Mama Säuerling
Die Stasiakten Teil 2
Fassungslos sah Manfred sie an. Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, ihr zu sagen, dass auch er manchmal geglaubt hatte, und sogar heute noch manchmal denkt, verrückt zu sein – immer dann, wenn sein Vater ihm in schwierigen Momenten zur Seite stand.
„Egal, wo Vater auch sein mag, er ist immer in unserem Herzen und passt auf uns auf“, sagte er leise. Sie nickte mit Tränen in den Augen.
„Weißt du, einmal stand ein kleiner Junge vor unserer Türe und winkte mit einem Brief. Er sagte, dass er den Brief erst rausrückt, wenn er 10 Mark dafür bekäme, das stände so auf dem Umschlag. Ich hatte damals aber keine 10 Mark – zumindest konnte ich mich damals nicht daran erinnern, wo ich diese zehn Mark finden konnte - und war froh, dass der Bengel sich auch mit ein paar Goschen zufrieden gab.“
Sie zog den Aktenorder zu sich heran und nahm ein vergilbtes und vollkommen verdrecktes Stück Papier heraus, auf dem mit blauer Tinte etwas geschrieben stand. Sie schob es ihm schweigend hinüber. „Und das hier ist der Umschlag!“, sagte sie und legte ihn in seine Hände. Manfred las erst den Umschlag:
Wer diesen Brief findet, möge ihn bitte an folgende Adresse übergeben. Belohnung 10 Mark garantiert -die Dame weiß, wo sie diese finden kann-.
Anneliese Säuerling
Rosenfelder Strasse 12
Berlin
Dann nahm er den Brief an sich und las ihn, auch wenn hier und da einige Wörter unleserlich oder verschwunden waren:
Liebste Lissi,
ich weiß nicht, ob dich diese Zeilen jemals erreichen werden, aber meinem Optimismus zur Folge wird er dich erreichen. Ich kann dir leider nicht sagen wo ich bin, es wäre einfach zu gefährlich für uns alle. Aber ich möchte dennoch, dass du weißt, dass es mir gut geht und dass ich alles Erdenkliche dafür tun werde, um wieder nach Hause zu kommen. Was immer auch passieren wird, ich liebe Euch!
Werner
Manfreds Hand begann zu zittern. Unaufhörlich nahm das Beben in seinen Händen zu und wurde erst gestoppt, als er sich eine Gauloises in den Mund steckte und hektisch nach einem Feuerzeug suchte.
„Nicht....tu das nicht!“, mahnte Anneliese und nahm ihrem Sohn liebevoll die Zigarette wieder aus dem Mund.
„Wer hat...“ Er wagte es nicht, die Frage auszusprechen.
„Wer diesen Brief geschrieben hat? Das fragte ich mich damals auch, denn diesen Brief erhielt ich knapp vier Wochen nach seinem Tod. Aber es war seine Handschrift. Dieses Papier war das einzige Stück Leben, was mir von Werner noch geblieben ist und ich war regelrecht hysterisch deswegen. Doch je mehr Tage vergingen, desto mehr glaubte ich an einen schlechten Scherz. Vielleicht sogar ein dummer Jungenstreich aus der Nachbarschaft. Obwohl es damals kein Kind in unserer Wohngegend gab, dem ich einen derartigen Streich zugetraut hätte.
Wer sich so etwas ausdachte, musste schon einiges auf dem Kerbholz haben. Aber ich hatte damals keinen Anhaltspunkt, nichts, an das ich mich halten konnte, also glaubte ich, dass der Brief wirklich von deinem Vater war. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie ich damals gelitten habe. Ich befürchtete, deswegen immer mehr den Verstand zu verlieren und habe irgendwann versucht, mich damit abzufinden, dass dein Vater tot war. Allein schon wegen dir. Solch einen Gedankenwahnsinn, wie ich ihn erlebt habe, wollte ich dir ersparen.
Außerdem wollte ich dich nicht verlieren und das wäre früher oder später geschehen, wenn ich weiterhin den Tod deines Vaters und somit auch meinen Verstand angezweifelt hätte. Mein Hausarzt Dr. Becker hatte die Überweisung für die psychiatrische Klinik schon angefordert und er stand kurz davor, das Jugendamt zu informieren, aber ich konnte ihn gerade noch überzeugen. Das war allerdings auch das letzte Mal, dass ich bei ihm gewesen bin.
Zum Glück, denn ich hatte das Gefühl, dass die Tabletten, die er mir damals gegen meine Depressionen verschrieb, alles nur noch schlimmer machten. Heute glaube ich sogar, dass er mich absichtlich krank machen wollte, aber vielleicht sehe ich auch schon Gespenster.“
Anneliese Säuerling lachte kurz auf, schüttelte aber dann den Kopf.
„Und eines dieser Gespenster verriet mir sogar, dass die Stasi besonders nach dem Tod deines Vaters ihren Fokus auf uns gerichtet haben muss. Und dieses Gespenst erwähnte nicht nur Dr. Becker als möglichen Spitzel, sondern auch das Jugendamt, das bereits Pläne für eine Zwangsadoption schmiedete.“
„Was meinst du mit Gespenst?“, fragte Säuerling und runzelte die Stirn.
„Ach was, natürlich war es kein Gespenst, das mir diese Information zugespielt hat. Es war eine verzweifelte Sprechstundenhilfe, die die Machenschaften ihres Chefs scheinbar nicht mehr länger mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Sie hat es mir gesagt, danach habe ich Becker nie wieder gesehen.
Ich habe dann einfach damit angefangen, die Sache zu verdrängen und konzentrierte mich auf dich. Ich wollte dich aus der Gefahrenzone schaffen, dir ein besseres Leben bieten, weit weg von all dem Schlechten, was Berlin und unsere ganze Geschichte umgab. Ich wusste, uns blieb nur die Flucht. Allein die stumme Planung brachte mir einen Schweißausbruch nach dem anderen. Ich hatte solche Angst. Und es fiel mir so unsagbar schwer, diesen kleinen Koffer zu packen und zu wissen, dass die Reise ins Ungewisse gehen würde.
Aber ich redete mir ein, dass der Inhalt dieses Koffers uns in ein neues und besseres Leben begleiten würde. Der Inhalt dieses kleinen Koffers würde das Einzige sein, was wir dann noch, neben den Kleidern an unseren Körpern, besitzen würden. Ich habe also nur das Nötigste mitgenommen. Eben all das, was in so einen kleinen Koffer passte. Aber alles musste auch gleichzeitig glaubhaft aussehen und glaubhaft klingen.
Der kleine Junge, der Urlaub bei seiner Tante im Westen machte. Alles andere mussten wir zurücklassen, selbst meine eigene Kleidung musste dort bleiben. Doch diesen Brief, den habe ich immer bei mir behalten, versteckt in einem kleinen Fach in deinem Koffer.
Und immer dann, wenn ich glaubte, es geht nicht mehr, habe ich diesen Brief hervorgeholt und ihn gelesen und mir dabei eingeredet, dass Werner ihn wirklich geschrieben hat und dass er sehr bald kommen würde. So verrückt es auch klingt, mein Junge, daran habe ich fast fünfzig Jahre geglaubt...und seit einigen Tagen bin ich sogar überzeugt davon.“
„Du bist überzeugt?“, fragte Manfred leise und vom Schock gezeichnet.
Sie nickte geheimnisvoll. „Ja mein Junge, die Antwort steht einmal hier drin...“, sie tippte auf die Akte. „Und einmal hier!“ Sie legte behutsam die Hand auf ihr Herz und senkte den Kopf.
„Ich verstehe nicht...“
„Ich habe lange gebraucht, bis ich durch alle diese Aufzeichnungen, Briefe und Infos an die Staatsicherheit durchgestiegen bin, du weißt doch, meine Augen sind auch nicht mehr die besten. Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass die heutzutage die Augen mit dem sogenannten Laser behandeln können? Ich bin ja nicht so für diesen neumodischen Kram, aber wenn sie damit vermeiden können, dass ich eine Brille brauche, um meine Brille auf der Nase zu finden, dann...“
„Mama!“, unterbrach Manfred. „Was hat dich überzeugt, dass Vater nicht tot ist?“
„Tut mir leid, mein Junge. Du willst wissen, was mich überzeugt hat? Mein Gott, sie haben uns wirklich auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie wussten sogar, wann ich mit Christel telefonierte und wann und wie oft Werner das Haus verließ. Und das war erst der Anfang von Piek/Ulbricht und seinem Regime.
Ich weiß nicht, wie oft ich den vermeintlichen Brief von deinem Vater und auch den Umschlag gelesen habe. Dieser Satz, die Dame an der Tür weiß, wo sie die 10 DM finden kann, brachte mich immer wieder aufs Neue ins Grübeln. Und mit dem Grübeln kamen auch die Zweifel an der Echtheit des Schriftstücks. Ich kann es mir nicht verzeihen, dass ich erst mit dieser Akte darauf kommen musste, was es mit diesen 10 Mark auf sich hatte.“
Sie blätterte in der Akte und schob ihm schließlich ein Schriftstück unter, das mit einer Schreibmaschine geschrieben war, bei der der Buchstabe „e“ schwächelte und teilweise sogar ganz verschwand. „Hier lies“, sagte sie und Manfred begann zu lesen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich melde mich heute bei Ihnen in anliegender Sache, möchte aus persönlichen Gründen meinen Namen aber verschweigen. Es geht um Herrn Werner Säuerling, Rosenfelder Strasse 12. Ich habe das Gefühl, als sei dieser Mann in Dinge verwickelt, über die ich mir für gewöhnlich große Sorgen mache.... Deshalb teile ich Ihnen heute mit, dass ich beobachtet habe, wie Werner Säuerling Dokumente oder Schriftstücke einrollte und in einem Spazierstock verschwinden ließ und kurz darauf mit diesem Stock das Haus verließ. Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um staatsfeindliches oder gefährliches Material handelt. Mir ist bekannt, dass Herr Säuerling während des Krieges an der Entwicklung von Raketen in der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde auf Usedom maßgeblich beteiligt war. Die Sache mit dem Spazierstock könnte auf ein hohes Risiko für die Staatsicherheit hinweisen und ich würde eine baldige Verhaftung empfehlen.
Mit freundlichen Grüßen
Anonym
„Fritz Sieper“, sagte Anneliese und sie klang verbittert. „Dieser feine Herr war einmal unser freundlicher Nachbar.“
„Woher weißt du das? Es ist doch anonym“, warf Manfred ein.
„Das defekte „e“ hat ihn verraten. Immerhin war ich einmal bei ihm und habe ihn gebeten, mir einen Brief zu schreiben – wir konnten uns den Luxus einer Schreibmaschine damals nicht leisten.“
Manfred nickte wissend.
„Doch dass uns jemand die Stasi schon gleich zu Anfang auf den Hals hetzten wollte, ist hier nicht der entscheidende Punkt, sondern dieses vermeintlich geheime Schriftstück in Werners Spazierstock.“
Sie stockte. Tränen liefen ihr wieder über die Wangen, bevor sie plötzlich zu lachen anfing. Sie lachte so herzlich und laut, dass Manfred nicht wusste, ob er jetzt mit ihr weinen oder auch lachen sollte. Er tat nichts dergleichen und starrte sie nur verwundert an.
„Verzeih mir mein Junge“, sagte sie und wischte sich mit einem Taschentuch über Mund und Augen. „Die ganze Sache ist so verrückt und grotesk, dass sie fast schon wieder lustig ist. Denn Werner hatte in der Tat einen Spazierstock, den man in der Mitte aufschrauben und auch etwas darin verstecken konnte.
Diesen Stock hatte er damals, als er noch ein Junge war, von seinem Großvater geerbt. Es war ein Stück aus dem 18. Jahrhundert und mit einem Silberknauf versehen und er hatte diesen einzigartigen Schraubverschluss in der Mitte.
Werner hat mir erzählt, dass er dort erst heimlich Schokolade und später auch mal ein paar Gramm Tabak versteckt hatte und dass er ihm immer gute Dienste leistete. Und damals, an dem Tag, als er mich fragte, ob ich ihn heiraten wollte – mein Gott wir waren noch so jung - hat er diesen Gehstock hervorgeholt, einen Zehner von seinem Lohn abgezwackt und ihn hineingeschoben. Und er sagte: „Anneliese, sollten wir nicht genug Geld haben, wenn es so weit ist, werden wir zumindest diesen Zehner haben für eine ganz besondere dringliche Angelegenheit.
Ich stecke den Zehner jetzt hier rein, wir dürfen ihn nur nicht vergessen. Später hat er zu diesem Ostzehner einen vom Bruder geschickten Westzehner dazu gesteckt.
Ich hatte diese Zehner vergessen und kann mir das heute nicht mehr verzeihen. Der Zehner....die Dame weiß, wo dieser zu finden ist. Natürlich. Sein Stock lag zu diesem Zeitpunkt immer auf dem Schrank im Schlafzimmer.
Ob dieser Stock heute noch existiert, weiß ich nicht, wir mussten damals alles zurück lassen. Aber ich wette, wenn es diesen Stock noch irgendwo gibt, werden zwei Zehnerscheine in seinem Inneren zu finden sein. Das Geld, an das ich mich erinnern sollte, wenn jemand mit dem besagten Umschlag vor der Türe stehen würde. Und das ist für mich der Beweis, dass der Brief wirklich von
ihm war.
Nur ich und Werner wussten von der Existenz dieses Geldverstecks, sonst niemand.“
„Noch etwas, es war seine Handschrift, die kannte ich sehr genau“
Manfred wollte etwas sagen, aber bekam keinen Ton über seine Lippen. Zu tief saß der Schock, zu groß war der Unglaube und zu stark wuchs die Hoffnung, seinen Vater doch noch irgendwie, irgendwo in die Arme schließen zu können.
„Nur wir beide wussten es, und ich habe es vergessen...“, wiederholte Anneliese bedrückt. „Wie konnte ich nur!“
Dann fuhr sie fort: „Und dass der Gehstock in dieser Akte erwähnt wird, kann ich mir nur so erklären: vielleicht hat dein Vater den Stock doch, ohne dass ich es mitbekommen habe, vom Schrank geholt und dort noch etwas hinein geschoben. Unser Schlafzimmerfenster lag im genauen Blickfeld vom Haus gegenüber, wo Sieper wohnte. Wer weiß, vielleicht hatte er sogar ein Fernglas dafür benutzt, um deinen Vater zu beobachten.
Herrgott, wieso habe ich mich nie für diesen Stock interessiert? Wieso habe ich ihn denn nur, als wir geflüchtet sind, zurückgelassen? Vielleicht steckt dort die Antwort auf all unsere Fragen drin?“
„Er ist also nicht tot?“, fragte Manfred und in seiner Stimme lag ein Flehen nach Begreifen. „Du sagst es mir jetzt hier, nach all den Jahren, dass mein Vater damals nicht erschossen wurde? Und dein einziges Beweismittel ist ein Brief und die Erinnerungen an einen Gehstock aus dem 18. Jahrhundert?“
"Ich weiß, dass es verrückt klingt. Und ich kann auch verstehen, wenn du mich jetzt für verrückt hältst, aber ich bin mir ganz sicher, dass hier seit 50 Jahren etwas nicht mit rechten Dingen zugeht."
Manfred lachte verständnislos auf und schüttelte den Kopf. "Und was haben sie deiner Meinung nach mit ihm gemacht? Ihn irgendwo weggesperrt, sodass er sich über 50 Jahre lang nicht melden konnte?"
Anneliese seufzte, dann erklärte sie: "Dein Vater war ein begehrter Physiker. Die Zeit in Peenemünde hat ihm viel Anerkennung und auch ein hohes Ansehen gebracht. Die Stasi wird ein großes Interesse an seiner Arbeit gehabt haben. Vielleicht wollten sie ihn für ihre teuflischen Zwecke benutzen?"
"Oder gerade doch deswegen aus dem Verkehr ziehen....", schob Manfred halblaut nach. “Mama, ich weiß, die Hoffnung stirbt zuletzt. Und deine hat schon so viele Jahre durchgehalten. Aber um realistisch zu bleiben: selbst wenn deine Theorie stimmt und Vater wirklich Opfer der Staatsmacht wurde, die Zeiten sind seit 1989 vorbei?
Wo ist er, wenn er nicht doch ums Leben gekommen ist? Wer sagt dir, dass sie ihn nicht damals doch noch getötet haben? Wer sagt dir, dass er nicht schon vor Jahren an einem Herzleiden erkrankte oder auf einem anderen Weg ums Leben kam?"
"Darauf kann ich nur eine Antwort geben: mein Gefühl sagt mir, dass er noch lebt. Außerdem muss es doch einen Grund geben, warum mir jemand anonym diese Akte hier schickt!"
Manfred dachte nach und es fiel ihm schwer, seine plötzlich auftauchenden Gedankengänge in die richtige Richtung zu verfolgen.
Er erinnerte sich an seine Träume, in denen ihm sein Vater unzählige Male erschienen war und ihm als helfende Hand zur Seite stand. Selbst damals, als er mit dem Tod kämpfte, war es auch Werner Säuerling, der ihn aus den Tiefen dieser Komahölle herausgerissen und zurück ins Leben geholt hatte.
Ja, aus welchem Grund verschickt jemand Stasiakten!? Und vor allem: wie konnte derjenige überhaupt in den Besitz dieser Akte kommen? Standen diese Schriftstücke nicht unter Staatsverschluss und können nur auf schriftlichen Antrag vom Betroffenen selbst eingesehen werden? Immer wieder blätterte er in den Schriften, die gespickt waren mit Anmerkungen und Mitteilungen über das Leben seiner Eltern. Und sie endeten abrupt im August 1961.
In dem Jahr, als sie über die Grenze in den Westen geflohen waren. Die einzige Erinnerung, die er noch an diesen Tag hatte, war immer noch das schallende Gelächter des Grenzsoldaten und die Panik in den Augen seiner Mutter. Er hatte damals nicht verstanden, worum es ging. Er hatte nur verstanden, dass es in diesen Sekunden um alles, dass es um ihrer beider Leben ging. Heute wusste er, dass dieser Tag seinem Leben eine entscheidende Wende gegeben hatte und dass er seit jenem Tag auch ein anderes Leben führen durfte, als seine Schulfreunde aus Berlin es führen mussten.
"Hat derjenige dir nur diese Akte geschickt? Keinen Brief, keine Erklärung?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nichts, nur die Akte! Nenn mich jetzt verrückt. Vielleicht bin ich zurzeit auch nur verwirrt und sehe Gespenster, aber es kommt mir irgendwie vor als sei die Akte Erklärung genug.
Nur, dass ich diese Erklärung nicht finden, oder nicht entziffern, geschweige denn verstehen kann. Ich brauche deine Hilfe, Manfred. Vielleicht finden wir hier irgendwo einen versteckten Hinweis, eine Antwort oder etwas, was uns weiterhelfen kann."
„Und du hast wirklich keine Idee, wer dahinter stecken kann? Derjenige, der dir diese Dokumente hat zukommen lassen, muss sich doch irgendetwas dabei gedacht haben. Fazit: Der geheimnisvolle Versender ist auch gleichzeitig der Schlüssel. Du sagst, die Akte sei per Post gekommen?"
Anneliese schüttelte den Kopf. Nicht direkt, ein Kurierdienst hat den Umschlag abgegeben.“
"Musstest du dafür unterschreiben?"
Sie schüttelte wieder den Kopf. „Nein, er hat es mir ohne Unterschrift ausgehändigt.“
"Das habe ich mir gedacht. Hatte der Kurierdienst denn wenigstens einen Namen?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Darauf habe ich nicht geachtet. Der Mann kam mit dem Fahrrad und trug auch Fahrradkleidung.“
"Das habe ich befürchtet. Mit anderen Worten. Es gibt keinen Absender, keinen Versandnachweis und somit auch keinen Anhaltspunkt.“ Anneliese seufzte und ballte ihre Faust samt Taschentuch.
Manfred begann wieder, in der Akte zu blättern. Verglich Daten, versuchte eine Verbindung herzustellen und suchte nach dem Schalter, der seinen Denkapparat wieder auf Kurs brachte. Doch er verstand nichts von dem, was da stand. Er kannte die Namen nicht und teilweise wusste er auch nicht, welchen Sinn die Informationen hatten.
„Schau mal, hier ist sogar eine Aufstellung, in der steht, was du damals für Lebensmittel beim Händler eingekauft hast. 2 Päckchen Margarine, Wurst und 2 Liter Milch.“ Manfred lachte verständnislos auf. „Wer zum Teufel macht so etwas?“
Seine Mutter sah in traurig an. „Muss ich dir darauf heute wirklich noch eine Antwort geben?“ Er schüttelte den Kopf.
„Wie gut kanntest du Sieper?“, fragte er schließlich neugierig und nahm wieder den Brief des vermeintlichen Nachbarn, geschrieben mit einer Maschine, die ständig das e....verschob.
"Moment mal!" Manfred erstarrte und löste das anonyme Schriftstück aus dem Hefter.
„Was sagtest du, hatte Sieper für ein Schreib-maschinen- Modell?“
„Was für ein Modell die Schreibmaschine war? Junge, du kannst vielleicht seltsame Fragen stellen. Ich habe einmal einen Brief mit dem Gerät geschrieben. Es war eine Schreibmaschine, eine altes Modell. Ein solches, mit dem man sich noch die Finger wund tippte.
Manfred sprang auf und lief aufgeregt mit dem Blatt zum Fenster und hielt es gegen das Licht.
„Manfred was tust du da? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du in diesem in Worte gefassten Schund eine Art Geheimschrift entdeckst?“
„Dieser Brief wurde eindeutig mit einer IBM 72 geschrieben!“
„Mit einer was?“
„Die IBM 72 ist mit eines der ersten Modelle der elektrischen Schreibmaschinen. Sie arbeitet mit Karbonbändern. Die Schreibmaschinen vor 1980 haben alle noch mit den alten Gewebefarbbändern geschrieben.“
Anneliese starrte ihren Sohn verständnislos an in der Hoffnung, in seinem Gesicht eine Art Anleitung zu finden, die ihr half, seinen Worten und Gedankengängen zu folgen. In ihrem Kopf begann es sich plötzlich zu drehen, wie bei einem Glücksrad, das bei jeder weiteren Runde eine neue Chance auf eine weitere Spur verloste.
„Was meinst du damit, Manfred? Ich verstehe nicht!“
„Dieser Brief wurde weit nach 1961 geschrieben. Er ist eine Fälschung!“
„Eine Fälschung?“ Sie stand langsam auf und ging zu ihm ans Fenster. Dann riss sie ihm plötzlich energisch das Blatt aus der Hand und rief: „Ach Papperlapapp! Eine Fälschung! Wer sollte denn so einen ungeheuren frechen Verräterbrief fälschen und das auch noch so gut, dass das „e“ immer wieder zur Hälfte verschwindet? Wir sind schon so verrückt durch die ganze Sache, dass wir langsam wirklich anfangen, Gespenster zu sehen.
Sieper ist und bleibt ein Verräter! Und wenn ich könnte, würde ich ihm noch heute dafür ins Gesicht spucken...dieser feine Herr!“
„Ich glaube, dass dieser Brief von jemand geschrieben wurde, der uns auf eine Spur bringen will, und ich glaube, ich verstehe langsam auch, auf welche.“
„und die wäre?“
"Dieser Brief hier ist unser Hinweis. Wir müssen den Gehstock finden und die mögliche Botschaft, die er enthält. Jedenfalls steht auf all diesen Seiten nichts davon, dass er gefunden wurde oder ein anderer Hinweis auf seinen Verbleib. Von dem Verbleib von Vater mal ganz zu schweigen. Wer weiß, vielleicht möchte jemand, dass wir annehmen, dass der ehemalige Nachbar der Verfasser dieses Briefes gewesen ist, damit wir seine Spur aufnehmen?"
"Ich bezweifle, dass das Haus in Berlin noch steht und ich bezweifle noch mehr, dass es den Sieper noch gibt. Und sollte es ihn geben, würde er spätestens dann, wenn ich vor seiner Türe stehe, es sich wünschen, nie geboren worden zu sein!" Sie ballte die Faust.
"Mama!", ermahnte Manfred. "Du wirst doch wohl nicht..."
"Und ob ich das werde!", unterbrach sie ihn wütend.
„Mama, der Brief ist eine Fälschung! Und bevor du irgendetwas tun wirst, werde ich, sobald ich kann, nach Berlin reisen und der Sache nachgehen."
"Ich komme mit!"
"Nein Mama, du wirst dir mit Odalys und den Kindern ein paar schöne Tage machen. Tu dir den Stress nicht an."
"Du willst doch nur verhindern, dass ich auf meine alten Tage noch zur Spitzel-Rächerin werde, was? Sie lachte. "Du gönnst deiner alten Mutter aber auch gar keinen Spaß!"
Manfred lächelte müde. "Du hast Recht Mama, das gönne ich dir nicht. Aber ich gönne dir, dass du nach 50 Jahren endlich die Gewissheit bekommst." Dann umarmte er sie, während er in Gedanken schon Rosenrunges Handynummer wählte, um ihm von dieser unglaublichen Neuigkeit zu berichten. Auch wenn es ihre eigentliche Planung vollkommen durcheinander warf - die Lieferung der ersten Fische konnte jede Minute eintreffen - spürte er, dass es an der Zeit war, die Rechnung mit der Vergangenheit zu begleichen, deren Zeche immer wieder an ihm nagte.
"Swetlana?" Anneliese zuckte bei diesem ungeahnten Zwischenruf erschrocken zusammen und sah ihn fragend an. „Was hast du jetzt vor, mein Junge?“ Er winkte ab und schwieg. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Swetlana in der Türe stand und ihn peinlich berührt anlächelte.
"Hast du etwa heimlich an der Türe gelauscht?" Sie schüttelte wild ihren hochroten Kopf, der sich nach dieser Frage in Tomatenfarbe verwandelt hatte. "Nein, Herr Säuerling, das habe ich natürlich nicht!"
"Schade, sonst wüsstest du, was wir beide jetzt dringend brauchen!"
"Zwei mal Küstennebel auf Eis?"
Er sah seine Mutter fragend an und sie lächelte dankbar. "Zwei mal einen doppelten Küstennebel auf Eis." Swetlana nickte und verließ eilig das Zimmer. "Ach, und Swetlana?", rief Manfred ihr mit gespielter Strenge hinterher.
"Ja, Herr Säuerling?"
"Mama, wird für ein paar Tage bei uns bleiben. Mach ihr also bitte ein Zimmer fertig und lies ihr ab sofort jeden Wunsch von den Augen ab, okay?"
Swetlana lächelte erleichtert. Doch noch bevor er das Gespräch mit seiner Mutter fortführen konnte, stand plötzlich Samuel in der Türe. Freudestrahlend fiel er seiner Großmutter um den Hals und drückte Sie. „Oma!!!“
„Huch mein Junge, nicht so stürmisch, die alte Fregatte ist nicht mehr ganz so seetauglich.“ Sie lachte. „Du siehst ein bisschen mager aus, Sammy! Kriegst du hier etwa nicht genug zu essen?“ Manfred rollte liebevoll mit den Augen, dann sah er flüchtig zum Fenster, vor dem sich Ungewohntes regte.
„Ach ja, Papa. Ich wollte dir sagen, dass vor unserer Haustüre ein Wagen ist, auf dem Spezial-Kurier steht. Der Fahrer sagt, er hätte ein paar Zitteraale an Bord, wo er die Tiere abliefern könnte.“
Manfred riss mit einer Mischung aus erschrockener Begeisterung die Augen auf und rannte, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, an seiner verblüfften Mutter vorbei. Wenige Minuten später zückte Manfred sein Handy und sagte: „Georg, du musst bei dir abbrechen und sofort vorbei kommen. Die ersten Aale sind da! Jetzt wird es ernst.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mama Säuerling packt endlich aus und klärt Manfred auf. An Hand der Stasiakten gibt es neue Erkenntnisse, dass der Tod des Vaters, vielleicht nur eine Entführung des Raketenfachmanns, sein könnte. Der Vater könnte noch leben.?