammenbruch nahe. Als mir auch noch die Fotoalben in die Hände fallen, ist es ganz vorbei. Ich kniee mitten in der Stube. Weine bitterlich - dabei in den Alben blätternd. Ich zittere am ganzen Leib. Verkrampfe mehr und mehr. Wieder rinnen mir dicke Tränen über die Wangen. Ich will Merle meine Tränen ungern zeigen. Will sie hinter meinen Händen verbergen, welche ich vor mein Gesicht drücke. Dann sinke ich zusammen. Verharre in der Kindhaltung!

Merle sitzt in die Couchecke gedrückt, mit weit geöffneten Augen. Ihre Beinchen zieht sie ganz eng an ihren Körper. Umklammert sie mit ihren Ärmchen. Sie möchte mir gern helfen, ist aber unfähig dazu. Wie gelähmt schaut sie dem Treiben zu.
Doch dann springe ich unvermittelt auf. Lache hysterisch! Ich schaue Merle an und sage mit einer Stimme, die sie erschaudern lässt: "Bitteschön, wenn dein Vater ein neues Leben haben möchte, soll er es auch haben. Wir beide nehmen das alte mit." Aus meinen Augen sprühen Funken. Jedenfalls scheint es so.

Merle schaut fassungslos zu, als ich all die Alben vor meinen Busen drücke. Sie in die Umzugskatons verfrachte.

Nach diesem Akt, schleppe ich mich kraftlos in die Küche. Dort habe ich einen Seelentröster versteckt. Ganz hinten in der Spüle, damit Merle davon nichts mitbekommt. Ich bekomme nicht mit, das ich immer tiefer in einen Sumpf abgleite, aus dem es kein Entkommen mehr gibt.

Als Merle etwas später in die Küche kommt und mich trinkend und entkräftet sieht, macht sie sogleich kehrt und zieht sich in ihr Zimmer zurück.

Auch die nächsten Tage verlaufen nicht so viel anders. Das Packen geht nur ganz langsam voran.

Samstag um 8 Uhr, soll also der Umzugswagen vor der Tür stehen, erfahre ich von einem Telefonat mit meinem Nochehemann.

Er hat wohl keine Lust mehr vorbeizuschauen? Keine Lust mehr auf den ewigen Zoff?

Wieder lasse ich es ihn spüren - dieses Wütendsein auf ihn! Nach dem kurzen Gespräch, knalle ich den Hörer einfach auf.



*



Samstag, pünktlich um 8 Uhr, hält vor dem Haus ein Möbelwagen. Zwei stark gebaute Männer gehen auf das Haus zu. Sie klingeln. Dann nochmals. Darauf klingeln sie Sturm. Doch ich schlafe noch tief und fest, wälze mich in meinem Bett hin und her. Nur Merle ist durch den Krach inzwischen hellwach. Sie kommt zu mir ins Schlafzimmer getappt. Rüttelt und schüttelt an mir herum, bis ich meine verquollenen Augen aufschlage.

Nach der getanen Arbeit am gestrigen Tag, war es noch ein sehr langer Abend mit meinem Freund, dem Seelentröster, geworden. Wankend folge ich Merle zur Tür, mir noch schnell den Morgenmantel überwerfend. Diese schrillen Klingeltöne, sie rauben mir den letzten Nerv. Wie wirr kreisen sie in meinem Kopf. Dann reiße ich wie wild die Eingangstür des Hauses auf. Werde blass! Und nicht nur ich.

Die beiden Möbelpacker senken ihren Blick bei diesem seltsamen Anblick. Und ich stehe noch immer vor ihnen. Breitbeinig. In meinen Plüschpantoffeln. Mit meinem halb geöffneten Morgenmantel. Darunter das fast durchsichtige Nachthemd. Als ich endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, mir meiner misslichen Lage bewusst werde, knalle ich die Tür mit einem ordentlichen Schwung wieder zu. Ich betrachte mich in der riesigen Spiegelwand der Diele. Werde blass vor Schreck. Was für einen Eindruck werde ich wohl bei den beiden Möbelpackern hinterlassen haben? Meine Augen sind aufgedunsen. Die Haut ist grau, fahl und rot geädert. Die Haare total zerzaust. Ich schließe ich meinen Morgenmantel und öffne die Tür erneut. Beschämt schleiche ich vor den Männern her, in den Raum, wo ich am Abend zuvor, alles was ich mitnehmen werde, zusammengestellt habe.

Merle hüpft fröhlich zwischen den Möbelpackern umher. Schaut ihnen tanzend bei der Arbeit zu. Sie schleppen eine Kiste nach der anderen hinaus in ihren Möbelwagen. Merle und ich machen uns fertig für die Reise in das neue Domizil.

Bevor ich das Haus verlasse, schreite ich erhobenen Hauptes noch einmal jeden Raum ab. Nehme Abschied von allem was mir lieb geworden ist, aber zurück bleiben muss. Die Gedanken ergreifen nun wieder Besitz über mich.

Was wird er wohl mit all dem machen, was Merle und ich zurücklassen müssen?

Wird er mit der neuen Frau das Haus bewohnen?

Aber welche Frage mich am meisten quält: Wo wird für uns, Merle und mich, die Reise hin gehen?


Nachdem ich still und leise Abschied genommen habe, verlasse ich das Haus für immer. Lege den Schlüssel am geheimen Platz, unterm Blumenkübel, ab und setze mich zu den Möbelpackern und Merle ins Auto.

Dann beginnt sie die Reise in das Ungewisse. Eine Reise mit dem Wissen, unser altes Zuhause nie mehr wieder zu sehen.

Still verabschiede ich mich von der Gegend, die mir so vertraut ist. Dann fahren wir entlang der Altstadt, wo ich mir immer eine der schönen Altbauwohnungen gewünscht habe. Als wir auch diese passiert haben, sinke ich in mir zusammen. Meine Gedanken wandern dorthin, wo uns unsere Reise hinführen wird. Es bleibt nur noch eine Möglichkeit: Das berühmt, berüchtigte Ghetto. Dorthin, wo die Armut regiert. In die Gegend, worüber ich und meine Freundinnen uns immer wieder ausgelassen haben.

 

Was bildet sich der Kerl nur ein?

Wie kann er uns das nur antun?

Keiner meiner Freundinnen kann ich so noch unter die Augen treten.

Von weitem sehe ich schon die Hochhäuser auf mich zukommem.

Ich werde blass. Noch blasser. Kreidebleich.

Stille Wut steigt in mir auf.

Aber auch an den grauen muffigen Hochhäusern führt der Weg vorbei.

Was konnte es denn hier noch geben?

Plötzlich breitet sich vor unseren Augen eine grüne Landschaft aus. Grüne Flächen zur Erholung der Erwachsenen. Ein Trimm-Dich-Platz für die ältere Generation. Ein schöner Kinderspielplatz. Dies fällt mir zuerst ins Auge. Dann erst die vierstöckigen Wohnhäuser in den schönsten Farben. Grün, gelb, orange, ocker... Ich habe mich insgeheim schon wieder mit meinem Mann ausgesöhnt. Dann das!

Der Umzugswagen fährt frontal auf ein Haus zu, was mir total die Sprache verschlägt.

Ich bin mit Merle am Scherzen, dann schlägt meine Stimmung schlagartig um. Ich sehe nur noch schweinchenrosa. Nichts mehr drumherum.

 

Schweinchenrosa - wie ich diese Farbe hasse.

Wieder hat er nur an Merle gedacht.

Was denkt sich dieser Kerl nur dabei?

Blanke Wut steigt in mir auf.

 

Merle hüpft fröhlich aus dem Umzugswagen und erkundet erst einmal die Gegend. Mich interessiert noch immer dieses schweinchenrosa Haus.

Fiese Gedanken haben mich total im Griff!

Wo nur wird er uns untergebracht haben?

Doch wohl nicht im vierten Stock?

Inzwischen traue ich ihm alles zu.

 

Ich bewege mich langsam auf die große Eingangstür zu. Durch die große Glastür entdecke ich einen schönen lichtdurchfluteten Flur. Plötzlich spüre ich einen warmen Atem hinter mir.

Dann höre ich eine mir sehr bekannte, aber auch stolze Stimme hinter mir. "Das alles hier, haben ich und meine jetzige Partnerin geplant." Ehe die Person sich versieht, hatte sie auch schon eine schallende Ohrfeige einkassiert.

"Oh, Entschuldigung!", erwidert mein Nochehemann, "Ich hätte wohl die Partnerin nicht erwähnen sollen."

Aber mich ärgert nicht so sehr die Partnerin - eher das schweinchenrosa Haus. Das sage ich ihm auch direkt ins Gesicht.

Mit einer Handbewegung deute ich auf das Haus. Frage mit hasserfüllter Stimme nach: "Was hast du dir dabei gedacht? Wieder einmal hast du nur an deine Merle gedacht!", lasse ich noch folgen.

"Du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf dein eigenes Kind?", will er darauf wissen. Er möchte mich in seine Arme nehmen. Doch ich verkrampfe so, dass sich mein Körper bretthart anfühlt. Ich strecke meine Arme nach vorn aus. Drücke ihn mit aller Macht von mir weg.
"Elsa, was ist nur los mit dir? Wollen wir uns nicht im Guten trennen?", fragt er mich traurig, mit gesenktem Blick.
Ich schaue ihn mit hasserfülltem Blick an. Schreie einfach los. "Was bildest du dir eigentlich ein? Was willst du von mir? Du brauchst wohl zwei Frauen?", keife ich ihn an.
"Aber man kann sich doch trotztdem gut verstehen."
"Verschwinde und lass dich hier nie wieder sehen!"
"Elsa, bleib doch ruhig! Wir müssen uns gut verstehen - vor allem reden."
"Warum sollten wir?", will ich nun lautstark wissen.
Keiner von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2020
ISBN: 978-3-7487-7236-1

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