Prolog
1897. In diesem Jahr wurde die Gemeinschaft gegründet. Die Engelstrompeten – Akademie. Für jeder ist sie eine Schule für Mädchen vom dritten, bis zum achtzehnten Lebensjahr. Die Schule versprach Gehorsam, Benehmen und schulische Bildung. Doch eine Fassade konnte es nicht passender Treffen. Denn jeder der Schülerinnen wurde von dieser Schule entführt. Die Engelstrompete. Eine Pflanze, so wunderschön wie Tödlich. Und genau das war auch diese Schule. Sie bildete die Mädchen aus, zu Mörderinnen, Assassinen. Die die es nicht schafften, der Ausbildung nicht stand hielten, wurden getötet. Die Mädchen die dort waren, bekamen neue Namen, neue Identitäten, wurden jemand anderes. Wenn sie mit 18 Jahren, an dieser Akademie ihren Abschluss hatten, durften sie entweder bleiben, als potenzielle Lehrerinnen und erfüllten weiter Aufträge für die Akademie oder sie gingen und wurden eigenständig. Ab dem achten Lebensjahr wurden sie auf Missionen geschickt. Zu ihrer ersten. Jede mussten einen Menschen töten. Wer es nicht schaffte oder sich weigerte, wurde getötet. Niemand wusste davon, jeder hielt es für eine Schule. Und nicht für mehr.
Solida lief den langen Gang entlang. Die Direktorin hatte sie zu sich bestellt. Jedes der anderen Mädchen hätte jetzt große Angst gehabt, etwas falsch gemacht zu haben. Sie nicht. Sie war perfekt. Sie widersprach nicht, führte jeden Befehl aus, zeigte keinerlei Emotionen und fing keinen Streit an. Und keiner fing Streit mit ihr an. Ein Streit endete meistens mit einem Kampf. Und den würde sie erst recht gewinnen, so viel war sicher. Vor der schweren Eingangstür aus Kiefernholz zu ihrem Büro wartete Bree, ihre einzige Freundin. Bree lächelte und Solida nickte ihr zu, dann betraten sie den großen Raum mit der hohen Decke. Die Direktorin saß an ihrem riesigen Schreibtisch und las sich ein Dokument durch. Gehorsam kamen Solida und Bree zwei Schritte vor dem Tisch zum stehen, verschränkten die Hände hinter dem Rücken und verbeugten sich. Sie sagten nichts. Standen einfach nur da. Sie würden dort Jahre stehen bleiben, ohne sich zu bewegen. Gehorsam, Disziplin. Das war alles, was zählte. Die Direktorin starrte Solida eine lange Zeit in die eisblauen Augen. Dann stand sie auf, lief langsam um ihren Schreibtisch herum und blieb genau vor ihr stehen. Bree zuckte unmerklich zusammen. Doch Solida blickte starr zurück. Nach langem Schweigen sagte die Direktorin schließlich:
„Ich habe einen Auftrag für dich, Solida.“ sie sagte nichts. Die Direktorin drehte sich langsam zu Bree um. Ohne Solida anzusehen, sagte sie:
„Töte sie.“ Bree zuckte erneut zusammen. Solida blinzelte einmal. Was?
„Wa-“ setzte Solida an, wurde aber unterbrochen als ihr Kopf zu Seite flog. Die Direktorin hatte sie geschlagen.
„Ich gab dir nicht den Befehl, Fragen zu stellen. Ich sagte, töte sie.“ Solida sah zwischen der Direktorin und Bree hin und her. Die war ängstlich zurück gewichen. Dann trat sie einen Schritt auf Bree zu. Die wich weiter zurück.
„Nicht.“ wimmerte sie.
„Bitte, Solida.“ Doch Solida hörte nicht hin. Sie prägte sich ihr Gesicht gut ein. Bree war ein hübsches Mädchen. Sie wäre bestimmt wunderschön geworden. Wäre Solida nicht nach vorne geschossen und hätte ihr Genick gebrochen. Sie fühlte in ihrer Handfläche, wie sich der Wirbel verschob, spürte ihren letzten Atemzug auf ihrem Gesicht. Merkte, wie ihr Körper schlaff wurde und schließlich in ihren Armen hing.
„Lass sie fallen.“ sagte die Direktorin. Solida ließ sie fallen. Dumpf fiel ihr Körper auf den glänzenden Boden, ihr Kopf erzeugte ein widerliches Geräusch, als er aufschlug. Sie drehte sich um, blickte die Direktorin an.
„Gut gemacht. Du siehst, dass passiert, wenn du Freunde hast. Freunde sind dir im Weg. Gefühle machen dich Schwach. Sie hat dich schwach gemacht. Hast du das verstanden?“ fragte die Direktorin beinahe liebevoll nach.
„Habe ich.“ antwortete Solida ohne Emotionen in der Stimme.
„Sehr gut. Und nun, geh und trainiere.“ Solida verbeugte sich, drehte sich um und verließ den Raum ohne ihrer ehemaligen Freundin eines Blickes zu würdigen.
Solida seufzte schwer. Das war nun etwas mehr als fünf Jahre her. Es war aber auch kein Wunder, dass sie sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte, wo sie doch, genau wie damals, wieder vor der schweren Tür stand und darauf wartete, dass man sie eintreten ließ. Solida war weiterhin perfekt. Und das würde sie auch bleiben. Sie hatte keine Freunde, empfand für niemanden irgendetwas. Keine Empathie aber auch kein Neid oder Hass. Jeder hier war ihr Gleichgültig. Aufgrund dessen hatte sie einen sehr hohen Status in der Akademie. Niemand hatte ihr etwas zu sagen, niemand konnte sie befehligen. Außer die Direktorin. Und die ließ sie nur noch selten Rufen. Solida machte alles selbständig. Und wenn die Direktorin doch mal etwas von ihr wollte, so ließ sie einen Boten schicken. Doch heute wurde sie gerufen.
Auch diesmal stand sie nach der Verbeugung einfach nur da, ohne sich zu rühren.
„Die Jungs der Adonisröschen sind auf dem Weg hier her.“ Die Adonisröschen - Akademie. Die Bruderschule der Engelstrompeten – Akademie. Statt Mädchen, gab es dort nur Jungen.
„Einige dieser Jungen haben das selbe Verfahren durchlebt wie du. Tatsächlich hat keiner von ihnen überlebt. Du bleibst also ein Einzelfall.“ darüber war Solida mehr als erleichtert. Ganz egal, was ihr Auftrag sein würde, es würde einfacherer werden, ihn auszuführen, wenn niemand wie sie ihr in den Weg kam.
„Der Direktor möchte wissen, woran das liegt. Ich will zwei Dinge von dir. Erstens, du wirst die drei Jungs, die den Direktor begleiten werden im Auge behalten. Besonders seinen besten, Egon. Um den Direktor werde ich mich persönlich kümmern.“ ihr Grinsen hatte nichts menschliches an sich. Solida brannte beinahe über vor Neugier. Doch sie zeigte keine Regung.
„Und zweitens, wenn sie wieder abreisen, will ich dass du sie begleitest und herausfindest, was sie in ihrer Schule tun. Du wirst für zwei Monate dort bleiben und mir dann Bericht erstatten.“ Solida nickte. Sie hatte keine Sprecherlaubnis bekommen. Mit einem Lächeln bedachte die Direktorin Solida.
„Hast du noch Fragen?“
„Wann kommen sie an?“ Das Lächeln wurde breiter. Die Direktorin hatte diese Information mit Absicht ausgelassen. Um Solida in eine Falle zu locken. Aber Solida war perfekt.
„In sechs Stunden.“ Solida nickte. Wartete.
„Du bist entlassen.“ damit wandte sich die Direktorin ihrem Computer zu. Solida verbeugte sich und ging aus dem Raum. Ihre schweren, durch Metall verstärkten Stiefel machten kein Geräusch auf dem Boden. Jede von ihnen hatte gelernt, sich lautlos zu bewegen, doch mit dem Gewicht, dass Solida an den Füßen trug, konnte keine von ihnen lautlos gehen. Solida konnte es. Doch sie hasste den Grund dafür. Wenn sie es sich aussuchen dürfte, hätte sie es rückgängig gemacht. Doch wenn man das täte, würde sie sterben. Qualvoll.
Kapitel 1
Solida
Die letzten sechs Stunde verbrachte ich damit, die komplette Schule zu sichern. Unsere Archive mit allen Daten, die Schlafräume der Jüngsten Mädchen, die Küche, überall, wo man uns etwas stehlen oder uns im Schlaf töten oder uns vergiften könnte. Außerdem hatte ich alle meine Waffen geschärft und hatte mich umgezogen. Statt meine bequeme Leggings und das lockere Top zu tragen, trug ich jetzt eins meiner Kampfoutfits. Eine enge, aus dickerem Stoff gemachte Leggings, dessen komplette vordere Seite aus Leder war, ein hautenges Top und Lederhandschuhen mit einer Verstärkung, die meine Handgelenke stützten. Natürlich die schweren Stiefel mit dem Metall. An meinem Gürtel hingen zwei Dolche, Blendpulver und Schlafpulver. Alles in schwarz, wie es sich für eine Assassinin gehörte. Meine Arme waren komplett frei und somit konnte jeder denken, sie wären ungeschützt. Derjenige, der dachte, meine Arme waren meine Schwachstelle, bedauerte ich um ihre Dummheit. Meine blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden und schwang beim Gehen zwischen meinen Schulterblättern hin und her. Ich war bereit.
Ich stand einen Schritt hinter der Direktorin, als der Direktor der Adonisröschen – Akademie und drei seiner Schüler aus einer Limosine stiegen. Ich wusste sofort, wer von ihnen Egon war. Er lief einen Schritt hinter seinem Direktor und erfasste uns alle und das ganze Gelände mit ein paar schnellen Blicken. Sein Blick blieb kurz an mir hängen. Seine Augen waren grau mit ein paar goldenen Sprenkeln. Doch sofort schoss sein Blick an mir herunter und ich erkannte, dass auch er wusste, wer ich war. Kluger Junge. Nur fragte ich mich, ob er wirklich alles wusste. Ob er wusste, was das Verfahren war.
Die anderen beiden Jungen waren kaum ein Problem. Der eine war noch mitten in der Ausbildung, er war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Der andere war in meinem Alter, doch sah ich ihm seine Unsicherheit sofort an. Er schaute sich nervös um und spielte mit dem Ärmel seiner Jacke. Innerlich verdrehte ich die Augen. Brachte ihnen der Direktor etwa keine Disziplin bei? Schließlich blieben die vier stehen.
„Solida wird deinen Jungen ihre Schlafkammern zeigen.“ brach die Direktorin das Schweigen und machte sich nicht die Mühe, mit den Betroffenen zu sprechen. Ich bewegte mein Kinn ruckartig in Richtung Haupteingang und bedeuteten den Dreien mir zu folgen. Egon warf dem Direktor einen fragenden Blick zu. Erst als dieser nickte, setzte er sich in Bewegung.
Die Schlafkammern lagen im fünften Stock. Rasch stieg ich die vertrauten Stufen nach oben und hörte hinter mir die Assassinen der Adonisröschen. Ihre Schritte hallten im Treppenhaus leise wider. Ob sie das mit Absicht taten oder weil sie einfach nicht still laufen konnten, oder wollten, konnte ich nicht sagen. Meine Schritte hinterließen nicht den kleinsten Laut.
„Habt ihr keinen Fahrstuhl?“ fragte plötzlich der Jüngling. Diesmal verdrehte ich die Augen wirklich nur sahen sie das nicht.
„Selbstverständlich haben wir einen Aufzug. Aber wir nehmen immer die Treppen. Assassinen sind nicht faul.“ erklärte ich kühl. Ich spürte plötzlich einen Windhauch, nur ganz leicht, und schon lief Egon nicht mehr hinter mir, sondern neben mir.
„Da hast du wohl recht, aber ist das nicht nervig, jedes Mal die Treppen zu nehmen?“ fragte er und sah mich von der Seite an.
„Nein.“ Der Jüngling gesellte sich auf meine andere Seite.
„Du heißt also Solida. Ich bin Cole.“ erklärte er mit einem anzüglichen Grinsen und stellte seine Stimme ein paar Oktaven tiefer. Unwillkürlich musste ich grinsen. Der flirtete mit mir. Spottend sah ich ihn an.
„Was wird das, Knirps?“ Durch den zufriedenen Ausdruck wusste ich, was er vorhatte. Eine Emotion. Schnell wischte ich das Lächeln weg, bog abrupt ab und sah zu wie Cole gegen eine Mauer lief. Dämlicher Junge.
„Auf dem linken Flügel sind die Schlafkammern der Mädchen. Ihr werdet den Flügel nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis eines Mädchens betreten. Tut ihr es doch, breche ich euch drei Rippen. Einzeln. Der rechte Flügel ist euch allein vorbehalten. Keines der Mädchen darf ihn betreten, mit Ausnahme von mir.“ sagte ich und ging dann in den rechten Flügel. Die Jungs folgten mir, ohne auf meine Drohung einzugehen. Ich wusste nicht, ob es mir erlaubt war, sie zu bestrafen. Aber solange ich keine andere Anweisung bekam, würde ich sie so behandeln, wie die Mädchen.
In der Mitte des Flügels blieb ich stehen. Ich deutete auf drei Zimmertüren auf einer Seite.
„Das sind eure Zimmer. Sucht euch selbst aus, wer in welches geht.“ Dann deutete ich auf die andere Seite des Flügels, auf eine Zimmertür.
„Das ist mein Zimmer, in der Zeit, in der ihr hier seit.“ stellte ich klar. Egon lehnte sich an die Tür meiner gegenüber.
„Du traust uns wohl nicht, was?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Was für eine dämliche Frage.
„Kommt mit. Wir gehen in den Speisesaal.“ Ich hatte mich gerade umgedreht, da sprach mich der nervöse Junge an.
„Ähm… ich heiße übrigens Andin.“ Ich nickte bloß.
Der Speisesaal war im sechsten Stock. Der Saal war komplett gesichert, mit Panzerglas und Mauern, die durch keine Bombe in Stücke gerissen werden konnte. Der Speisesaal war der einzige Ort, an dem alle Assassinen dieser Akademie zusammen kamen. Wenn jemand einen Anschlag verübt, wären wir alle tot und die Engelstrompeten – Akademie hätte alle ihre Assassinen verloren. Nicht das uns jemand eine Träne nachweinen würde. Es ging allein um den Profit.
Der Speisesaal war wie immer aufgeteilt. Die Jünglinge ganz vorne. Je älter, desto weiter hinten saß man. Da unsere Akademie vom dritten bis zum achtzehnten Lebensjahr ging, saßen die dreijährigen ganz vorne. Ich, mit meinen fünfzehn Jahren saß in der dreizehnten Reihe, in wenigen Monaten würde ich in der vierzehnten sitzen. Und ich saß alleine an einem Tisch. Nicht, weil es sonst keine Fünfzehnjährigen gab, sondern weil ich das so wollte. Außerdem meideten alle anderen mich auch. An der Essensausgabe bedeutete ich ihnen wieder, mir zu folgen. Sie setzten sich zu mir an den Tisch. Wir hatten keine Einzelstühle, nur Bänke. Egon setzte sich neben mich und Cole und Andin uns gegenüber. Das Essen war wie immer einfach gehalten. Kein Zucker. Proteine. Vitamine. Alles was der Körper brauchte. Natürlich schmeckte das nicht sonderlich, was die Jungen auch bald feststellten. Angewidert verzogen sie das Gesicht.
„Gewöhnt euch dran. Was anderes gibt es hier nicht.“ erklärte ich und schob mir einen Löffel des Zeugs in der Mund.
Schweigend aßen wir weiter. Ich hing dabei meinen Gedanken nach. Warum genau war der Direktor hier? Ich bezweifelte, dass es wirklich nur an dem Verfahren lag. Aber die Direktorin würde ihn fest im Griff haben, er würde also keine Gelegenheit bekommen, irgendetwas anzustellen. Blieben noch die drei Jungs. Cole war noch ein Kind, bauschte sich auf und versuchte, den Besten zu mimen. Was nicht aufging. Er würde keine große Bedrohung sein. Andin war verschlossen und ruhig. Und sehr nervös. Er könnte versuchen, mich dadurch zu täuschen, aber allein wir er sein Besteck hielt, sah ich, das er mehr Giftmischer statt Nahkämpfer war. Egon hingegen wirkte wirklich wie der Beste. Die anderen beiden benahmen sich in seiner Nähe wie die Mädchen in meiner. Respektvoll. Doch in ihrem Blick sah ich was anderes. Wenn man die Mädchen beobachtete, wie sie mich ansahen, sah man Wut. Wut darüber, dass ich die Beste war, und nicht sie. Bei den Jungs sah ich nur eins. Ehrfurcht. Sie wollten so sein wie er, ihn aber nicht von seinem Platz weg drängen. Es war für die eine Ehre allein neben ihm zu sitzen. Ich kniff die Augen leicht zusammen. Das war Schwach. Andere Leute zu bewundern, so sein zu wollen wie sie war Schwach. Man musste sich auf sich selbst konzentrieren. Seine Stärken fördern, seine Schwächen finden und vernichten. Nur so wurde man zu einem erfolgreichen Assassinen. Meine letzte Schwäche wurde an dem Tag vor fünf Jahren von mir vernichtet. Als ich Bree das Genick brach. Sie war meine letzte Schwäche. Ich wusste nicht, was mit ihr passierte. Wurde sie vergraben, eingeäschert? Ich wusste es nicht. Und ich würde auch nicht fragen. Das ich es wissen wollte, änderte daran nichts. Sie war tot. Fertig. Sie würde es sowieso nicht mitbekommen, wenn ich zu ihrem Grab ginge, sollte sie eins haben.
Ich verbannte die Gedanken aus meinem Kopf und aß weiter. An so etwas sollte ich nichts denken. Niemals.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2018
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