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Tod einer Schneeflocke

 

Tod einer Schneeflocke

 

Angst steigt in mir auf! Wird von Sekunde zu Sekunde stärker. Der Wind hat sich verändert, ist nicht mehr so beißend und eisig wie noch Minuten vorher.

Ich presse meinen Atem stoßweise in die Finsternis hinaus. Der Abgrund zu meinen Füßen ist mir bewusster, als je zuvor. Ich sehe mich um, in der Dunkelheit ist es unmöglich meine Mitstreiter zu sehen, aber ich kann sie fühlen, ihre Furcht, der meiner so ähnlich ist. Die Furcht vor dem Tod!

Mit geschlossenen Augen versuche ich mich zu beruhigen und lehne mich ein kleines Stückchen zurück. Mein Hintermann murrt. Was soll`s, er steht ja auch nicht hier vorn, direkt am Abbruch.

Wie konnte es nur soweit kommen? Wäre ich nicht so ungeduldig gewesen, so … so besserwisserisch und hätte auf die älteren Kameraden gehört … Ein paar der ganz Alten hatten vorhergesagt was heute passieren würde, hatten es selbst letztes Jahr wie durch ein Wunder überlebt. Wie sie das geschafft haben, enthielten sie uns vor. Statt uns Mut zu machen, haben sie geschwiegen und … gelächelt.

Vielleicht gehöre ich ja auch zu den Glücklichen und überstehe das Kommende?

Ich hoffe es … Ich fühle mich einfach noch zu jung zum sterben! Abermals sinniere ich mit geschlossenen Augen, denke an den Flug hierher, das stürmische Gerangel, die Freude am Fliegen und das wohlige Kribbeln im Bauch, wenn wir Loopings schlugen.

Vorbei.

Seufzend verlagere ich mein Gewicht, darauf bedacht nicht aus Versehen noch näher an die Abbruchkante heran zu kommen. So lang der Flug auch war, so kurz ist mein Aufenthalt hier. Viel zu kurz und alles spricht dafür, dass er heute bereits Geschichte wird.

Ich schlucke und halte meine Nase in den aufkommenden Wind … Verdammt, er dreht, das ist gar nicht gut. Ein abscheulicher Duft liegt darin: erdig, grün irgendwie … warm!

Ein Aufstöhnen geht durch die Reihen. Ahh, sie riechen es auch. Das unvermeidliche Ende ist nah.

Großer Gott. Pein schnürt meine Kehle zu, ich will noch nicht sterben, ich habe doch noch gar nichts von der Welt gesehen! Warum war ich nicht klüger? Warum habe ich nicht zugehört und gelernt, anstatt mit dem Kopf voran ins Unglück zu stürzen? Zu spät! Die Chancen sind vertan, ich habe meine Wahl getroffen. Das kommt davon, wenn man als Erster landen will. Ich verfluche meine Ungeduld. Jetzt erfahre ich nie, wie es ist geschaufelt, geschippt oder gar gefräst zu werden. Dinge, die die Alten stolz erzählten, sie hatten dabei gelacht und sind in der Luft herumgewirbelt, um uns zu zeigen, wie es dabei zuging. Nichts von alledem werde ich erleben, mein Leben ist vergeudet!

Da … der Wind hatte es eingeläutet, aber nun sieht man auch weit drüben, unvorstellbar fern, eine hauchfeine Änderung in der tintenschwarzen Finsternis.

Ein Raunen geht durch die Reihen. Wie soll man sich auf das Kommende vorbereiten? Was hilft einem dabei, dem Tod mutigen Herzens entgegen zu sehen? Und … gibt es ein danach? Es kann, nein, darf einfach nicht sein, das mein Leben so banal und bedeutungslos zu Ende geht. Selbst eine kleine Aufgabe hätte es mit Sinn erfüllt, vielleicht … Die Existenz auf einer Autoscheibe, oder in den Zweigen dieses großen, immergrünen Baumes, den ich von hier aus vor mir sehe. Ein sicherlich lustiges Dasein, dieses hin- und her Geschaukel und zeitlich perfektes loslassen, wenn der Weg darunter von den Zweibeinern zurückerobert wurde …

Ja, so etwas wäre es gewesen. Stattdessen … Ich schäme mich, sitze ich hier auf dieser Fensterbank und genieße den freien Blick auf Gevatter Tod.

Zu meiner Schande muss ich gestehen: auch damit hatten die Alten recht. Der Tod hat ein verflucht schönes Antlitz! Aber das lindert meine Angst nicht, sondern macht sie zum gleichberechtigten Partner meines Ärgers. Warum? ... Warum kann nicht wenigstens das Sterben all jene schrecklichen, düsteren und schmerzhaften Klischees erfüllen? Stattdessen fasziniert mich der Anblick über alle Maßen.

Ich knurre und versuche so meine Mundwinkel wieder herab zu zwingen und das völlig dämliche Grinsen zu unterdrücken, welches die Pracht auslöst. Es misslingt fürchterlich. Okay, was soll`s es sieht ja niemand. Resigniert gebe ich den Kampf gegen ein verzücktes Grinsen auf und beobachte staunend das Schauspiel, gebe mich meiner Verzauberung hin.

Zuerst das saftige Tintenblau der Nacht, dann wird es ganz langsam grau und unvermittelt, mit unvorstellbarer Wucht, explodiert eine solch schmerzhafter Schönheit, das alle Umstehenden aufstöhnen. Was für Farben, was für ein Wunder: eisiges Gelb, brennendes Orange und dann ein Rot, das einem die Haare, so man welche hätte, zu Berge stehen.

Und dann ist er da: der Tod, das Ende, unser aller Untergang! Wir ducken uns in der Hoffnung zu entkommen, aber es zögert das Unvermeidliche nur unerträglich lange hinaus. Vergessen ist die Pracht, das ungläubige Staunen und alles was bleibt ist die Furcht. Denn es gibt kein Entkommen vor dem Untergang! Wie ein Messer fährt er mir in den Leib. Das Schlimmste: er hat sich verdoppelt! Damit hat niemand gerechnet und keiner der Alten hat so etwas erwähnt. Sein Gegenspieler kommt von hinten und nimmt mich in die Zange. Das Geschrei auf der Fensterbank wird lauter, aber ich konzentriere mich ganz auf mich, sammle mich und sehe ihm, meinem ärgsten Widersacher, ins Gesicht.

Er wächst! Bei Gott, wie riesig er ist, seine Wut über unser Dasein lässt ihn erglühen und ich spüre seinen Zorn heiß auf meinem Gesicht.

Aber ich weigere mich kampflos aufzugeben, starrsinnig klammere ich mich an den Untergrund, versteife mich und beiße die Zähne zusammen. Für eine kleine Weile hege ich die trügerische Hoffnung zu überleben, weil der Gegner in meinem Rücken schnell wieder an Kraft verliert. Doch Minuten später verliere ich schuldlos, aber erhobenen Hauptes, den Kampf. Der Gegner ist einfach zu mächtig.

Ich spüre wie ich den Halt verliere und reiße entsetzt die Augen auf. Großer Gott, ich rutsche auf den Abgrund zu! Sinnloserweise stemme ich meine Beine in den Boden, aber der Druck von hinten ist übermächtig, ein Stöhnen geht durch die Reihen und ich höre mich darin einstimmen.

Und dann ist es plötzlich vorbei!

Nun … Das Warten auf das Ende, mein Leben noch nicht, denn ich falle!

Der grelle Schein des Todes wird zu einem Raster aus Licht und Dunkelheit, als ich durch den Schatten des Baumes stürze. Ich spüre währenddessen eine seltsame Verwandlung! Mein Leib wird mir selbst fremd. Irgendwie fühle ich mich schwerer, nicht länger fragil und fein, sondern irgendwie fest und … rund!?

Häääh?

Ich blicke an mir hinab und bin fassungslos, jedoch nicht gestorben. Der leuchtende Tod spiegelt sich in meinen, äh, Rundungen in allen Farben der Welt und fasziniert mich derart, dass ich die Reise in den Abgrund beende, ohne es richtig zu merken.

Mit einem deutlichen Platsch lande ich auf einer viereckigen, ebenen Platte und rolle ein wenig hin und her, bis ich mein Gleichgewicht gefunden habe und aufrecht sitze. Ich bin nicht allein. Die anderen Todeskandidaten sind ebenfalls verwandelt und wir schauen uns etwas konsterniert an.

Was bedeutet das alles? Es ist nun sehr still und für einen Moment schwindet meine Todesangst. Aber nur für einen winzigen Augenblick, denn der runde Tod, wandert weiter, um uns endgültig den Garaus zu machen. Mit bangem Herzen registriere ich das und kullere unwürdig, ein wenig hin und her, um ihn beobachten.

Und dann ist es soweit! Kein Zweig, kein Hindernis mehr, das mich vor seinem bloßen Angesicht schützt, nur noch der klare, blaue Himmel zwischen mir und ihm. Ich strecke ihm meine Arme entgegen, nun doch bereit zu gehen und tatsächlich passiert etwas.

Meine Angst verfliegt, ich werde leichter. All diese Dinge wie Aufgaben und was ich gern getan hätte werden nichtig. Ich glaube zu schweben und wenn das der Tod sein soll, dann okay.

Ich genieße das unbekannte, leichte, seidige Gefühl, öffne nach ein paar Augenblicken meine Augen und stoße ein unwürdiges Geräusch aus.

Himmel! Ich schwebe tatsächlich! Und mein unförmiger runder Leib ist viel dünner als zuvor, ich scheine zu … schwinden? Ja, tatsächlich und auf einmal begreife ich es!

Ich blicke zurück, dort ist das Fensterbrett, nun viele Meter unter mir und da der Baum, auf dessen Schattenseite viele meiner Kameraden hängen und ich höre ihre Jubelrufe.

Jetzt weiß ich, dass ich nicht sterben muss, sondern eine zweite Chance bekomme. Ich stimme in ihren Jubel ein und recke mich nach oben. Immer schneller geht die Reise und dieses Mal nehme ich sie bewusst wahr. Kein hin und her getrudel, kein Schaukeln sondern eine zielgerichtete Fahrt zurück!

Und dann sehe ich sie. Die große weiße Wolke aus der ich gestern Nacht fiel, noch so jung und dumm. Mein Blick gleitet hinunter, über die weiße Landschaft und meine unzähligen Brüder. Sie alle haben ihren Weg noch vor sich, manche werden verschwinden, andere, so wie ich, aufsteigen und eine zweite Chance erhalten.

Jetzt erreiche ich die untere Schicht meiner Heimatwolke und fühle, wie ich mich abermals verändere: unzählige Arme wachsen aus meiner Seite, werden weiß und verzweigen sich zu einem kunstvollen Gebilde. Ha … so fühlt es sich schon wieder viel besser an.

Und dann bin ich wieder zuhause. Sanft werde ich aufgefangen und von bekannten Gesichtern begrüßt.

Oh ja, ich bin nicht gestorben und kaum wird mir das bewusst beginne ich Pläne für den nächsten Flug zu schmieden.

Ich werde wieder kommen. Und … ich habe mir ein Ziel ausgesucht: eine Autoscheibe wäre hübsch. Am besten mit den Kumpels Eis. Mit denen hat man am meisten Spaß.

Hmmm, wie wäre es mit … DEINER!!!

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Achtung! Das ist keine GAYROMANCE! Ein völlig harmloser, jugendfreier Text!

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