Vater & Sohn beim Frühstück
Am nächsten Morgen beim Frühstück war Samuel ungewöhnlich still, das jedenfalls fand Swetlana und fühlte dem Jungen mehrmals die Stirn, um zu testen, ob eine Erkältung oder gar noch Schlimmeres im Anmarsch war. „Ist etwas nicht in Ordnung mir dir, mein Junge?“, fragte die kleine Polin mittleren Alters und musterte ihn von oben bis unten.
Nein, er hatte weder rote Punkte, noch fiebrige Flecken im Gesicht. „Ich bin ein bisschen müde“, sagte er und starrte dabei seinen Vater eindringlich an, doch der war, wie üblich, in seine Morgenzeitung vertieft. Es war wieder der Börsenteil, der ihn in eine Art Trancezustand versetzte, aus der er sich erst lösen könnte, wenn er auch die letzte Zahl, inklusive Kaffee, in sich aufgesaugt hatte.
Samuel wusste nicht, was eine Börse ist, es sei denn, es war von einer solchen die Rede, in die man Geld hineinsteckte. Und diese Art von Börse, die in der Zeitung stand, war wohl so etwas Ähnliches, das jedenfalls hatte sein Vater ihm einmal erklärt oder zumindest hatte er versucht, ihm das zu erklären. „Junge, hinter all diesen kleinen Zahlen stecken eine ganze Menge wichtiger Geschäfte. Und durch diese Geschäfte kann man entweder viel Geld verdienen oder aber auch viel Geld in den Sand setzen.“
„Es gibt Menschen, die vergraben ihr Geld im Sand?“, hatte Samuel daraufhin ganz empört gefragt. „Ja, die gibt es und sie vergraben es sogar so tief, dass sie es nicht mehr wiederfinden oder andere nehmen es sich, bevor sie es wieder ausbuddeln können.“
„Das ist aber gemein!“
„Nein, mein Junge, das ist die Börse. Man gewinnt oder verliert – es kommt ganz auf die guten Geschäfte an!“
„Warum bist du denn so müde, hast du schlecht geschlafen?“, fragte Swetlana sorgenvoll, während sie ihm sein Schulbrot schmierte.
„Ich habe wohl schlecht geträumt!“, sagte er tonlos, hatte aber immer noch seinen Vater im Visier. „Ich habe von Außerirdischen mit Elektroschweißgeräten geträumt!“
„Du liebe Güte!“, rief Swetlana erschrocken.
„Sie wollten übrigens die Welt vernichten!“, schob Samuel nach. „Warum träumst du denn so etwas Schreckliches?!“ In diesem Augenblick bereute Samuel seine kleine Provokation, die eigentlich gezielt gegen das nächtliche Treiben seines Vaters gerichtet war.
Swetlana war eine Verfechterin der polnischen Schulpsychologie - sie hatte sogar ein paar Semester davon mitgenommen, bevor sie nach Deutschland kam - was allerdings zur Folge hatte, dass sie nicht nur alles und jeden um sich herum analysierte, sondern natürlich auch keinen Halt vor Sigmund Freuds Thesen über die Traumdeutung machte. Er ahnte, was jetzt folgen würde und er fürchtete den Vortrag.
Denn wenn er eines nicht konnte, dann war es Swetlanas unaufhörlichen Wortschwall mit starkem polnischem Akzent zu unterbrechen. Aber seltsamerweise blieb genau dieser Vortrag aus. Stattdessen regte sich der andere Part der männlichen Säuerling-Front und bat Swetlana noch um einen weiteren Kaffee.
Ein kurzer Augenblick, in dem Samuel die vollste Aufmerksamkeit seines Vaters erhielt und auch genoss. „Ach mein Junge, ich hoffe, dass du dich nicht irgendwann mit solchen kleinkarierten Idioten von unfähigen Börsenspekulanten herumärgern musst. Im besten Fall wirst du einfach ein Broker oder trittst in meine Fußstapfen.
Na was hältst du davon, Kleiner?“ Samuel lächelte, als sein Vater ihm den Kopf tätschelte. Er wusste nicht was kleinkariert bedeutete oder was ein Broker war. Er wusste nur, dass er ganz bestimmt kein solcher kleinkarierter Idiot werden würde, sondern etwas viel Besseres. Ein langes breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht.
Und es gab nur eine Antwort auf Vaters Frage: “Weißt du was, Paps? Ich werde einfach beides, Wissenschaftler und Broker!“ Säuerling lachte.
„...und Tierpfleger!“, schob Samuel noch nach. „Ich erforsche, ich füttere die Tiere und mache Geschäfte!“
„....und dein Zimmer aufräumen, das kannst du dann auch noch!“, unterbrach Swetlana und löste somit ungewollt ein lautes Gelächter am Frühstückstisch aus, das sogar Odalys mit einem neugierigen Lächeln aus dem Bad in Richtung Küche trieb.
Oh ja, und ich werde sogar sehr gute Geschäfte machen!, dachte Samuel und biss vergnügt in sein Brot. "Paps, musst du heute wieder arbeiten?“
"Ja , warum fragst du?"
"Ich dachte, wir könnten bald mal wieder zusammen Fußballspielen?", log Samuel und das sogar richtig glaubhaft, wie er fand. "Und wie lange genau musst du heute noch arbeiten?"
"Lange!" "Wie lange?!" "Sehr lange!"
"Bis spät in die Nacht?!"
„Bis spät in die Nacht!“
"Schade", sagte Samuel mit einer gekonnt gespielten Enttäuschung, auf die Manfreds prompt mit einem schlechten Gewissen reagierte.
"Jetzt sei nicht traurig“, versuchte er zu trösten. „Vielleicht schaffen wir es am Wochenende mal wieder, zusammen auf den Bolzplatz zu gehen."
Samuel nickte traurig, aber triumphierte innerlich. Sein neuer Geschäftsplan könnte in der Tat aufgehen, es muss nur noch...
"Paps?"
"Was denn?"
"Heute ist Freitag. Darf ich dann wenigstens ein paar Jungs zu mir nach Hause einladen? Dann kann ich doch mit ihnen auf den Bolzplatz gehen und abends noch einen richtig spannenden Video -Abend in meinem Zimmer machen. Ich verspreche auch, dass wir ganz leise sind. Bitte! Bitte! Bitte!"
"Was verstehst du unter `ein paar Jungs´ einladen?", fragte Swetlana scharf, noch bevor Manfred antworten konnte.
"Wie viele darf ich denn, Papa?" Er faltete die Hände, wie zum Gebet, und sah seinen Vater flehend an.
"Morgen ihr Lieben? Was ist denn hier los?", unterbrach Odalys freudestrahlend die Runde, als sie mit Celina auf dem Arm die Küche betrat.
"Dein Sohnemann fragt mich gerade, ob er heute Abend eine Pyjamaparty schmeißen darf. Quasi als Entschädigung dafür, dass sein alter Herr mal wieder keine Zeit für ihn hat."
Samuel sah ihn erstaunt an. Eine Pyjamaparty? Er hatte noch nie eine Pyjamaparty veranstaltet, aber der Gedanke war cool. Nein, mehr als das, der Gedanke war sogar sehr geschäftsfördernd.
"Und ich finde, ihr solltet dieses Vorhaben unterstützen“, fuhr Manfred feierlich fort. „Ja, ich fühle mich schuldig!"
"Oh mój bóstwo -Oh mein Gott-, eine Pyjama- party?! Bei aller Liebe, aber ich wollte heute Abend früh Feierabend...."
"Ich bin mir sicher, das kriege ich auch allein hin, Swetlana“, unterbrach Odalys lächelnd und streichelte ihrem Sohn liebevoll über den Kopf. „Ich würde sagen, dass du so viele Buben einladen darfst, wie Matratzen in dein Zimmer passen.“
Ein lauter Jubelschrei schallte durch das Haus, dicht gefolgt von dem panischen Aufschrei der Eile. „Du musst los, Samuel, sonst verpasst du den Bus!“
Knapp drei Stunden später huschte ein zufriedenes Grinsen über Samuels Gesicht.
Die Hand in seiner Hosentasche berührte wahrhaftig bares Geld. Seine Finger stießen an kalte Münzen und an weiche Scheine. Tobias und Ferdi hatten ihm doch tatsächlich den Preis bezahlt, den er angesetzt hatte. Fünf Mark pro Person waren ein gutes Geschäft und er hatte zu dem auch noch Gesellschaft.
Ja, die Börse war schon eine feine Sache. Er musste Mama für die Zukunft vielleicht nur noch daran gewöhnen, dass seine Freunde nicht auf Matratzen, sondern in Schlafsäcken übernachten, denn so passten mehr in sein Zimmer. Und – und das würde noch mehr Überredungskünste fordern – er müsste Mama eine guten Grund liefern, warum es wichtig ist, diese Pyjamaparty wöchentlich zu wiederholen.
Wenn das funktionieren würde, dann könnte er innerhalb kürzester Zeit Millionen machen. Millionen Mark, von denen er sich viele schöne Dinge kaufen würde, wie: eine Videospielkonsole oder neue Fußballschuhe. Seiner Schwester würde er auch eine Kleinigkeit schenken, Mama würde er auch ein paar Scheine zum Shoppen zustecken und Papa würde er den Rest geben, für seine Forschung und natürlich auch für die Tiere.
Aber er würde es an eine Bedingung knüpfen. Ja, er würde Papa nur dann das Geld geben, wenn er ihm dann auch als Assistent zur Seite stehen dürfte. Er lächelte selig und er lächelte auch, als am Nachmittag die Türglocke ganze sieben Mal klingelte. Und als Samuel beim siebten Mal die Tür öffnete, stellte sich Swetlana mit verschränkten Armen in den Weg und sagte mit ihrem polnischen Akzent sagte: “Sam, sollte sich das Haus morgen früh in einem andern Zustand als jetzt befinden, dann verspreche ich dir ein Leben in der Hölle auf Erden!“
Samuel nickte lächelnd. Und er lächelte auch noch, als er im Anschluss in die Küche ging und „5 Tüten Popcorn für heute Abend“ auf den Einkaufszettel schrieb. Das Leben konnte so schön sein, wenn man einen Vater hatte, dessen Arbeit noch spannender war, als eine Klapperschlange im Badezimmer bei einer Frau in der Badewanne.
„Das Popcorn kostet aber extra!“, rief er, als er in sein Zimmer zurückkehrte, in dem sieben Jungs auf Schlafsäcke gebettet dem spannenden Abend entgegen eiferten.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vater liest die Börsennachrichten und Samuel
plant eine Pyjama Party mit geschäftlichem Hintergrund.
Ausserirdische gucken für seine Freunde.