Im Flugzeug
Das Einchecken verlief diesmal unkompliziert und trotz ihrer langjähriger Reisepause schon fast wieder zu routiniert. Das Gepäck hielt sich in Grenzen. Manfred hatte versichert, dass er sich um Ausrüstung und alle nötigen Dinge, inklusive einem adäquaten Führer, gekümmert hätte.
Georg sollte sich nur um die Flüge und Hotels bemühen und er hatte sich sehr bemüht. Auch wenn er bei dieser Sache kein gutes Gefühl hatte, war er sich sicher, dass es wichtig war, diese Sache mitzumachen. Per Lufthansa starteten sie gegen 16.07 Uhr in Richtung Venezuela, mit einer Boeing 747.
Doch den ganzen Flug über wirkte Georg Rosenrunge sichtlich unentspannt und das war ungewöhnlich. Georg genoss Langstreckenflüge für gewöhnlich in vollen Zügen und nutzte diesen Vorteil der Zwangsruhe, um sich auf den bevorstehenden Jetlag vorzubereiten. Auch wenn es nur knapp fünf Stunden Zeitverschiebung waren, er schlief dennoch die Hälfte der Zeit. Doch dieses Mal schlief Georg nicht.
Er blätterte halbherzig in seiner Börsenzeitung und sah noch halbherziger zum Fenster hinaus. Er bestellte sich unzählige Male einen Orangensaft mit Soda, ging unendlich viele Male zur Toilette und von dem Spielfilm auf dem Bildschirm vor sich, bekam er genau so wenig mit, wie der Pilot vom Treiben seiner Fluggäste.
„Du machst dir Sorgen wegen Kathrin, was?“, fragte Manfred vorsichtig, in der Hoffnung, dass Georg reden würde. Doch der schwieg und starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Ich kann verstehen, wenn du nicht darüber reden möchtest.“
„Du kannst es also verstehen, wenn ich nicht darüber reden möchte?“ Georg sah ihn mit einem Blick an, den Säuerling zunächst nicht richtig deuten konnte. „Das ist gut, dass du das verstehen kannst, Muchacho! Ja, das ist sehr gut, denn ich verstehe es nicht, dass du mit mir nicht darüber reden willst!“
Säuerling starrte ihn verwundert an. „Was ist los mit dir, Georg?“ „Ich hatte gestern Abend noch eine interessante Unterhaltung, die mir heute sehr zu denken gibt“, antwortete Rosenrunge und sah seinen Freund finster an. „So wie ich gehört habe, redet bereits schon halb Blankenese über dich und dein nächtliches Treiben. Und ich habe auch gehört, dass inzwischen der Tierschutzverein bei dir ein und aus geht und jetzt willst du auch noch zurück in die Höhle des Löwen, ohne mir den genauen, den wahren Grund zu nennen? Was soll das?!“ Säuerling starrte ihn verwirrt an. „Wirklich, halb Blankenese?“
„Schlimmer! Und glaub mir, wenn ich nicht doch noch einen Fünkchen Vertrauen in dich haben würde, dann hätte ich dir schon längst eine Antiterroreinheit auf den Hals gehetzt. Dass du mit gefährlichem Sprengstoff hantierst, ist übrigens auch schon Bestandteil der Blankeneser Gartenzaun-Schlagzeile. Swetlana traut sich mittlerweile schon nicht mehr vor die Türe.“
„Was hat Swetlana damit zu tun?“
„Sei ihr nicht böse, sie ist eine wirklich sehr gewissenhafte und verantwortungsbewusste Frau. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass sie tagtäglich das Säuerling-Anwesen betritt und manchmal erst spät abends wieder verlässt, um nach Hause zu gehen. Aber zurzeit ist sie kaum noch zu Hause, sondern übernachtet bei einer Freundin. So wie sie mir erzählt hat, wurde sie inzwischen schon mehrmals von den Nachbarn abgefangen, die sie dann ausgequetscht haben, was du dort im Poolhaus treibst.
Und das, mein lieber Manni, ist nun auch meine Frage! Was tust du dort, wenn du tust, was du tust und von deiner Umwelt scheinbar gar nichts mehr mitbekommst? Ich will alles hören, aber vor allen Dingen, was uns nun wirklich bei den Salto Angels erwartet.“ Säuerling sah sich systematisch nach allen Seiten um, damit er schon im Vorfeld etwaige Lauscher ausmachen konnte. „Du willst es wirklich wissen?“, flüsterte er geheimnisvoll.
„Verdammt Manni, ja!“ „Also schön! Nehmen wir einmal an, ich hätte eine Energiequelle gefunden, deren Ressourcen nicht nur unbegrenzt, sondern auch relativ einfach zu beschaffen sind.“ Er machte eine Pause, um Georgs Reaktion abzuwarten. Als diese nicht kam, fuhr er fort. „Und nehmen wir mal an, ich rede jetzt nicht von Energien, die sich auf ein Minimum beschränken, wie zum Beispiel die einer
9 Volt Blockbatterie, sondern um eine ganze Menge mehr.“ Er pausierte wieder.
„Und nehmen wir auch mal an, dass das einzige Problem an der Sache ist, dass es noch keine Lösung zum Einfangen dieser Energie gibt. So wenig, wie man die Energie eines Blitzes einfangen kann, so wenig kann auch diese Energie eingefangen und gespeichert werden, obwohl die Voltzahl hier wesentlich niedriger ist, als bei einem Blitz. Aber dennoch fehlt die Möglichkeit der Speicherung, denn ohne die kann ich sie nicht an sämtliche Orte der Welt verteilen. Und nehmen wir an....“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Rosenrunge sah ihn ärgerlich an.
„Nein, natürlich nicht! Erinnerst du dich noch an die Käfer, bei den Tokaouwas, damals?“
Rosenrunge nickte. „Die habe ich als erstes studiert und unter die Lupe genommen. Es ist wirklich unglaublich, was diese Tiere für eine Power unter ihren Flügeln tragen.
Es ist...“ Säuerling schüttelte den Kopf. Er spürte, dass ihm bei dieser bahnbrechenden Offenbarung die richtigen Worte fehlten. Und er hatte sich bisher auch noch nie einen Kopf darum gemacht, die richtigen Worte zu finden. Er musste es bis jetzt noch niemandem erklären, außer sich selbst. Und da genügten ein paar biologische Daten und Fakten, und prompt war das Verständnis da. Verzweiflung machte sich in ihm breit, als er den skeptischen Blick seines Freundes sah und schließlich auch diesen erniedrigenden Gesichtsausdruck, der so viel beinhaltete wie: „Schon mal an eine Therapie gedacht, Manni?!“.
Ja, Georg nahm ihn nicht für voll! Er glaubte, er wolle ihn auf den Arm nehmen und das war keine besonders gute Grundlage für ein Gespräch, das eigentlich alles zum Guten verändern sollte. Entschlossen griff er schließlich nach seinem Handgepäck und suchte nach einem Blatt und einem Stift.
Dann begann er wie von Sinnen auf mehreren Seiten zu zeichnen und Skizzen zu machen. Als er damit fertig war, schob er das Blatt Georg unter die Nase und fing an, ihm jeden noch so kleinen Strich zu erklären. „Die Welt enthält Unmengen an verborgenen Energien, die nur darauf warten, von uns entdeckt und genutzt zu werden. Bisher waren wir nicht in der Lage, eine der größten Energiequellen, den Blitz, zu nutzen.
Über 10 Millionen Volt sind eben eine Nummer zu groß für uns, deshalb wird sich der Mensch wohl auch weiterhin auf die Wind- und Wasserkraft spezialisieren, sich dauerhaft abhängig vom Wetter machen oder weiterhin teure Wasserkraftwerke bauen, wenn nicht...“
Er blätterte auf die nächste Seite um und erklärte weiter: „Hier aber haben wir einen kleinen brasilianischen Leuchtkäfer. Ein selten gesehener Bursche, denn ihn gibt es nirgendwo anders auf der Welt. Sparky besitzt Leuchtorgane zwischen Flügel und Panzer, die sich immer dann entladen, wenn Sparky auf Partnersuche ist oder sich bedroht fühlt. Eine Berührung kann tödlich sein, je nachdem, wie viel Spannung das Tier gerade abgibt.
Ich habe mir erlaubt, diese Spannung von Sparky mit empfindlichen Gerätschaften weiterzuleiten und habe dabei Erstaunliches entdeckt. Dieser kleine faustgroße Käfer kann mit seiner Energie eine 100 Watt Birne zum Strahlen bringen, und dabei hat er noch nicht einmal an seine Angebetete gedacht.“
„Stop! Moment mal!“, unterbrach Georg. „Ich komme da nicht ganz mit! Du hast phosphoreszierende Käfer mit Stromorganen entdeckt und hast in ihnen eine Art Energiequelle für unseren Strom ausgemacht? Mit Verlaub: das ist vollkommen verrückt. Jemand, der einen Käfer Sparky nennt, ist in meinen Augen sogar nicht ganz dicht!“
„Gut, vielleicht bin ich nicht ganz dicht und ja, vielleicht bin ich auch verrückt, aber es funktioniert tatsächlich. Ich habe mit einer kleinen Herde dieser Käfer sogar ein Strom-Aggregat in Gang gesetzt, das mir Energie für ganze 2 Minuten lieferte.
Zwar mit Schwankungen und kleineren Störungen, aber ich konnte diesen verfluchten Schalter betätigen und der Strom floss, und das ganz gewiss nicht aus der Steckdose!“
„Ich hätte dieses Blitzen in deinen Augen damals, als du die Käfer gesehen hast, besser deuten sollen, dann hätte ich dich vielleicht davon abbringen können, heute durchzudrehen.“ Georg seufzte und sah zum ersten Mal an diesem Morgen aus dem kleinen Bullauge des Flugzeuges in der Hoffnung, dort draußen irgendwo die Antwort auf die Frage zu finden, wie er seinem Freund helfen konnte, aus diesem Wahnsinn wieder herauszufinden.
Doch in Flughöhe, über den Wolken, im Schein einer strahlenden Morgensonne war es schwer, eine Antwort zu finden, die den strahlenden Sonnenschein einer Manfred-Säuerling-Vision zunichte machen sollte.
„Hier, sieh dir das an!“ Säuerling reichte ihm einige Fotos. Er nahm sie zögernd an sich und warf skeptisch einen Blick darauf. „Großer Gott, was ist das?“
Die Skepsis wechselte in Verblüffung und schließlich schaffte eines der Bilder sogar, Manfred ins Staunen zu bringen. Rosenrunge starrte auf die Bilder, in denen er auf den ersten Blick nichts weiter erkennen konnte, außer gleißenden Licht-
Erscheinungen, doch auf den zweiten Blick konnte er die Umrisse des Käfers sehen. Das weißlich, bläuliche Licht strahlte aus seinem panzerartigen Rücken und schien in einer Art Symbiose mit dem zu verschmelzen, was ein Säuerling Arm ihm entgegenstreckt – einen kleinen Metallstab, mit Voltmeter. Das Gerät zeigte über 600 Volt an.
„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“ Rosenrunge wechselte so hektisch die Bilder, dass sie ihm aus der Hand zu gleiten drohten.
„Siehst du, das ist so ein Grund, warum ich nichts gesagt habe. Weil du zu unvorsichtig bist. Wenn das funktioniert, wie ich es mir in meinem Kopf ausgemalt habe und bis dann meine Forschungen so weit sind, dass wir an dieser Sache sogar mit Patentrechten arbeiten können, muss absolutes Stillschweigen gewahrt werden.
Und Stillschweigen fängt so an, dass man die oberste Geheimhaltungsstufe einhält. Man muss stets mit dem Unerwarteten rechnen – denk an den Direktor! Wenn man ohnehin schon als Staatsfeind Nr. 1 verdächtigt wird, dann kann es auch sehr gut sein, dass ein Telefon angezapft wird. Aber eigentlich würde es mir reichen, wenn du etwas behutsamer mit meinen Fotos umgehen würdest!“
Manfred reichte ihm versöhnlich ein weiteres Foto und Rosenrunge verzog angewidert das Gesicht. „Das hier, das ist ihr Geheimnis!“ Er deutete mit dem Finger auf den Haufen Etwas, das an den talgigen Abfall eines Schlachthofes erinnerte.
„In diesen Eingeweiden liegt die Antwort auf die Frage, die ich bisher noch nicht gefunden habe. Dieses wabbelige Stück fettiges Fleisch, das kaum eine nennenswerte Konsistenz hat – und glaube mir, ich weiß wovon ich rede, ich habe lange genug in dem Zeug herumgewühlt – ist ihre einzigartige biologische Batterie. Und das Geheimnis, wie diese funktioniert, müssen wir knacken oder...“ „...oder?“ Rosenrunge sah ihn erwartungsvoll an.
„...oder wir müssen ein System entwickeln, was in der Lage ist, diese aus lebendigen Eingeweiden gewonnene Energie aufzunehmen und zu speichern.“
„Ich kann einfach nicht fassen, dass du nie mit mir darüber gesprochen hast?“, sagte Georg und in seiner Stimme lag ein Hauch von Kränkung.
„Weil es, wie du es so schön ausgedrückt hast, vollkommen verrückt ist. Aber es würde viel weniger verrückt klingen, wenn sich eine Möglichkeit bieten würde...“ Säuerling nickte stumm und betrachtete abwesend seine Zeichnung. Georg hatte ihm nicht zugehört, jedenfalls nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Aber er war sich sicher, dass sich auf ihrer Reise noch eine gute Möglichkeit ergeben würde.
Sein Blick stolperte plötzlich über eine Stelle auf dem Foto in seiner Hand. Das Tier, das Netz und die Fixierung durch Seile. Irgendetwas stimmte an diesem Bild nicht. Irgendetwas war da, was er nicht beachtet hatte, etwas, was gar nicht funktionieren konnte. Aber er kam einfach nicht drauf.
„Eines möchte klar stellen, Manni“, sagte Georg plötzlich. „Ich will in diesem Leben noch ruhig schlafen können. Ich will nicht schon wieder so einen Ärger haben, wie beim letzten Mal. Obwohl...“, er hielt inne und überlegte.
„Mir fällt gerade ein, dass Ärger eigentlich sehr unwahrscheinlich ist, da Pedro nicht mit von der Partei sein wird. Hast du nicht erwähnt, dass er inzwischen Vater geworden und irgendwo in den Dörfern von Mexiko verschollen ist?“
Säuerling schwieg verhalten.
„Fernandez, dieser kleiner verrückte Matador. Wir können von Glück reden, dass er nicht mehr unser Führer sein wird. Der Kerl, den ich da in Manaus aufgetan habe, scheint wirklich sehr gut zu sein. Sehr gute Ortskenntnisse und auch das Dolmetschen soll eine seiner großen Stärken sein.
Eine Empfehlung von unseren Schweizer Kollegen. Der einzige Haken war der Preis, aber du hast ja gesagt, dass es diesmal keine Rolle spielt....und wenn das auch nur annähernd stimmt, was du da sagst, dann kann ich diesem Argument nur zustimmen.“
„Ich hab ihn gefeuert!“, sagte Säuerling tonlos und packte die Zeichnungen wieder weg.
„Du hast was?“
„Ich habe dem Schweizer mitgeteilt, dass er zu Hause bleiben kann.“
„Warum zum Teufel?“
„Weil ich für diese Expedition nur einen Mann haben will: Pedro Fernandez! Ich habe ihn auftreiben und für uns gewinnen können, trotz seiner Aussage, dass Pedrolino seinen Vater braucht.
Wenn es ums Geld geht, dann ist Pedro immer zu haben. Er ist zwar manchmal ein kleiner Idiot, aber bei ihm kann ich mir sicher sein, dass wir ihm vertrauen können und dass er da sein wird, wenn es drauf ankommt.“
Georg rollte mit den Augen und ließ sich wie ein erschossenes Tier in seinen Sitz zurück sinken. „Dein Wort in Gottes Gehörgängen! Darf ich ihn umlegen, wenn er wieder mit Corrida de Toros anfängt?“
Manfred lächelte. „Umbringen wäre schlecht, aber ich erlaube dir die Rosenrungsche-Folter.“
„Und die wäre?“
„Klimper ihm was vor. Bring diesen Weichkeks zum Weinen.“ Sie lachten.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Texte: Copyright©Th+C.Glantz
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gegen den Willen seiner Frau fliegt Georg mit Säuerling zu einer neuen Expedition um ein
neues elektoplaxes Tier zu suchen. Ein fliegendes Fisch-Schwein. Nach Aussagen ihres Mexikanischen Führers.