Im Krankenhaus
Rosenrunge blickte sorgenvoll in das schweißnasse Gesicht seines Freundes. Es war, als ob sämtliche Farbe daraus gewichen wäre, um diesem gelblich matten Teint Platz zu machen, der ihn an vergilbtes Pergament erinnerte. Tagelange Qualen hatten sich als Schatten unter Manfreds Augen gelegt und schienen dort bis in Ewigkeit verharren zu wollen. Sein verletztes Bein hatte man sorgfältig gebettet und hochgelegt. Größe und Dicke des Verbands, seine vielen Schichten ließen erahnen, wie viel Gewebe die Ärzte in der Notoperation hatten wegschneiden müssen, damit das sich ausbreitende Gift nicht noch mehr Zellen zerstörte.
Georg wagte sich gar nicht vorzustellen, wie das Bein unter dem Verband aussehen musste. Der Anblick vor der Operation hatte ihm schon gereicht. „Bothrops Asper, auch Terciopelo-Lanzenotter genannt, na herzlichen Glückwunsch“, hatte Dr. Garrahan kurz nach der Einlieferung kommentiert. Später hielt er noch einen Ärztelatein-Vortrag, der für Rosenrunge natürlich nichts Neues brachte. „Das Gift dieser Ottern enthält mitunter die komplexesten und noch völlig unerforschten Toxide, die es gibt.
Klar, jedes Schlangengift hat seine eigene Wirkung, besonders das von Ottern und Vipern. Aber so unterschiedlich die Gifte auch sind, sie haben doch alle etwas gemeinsam: sie sind die besten Fleischzartmacher, die es gibt und sie löschen, langsam und quälend, jedes Leben in den Zellen eines menschlichen Körpers aus. Ihr Freund muss eine Menge Glück gehabt haben. Mehr als das. Ich frage mich, wie er das überhaupt ohne ein polyvalentes Serum überlebt hat? Er muss nur von alleine wieder aufwachen, dann können wir sagen, dass er über den Berg ist. Sein Bein konnten wir retten.“
„Mensch, Manni, wo bist du nur“, fragte Rosenrunge leise, kaum hörbar. Er erwartete keine Antwort. Das konstante Piepen der Geräte, an die Manfred nun schon seit drei Tagen angeschlossen war, war für ihn Antwort genug.
„Wo soll er schon sein?!“, krächzte Pedro halb wach, halb dösend von seinem Stuhl herüber. „Er liegt gerade in Mexiko am Strand und lässt sich von schönen Frauen die Mangos in den Mund schieben. Vielleicht trinken sie ja auch zusammen mit Strohhalmen aus einer Kokosnuss?!“
Rosenrunge lächelte müde. „Manfred hasst Kokosnüsse, aber das mit den Mangos klingt gut. Ich hoffe nur, dass er sich sehr bald entscheidet, wieder zu uns zurückzukommen. Ich vermisse diesen Bastard!“
Leise und vorsichtig öffnete sich eine Türe und jemand betrat den Raum.
„Buenas tardes, Señor Rosenrunge. Qué tal, Pedro?“ Schwester Odalys trat mit behutsamen Schritten an das Bett. Pedro hob müde die Hand. Rosenrunge sah kurz auf und nickte zur Begrüßung, doch ein Lächeln bekam er an diesem Nachmittag nicht zustande. Nicht nach diesen schlaflosen Nächten, Tagen voller Ungewissheit und der ständigen Sorge. Er wusste, sie würde ihm das verzeihen.
„Waren Sie die ganze Nacht hier?“, fragte sie erstaunt und sah erst Pedro dann Rosenrunge mahnend an.
„Ja, ich war die ganze Nacht hier. Pedro ist vor einer Stunde gekommen.“
„Wenn Sie so weitermachen, Señor Rosenrunge, dann können wir Sie gleich auf die Station nebenan legen. Sie haben doch bestimmt wieder kein Auge zugetan auf diesem Stuhl?“
Georg zuckte mit den Schultern und schwieg. Nachdenklich beobachtete er Odalys, die – fast schon etwas zu liebevoll, wie er beiläufig feststellte – Säuerlings Arm anhob und den linken Ärmel seines Krankenhemdes nach oben schob. Dann legte sie ihm die Blutdruckmanschette an. Rosenrunge und Pedro beobachteten sie dabei interessiert, mit Argusaugen, sie wollten sichergehen, dass sie auch alles richtig machte. Aber eigentlich musste sich keiner der beiden davon überzeugen, dass sie alles richtig machte. Im Gegenteil, sie hatte ohnehin schon alles richtig gemacht. Und Rosenrunge war sich sicher, wenn Odalys nicht gewesen wäre, hätte er seinen Freund noch vor Ort, im Dschungel bei den Tokaouwas verloren.
Die Bilder tauchten wieder auf und zogen wie ein grausiger Film vor seinen Augen vorbei. Wie Manfred dastand, die Schlange direkt vor seinen Füßen. Alle hatten sie gesehen, nur er nicht. Manfred war felsenfest davon überzeugt, dass es die Tokaouwas waren, die ihm an den Kragen wollten. Die Tokaouwas waren die Bedrohung, die ihn von allen Seiten einkreiste, ihn auslöschen wollte. Dabei war das einzige ihn umkreisende Bedrohliche diese Schlange zu seinen Füßen gewesen. Einer der Tokaouwa-Indianer hatte noch versucht, die Lanzenotter mit einem gezielten Bogenschuss zu erledigen, doch Säuerlings unkontrollierter Sprung zur Seite hatte die Schlange zum Angriff provoziert. Dann war alles so furchtbar schnell gegangen. Ihr Biss hatte die Fußvene getroffen, von wo sich das Gift rasend schnell ausbreitete. Manfred war zusammengesunken wie ein erschossenes Tier. Noch nie hatte Georg seinen Freund in einem derart erbärmlichen Zustand erlebt. Noch nie.
Georg hatte einmal gelesen, dass nach einem Schlangenbiss eher die Panik des Opfers zum Tode führt als das Gift selbst. Doch Manfred hatte gar nicht bemerkt, dass er von einer Schlange gebissen worden war und konnte also gar nicht in Panik geraten sein. Und doch hatte sein Kreislauf ohne Vorwarnung versagt. Und wenn so ein schwerer Brocken wie Manfred Säuerling plötzlich vor seinen Augen in die Knie ging und sich nicht mehr regte, wusste Georg, dass dies kein besonders gutes Omen war. In diesem Augenblick galt nur: Ruhe bewahren, Bissstelle abbinden, Kreislauf stabilisieren und die intravenöse Einspritzung eines Serums vornehmen. So hatte er es einst gelernt.
Doch sie hatten kein Serum. Sie hatten nie welches dabei, weil Manfred meinte, darauf verzichten zu können. Auf ihren Touren waren sie schon einer Menge Schlangen begegnet. Säuerling hatte sie regelrecht gesucht, um sie dann an Stöcken oder aber auch direkt an den Schwänzen hochzuheben und sie von allen Seiten zu bestaunen. Ein schreckliches Hobby, fand Rosenrunge. Aber es war ein Hobby, das Manfred liebevoll hegte und pflegte. Immer wieder führte er hochachtungsvolle Zwiegespräche mit den Tieren, erzählte ihnen von dem harmlosen Manni, der nichts weiter von ihnen wollte, als sie und ihre Lebensweise zu studieren. Wissensdurst sei ihm schon mit in die Wiege gelegt worden, hatte er immer wieder erklärt, das würde auch seine kindliche Neugierde dem Westen gegenüber erklären. Faszination Westdeutschland, inklusive dem wachsenden Drang, dem Osten den Rücken zu kehren, mit Mutter, versteht sich.
Ja, er sei schon immer ein interessierter Bursche gewesen und seine Leidenschaft, die Natur und ihre Chemie zu erforschen und zu verstehen, sei mittlerweile zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden. Er würde alles, was kreucht und fleucht – die Schlangen, Spinnen, Kaimane und Riesenameisen –, achten und respektieren und habe nicht vor, ihnen in irgendeiner Weise zu schaden.
Rosenrunge war sich immer sicher gewesen, dass nach solch ausladenden und feierlichen Säuerling-Ansprachen kein Tier der Welt Lust oder Kraft hatte, einen Stachel auszufahren oder die Zähne zu fletschen. Säuerling, der Gifttierflüsterer? Fakt war, bis zu jenem schwarzen Tag war Manfred weder von einer Schlange gebissen noch sonst von irgendeinem Tier angefallen worden. Außer von Moskitos. Obwohl man auch hier nicht sagen konnte, dass sie es auf eine bösartige Weise auf ihn abgesehen hatten, die Moskitos liebten ihn sehr. Und Rosenrunge zweifelte nicht daran: diese Lanzenotter hätte ihn auch geliebt, wenn er sie nicht mit seinem plötzlichen Ausfallschritt zu Tode erschreckt hätte.
Mich hast du auch zu Tode erschreckt, als du plötzlich wie ein gefällter Baum zu Boden gegangen bist und dich nicht mehr gerührt hast, Muchacho, dachte Rosenrunge und fuhr sich gedankenversunken durch die Haare. Dann waren die Sehstörungen gefolgt, dann das Abfallen des Blutdruckes, dann die fortschreitenden Lähmungen, die durch die Venen krochen und sämtliche Impulse des Hirns an die Organe auslöschten. Plötzlich hatte sich Manfreds Brustkorb nicht mehr gehoben und gesenkt und wenige Augenblicke später streikte auch sein Herz. Adios, Amigos!
Georg hätte nie gedacht, dass der Tod einfach so kommen konnte. Beinahe beiläufig. Das konnte und wollte er nicht zulassen. Bis zur eigenen Erschöpfung hatte er gekämpft, bis Manfreds Herz wieder zu schlagen begann. Doch dann hatte er nichts weiter tun können. Hilflos hatte er zusehen müssen, wie plötzlich Blut aus Manfreds Mund und Nase schoss.
„Manfredo ist ein Kämpfer“, hörte er Pedro von seinem Stuhl aus sagen, „er kämpft wie ein Torero ...“
„Wir sind hier aber nicht bei einer Corrida“, unterbrach ihn Rosenrunge und beobachtete immer noch sorgenvoll das bleiche Gesicht seines Freundes.
Schwester Odalys notierte schweigend die Blutdruckwerte. Sie überlegte angestrengt, welche Worte des Trostes für Georg Rosenrunge passen könnten, denn ein Pedro Fernandez verfügte offenbar nur über mexikanisches Torerotrampel-Feingefühl. Doch jetzt und hier einen Smalltalk anzuleiern fiel ihr schwer. Rosenrunges Sorge um seinen Freund war riesengroß, das spürte sie. Und sie spürte auch, dass der Mann, dem sie gerade den Blutdruck gemessen hatte, immer noch Höllenqualen erleiden musste.
Alles in ihm kämpfte. Sie umschloss seine Hand, tastete nach dem Puls und fand ihn schließlich. Aufmerksam betrachtete sie Manfreds Gesicht. Seine Augen bewegten sich ruhelos und hektisch hinter den geschlossenen Augenlidern, als wüssten sie nicht, wo sie zuerst hinschauen sollten. Die Sauerstoffmaske hatte sie ihm schon gestern abnehmen können und auch der Defibrillator stand nur noch wie ein Mahnmal in der hinteren Ecke der Intensivstation.
Als Mahnmal für all das, was hätte geschehen können ... wenn Odalys nicht gewesen wäre, als alle sich um den regungslosen Manfred herumdrängten, aber alle ratlos waren, was angesichts des fehlenden Serums zu tun war. Auch Georg hatte es nicht gewusst. Aber Odalys hatte es gewusst. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht und hatte, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, reagiert. „Lasst mich durch, ich bin Krankenschwester, vielleicht kann ich helfen“, hatte sie gerufen und sich wenige Augenblicke später neben Manfred gehockt und getan, was getan werden musste. Sie hatte sein Bein freigelegt, um zu sehen, wie weit die Vergiftung fortgeschritten war.
Ein Anblick, den sich Georg gerne erspart hätte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich Manfreds Wade bedrohlich verfärbt. Eine Verfärbung, die ihm genügend Aufschluss darüber lieferte, wie weit die Vergiftung bereits fortgeschritten war. Sie hatten ihn in eine der Hütten getragen, während Odalys in ihrem Erste-Hilfe-Koffer nach dem Mittel suchte, das Manfred schließlich das Leben rettete. Fassungslos, als hätte sie Gott geradewegs als Engel auf die Erde geschickt, hatte Säuerling sie angestarrt, als sie das polyvalente Serum injizierte. Das Gift hatte sich in rasender Schnelle in Manfreds Blutbahn ausgebreitet, aber das Serum konnte die Eiweiß vernichtenden Enzyme aufhalten und neutralisieren.
Doch das Drama nahm einfach kein Ende. Säuerling war instabil und drohte zu kollabieren. Ein anaphylaktischer Schock, ausgelöst durch das Serum – wenn Säuerling den Dramaking spielte, dann brachte er wirklich das ganze Bühnenprogramm. Aber auch hier bewahrte Odalys Ruhe und schaffte es, Manfred mit einer Dosis Solu-Decortin auch aus diesem Zustand zu reißen.
Noch nie zuvor hatte Georg etwas derart Schreckliches erlebt. Per Satellitentelefon hatten sie einen Helikopter geordert, der Manfred dann auf direktem Weg ins Krankenhaus gebracht hatte. Manfred hatte verdammt noch mal großes Glück gehabt. Aber diese halbzersetzte Wade und die fortschreitende Entzündung in seinem Bein stellten Manfreds Leben auch weiterhin auf eine harte Probe, und das seit 96 Stunden.
„Wie geht es ihm?“, fragte Rosenrunge, ohne dabei den Blick von seinem Freund abzuwenden. Doch noch bevor Odalys antworten konnte, schallte der außer Kontrolle geratene Piepton des EKGs durch den Raum. Rosenrunge riss erschrocken die Augen auf.
„Nein, bitte nicht schon wieder! Mach keinen Scheiß, Muchacho!“ Er sprang so hektisch auf, dass sein Stuhl quer durch den Raum schoss. Flehend sah er Schwester Odalys an. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Körperfunktionen es gab, die es mit Geräten ununterbrochen zu überprüfen galt, und er hatte es längst aufgegeben, sich mit allen diesen Anzeigen, Warnsignalen und Geräuschen auseinanderzusetzen.
Doch man hatte ihn aufgeklärt, dass ein in regelmäßigen Abständen ertönendes Signal der Herzrhythmus-Maschine ein gutes Zeichen war. Und dieses gute Zeichen hatte ihm in den letzten Stunden immer wieder ein beruhigendes Gefühl vermittelt. Solange das Gerät piepte, schlug Manfreds Herz und es war alles in Ordnung. Gut, vielleicht nicht ganz in Ordnung, aber sein schlagendes Herz bedeutete immerhin, dass Manfred noch lebte. Doch in den letzten Tagen war es immer wieder passiert, dass dieses Herz aus dem Takt geriet und stolperte. Georg wusste nicht mehr, wie oft er deswegen in Panik aus dem Raum gelaufen war, um sämtliche Krankenschwestern und Ärzte des Engativa Hospitals Bogotás in Aufregung zu versetzen.
Und auch jetzt war es wieder so weit, er musste Dr. Alvaro Garrahan an den Haaren herbeiziehen, damit dieser es wieder richtete. Damit er Manni endlich wieder richtete. Damit Georg den Arzt für diese schrecklichen letzten Tage erst anschreien und ihn anschließend bitten konnte, ein Bier mit ihm zu trinken.
Und dann bringen wir gemeinsam Pedro um die Ecke!, dachte Rosenrunge plötzlich, als er sah, wie dieser sich auf Säuerling gestürzt hatte und auf Spanisch eine Rede hielt, von der Georg nur so viel verstand wie: „Manfredo, ... Corrida de Toros, und wir waren dabei! Ein Mann kann nicht so einfach abtreten, ohne diese grandiosen Kämpfe miterlebt zu haben.“
Rosenrunge packte ihn wütend an den Schultern und zog ihn von dem Kranken weg. „Ich habe dir vorhin schon gesagt, das hier ist keine Stierkampfarena, du kleiner mexikanischer Idiot!“
„Hast du mich gerade mexikanischer Idiot genannt?“, fuhr Pedro ihn an. „Grande Culo!“
„Stopp!“, rief Schwester Odalys energisch. „Ich glaube, Sie vergessen gerade beide, wo wir hier sind! Sie benehmen sich wie kleine Kinder!“ Ihr spanischer Akzent verlieh ihren Worten etwas, was ihnen die Absurdität der Situation deutlich vor Augen führte. Beschämt schauten sich beide an. Dann war es Pedro, der nach seiner Kopfbedeckung griff und knurrend mit den Worten „Ach, ich komme später noch mal wieder, wenn grande Culo – das große Arschloch – sich beruhigt hat, adios!“ aus dem Zimmer stürzte. Georg zuckte zusammen, als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Señor Rosenrunge“, versuchte Odalys zu beruhigen. „Sie wissen, ich bin keine Ärztin, nur die Krankenschwester, aber ich habe schon einige Patienten mit Bissunfällen auf ihrem Weg der Genesung betreut. Leichte Herzrhythmusstörungen sind keine ungewöhnliche Begleiterscheinung. Und nach so einem Schock ist das ganze Kreislaufsystem ohnehin völlig durcheinander. Wir müssen ihn nur immer im Auge behalten und darauf achten, dass sein Herz den Rhythmus wiederfindet. Sehen Sie?“ Sie deutete auf den Monitor. „Alles wieder im grünen Bereich.“
Rosenrunge atmete auf und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. Odalys war eine hübsche Frau, das hatte Georg schon festgestellt, als sie zusammen seinen Freund in das Hospital eingeliefert hatten. Und noch etwas hatte er festgestellt. Etwas, was er zunächst nicht richtig hatte deuten können, was sich aber im Laufe der letzten vier Tage des Kampfes seines Freundes zwischen Leben und Tod immer mehr herauskristallisiert hatte: Odalys mochte Manfred.
Und sie musste ihn sogar ganz besonders mögen, denn sie hatte die ganze letzte Nacht an seinem Bett verbracht und für ihn gebetet. Und zwischen ihren gemurmelten Gebeten hatte sie auch immer wieder ein kleines Lied ertönen lassen. Sie sagte, sie hätte nur geholfen, böse Geister zu vertreiben. Und Georg war ihr dankbar dafür. Denn bei aller Freundschaft wollte er nach der Nachricht, dass Manni über den Berg war, nun nur noch schlafen. Und Schwester Odalys an Mannis Seite zu wissen, tat ihm auf wundersame Weise gut. Nein, mehr als das, es erleichterte ihn kolossal.
„Warum sind Sie eigentlich keine Ärztin geworden?“, fragte Georg. Ihr Einsatz bei den Tokaouwas, aber vor allem, wie Sie Manfred das Leben gerettet haben, das ist mehr, viel mehr, als eine Krankenschwester können und tun muss.“
Sie lächelte verlegen und richtete ihren Blick wieder auf Manfred. Über sein Gesicht schien sich urplötzlich ein Hauch von Farbe gelegt zu haben. Nur ein kleiner Hauch, aber man konnte die leichten Rötungen auf seinen Wangen erkennen. Instinktiv streckte Schwester Odalys die Hand aus und legte sie auf Manfreds Stirn. Dann streichelte sie ihm sanft über seine Wangen.
„Warum ich keine Ärztin geworden bin?“, wiederholte sie nachdenklich. „Ich konnte mir die teure Ausbildung nicht leisten. Ein Studium an der Universität Sao Paulo war einfach nicht möglich. Und so hat es nur bis zur Krankenschwester gereicht. Die Sache mit den Tokaouwa-Indianern, diese schreckliche Epidemie, war eine Geschichte für sich. Kaum einer hatte sich freiwillig gemeldet, um den Dienst in dieser abgelegenen Gegend zu übernehmen.
Viele glaubten, die Pest sei wieder ausgebrochen und andere fürchteten um ihr Leben, wegen der Drogenmafia oder rivalisierenden Goldsuchern. Und als Ernesto, der Portier aus Ihrem Hotel, mich anrief, dass zwei Forscher aus Deutschland zu den Tokaouwas wollen, fühlte ich mich nicht nur verantwortlich, sondern hielt es auch für selbstverständlich, vor Ort zu sein und nach dem Rechten zu sehen. Die Tokaouwas sind ein sehr friedliches und mittlerweile auch sehr gastfreundliches Volk. Allerdings hatten wir in den letzten Monaten zunehmend Probleme mit Goldsuchern, vor drei Monaten hat es sogar wieder einen Toten gegeben. Ich möchte, dass diese Menschen wieder so in Frieden leben können, wie sie es einst taten, bevor man sie entdeckte. Allerdings habe ich leider keinerlei Einfluss auf die Abenteurer und Goldsucher.“ Sie blickte Rosenrunge ernst und leicht vorwurfsvoll an.
„Oh, Gott bewahre!“, wehrte Rosenrunge ab. „Diese Vermutung haben wohl alle hier, was? Auch Dr. Garrahan hat uns bereits deutlich zu verstehen gegeben, dass er von diesen weißen Ausbeutern nichts hält und dass dieser Unfall ein typischer Touristenunfall gewesen sei, so dumm, dass er eigentlich bestraft gehöre. Bei einer Geschwindigkeit von ca. 10 km/h sei es einfacher, einer Giftschlange aus dem Weg zu gehen, als von einem Dreirad überfahren zu werden. Und er hat auch gesagt, dass man den Regenwald mit all seinen Reichtümern und Bewohnern in Frieden lassen sollte, statt im Busch umherzustreifen und die Ressourcen dieses Landes auszubeuten.
Auch ihn konnte ich nicht davon überzeugen, dass wir an Gold überhaupt nicht interessiert sind und schon gar nicht an einem Diebstahl von natürlichem Eigentum. Wir sind keine Biopiraten. Zugegeben, Alexander von Humboldt ist unser ständiger Begleiter und eine Portion Abenteuer ist immer dabei, aber wir tun nichts, was er nicht auch getan hätte. Wir arbeiten im Namen der Wissenschaft und alles, was wir tun, ist angemeldet und von allen wichtigen Stellen abgesegnet.“
Odalys schaute ihn mit belustigter Skepsis an. „Wirklich alles?“
„Nun ja ...“, stammelte er. „Die Sache mit den Tokaouwas ... wir wollten niemanden stören oder irgendwem Schaden zufügen, das müssen Sie mir glauben.“
„Das tue ich sogar!“, antwortete Schwester Odalys prompt. „Ernesto hat mir im Telefongespräch schon gesagt, dass Sie und Ihr Freund sauber, also in Ordnung sind, auch wenn ihr aus Deutschland kommt. Ohne sein gutes Wort hätte ich dafür gesorgt, dass Sie die Tokaouwas niemals dort angetroffen hätten, wo Sie sie vermutet haben.“
Rosenrunge sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Auf Deutsche sind Sie wohl nicht sehr gut zu sprechen, was?“ Sie antwortete nicht und blickte wieder auf Manfred, der nun aussah, als ob er seelenruhig schlafe.
„So, nun muss ich aber weiter, Señor Rosenrunge. Aber ich bin pünktlich in einer Stunde wieder da, um Blutdruck, Puls- und Herzfrequenz zu kontrollieren. Um die Wunde kümmert sich allerdings der Doktor selbst und der wird in etwa einer Stunde hier sein. Er wird mit Ihnen auch über die weiteren Befunde sprechen. Heute wurde eine weitere Blut- und Urinprobe veranlasst.“
Sie drehte sich um und ging zur Türe. Blieb aber plötzlich stehen, drehte sich noch einmal um und flüsterte geheimnisvoll: „Aber ich kann Ihnen schon einmal verraten, dass die Werte sehr zufriedenstellend aussehen. Ich habe sie schon heute Morgen im Labor abgefangen und ausgiebig studiert. Verraten Sie mich aber nicht, sonst bin ich womöglich meinen Job los.“ Sie zwinkerte ihm zu und verschwand aus dem Zimmer. Zurück blieb ein verblüffter Rosenrunge, der sich plötzlich allein mit einer stummen Vermutung im Raum anfreunden musste:
„Muchacho, ich glaube, du hast eine Verehrerin!“ Zehn Minuten später schlief auch er in seinem Stuhl ein.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Texte: Copyright©Th+C.Glantz
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Geheimnisse der grünen Hölle ziehen sie immer wieder an und warten nur darauf, von ihnen entdeckt zu werden, was Manfred Säuerling allerdings zum Verhängnis wird. Ein Schlangenbiss kostet den Wissenschaftler fast das Leben und er konnte nur, wie durch ein Wunder, überleben. Diese Erfahrung bringt nicht nur eine Veränderung in sein Leben.