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Rache an Goldmann

Georg blickte João scharf in die Augen. Einen Josef Goldmann konnte man damals zur Rede stellen, selbst wenn dieser zu viel Caipirinha getrunken hatte und der Bardame unter den Rock fasste. Einen Josef Goldmann konnte man zur Rede stellen, wenn dieser sich wieder in Hassparolen über die deutsche Politik verhedderte und man konnte einen Josef Goldmann auch zur Rede stellen, wenn er bei Tisch einen fahren ließ. Aber einen Häuptling João, dem konnte man nicht ans Bein pinkeln, das jedenfalls hatte er damals gesagt, als sie ihm zwei Tage später diesen gewissen Zur-Rede-Stell-Besuch abstatteten.

Er, Manfred und auch Winston waren gekommen, um noch den letzten Rest seiner Ausrüstung abzuholen. „Sollen wir nicht lieber mit der Polizei wiederkommen?“, hatte Winston noch vorgeschlagen. Sie aber hatten abgelehnt. Sie hätten es wissen müssen. Nein, er hätte es wissen müssen. Er hatte so vieles gelesen. Genug, um zu wissen, wie die brasilianische Mafia gegen Widersacher vorgeht.

Die Brutalität, die Kaltschnäuzigkeit und auch welche Gefahr von dieser Untergrundorganisation, deren Haupt-Einnahmequelle genau solche Geschäfte waren, die Winston beschrieben hatte. Und auch er, Georg Rosenrunge, hätte es wissen müssen, dass man nicht so leichtfertig einem Drahtzieher der kriminellen Szene - auch wenn er ein Deutscher war - mit erhobenem Finger entgegen treten sollte. Aber sie hatten es getan und letztendlich dafür büßen müssen.


Es hatte nur knappe zwei Minuten gedauert, bis João den Vorwurf der Drei angehört, aufgenommen und schließlich zu einer Meinung verarbeitet hatte. Und es dauerte keine weitere zehn Sekunden, bis sich seine Hand hob und daraufhin ein Befehl ausgesprochen wurde.
Ich hätte es wissen müssen! schoss es Rosenrunge auch jetzt wieder durch den Kopf.

Wieder kamen Erinnerungen hoch. Wie sie sich alle drei plötzlich in der Gewalt seiner Untertanen befanden, die sie mit festen Griffen durch ihr Dorf schleiften und sie schließlich in ein Erdloch warfen. Josefs, nein Joãos, eigene Kreation eines Kerkers - den Ort, den er für gewöhnlich benutzte, um seine ungehorsamen Frauen zu züchtigen oder in Ungnade gefallene Anhänger zu foltern. Das Loch im Boden war tief. Zu tief, als dass man einfach hätte hinaufklettern können. Die Wände waren porös, feucht und rutschig und ehe man sich versah, konnte der Fluchtversuch mit Knochenbrüchen enden oder mit einem Speer, der sich von oben tief in die rechte Schulter oder ins Bein bohrte.

Er dachte plötzlich an Winston. Wie er damals nach den ersten zehn Stunden wimmernd in der hintersten Ecke dieses Drecksloches saß und von seiner kleinen Schwester erzählte, der er versprochen hatte, heil und unversehrt wieder nach Hause zu kommen. Und er erzählte auch von seiner Nichte und dass die beiden die einzige Familie waren, die er noch in England hatte.

Der Rest, seine Frau und sein Sohn, seien 1987 durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Und er hatte sich dort unten so in Rage und in alte unverarbeitete Trauer geredet, dass er plötzlich anfing durchzudrehen.

Immer wieder hatte er versucht die Wände hinauf zu klettern, war abgerutscht, schlug sich dabei Ellenbogen und Knie auf und hatte dennoch wieder Anlauf genommen. Er wusste nicht, wie lange João bereits dort oben am Rand gestanden und ihm dabei zugesehen hatte, bis er schließlich wütend nach dem Speer griff und ihn gezielt auf Winstons Unterschenkel richtete.

Niemals wieder würde er diesen Schrei und dieses schmerzverzerrte Gesicht vergessen. Und er würde wohl auch niemals wieder dieses schallende Gelächter vergessen. „So etwas macht man eben mit Verrätern“, hatte ihm João noch hinunter gerufen. Sag, hat dir die Queen etwa nicht beigebracht, dass man nicht Sachen ausplaudert, von denen man keine Ahnung hat?" Winston hatte darauf nicht geantwortet.

In den ersten Stunden nach diesem Vorfall war es wohl noch das Adrenalin, was Winstons Wunde betäubte. Säuerling hatte im Anschluss das Bein so verbunden, wie er es einst in einem Erste-Hilfe-Kurs für Survival-Camper gelernt hatte. Aber er wusste, dass sich die Wunde entzünden würde, wenn sie nicht von einem Arzt desinfiziert und versorgt werden würde. Sein Hemdsärmel war nicht das ideale Verbandszeug.

Die Wunde war tief und die Spitze des Speeres verunreinigt. Außerdem hatte Manfred gesagt, dass er sich sicher war, dass durch die Wucht des Speers auch Muskelfasern durchtrennt worden waren. Was für eine Scheiße!

Unendlich viele Stunden vergingen, in denen sie tatenlos in diesem Loch hockten und darauf warteten, dass endlich etwas passieren würde. Vielleicht die Einsicht, eines durchgeknallten Deutschen mit Häuptlingshöhenflügen, der sie bereitwillig gehen ließ und sich mit Händedruck bei jedem entschuldigte? Nein, von dieser Hoffnung hatte sich Rosenrunge bereits in dem Augenblick verabschiedet, als João seinen Anhängern mit kaltem Blick und tonloser Stimme den Befehl gab, sie zu packen.

Es klang zu überzeugend, als dass es eine Inszenierung zum Abschrecken hätte sein können. Aber auf was hatten sie sonst gewartet? Hätten sie die Zeit nicht besser nutzen können, um das zu verhindern, was dann folgte?

Rosenrunge dachte nach und erinnerte sich:
Winston hatte starke Schmerzen, aber versuchte, sie so gut wie möglich zu ertragen. Er tat es, indem er immer wieder laute Fluchsalven gen Himmel schickte, und João immer wieder zum Kampf aufforderte. Irgendwann stand João wieder am Rand und blickte grinsend auf sie hinunter, bevor er sich seufzend im Schneidersitz niederließ und sich feierlich eine Waffe bringen ließ.

Seine Anhänger triumphierten und feuerten ihn an.
„Was seid ihr nur für jämmerliche Scheißhaufen?“, hatte er gesagt und spuckte die Reste von Kautabak in den Abgrund. „Und deshalb habe ich nachgedacht. Ich war mir nicht sicher, wie ich Euer Schicksal hier besiegeln sollte, immerhin haben wir drei uns eine Zeitlang ganz gut verstanden, nicht wahr? Außer Winston, dieser kleine ängstliche Scheißer.

Der ging mir von Anfang an schon auf den Sack. Ich hasse Engländer! Sie meinen grundsätzlich immer, sie seien etwas Besseres, nur weil sie einmal jährlich vor der Queen den Hut ziehen. Um Säuerling tut es mir ein kleines bisschen leid. Hast du deine kleine Odalys inzwischen endlich gekriegt oder lässt sie dich immer noch nicht ran? Und was sind deine Zukunftspläne, Georg?

Bei dir tut es mir übrigens am meisten leid, denn wir zwei wären wirklich das perfekte Dreamteam ...Falls ihr es noch nicht wusstet: Ich habe kein Problem damit, jemanden aus dem Weg zu räumen, besonders dann, wenn er zur Last wird. Glaubst du mir das Georg?“
Er hatte ihm nicht geantwortet. Er hatte geschwiegen. Er hatte deswegen geschwiegen, weil ihm klar wurde, dass, egal welche Antwort er auch gegeben hätte, nicht verhindert würde, was João ohnehin schon längst geplant hatte. Oder etwa doch?

Rosenrunge versuchte die Bilder vor seinem inneren Auge zu stoppen. Er wollte es nicht sehen. Er hatte es in den letzten Jahren oft genug wieder sehen müssen. Nachts in seinen Träumen und manchmal auch am Tag sah er dieses Szenario. Die Bilder tauchten wie aus dem Nichts auf und sie ließen erst wieder von ihm ab, wenn Kathrin ihn in die Arme nahm oder seine Kinder ihn bei Laune hielten.

Und manchmal waren es auch die Tabletten, die der Arzt ihm verschrieben hatte, damit genau diese Bilder nicht unkontrolliert immer wieder kamen. Aber jetzt waren sie da, deutlicher denn je, denn der Verursacher stand unmittelbar vor ihm. Sein schlimmster Alptraum, den er einst hinter sich gelassen zu haben glaubte, hatte an dieser Stelle wieder begonnen.

Damals war es Winston, der in diesem Augenblick in einen hysterischen Lachanfall verfiel. Die Schmerzen, die Angst und die Trauer hatten ihm regelrecht den Verstand geraubt, denn er hörte nicht mehr damit auf. Selbst als João seine Waffe auf ihn richtete, kreischte sein Gelächter durch die Ruhe des Urwaldes und prallte als dumpfe Töne an den Wänden des Loches ab. Doch dann ließ João wieder von Winston ab und zielte auf Säuerling, doch Manfred verzog keine Miene. Joào verharrte mehrere Sekunden in dieser Position und richtete dann seine Waffe auf Rosenrunge.

„Mann, lass den Scheiß!, hatte Georg in angefleht. Du hast uns alle in der Hand und wir können dir nichts mehr anhaben. Im Übrigen halten wir alle die Klappe über das, was wir wissen. Keiner hat vor, dich bei der Policia anzuschwärzen. Josef, werd’ doch bitte wieder vernünftig!“

In diesem Augenblick erstarrte Joào. „Wie hast du mich genannt?“ Und dann, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte Joào abgedrückt. Die Kugel schlug unmittelbar vor Georgs Füßen ein. Erschrocken taumelte er zurück und fiel. „Mein Name ist João, du schwarzes Arschloch!“

Und Georg erinnerte sich noch, wie er mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug und unendlich lange brauchte, um wieder klar denken und sehen zu können. Der erste Schuss ging daneben und er wusste, dass er daneben gehen sollte. Aber er wusste auch, dass der zweite treffen würde. Als sich der zweite Schuss löste, flog ihm keine Erde entgegen und auch das splitternde Geräusch war ausgeblieben.

Er hört nichts, außer dem dumpfen Knall, der sich noch meilenweit durch den Wald drängte und an Felswänden abprallte, um sich dann in noch weitere Ferne zu verbreiten. Erschrocken blickte Rosenrunge an sich hinunter. Keine Einschusslöcher, keine Verletzung. Auch Säuerling stand immer noch an der gleichen Stelle, als wäre er dort festgewachsen. Und Winston...
Diese Stille...
Kein Gelächter...

„Alles in Ordnung mit dir, Georg?“, hörte er Manfred dicht hinter seinem Kopf.
„Ja, genau! Was ist mit dir Georg?“, rief Joào und schubste ihn unsanft nach hinten. “Hat es dir auf einmal die Sprache verschlagen? Du hattest doch früher auch immer so ein großes Maul.“ Joào grinste und während er das tat, bohrte sich plötzlich der Lauf seiner Pistole in Georgs Hals.

Er spürte, wie sich das kalte Eisen in seine Haut brannte, aber es ließ ihn kalt. Nein, er würde jetzt nicht in Panik geraten. Nicht schon wieder. Er würde die Kontrolle behalten und darauf hoffen, dass sich ihnen dieses Mal eine bessere Chance bot, ihm zu entkommen. Egal was dieser Mistkerl tat, er würde es dieses Mal verhindern. Das war er Winston, das war er den Yukpa und das war er seiner Frau schuldig.

Damals, als diese endlos langen Sekunden vergangen waren, bis er registriert hatte, dass Winston sich nicht mehr regte und schließlich auch verstand, dass Joào ihn mit einem Schuss in den Kopf getötet hatte, packte auch ihn der Wahnsinn. "Du hast ihn umgebracht, du Schwein!", hatte er gebrüllt und in seiner Wut und Verzweiflung nach allem gegriffen, was ihm in die Finger kam.

Ein Stein traf Joào am Kopf und zwang ihn für einen Augenblick in die Knie. Erst die schallende Ohrfeige von Säuerling hatte ihn mit einem Male wieder zurück in die Realität geholt. Und die Realität war, dass sie immer noch gefangen in diesem Loch waren und sich dieses nun mit einem Toten teilten. Ein toter Engländer, der nichts anderes gesucht hatte, als Anerkennung und das Abenteuer und der letztendlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Und jetzt waren sie es, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und er war sich sicher, dass er drauf und dran war, der nächste Tote zu werden, wenn er sich nicht beruhigen würde, das jedenfalls hatte ihm Säuerling klar und deutlich zu Verstehen gegeben. Joào hatte sich inzwischen wieder aus seinem leichten Schockzustand gelöst.

Der Stein hatte einen kleinen blutigen Fleck auf seiner Stirn hinterlassen. Mit einem besinnlichen Lächeln im Gesicht fuhr er mit dem Handrücken über die Wunde und betrachtete das Malheur mit wachsendem Missmut. „Das war eine sehr dumme Idee, Rosenrunge!“, sagte er und hob die Waffe erneut. Aber Joào schoss nicht. Im Gegenteil. Er tat etwas, was Georg im ersten Augenblick als vollkommen irrational ansah und den hinterhältigen Sinn und Zweck erst später verstand. Er warf ihm die Waffe entgegen.

Er holte einfach aus, und schleuderte den Colt in den Abgrund, als sei es ein lästiges Etwas, was seinen Dienst nicht mehr erfüllte und schon längst ein Fall für den Abfallkorb sei. Säuerling reagierte skeptisch und regte sich nicht. Doch Rosenrunge hatte seine Chance erkannt und hechtete der Waffe entgegen, die irgendwo zwischen Winstons Beinen und aufgewühltem Dreck aufgeschlagen war.

„Lass sie liegen!“, zischte Säuerling und versuchte, ihn am Arm zu packen. Doch er hörte ihn nicht, er hörte nur sich und seine andere starke Hälfte, die ihm befahl, diese Waffe aus dem Dreck zu ziehen und sie auf den Mann zu richten, der schon lange genug ein falsches Spiel mit ihnen gespielt hatte. „Lass sie liegen, Georg!“ Aber Georg ließ sie nicht liegen.

Er griff gezielt nach der Waffe, hielt sie in seinen zittrigen Händen und war bereit, zu schießen. Doch zu seiner Enttäuschung musste Rosenrunge feststellen, dass das Magazin leer war. So leer, dass noch nicht einmal Russisches Roulette Sinn damit machte. Im gleichen Augenblick regneten von oben die dazugehörigen leeren Hülsen herab, dicht gefolgt von einem zufriedenen Lachen.

„Gratuliere Georg, du bist wirklich dümmer, als ich es gedacht habe. Ich dachte immer, ihr Amis seid nicht auf den Kopf gefallen, aber das scheint bei Mischlingen wohl nicht der Fall zu sein.“ Georg verstand nicht und starrte nur mit wachsender Wut auf die nutzlose Waffe in seiner Hand. Es war Säuerling, der seine Sprache wiedergefunden hatte und sagte: „Was willst du von uns, Joào? Warum tust uns allen nicht den Gefallen und bringst das hier zu Ende?“

„Du meinst, euch töten?“, lachte Joáo vergnügt. „Ich kann euch leider nicht töten. Zu viele wissen, dass ihr beide hier seid. Ich gehe davon aus, dass ihr genug Leute darüber informiert habt, dass ihr auf dem Weg zu mir seid. Solltet ihr verschollen sein, werden sie als Erstes hierher kommen und wohl mich für euer Verschwinden verantwortlich machen. Mein Frieden wäre für alle Ewigkeit gestört und das kann und will ich nicht zulassen.

Per Satellitentelefon habe ich soeben die Policia in Bogotá informieren lassen, dass es hier, in meinem Dorf, eine Schießerei unter rivalisierenden Goldsuchern gegeben hat, wobei eine Person, ein Engländer, getötet wurde. Als die beiden Verantwortlichen, zwei Deutsche, sich aus dem Staub machen wollten, habe ich beherzt eingegriffen und sie dingfest gemacht. Das gibt mindestens Lebenslänglich!“

„Damit kommst du nicht durch!“, hatte Rosenrunge gerufen und sich dabei selber erschrocken, wie überzeugend diese Aussage klang. Und er hatte Joào daraufhin scharf in die Augen gesehen und sehr schnell feststellen müssen, dass seine Überzeugungskraft in dem Augenblick schwand, als er die Waffe in seiner Hand betrachtete, die nun übersät mit seinen Fingerabdrücken sein musste. Erschrocken ließ er sie fallen.

„...und wir alle haben es gesehen, wie du den armen Winston niedergestreckt hast...“, er hatte Joàos Stimme nur noch aus weiter Ferne gehört.
Und er hörte sie auch jetzt nur noch aus weiter Ferne, weil sein abgrundtiefer Hass gegen diesen Mann seine Worte nicht an sich herankommen lassen wollte.
„Ich fragte, ob es dir die Sprache verschlagen hat, Nigger?“, fragte Joào wieder. „Sich der eigenen Dummheit wieder bewusst zu werden ist hart, nicht wahr? Aber mach dir nichts daraus, aus Fehlern lernt man bekanntlich. Das nächste Mal weißt du Bescheid, obwohl mir gerade einfällt: es wird kein nächstes Mal geben, jedenfalls nicht für euch.

Ich habe nämlich gelernt und mir geschworen, dass ich nicht mehr so stümperhaft arbeiten werde, wie in der Vergangenheit. Nie wieder lasse ich so kleine lästige Pelzläuse wie euch entkommen. Ihr seid so lästig, wie das Land, aus dem ihr kommt und habt wirklich nichts Besseres zu tun, als mir auf den Sack zu gehen und meine Geschäfte kaputt zu machen.“

Den letzten Satz brüllte Joào Georg so ins Gesicht, dass sich ein feuchter Nieselregen seines Speichels auf seine Haut legte und sich dort einzubrennen schien. Für einen kurzen Augenblick hatte Georg das zwanghafte Gefühl, sich das Gesicht abzuwischen, damit diese kleinen Tröpfchen keinen ernsthaften Schaden anrichten konnten, aber es war schon zu spät. Sein Herz begann zu rasen, die Wut hatte sich den direkten Weg in sein Herz gebahnt, um dort gemeinsame Sache mit dem Schmerz der Vergangenheit zu machen.

Es fehlte nur noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen sollte und den hatte Joào ihm geradewegs durch seinen schmallippigen brutalen Mund geliefert. Dieses miese Stück menschlichen Abschaums vor ihm hatte ihn gerade Nigger genannt und ihn angespuckt. „Warum lässt du den Ärger immer so an dich herankommen? Drehe dich einfach um und geh, die Stimme seiner Mutter klang vorwurfsvoll und doch so voller Liebe.

„Oder stell dir einfach vor, du hättest die Macht, ihn mit deinem Saxophon in die Flucht zu spielen!“ Das hatte sie wirklich zu ihm gesagt. Eine liebende Mutter, die nicht wusste, wie schwer es ist, als Schwarzer in einer Welt zu leben, die immer noch stark vom Rassendenken geprägt war und diese Eigenart auch nicht vor einem Internat halt machte.

„Stell dir einfach vor, du hättest die Macht, ihn mit deinem Saxophon in die Flucht zu spielen!“ Unwillkürlich musste er lächeln.
„Was lachst du so blöd, Nigger?!“, fauchte Joào ihn an und gab ihm einen Stoß. Georg taumelte und ein aufgeregtes Zucken ging durch die Menge. Die kleine solidarische Welle von Einsatzbereitschaft, die aber jäh mit hochgehaltenen Waffen im Ansatz gestoppt wurde. Was hätte Vater wohl in diesem Augenblick getan? dachte Georg.

„Mit Sicherheit nicht das, was du jetzt im Sinn hast!“, antwortete eine Stimme irgendwo in seinem Kopf.
Und dann passierte etwas, worüber Säuerling, Pedro und auch Georg noch Jahre später sprechen und staunen würden, denn auch wenn Rosenrunge sich nur einen Hauch von Chance erhofft hatte, war er es, der ihnen die ganz große und einzige Chance bot. Die Chance für einen Showdown der Spitzenklasse.

„Wie hast du mich genannt?“, fragte Rosenrunge leise, kaum hörbar.
Joào grinste und wirkte fast schon erstaunt über Georgs zarte Frage, die für ihn wie eine Art Startschuss war, um fortzufahren mit seiner Provokation. „Ich sagte: Ob es dir die Sprache verschlagen hat, Nigger!“ Es herrschte plötzlich eine erwartungsvolle Stille.
„Was ist mit dir Georg? Hast du etwa ein Problem damit, wenn ich dich Nigger nenne?"
Rosenrunge schwieg.

„Bleib ruhig Georg!“, flüsterte Säuerling und legte ihm behutsam die Hand auf seine Schulter. Und er tat es so, als wolle er damit versuchen, das zu verhindern, was er bereits erahnen konnte und dessen Ausgang so ungewiss war, dass er es nicht zulassen konnte. Er wusste, dass Georg mit der Geschichte von damals mehr zu kämpfen hatte, als er sich eingestehen wollte.

Der Tod von Winston und auch die Todesangst hatten ihm schwer zugesetzt, ihn regelrecht traumatisiert. Und er wusste auch, wie sehr Georg den Mann, der ihm jetzt gegenüberstand und Nigger nannte, fürchtete. Aber er wusste auch, wie sehr er ihn hasste.

Rosenrunge sah Joào an, Joào sah Georg an. Ihre Mienen waren verhärtet, hasserfüllt und zu allem bereit. Joào hielt immer noch den Lauf seiner Waffe an Georgs Hals, während seine Begleiter ihre Mündungen auf alles richteten, was sich um sie herum bewegte. Und es bewegte sich eine Menge. Die männlichen Yukpas umringten die Gruppe in einiger Entfernung, Frauen und Kinder waren in den Schutz der Hütten geflohen.

Und auch wenn es der Situation bei weitem nicht diente, erinnerte sich Säuerling plötzlich an ein Bild aus seiner Schulzeit. Viktor war ein Russe und der damalige Schulhofking. Er war ein Junge, der Hände wie eiserne Schaufeln hatte und ein Kreuz wie ein Preisboxer. Und dieser Viktor stand eines Tages einem Jungen gegenüber, der es gewagt hatte, seine Position in Frage zu stellen. Jemand, der aus heiterem Himmel sagte, dass er nicht der Schulhofking wäre, sondern nur ein dummer Russe mit einem dummen Gesicht und einer noch dümmeren Mutter und ob diese es immer noch jedem besorgen würde, der nur ans Fenster klopfte.

Keiner wusste damals wirklich, was so plötzlich in diesen Mike gefahren war, dass er Viktor derartig angriff, aber es war auch eigentlich egal. Wichtig war nur, dass es wieder einmal „Action“ auf dem Schulhof gab. Doch bevor die beiden Widersacher miteinander kollidierten, bildeten sich zwei Parteien und umringten erwartungsvoll die Streithähne. Und es dauerte auch nicht lange, bis der Kampf begonnen hatte.

Und auch hier spürte Säuerling, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es aus Georg herausbrechen würde. Er spürte das, den ersten Schlag oder den ersten Schuss. Und Letzteres machte ihm plötzlich große Sorgen, denn es gab nur einen, der die Waffe in der Hand hielt und das war nicht Georg.

Ein dumpfer Knall aus nächster Nähe lenkte Joa ab. Auf diesen Moment hatte Georg gewartet. Seine Faust kam so schnell und unerwartet, dass Joào sie nicht einmal hatte kommen sehen. Das Grinsen blieb ihm im Gesicht stecken, als Georgs stählerner - durch den Ehering sogar vergoldeter - Schlag ihn irgendwo zwischen Nase und Oberlippe traf. Joào taumelte und kippte dann wie ein Stein nach hinten und die Waffe fiel aus seiner Hand.

Eine unheimliche Stille durchzog den Urwald. So als müsste die Welt erst noch das Geschehene registrieren, um darauf reagieren zu können, zeitversetzt und mit einer Rückkopplung die - zumindest bei Joào mehr als nur ein unangenehmes Dröhnen im Kopf verursachen dürfte. Noch bevor Georg selbst registrierte, was er gerade getan hatte, brach plötzlich die Hölle los.

"Culo!", brüllte Pedro und stürzte sich auf den schlaksigen Kerl mit der Maschinenpistole. Säuerling half ihm. Und innerhalb von Sekunden, die selbst in einem Zeitraffer Unglaubliches zeigen mussten, hatten auch alle postierten Yukpa-Männer reagiert und in Sekundenschnelle ihre Betäubungspfeile durch ihre Blasrohre geschossen. Der Reihe nach kippten die Männer um, ohne dass sie auch nur einen Schuss abfeuern konnten.

So als hätten die Yukpa-Männer diesen Einsatz zusammen mit Rosenrunge bis in das kleinste Detail geplant, war das Gerangel um die Vorherrschaft schnell entschieden. Selbst als einer der Männer zur Flucht ansetzte und in Richtung Regenwald lief, kam er nur bis zur Dorfgrenze, bevor auch ihm die Betäubung direkt in die Blutbahn geschossen wurde.

„Boom! Boom! Toro Georg!“, rief Pedro als schließlich alle Männer betäubt und gefesselt vor ihnen auf den Boden lagen und nur noch darauf warteten, von der Polizei abgeholt zu werden. „Was zum Teufel ist in dich gefahren, dass du plötzlich so viel Mut unter der Haube hast?“

Georg lächelte und konnte es sich nicht nehmen lassen, sich für einen kleinen Augenblick vor Pedro zu brüsten. „Ja, Kollege! Wenn es darauf ankommt, hab ich es eben drauf. Ich bin besser als deine Corrida de Toros!“

„Es war fast schon zu einfach“, bemerkte Manfred später, als die Policia mit dem Heliokopter eintraf und die Männer abholte. „Meinen größten Respekt Georg. Ich dachte immer, deine zarten Musikerhände wären zu solch einen Schlag gar nicht in der Lage. Verrätst du mir, an was du gedacht hast?“
Georg grinste. „Das willst du wirklich wissen?“ Manfred nickte und sah ihn erwartungsvoll an. „Na los, sag schon!“„An meinen Vater!“

Manfred schwieg, aber später würde er verstehen, was Georg ihm damit sagen wollte und er hätte ihm dann wahrscheinlich geantwortet: „Ja, den kraftvollen Gedanken kenne ich!“

Und ebenfalls später würde sich auch noch herausstellen, dass Joào in der Tat Grund zur Beunruhigung hatte, was die Höhlen betraf. Die Policia stellte nach einer Durchsuchung – ob Tunca Porca sich bei dieser Gelegenheit noch einmal hatte blicken lassen, darüber schwieg sich die Presse aus – etwa 100 Kilogramm Kokain und ein nicht unbeachtliches Arsenal an Waffen sicher.

Georg und Manfred waren zunächst unsicher, ob sie die Sache mit Winston ebenfalls zu Protokoll geben sollten. Zu groß war die Angst vor den Worten, die man ihnen im Mund herumdrehen würde, dicht gefolgt von der Frage, warum sie so viele Jahre damit gewartet hatten, mit der Sprache rauszurücken – also schwiegen sie, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Joào und seine Männer erwartete nun erst einmal ein langer Prozess, inklusive Gefängnisaufenthalt.

Die Yukpa und auch sie selbst hatten erst einmal nichts mehr zu befürchten. Und doch reichte es ihnen erst einmal. Das Phänomen Tunca Porca legte Säuerling im Moment zu den Akten. Er würde sich zu einem späteren Zeitpunkt noch ausgiebig mit dem Tier beschäftigen, wenn es an der Zeit war.

Und er fand, dass es jetzt an der Zeit war, das Erlebte zu verarbeiten, aus den Eindrücken zu lernen und vor allem seine Frau und seine Kinder wieder in die Arme zu schließen. Rosenrunge stimmte ihm bei diesem Plan vollends zu und schlug zudem noch vor, bei ihren Frauen Stillschweigen über diese gefährliche Sache zu bewahren.



Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung

Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.

. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.

Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der ehemalige Josef Goldmann, ein Deutscher mit krimineller Vergangenheit, trifft die beiden Wissenschaftler wieder in der Nähe seines Reiches, und würde sie am Liebsten aus dem Weg räumen. Joao, so heißt er jetzt, beherrscht sein Territorium mit Drogenhandel, Prostitution und Menschenhandel. Wie lange noch?

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