Die Briefe
Auch wenn Georg gerne am Bett seiner Mutter saß und mit ihr bis in die späten Nachmittagsstunden plauderte, so war er auch wieder froh, wenn er den heimatlichen Boden ansteuern konnte.
Krankenhäuser waren einfach nichts für ihn. Seiner Mutter ging es wieder gut und sie war auf dem Weg der Genesung, was schon fast -wie Dr. Chojetzky sagte- an ein kleines Wunder grenzte. Aber es gab auch noch einen weiteren Grund, weshalb Georg nur knapp vier Tage später die Heimreise antrat: Sag ihm, dass das was er sucht, im Klavier zu finden ist. Chopin, Minute Waltz, er wird sich hoffentlich daran erinnern. Und ob er sich daran erinnern konnte.
Er begrüßte Kathrin und die Kinder, gab einen kurzen medizinischen Bericht über Johannas Gesundheitszustand und verabschiedete sich schließlich mit einem „Ich muss runter in den Keller und in meinen Ordnern etwas nachsehen!“.
Das Klavier stand im Hobbyraum, der Ort, an dem sie hin und wieder auch mal eine Party feierten, auf der er dann in fröhlicher Runde hin und wieder ein Stück spielte. Fast ehrfürchtig trat er an das Klavier aus blankem Ebenholz und betrachtete es von allen Seiten. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf dem feinen Holz gebildet und seine Hand reagierte prompt auf diesen staubigen Schandflecken. Zärtlich fuhr er mit der Handfläche über die geschlossene Tastenklappe und blickte auf das Malheur in seiner Hand.
Die Zeichen der Zeit können verdammt dreckig sein, dachte er und ließ weiter seine Hand über das Holz gleiten. Doch er merkte schnell, dass es hoffnungslos war, das gute Stück mit einer Hand zu säubern und gab schließlich auf. Jetzt wurde es ernst. Mama hatte die Briefe in einem Geheimfach des Klaviers versteckt. Ein Versteck, das wahrlich niemand finden konnte, der es nicht wusste und das auch niemand so leicht aufdecken konnte, wenn er nicht die Kunst des Klavierspielens –
besonders Chopins Minute Waltz – beherrschte.
Georg kannte dieses Versteck, hatte es versehentlich entdeckt, als er genau dieses Stück spielte. Spielt man das Anfangsstück fehlerfrei wurde ein Mechanismus entriegelt, so dass man einen kleinen Hohlraum im Inneren des Klaviers öffnen konnte. Das kleine Fach war gerade mal halb so groß wie ein Schuhkarton, aber darin war Platz genug, um das, was einem wichtig war, vor anderen zu verbergen. Damals war das Fach leer, als er es per Zufall entdeckte und er war noch nicht einmal sonderlich enttäuscht darüber.
Im Gegensatz zu seinem Klavierlehrer, der gerne ein paar Scheine oder Schmuck darin gefunden hätte, war er nur fasziniert von dieser unglaublichen Möglichkeit. Er selbst hatte dort hin und wieder geheime Dinge platziert – Murmeln, besondere Steine und auch mal einen Liebesbrief an ein Mädchen, den er niemals abschicken wollte.
Nur seiner Mutter hatte er davon erzählt und er erinnerte sich noch genau, was sie damals geantwortet hatte: Vergiss es Liebling, ich werde niemals Chopin spielen können und kann deshalb auch dieses Fach niemals öffnen. Im Grunde genommen ist es das perfekte Versteck für Dinge, die man bis in alle Ewigkeit aus seinem Gedächtnis streichen will. Unwillkürlich musste er über so viel Gewitztheit lächeln.
Langsam setzte er sich und öffnete vorsichtig den Tastenschutz. Sein Herz begann wie wild zu schlagen und er spürte, wie sich langsam die Nervosität in ihm ausbreitete. Doch wenn das stimmte, was sie sagte, dann hatte er die ganze Zeit diesen Schatz erst bei sich im Wohnzimmer und dann im Keller stehen gehabt, ohne davon auch nur annähernd zu wissen,.
...
Dann begann er zu spielen. Chopin Minute Waltz Op.64 No.1, ohne Notenblätter und nahm in diesem Augenblick nur das, was sein Gedächtnis ihm noch an musikalischer Erinnerung zurückbrachte.
Er wusste, dass gewöhnlich der erste Akkord genügte, aber er spielte weiter. Es war, als wollte er sich plötzlich an der Musik festkrallen und sagen: Bleib bei mir und schütze mich vor dieser Wahrheit! Doch was war die Wahrheit? Wovor hatte er plötzlich solche Angst. Konnte es nach all dem, was in den letzten Tagen passiert war, und all dem, was er gehört hatte, überhaupt noch schlimmer kommen?
Er verwarf die Antwort, während er den Minute Waltz spielte und neben einem klopfendem Herzen langsam in einen Zustand der Ekstase geriet, in der er sich einbilden konnte, nicht in einem Hobbykeller vor einer schier unüberwindlichen Aufgabe zu stehen, sondern, wie früher, auf einer kleinen Bühne, auf der er die Leute mit seiner Musik erfreuen konnte. Ein Gedanke, der ihn plötzlich mit einer Wärme durchflutete, die ihn plötzlich alle Angst vergessen ließ.
Ja, Music was my first love!, dachte er, während er die Tasten mit geschlossenen Augen erspürte und spielte....bis plötzlich der Vorhang fiel. Die Menge applaudierte, die Band zeigte den Daumen nach oben, bis schließlich eine Stimme irgendwo in seinem Kopf sagte: „Jetzt sei nicht so ein verdammter Feigling und such die Briefe!“
Er verstummte. Dann sprang er wie besessen auf und suchte im Inneren des Flügels nach dem Hohlraum und fand ihn sogar erstaunlich schnell. Schnaufend vor Aufregung und mit Schweißperlen auf der Stirn schob er seine Hand hinein und zog den kleinen Kasten nach vorne. Und in der Tat, die Kiste enthielt einen kleinen, mit Bindfaden zusammengehaltenen Stapel Briefe.
Wer mochte wohl seiner Mutter die Klappe geöffnet haben? Vorsichtig knotete er das Band auseinander und betrachtete dann jeden einzelnen Brief und sog unwillkürlich den blumigen Duft des Papiers in sich ein. Zum ersten Mal in diesem Leben hielt er etwas in den Händen, was auch sein Vater berührt hatte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Dieser Geruch, diese Schrift. Künstlerisch und Schwungvoll, mit Tinte und Liebe geschrieben. Er war sich sicher. Sein Vater war ein Mann mit Stil.
Dann begann er zu lesen:
Meine liebste Johanna,
ich bin kaum weg und schon habe ich das Gefühl, als würde ein Teil von mir fehlen. Aber ich verspreche dir, wenn ich drüben alles geregelt habe, dann komm ich wieder, packe dich ein und nehme dich mit.
Georg lächelte etwas beschämt, denn irgendwie fühlte es sich komisch an solche Sätze zu lesen, die obendrein auch noch an seine Mutter gerichtet waren. Es war so, als würde er heimlich in einem Tagebuch eines anderen lesen.
Liebe Johanna,
ich habe Deinen letzten Brief erhalten und kann es einfach nicht fassen, was du mir da schreibst. Du hast einen neuen Mann kennengelernt? Das kann und will ich einfach nicht glauben. Wir beide sind füreinander bestimmt, das hast du selbst noch gesagt und auch ich weiß, dass es so ist. Ich habe das Gefühl, als stimmt da irgendetwas nicht. Das bist nicht du, die mir da geschrieben hat. Nächsten Monat werde ich nach Deutschland kommen und wir können alles besprechen. Meine Mutter ist vor einigen Tagen überraschend gestorben, ich bin immer noch sehr traurig darüber. Aber gleichzeitig bin ich ihr auch sehr dankbar für das, was sie mir hinterlassen hat. Ich werde uns ein schönes Häuschen kaufen, mein Engel. Ein Ort, ein Zuhause, an dem wir beide und vielleicht auch irgendwann unsere Kinder glücklich werden können – sag mir bitte, dass das alles nicht wahr ist und du da sein wirst, wenn ich komme.
In Liebe
Bruce
Das Schwindelgefühl in seinem Kopf ließ ihn plötzlich taumeln und er musste sich setzen. Sein Vater wollte also mit ihr zusammen sein. Er hätte sie mit nach Amerika genommen, weil er mit ihr eine Familie gründen wollte. Sie wusste es nicht besser, sagte wieder diese beruhigende Stimme in seinem Kopf, die ihm in den letzten Tagen schon so oft zur Seite gestanden hatte. Und genau diese Stimme sagte auch noch etwas anderes: Absender! Such den Absender! Instinktiv wühlte er in den Umschlägen und drehte sie um. Und in der Tat, konnte er eine Adresse finden:
Bruce Terell
565 Fort Greene Place
Brooklyn, New York
Georg lächelte und das Lächeln blieb. Es blieb so lange, bis es schließlich zwei Stunden später mitsamt ihm und seiner Frau aneinander gekuschelt einschlief.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Endlich hat er die Briefe seines Vaters gefunden.
Er saugt sie in sich auf und beschließt seinen Vater zu suchen.