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Leseprobe

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Jamie

 

Ich gehe zum gefühlt hundertsten Mal die Datei durch und überprüfe, ob ich alle Lichter ausgeschaltet habe. In mir wächst die Wut über mich selbst, wie so oft in letzter Zeit, oder besser… wie eigentlich immer. Ich verabscheue diesen Zustand, bin aber nicht in der Lage, ihn zu ändern.

Heute ist es besonders schlimm, es erreicht ehrlicherweise einen neuen Höhepunkt und ich spüre neben der Wut noch diese innere, eiskalte Panik in mir, die mich zu lähmen droht und mich dazu zwingt, wie ein Tiger in einem viel zu engen Käfig im Kreis zu laufen.

Warum?

Ich lache trocken und gänzlich humorlos auf und es klingt in der Stille und Größe des leeren Fotostudios seltsam hohl. Es ist so einfach, geradezu absurd und doch kostet es mich sämtliche Nerven: Es regnet.

Heute ist wieder einer dieser Tage, an dem es gegen Abend vom Meer her zuzieht und die Wolken ihren Regen auf die warme Stadt ergießen. Früher mochte ich den Geruch, das Gefühl von Sauberkeit, wenn der Staub aus der Luft gewaschen wird. Heute… na ja… Heute erinnert er mich an die schlimmste Nacht meines Lebens und obwohl ich körperlich genesen bin, hat sich mein dummes Gehirn vor Monaten entschlossen, alles, was damit zusammen hängt, in immer kürzeren Abständen und stärker als je zuvor, bei allen sich bietenden Gelegenheiten hervor zu kramen.

Ich hasse es dafür, hasse mich, dass ich nicht stärker bin, meinen Körper, der nicht mehr so ist, wie früher und mein Leben im Besonderen.

Gut… nicht alles davon, nein, eigentlich nur meinen ganz persönlichen Teil, was aber nicht heißt, dass der Rest nicht zwangsläufig darunter leidet.

Auch das ist mir bewusst, aber da ich gegen die Heimsuchung schon nichts machen kann, bin ich dem Rest ebenfalls hilflos ausgeliefert.

Was meinen Hass wiederum verstärkt…

Meine Faust knallt donnernd auf den Arbeitstisch und ich stöhne laut zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen.

Fuck! Fuck! Fuck!

Was für ein Bullshit! Schon wieder hänge ich in dieser Spirale fest und es gibt nichts, an dem ich mich festhalten kann, um mich herauszuziehen.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass Mike seit einer halben Stunde mit dem Essen auf mich wartet. Augenblicklich gesellt sich ein Gefühl von Traurigkeit zu meinem Selbsthass. Früher hätte er längst angerufen, gefragt, wo ich bleibe und gescherzt, weil ich mich nicht von der Kamera loseisen kann… Doch er bleibt stumm und das nicht erst seit heute. Und es ist meine Schuld, weil ich regelmäßig ausraste und ihm gegenüber böse werde.

Mike hat weder das eine noch das andere verdient und das ist mir voll bewusst, aber ich kann nichts dagegen tun. Mir bleibt nur übrig zu hoffen, dass er mir verzeiht, dass er weiß, was los ist.

 

Ich sollte wirklich los. Im Zeitlupentempo schließe ich die offenen Dateien, fahre den PC runter und rolle mit dem Stuhl vom Schreibtisch zurück. Mit einem Ohr lausche ich dem Regen, der tatsächlich nachgelassen hat, während ich mit dem anderen Ohr versuche, Motorengeräusch aus dem nächtlichen Rauschen heraus zu filtern.

Aber es ist nichts dergleichen zu hören. Nach dem Überfall haben wir den Parkplatz und den Zugang zum Studio sichern lassen, sodass man mit einem Fahrzeug nur noch mit Schlüssel bis vor das Tor fahren kann. Natürlich kann ein Mensch über die umliegenden Zäune klettern, aber dank etlicher Bewegungsmelder und der freien Fläche kann mich niemand mehr überraschen.

Inzwischen habe ich sogar einen Monitor einbauen lassen, damit ich von innen das Gelände überprüfen kann, bevor ich raus gehe und in meinen Wagen steige, der direkt neben der Tür parkt.

Ich verlasse den abseits liegenden Bereich, in dem mein Schreibtisch steht und gehe an die Tür, um das Licht im Eingangsbereich anzuschalten. Nichts ist schlimmer, als ein vollkommen dunkler Raum, auch wenn ich weiß, dass ich vollkommen alleine bin.

Anschließend nehme ich meine Tasche, gehe zur Tür und kämpfe mit der Hand auf der Türklinke darum, den nächsten, so einfachen Schritt zu machen: Die Tür zu öffnen.

In mir ballt sich die Wut zu einem hässlichen, schwarzen Gebilde zusammen und ich möchte schreien und auf etwas einschlagen, weil ich nicht weiterkomme. Um ehrlich zu sein mache ich im Grunde Monat für Monat Rückschritte und komme so langsam wieder an den Punkt, wo ich vor Jahren blutüberströmt auf dem Parkplatz lag und fast gestorben bin.

Zeit heilt alle Wunden? Der Verfasser dieses Satzes gehört gesteinigt. Einen Dreck tut sie! Mit einem tiefen Atemzug sammle ich all meinen Mut zusammen, öffne die Tür und trete über die Schwelle nach draußen. Der Geruch von Regen auf warmem Asphalt wirft mich fast wieder nach hinten. Ich zittere unkontrolliert und zu allem Überfluss hat sich der Regen auch noch entschlossen, wieder stärker zu werden.

Komm schon, versuche ich mir selbst Mut zu machen. Es sind nur zwei Meter bis zur Autotür, ein Katzensprung sozusagen. Ich betätige den elektronischen Türöffner, ehe ich die Studiotür hinter mir zuziehe und abschließe.

Allein die Tatsache, dass ich dem Parkplatz für ein paar Sekunden den Rücken zudrehen muss, lässt mich fast vor Angst fast den Verstand verlieren.

Verfickte Scheiße!

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzt. Vor lauter Zittern schaffe ich es kaum, das Schloss zu treffen, und spüre, wie mir blanke Panik regelrecht den Hals zu schnürt, aber dann habe ich es endlich geschafft.

Erleichtert drehe ich mich zum Auto um und will das schützende, winzige Vordach verlassen, als ich abermals erstarre.

Wie immer schweift mein Blick unruhig umher, sondiert das Gelände, das wir seit damals penibel sauber halten. Ein ungewöhnlicher Zustand für solche Hinterhöfe, aber wir wollten einfach dafür sorgen, dass es absolut keine Versteckmöglichkeiten mehr gibt. Ich will, nein, ich muss einfach jeden Winkel einsehen können, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben, nicht jeden Schatten zu fürchten. Aus dem Grund ist der Platz, der vorne für fünf Autos Platz bietet und nach hinten aus nacktem Erdboden mit leichtem Grasbewuchs besteht, leer.

Eigentlich.

Jetzt ist er es aber nicht, auch wenn sich hinter dem Müllsack sicher kein Mensch verbergen kann. Ich hasse es, wenn jemand seinen Müll einfach über den Zaun wirft und…

Mein Herz rast.

Ein Blick zuckt über den Himmel und verleiht der Szene hier unnötige Dramatik.

Ich will hier weg, will nach Hause zu Mike, in unsere sicheren vier Wände und zu dem Mann, der mein Fels in der Brandung ist, aber meine Beine bewegen sich nicht. Ich bin regelrecht in Schockstarre gefangen

Der Regengeruch flutet erneut meine Sinne, das Licht der Straßenlaterne, gebrochen in unzähligen Tropfen, nährt meine unsinnige Angst.

Der Müllsack fällt lautlos um, aber in dem prasselnden Regen wäre ohnehin nichts zu hören gewesen.

Steig ein, dreh den Zündschlüssel und kümmer dich morgen, bei Tageslicht um den Sack.

Mehr als einen Schritt Richtung Auto schaffe ich nicht, weil mich ein innerer Drang davon abhält, meine Aufmerksamkeit von dem blauen Sack abzuwenden.

Sekunden vergehen, doch sie fühlen sich wie Stunden an.

Nichts passiert.

Langsam lässt die Anspannung in mir ein wenig nach und ich schaffe einen weiteren, winzigen Schritt.

Dann bewegt sich der Sack erneut und ich hüpfe förmlich einen Meter zurück.

Was zum Teufel geht da vor?

Die Neugierde drängt die Furcht ein wenig in den Hintergrund, trotzdem kann ich nicht, wie jeder normale Mensch, einfach hinüber gehen und nachsehen. Stattdessen stehe ich ohne jegliches Zeitgefühl wie angewurzelt da, aber es müssen sicher ein paar Minuten gewesen sein, denn unvermittelt erlischt das Hoflicht.

 

Die Angst kehrt zurück, stärker als je zuvor, rammt mir ihre Faust in den Magen und lässt mich beinahe in die Knie gehen.

Jesus… was soll ich nur tun? Mit dem Rücken an der Tür versuche ich, gegen den Druck auf meiner Brust anzuatmen und taste in der Tasche nach meinem Handy. Soll ich Mike anrufen? Einfach seiner Stimme lauschen, damit ich mich wieder im Hier und Jetzt verankere? Er würde wissen, warum ich anrufe. Das tut er immer, weil er weiß, wie es mir bei Regen geht.

Unvermittelt flammt das Licht wieder auf, doch dieses Mal wird es durch den Sack ausgelöst, der jetzt ein kleines Stück zur Seite gerollt ist.

Ich muss nachsehen! Wenn ich es nicht tue, jetzt einfach fahre und das Ding dort drüben ignoriere, werde ich heute Nacht keine ruhige Minute finden.

Aber alleine schaffe ich das nicht. Hektisch angle ich nach meinem Handy und wähle unsere Festnetznummer.

Es klingelt nur zwei Mal, dann vernehme ich Mikes tiefe, warme Stimme. „Jamie?“

Ich stöhne und bete, dass er es nicht hört. Sofort fällt ein Großteil der Anspannung von mir ab, wie immer, wenn er, egal in welcher Form, bei mir ist. „J… ja.“ Fuck, das Gestotter ist nicht gut.

„Was ist los? Ist was passiert?“

Ich schüttle den Kopf, lasse dabei aber den Sack nicht aus den Augen. Beult sich das Plastik aus? „Nein… Ja… Scheiße.“

„Der Regen?“

Mir kommen fast die Tränen, weil er weiß, wie es mir geht, ohne dass ich ihm auch nur irgendetwas erklären muss. „Auch… Fuck… Hier… hinten an der Mauer liegt ein Müllsack und… ich glaube, er bewegt sich.“

„Oh… soll ich kommen?“

Der Gedanke, ihn hier zu haben ist schön, aber es wäre kompletter Blödsinn. Unser Haus liegt gut zwanzig Minuten entfernt und er ist seit heute Morgen um fünf Uhr auf den Beinen. „Nein, danke, aber…“ Ich atme gezwungen ein und aus, was er ganz sicher mitbekommt. „Ich muss nachsehen, aber es regnet und…“

„Ich bleibe einfach dran, Schatz. Schalt den Lautsprecher ein und geh rüber. Ist das okay?“

Ich nicke, einmal, zweimal, ein drittes Mal um mir Mut zu machen. Verfickte Scheiße… warum ist das so höllisch schwer? „Ja, danke.“ Meine Finger zittern so sehr, dass ich kaum die Taste treffe, um den Lautsprecher einzuschalten. „Ist an“, kann ich dann kleinlaut verkünden und betrachte erneut den Sack, der sich nun tatsächlich seitlich ausbeult.

„Dann los. Liegt er im Hellen? Sonst nimm die Taschenlampe aus dem Auto mit, hörst du?“

Das ist eine sehr gute Idee. Selbst, wenn ich das Licht kaum brauchen werde, weil das Ding inzwischen ein gutes Stück in den Schein der Außenbeleuchtung gerollt ist, habe ich dann zumindest etwas, womit ich im Notfall zuschlagen könnte. „Mach ich.“

 

Ich trete nach vorn über die imaginäre Schwelle, die den trockenen Boden unter dem Vordach von dem nassen Parkplatz trennt, umklammerte mein Handy fest und richte meinen Blick auf die Autotür. Aus dem Augenwinkel behalte ich jedoch den Müllsack im Blick. Nur zur Sicherheit. Über mir grollt der Donner und Wind kommt auf, aber dann lässt der Regen schlagartig nach und entlockt mir ein Stoßgebet.

Dann halte ich die große Taschenlampe, die ich griffbereit unter dem Beifahrersitz verwahre, in der Hand und fühle mich, mit ihr als Schlaginstrument, gleich viel sicherer.

„Okay, hab die Lampe und gehe jetzt rüber. Der Regen hat nachgelassen“, erkläre ich Mike.

„Sehr gut. Du schaffst das.“ Es ist kindisch, dass ich seinen Begleitschutz überhaupt brauche, aber es fühlt sich so unfassbar gut an.

Tatsächlich kann ich jetzt gehen, mich vom Gebäude lösen und den Eingangsbereich, unter dem Vordach hinter mir lassen.

Vielleicht spielt mir meine Angst nur einen Streich, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich irgendetwas Lebendiges in dem Sack befindet. Mit der Stille, die mit dem Ende des Regens eingekehrt ist, erklingen nun leise, undefinierbare Laute aus dem Inneren des Plastiks. Ich zitterte erneut. „Mike? Da drin bewegt sich irgendwas.“

„Oh Scheiße.“

„Ja. Bin fast da.“

„Wo genau liegt er?“

„Hinten an der Mauer zwischen den Gebäuden.“

„Praktisch. Drüben ist alles verwildert. Ein guter Platz, um etwas zu entsorgen.“

„Hätten sie es mal besser drüben gelassen… Sorry, das ist jetzt sehr selbstsüchtig.“

Mike lacht leise. „Ich weiß schon, wie du es gemeint hast.“

Ich schaffe es tatsächlich zu lächeln. Ich habe den Sack fast erreicht, doch es regt sich nichts mehr darin und meine Furcht wächst wieder an. War ich zu langsam? Bin ich schuld… Nein!

„Bin gleich da.“

„Gut.“

Noch zwei Meter und ich frage mich erneut, ob mir meine Sinne nur einen Streich gespielt haben, weil es jetzt nichts weiter, als ein voller Sack ist, den man hier abgeladen hat. „Es bewegt sich nicht mehr.“

„Du solltest dennoch reinsehen…“

„Weiß ich doch.“ Sofort spüre ich, wie die Wut in mir aufwallt, wenn man mir sagt, was ich tun soll. Ich kämpfe sie hartnäckig nieder, weil sie hier nichts zu suchen hat. Jetzt stehe ich vor dem Ding und bin unschlüssig, was ich tun soll. Einfach aufreißen? Oben öffnen?

Eine schwache Bewegung erstickt jeden Gedanken und zwingt mich zum Handeln. „Da ist wirklich was drin“, flüstere ich, als ob mich jemand belauschen könnte.

„Jamie, ganz ruhig.“

„Ich muss dich auf den Boden legen, damit ich die Hände frei habe.“ Als ich das Handy und die Lampe auf das nasse Gras lege und nach dem gespannten Plastik greife, bin ich mir der Leere hinter mir der Angst, die versucht, mich zu packen, sehr deutlich bewusst.

 

Kaum habe ich die Hand auf der Tüte, drückt von Innen etwas schwach dagegen und erschrickt mich so, dass ich fast nach hinten umkippe.

„Fuck“, fluche ich leise.

„Was?“

„Da hat sich was bewegt, als ich den Sack berührt habe.“

„Reiß ein Loch rein, vielleicht kriegt es keine Luft mehr…“

„Ja, bin dabei.“ Was einfach klingt kostet mich Überwindung. Mit spitzen Fingern packe ich das stabile Plastik und zerre es auseinander.

Als erstes fällt mir der furchtbare Gestank von Blut auf, der mich beinahe würgen lässt. Er ist intensiv und vermischt sich mit dem Geruch von Nässe, Fell und Tier. Ich muss mich wegdrehen und stöhne leise.

„Was ist?“, erklingt Mikes Stimme gedämpft neben mir im Gras.

„Boah… es stinkt, mir wird übel.“

„Und was ist es?“

„Warte.“ Mit spitzen Fingern vergrößere ich den Riss und zwinge mich, hineinzusehen. „Oh Gott…“ Ich schlage mir die Hand vor den Mund und weiche unwillkürlich ein Stück zurück.

„Jamie?“

Tränen schießen mir in die Augen, mein Hals wird eng und in mir breitet sich ein so stechender und intensiver Schmerz aus, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe.

„Jamie! Rede mit mir!“

„Ja…“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, so grauenvoll ist der Anblick. „Hunde… es sind kleine Hunde. Totgebissen, regelrecht zerfetzt.“

„Dreckspack, elendiges“, knurrt Mike am anderen Ende, weil wir beide wissen, was hier liegt: Die Versuchskaninchen für die unsäglichen Hundekämpfe, die hier weit verbreitet sind. „Sind alle tot?“

Ich muss mich überwinden, wieder in den Sack zu sehen. „Ich kann das nicht wegräumen“, flüstere ich mühsam.

„Natürlich nicht. Soll ich doch kommen?“

„Nein. Vielleicht…“ Mit dem Griff der Taschenlampe schiebe ich einen Kadaver beiseite. Tränen laufen mir über die Wangen, weil der Körper eine grauenvolle Geschichte erzählt. Es sind noch junge Hunde, Welpen, unschuldig und nur geboren, um von ihresgleichen im Blutrausch umgebracht zu werden. Wie kann ein Mensch nur zu so was fähig sein? Jetzt komme ich mir albern vor, dass ich mich so vor diesem Sack gefürchtet habe. Die Welpen haben deutlich Schlimmeres erfahren, als ich mit meiner Angst. Ich schüttle ungehalten über mich selbst den Kopf, hätte ich mich doch bloß eher getraut, vielleicht hätte ich einen von ihnen retten können?

Ein kaum hörbares Geräusch lenkt meinen Blick ein Stück nach links, an den Rand des Gewirrs aus Leibern, der noch vom Plastik bedeckt ist. Vorsichtig hebe ich ihn an und dann sehe ich, wie sich eine winzige, blutige Pfote bewegt und hilflos unter einem leblosen Körper um Platz ringt.

„Einer der Kleinen lebt noch, Gott… ich muss.“ Obwohl es mich anwidert, packe ich das Tier und ziehe es zur Seite. Ich bin erschüttert, dass der Körper noch nicht mal richtig kalt ist. „Oh Gott, oh Gott…“

„Was?“

„Sie sind noch warm“, schluchze ich und zwinge mich mühsam, weiter zu machen.

„Furchtbar.“ Mikes Stimme ist ebenso erschüttert wie meine. „Und?“

Noch ein Körper ist im Weg. Meine Hände sind inzwischen blutverschmiert, aber es stört mich nicht länger, als wäre die Hemmschwelle überwunden. Da ist ein unschuldiges Wesen, das meine Hilfe braucht und nur das zählt. Mit aller Kraft reiße ich den Sack weiter auf, finde aber oben nur Papier und Plastikunrat, den man einfach auf die Tiere gekippt hat.

Ein hohes, schrilles Quietschen lässt mir die Haare zu Berge stehen und ich lege insgesamt vier tote Welpen beiseite, bis ich zum Ursprung des Schreis komme.

Schwarze Knopfaugen, so weit aufgerissen, dass ich das Weiße sehen kann, starren zu mir herauf.

Der Regen setzt wieder ein, ein Tropfen fällt auf den blutigen Hundekopf und entlockt dem Tier wieder ein Winseln.

„Es ist voller Blut.“ Tatsächlich ist das eine furchtbare Untertreibung, weil ich nicht mal erkennen kann, welche Farbe das Fell des Hundes hat. „Er ist winzig, da sind überall Wunden.“ Ich muss es anfassen, in irgendetwas wickeln, damit ich es transportieren kann.

„Hol ein Handtuch, Jamie.“

„Keine Zeit. Ich will ihn nicht alleine lassen.“ Ohne zu zögern ziehe ich meine Jacke aus, lege sie auf den Boden und schiebe vorsichtig meine Hände unter den warmen, federleichten Körper. Ich habe keine Ahnung, ob dieses Wesen knurrt, bellt oder heult, weil mich der markerschütternde Ton irgendwie paralysiert und alles, was mich sonst beschäftigt überdeckt.

„Pssst, ist gut, Honey. Alles wird gut.“ Stoisch versuche ich, mit weit ausgebreiteten Händen die Haltung des kleinen Körpers so wenig wie möglich zu verändern und lege ihn schließlich sanft auf meine Jacke.

„Ich muss nachsehen, ob noch ein Welpe am Leben ist“, flüstere ich leise und beuge mich, gegen ein Würgen ankämpfend, erneut über den Sack.

Aber es ist zu spät. Die Augen der kleinen Hunde sind bereits stumpf, kein frisches Blut mehr, null Reaktion auf meine Berührungen.

Obwohl ich nichts dafürkann, fühle ich mich wie ein Versager. Vielleicht hätte ich noch ein Tier retten könne, wenn ich meine Angst schneller überwunden hätte.

„Schatz?“

Mikes Stimme reißt mich aus meiner Qual. „Ja, der Kleine liegt auf meiner Jacke. Die anderen sind leider tot.“ Meine Worte gehen in einem Schluchzen unter und ich wische mir energisch über die Augen. Reiß dich zusammen, rede ich mir zu, weil ich weiß, dass ich kurz davor stehe, wieder in so einem bescheuerten schwarzen Loch zu versinken.

„Das ist nicht deine Schuld, Jamie, das weißt du hoffentlich.“

„Ja, schon… aber…“

„Kein Aber. Kannst du fahren?“

Ich nicke und atme tief durch, während ich den Sack ins Trockene ziehe und schnell ein großes Stück Plastik darüberlege, um den Inhalt einigermaßen zu schützen. Das ist so entsetzlich unwürdig.

„Kümmerst du dich wirklich um die toten Hunde?“, frage ich Mike, während ich zu meiner Jacke zurückhetze.

„Ja, ich ziehe mich schon an und bin gleich auf dem Weg.“

Er ist einfach der Beste. „Danke. Ich lege jetzt auf fahre in die Klinik, ja?“

„Sicher. Geht es wirklich?“

„Es muss. Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit…“ Mein Herz krampft sich zusammen, als ich den kleinen Hundekörper betrachte, der plötzlich ganz still geworden ist. Automatisch drücke ich Mike weg, stecke das Handy zurück in meine Hosentasche und knie mich neben das Tier.

Gott, ich habe Angst, dass der Kleine ebenfalls gestorben ist. „Bitte nicht“, flüstere ich immer wieder und lege meine Hand vorsichtig auf das blutdurchtränkte Fell.

Nein, da schlägt noch ein Herz, zwar ganz schwach und unregelmäßig, aber der Kampf ist noch nicht verloren. Und als der Hund meine Berührung spürt, sieht er mich an.

Als sich unsere Blicke treffen, schnürt sich mein Herz zusammen. Da ist so unsagbar viel Schmerz, aber auch ein Mut und Zorn, an dem ich mir ein Beispiel nehmen sollte.

Ich kann mich nur an Angst und Schmerz, aber nicht ein einziges positives Gefühl erinnern, als ich vor einigen Jahren hier an seiner Stelle lag.

Das kleine Wesen winselt und schließt das gesunde Auge, als ob es wüsste, dass es nicht mehr in Gefahr ist.

„Ich muss dich jetzt tragen, ja?“ Nach wenigen Augenblicken schaffe ich es, den Hund, samt Jacke so im Arm zu halten, dass ich mit der anderen mein Auto öffnen und einsteigen kann. Das Bündel auf meinem Schoß ist so klein, dass ich ohne weiteres so fahren kann.

Das Tor zur Straße öffnet sich und hinter mir verlöscht das Licht des Parkplatzes.

In meinem Inneren rumort es hingegen so stark wie nie zuvor.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.03.2019

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