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Mama Rosenrunge

Mit klopfendem Herzen trat Georg an den großen Empfangstresen des Franziskus-Krankenhauses und wartete geduldig, bis die junge Frau mit ihrem Telefonat fertig war.
"Können Sie mir bitte sagen, auf welchem Zimmer ich Frau Johanna Rosenrunge finden kann?"

Die junge Frau nickte freundlich und tippte auch gleich den Namen in den Computer ein. Ihr Gesicht verhärtete sich plötzlich und brachte ihm für einen kurzen Augenblick ein undefinierbares Gefühl von schrecklicher Vorahnung. Er wollte etwas sagen, doch sein Körper gehorchte nicht auf diesen Befehl.
Bitte nicht!, flehte er stumm. Bitte lass es nicht geschehen sein!

Er versuchte, den Gedanken mit aller Gewalt von sich zu schlagen und hing an den Lippen der jungen Frau, auf dessen Namensschild er Schwester Sabine entziffern konnte. Doch Schwester Sabine dachte scheinbar gar nicht daran, ihm etwas zu sagen, sondern starrte mit halb zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.

"Oha, diesen Blick kenne ich!", sagte Georg und versuchte dabei so gelassen wie möglich zu klingen. "Als ich das letzte Mal so vor einem Bildschirm gehangen habe, war meine Brille gerade in der Reparatur."

Schwester Sabine sah verwundert auf, überlegte kurz und schien erst dann begriffen zu haben. "Oh, fällt das wirklich so auf?", lachte sie und das Lachen beruhigte ihn. Niemand würde jetzt lachen, wenn der PC gerade einen Todesfall anzeigt. Waren Todesfälle in den Zimmern über die Zentrale überhaupt per Knopfdruck abrufbar? Er beschloss, sich diesen absurden Gedanken für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben, aber auch erst dann, wenn er sich sicher sein konnte, dass es seiner Mutter gut ging.

"Ich habe nämlich tatsächlich meine Brille heute zu Hause vergessen“, sagte Schwester Sabine. “Falsche Handtasche gegriffen, passiert mir ständig. Besonders am Wochenende, wenn ich Spätschicht hatte, dann....ach verzeihen Sie bitte. Ich halte Sie auf. Johanna Rosenrunge liegt auf Zimmer 123, Intensivstation, das ist gleich den Gang durch und dann rechts. Bitte melden sie sich vorher im Schwesternzimmer, damit wir Sie für den Besuch vorbereiten können.“

„Vorbereiten?“
„Ja, die Hygienevorschriften sind auf der Intensivstation sehr streng und müssen unbedingt eingehalten werden.“
In Gedanken sah er schon, wie er von seltsamen Wesen in Raumanzügen in eine Art Hochsicherheitstrakt geführt wurde, von wo aus er nun seine Mutter betrachten konnte, getrennt durch eine dicke Scheibe aus Panzerglas.

Die Wahrheit war nicht ganz so dramatisch, aber auch nicht beruhigender. Denn während die Schwestern ihn mit OP-Kleidung, Haube und Mundschutz ausstatteten, sagten sie ihm immer wieder, dass seine Mutter sehr viel Ruhe bräuchte und sie sich auch auf gar keinen Fall aufregen sollte.

Auf seine Frage, wie es ihr ginge und was der Auslöser für diesen Zustand war, verwiesen sie ihn jedoch an den behandelnden Arzt, der allerdings auf sich warten ließ. Aber er wagte den Schritt auch ohne ärztliches Briefing und betrat mit klopfendem Herzen und einem Gefühl in der Magengegend, als hätte sich dort ein Felsbrocken breitgemacht, das verglaste Zimmer.

Das Déjà-vu-Erlebnis kam sogleich mit dem leisen Piepton des EKGs. Er hatte so gehofft, dieses Geräusch der Herzrhythmusmaschine nie wieder hören zu müssen. Nie wieder wollte er überhaupt eine Intensivstation von innen sehen. Sein Blick fiel auf das Bett, in dem zusammengesunken ein schmaler Körper lag, das Gesicht halb bedeckt mit einer Sauerstoffmaske. Er schluckte schwer, als er sich mit langsamen Schritten näherte.

Das letzte Mal habe ich dich gesehen, da haben wir uns um eine Trivial Pursuit Frage gestritten, dachte er gequält von dem schrecklichen Anblick, der sich mit jedem weiteren Schritt vor ihm auftat. Jetzt sehe ich dich hier liegen und würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass wir uns wieder streiten könnten.

„Mama!“, flüsterte Georg leise und sah auf das schlafende Gesicht. Sie war sehr blass, ihr Gesicht eingefallen und fleckig und doch wirkte sie in diesem Zustand wie eine friedlich schlafende Frau Mitte siebzig, die gerade von all den schönen Dingen träumte, die sie noch erledigen wollte, inklusive Bridgeturnier und einem weiteren Nordseeurlaub in Kampen auf Sylt.

Du wolltest doch wieder nach Sylt, oder Mama? Zusammen mit den Damen vom Bridgeclub. Davon hast du mir jedenfalls noch....vor zwei Jahren...erzählt.“
Er stockte. Erst jetzt wurde ihm klar, wie lange zwei Jahre sein konnten, wenn man im Streit auseinander ging und sich in einem Krankenhaus zum ersten Mal wieder sieht.

Zwei lange Jahre, in denen sie 1000-mal hätten telefonieren, sich gegenseitig besuchen können und, wie früher, in den warmen Sommermonaten mit der ganzen Familie Ferien machen konnten. Sie hätten sich ein Wohnmobil gemietet und wären mit unbekanntem Ziel losgefahren. Vielleicht hätten sie sich auch einfach nur zum Kaffee getroffen und hätten bis in die späten Abendstunden geklönt und Fotos aus vergangenen Zeiten angeschaut.

Für ihn wäre es ein Leichtes gewesen, kurz nach Niebüll zu fahren, um sie in die Arme zu schließen. Aber er hatte es nicht getan, ganze zwei Jahre lang.
Er betrachtete sie und war unendlich lange Minuten nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Der Anblick seiner Mutter bereitete ihm plötzlich Schmerzen, die er bisher nie zuvor gefühlt hatte.

Die einst so strahlende und lebenslustige Frau, die er wutentbrannt aus dem Haus gejagt hatte, war nun nichts mehr als eine alte, kranke Frau, die einen unruhigen Schlaf schlief. Einen sehr unruhigen Schlaf, wie er an ihren zuckenden Augenlidern bemerken konnte. Ob sie schlecht träumte? Träumte sie überhaupt?

Oder war dieser Schlaf ein traumloser Schlaf und die Regungen an ihren Augen nur das unruhige Zucken von Nervenbahnen, die aus irgendwelchen Gründen...
„Mama, was haben die nur mit dir gemacht?“ Seine Stimme drang als kaum hörbares Flüstern aus seiner Kehle. Und verstummte in dem Augenblick, als er seine Hand auf ihre legte und er von der plötzlichen Hitze ihrer Haut erschrak.

Diese Hand kochte, so wie auch der Rest ihres Körpers einer unnatürlichen Wärme unterlag. Er spürte den hämmernden Puls in ihren Adern. Alles in ihr schien einen schwierigen Kampf zu kämpfen. „Wer viel schläft, ist stark im Kampf gegen die Krankheit!“ Das hatte Johanna früher immer zu ihm gesagt, wenn die Influenza ihn wieder einmal mit Virusgewalt ans Bett fesselte und er nicht in die Schule oder auf den Bolzplatz konnte.

Instinktiv beschloss er deshalb, sie auch schlafen zu lassen und am nächsten Tag wiederkommen. Er würde sich ein Hotelzimmer nehmen und sie dann gleich morgen nach dem Frühstück wieder besuchen. Er würde zwar wieder dieses Gelumpe anziehen müssen, aber würde im Anschluss an diese Türe klopfen und sie würde „Herein?!“ sagen. Ja, dieser Gedanke fühlte sich gut an. Doch er bröckelte mit jeder weiteren Sekunde, die er seine Mutter dort liegen sah, wie ein Termitenbau auseinander.

Plötzlich war er sich sicher, wenn er jetzt gehen würde, wäre es das letzte Mal, dass er sie lebend sah. Er schluckte und versuchte, diese grausame Sicherheit mit Tränen fortzuschleudern, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich fiel es ihm schwer, sich wieder zu beruhigen, die Kontenance, die er bereits schon zu wahren versuchte, bevor er das Krankenhaus betrat, fiel nun gänzlich von ihm ab.

Er wandte sich ab, weinte und fing gleichzeitig an, sich für diese letzten zwei Jahre vergeudete Zeit zu hassen.
"Georg?" Ihre Stimme klang schwach, aber dennoch voller Hoffnung. Und aus dem Augenwinkel sah er, wie ihre Hand nach ihm suchte. "Georg, bist du das?"

Er drehte sich um und stolperte schließlich ihrer ausgestreckten Hand entgegen. "Ja Mama, ich bin es.“ Er versuchte, so gefasst wie möglich zu klingen, doch es gelang ihm nicht.
"Oh lieber Gott ich danke dir!", flüsterte sie und er hörte, wie ihre Stimme mit einem Schluchzen verschmolz.

„Mama, was machst du denn bloß für Sachen?“, rief er liebevoll und umklammerte ihre Hand. Sie lächelte müde und hielt ihn fest. „Ich habe geträumt, dass du kommen würdest. Ich hatte so gehofft, dass ich dich noch einmal sehen könnte, bevor....“. Sie stockte und hustete gequält. „...bevor der Herrgott mich holt!“
„Der Herrgott wird dich ganz gewiss nicht holen!“, flüsterte Georg empört und versuchte verzweifelt, seine Panik zu unterdrücken. „Der Herrgott hat im Moment genug andere Probleme. Was will er mit solch einer lebensfrohen, taffen Frau wie dir?“

Sie legte ihre Hand auf seine Wangen. „Du siehst nicht gesund aus, mein Junge. Isst du etwa nicht genug?“
„Doch, doch“, log er. „Kathrins Essen schmeckt göttlich. Ich bin heute nur etwas müde. Aber sag, was ist mit dir? Was haben sie mit dir gemacht, dass ich dich so hier auffinden muss?“
Sie zuckte mit der Schulter. „Ich weiß es nicht.

Die Ärzte hier reden immer so ein Kauderwelsch, das ich nicht verstehen kann. Das Einzige, was ich verstanden habe, dass irgendetwas mit meiner Lunge nicht in Ordnung ist und aus diesem Grund auch mein Herz schwächelt. Aber eigentlich ist es mir völlig egal, was mit mir ist...es ist so schön, dass du gekommen bist. Ich habe zu Gott gebetet, dass du kommst und er hat mich wohl gehört.“

Die Türe ging plötzlich auf, herein trat eine der Schwestern, mit denen Georg zuvor gesprochen hatte. „Der Doktor ist jetzt da, wenn Sie noch mit ihm sprechen möchten.“ Georg nickte und löste sich sanft aus dem Griff seiner Mutter. „Mama, ich bin gleich wieder zurück. Ich möchte nur kurz mit deinem Arzt sprechen.“ Sie nickte. „Alles was du willst, mein Sohn.“

Dann verließ Georg das Zimmer. Wenige Augenblicke später trat ein Mann mittleren Alters auf ihn zu, der sich mit Dr. Walter Chojetzky vorstellte.
„Wie geht es meiner Mutter?“, fragte Georg zögerlich, aber doch bestimmt. Er fürchtete seine Antwort mehr als alles andere, aber gleichzeitig wollte er sie dringender als alles andere hören.

„Nun ja“, begann der Doktor. „Wir haben hier einen schweren Fall einer Pneumonie, ausgelöst durch einen septischen Schock. Sie wurde mit hohem Fieber hier eingeliefert und erlitt eine mehrfache respiratorische Insuffizienz, was wir mittlerweile stabilisieren konnten.

Allerdings liegt jetzt der Verdacht eines Pleuraergusses vor. Aber das können wir erst nach weiteren Untersuchungen genau sagen.“
Georg starrte Dr. Chojetzki eindringlich an, als könnte er irgendwo in seinem Gesicht den Knopf mit der Aufschrift „Übersetzung“ finden oder aber auch nur einen Anhaltspunkt, der ihm die Bestätigung gab, dass das Kauderwelsch des Arztes nicht annähernd so dramatisch war, wie es sich anhörte.
„Bitte entschuldigen sie, ich bin absoluter Laie. Ich weiß nicht was eine....Pneumonie...“

„Eine schwere Lungenentzündung“, erklärte der Arzt entschuldigend. „Ihre Mutter hat sich, möglicherweise durch eine verschleppte Grippe – sie hat wohl in der Vergangenheit mehrfach Infektionen durch ihr ohnehin angeschlagenes Immunsystem erlitten – eine äußerst schwere Lungenentzündung zugezogen.

Allerdings ist dies zu spät diagnostiziert worden. Ihre Mutter war nicht bei ihrem Hausarzt, sondern ist gestern Nacht mit einem septischen Schock, also einer Blutvergiftung hier eingeliefert worden. Sie hatte mehrere Atemstillstände und wir mussten sie einmal wiederbeleben...“
„Wiederbeleben?!“, Georg starrte den Arzt fassungslos an. „Das heißt, sie wäre fast...“
„Sie ist jetzt stabil.

Die antibiotischen Medikamente scheinen anzuschlagen. Jetzt haben wir allerdings das Problem, dass die Lungenentzündung schon so weit fortgeschritten ist, dass sich im Bereich des Lungenfells Flüssigkeit gebildet hat. Aber das werden wir erst morgen feststellen können, wenn weitere Untersuchungen gemacht werden.
„Ich verstehe“, antwortete Georg bestürzt.

„Mit Wasser in der Lunge ist nicht zu spaßen.“ Unwillkürlich erinnerte er sich wieder an den Bericht in einer Zeitung und dieser Statistik von Krankheiten, die in der Regel tödlich endeten. Und er erinnerte sich genau, dass die Lungenentzündung besonders bei Senioren eine besonders häufige Todesursache war, dicht gefolgt von Schlaganfällen, Herzinfarkten oder Krebsleiden. „Wie stehen die Chancen, dass sie wieder gesund wird?“, schoss es aus ihm heraus, so dass er selbst vor seiner Frage erschrak.

Der Arzt schwieg einen Augenblick, der Georg wie eine Ewigkeit vorkam. Eine Ewigkeit, in der er genug Zeit fand, um sich die mögliche Antwort schon im Vorfeld so düster auszumalen, dass kaum noch Hoffnung auf ein Licht am Ende des Tunnels bestand.

„Es ist ihr instabiles Immunsystem, was uns ein bisschen Sorge bereitet“, sagte der Doktor und legte schließlich behutsam die Hand auf Georgs Schulter. „Herr Rosenrunge, ich verspreche ihnen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um ihre Mutter wieder auf die Beine zu bekommen. Sie hat einen starken Lebenswillen, das wird ihr und auch uns helfen.“ Dann verabschiedete er sich mit einem festen Händedruck und verschwand schließlich im Gang.

„Herr Rosenrunge?“
Georg fuhr herum und blickte, immer noch benommen von den Worten Chojetzkys, in das freundliche Gesicht der Stationsschwester.
„Wir werden Ihrer Mutter gleich ein Medikament verabreichen, das dafür sorgen wird, dass sie wieder einschläft. Schlafen ist zurzeit die beste Medizin. Wenn sie sich noch verabschieden wollen?“

Georg nickte. Langsam ging er in das Zimmer zurück, in dem seine Mutter halb wach, halb dösend auf ihn wartete. Er nahm ihre Hand, versprach ihr, am nächsten Tag wiederzukommen und wartete schließlich, bis sie friedlich einschlief.

„Mir geht es heute schon sehr viel besser. Ich habe ihnen gesagt, dass sie aufhören sollen, ständig an mir herum zu tüddeln, das macht mich ganz nervös. Und wenn man nervös ist, dann kann man doch nicht gesund werden! Herrgott, sieh dir das an! Mein ganzer Arm ist blau!“
Georg lächelte. „Das ist von den Kanülen, das geht wieder weg. In ein paar Wochen wirst du mit deinen Frauen wieder im Bridgeclub sitzen und dich kaum noch an diesen blauen Fleck erinnern. Es ist schön, dass es dir wieder besser geht.“

„Wegen dir mein Junge“, hauchte sie. „Weißt du, als ich dort in meiner Stube durch den Schwächeanfall auf dem Boden lag, dachte ich, es würde mit mir zu Ende gehen. Ich lag da, starrte die Decke an und dachte: Johanna, das war’s! Und weißt du, was das Seltsame an der Sache war? Ich fand dieses Gefühl noch nicht einmal besonders schlimm. Es hatte fast schon etwas Befreiendes. Ich war mir sicher, wenn der Herrgott mich holt, werde ich all meine Lieben wiedersehen.“

Georg schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick, doch sie fuhr unbeeindruckt fort: „Doch das Problem an der Sache war der Gedanke daran, von dir gehen zu müssen, ohne dir vorher noch mal sagen zu dürfen, wie sehr ich dich liebe. „Ich bin froh, dass sie mich noch mal auf die Beine gebracht haben."

„Versprich mir, dass wir nie wieder dieses Spiel, dieses...triviale Prescot, dieses...“
„Trivial Pursuit!“
„Ja, nie wieder spielen wir dieses Trivial Pursuit, versprichst du mir das?“
Georg starrte seine Mutter mit wachsendem Unbehagen an. Er wusste nicht, was er auf diese plötzliche Erinnerung an den Streit antworten sollte.

War das ihr verzweifelter Versuch, die Sache zu bereinigen, unter den Tisch zu kehren, sie aus der Welt zu schaffen? Nichts wäre ihm lieber, als diese unsinnige Diskussion über die Landung der Alliierten aus der Welt zu schaffen, wenn es denn auch nur wirklich um diese eine Frage gegangen wäre. Aber im Endeffekt war es vollkommen egal, wo die Alliierten gelandet waren – in der Lombardei, in der Normandie oder in Sizilien.

Es war nur eine Quizfrage, und er gab eine plausible, aber dennoch falsche Antwort und er hätte sich nur eingestehen müssen, dass er sich geirrt hatte, Punkt, Aus, Ende. Keine Vorwürfe an seine Mutter, dass er dies nicht wusste, weil er, dank ihr, schon seit seiner Kindheit dieses Thema der Alliierten mied, weil diese Fragen ihr unangenehm waren. Doch was ihr unangenehm war, wer für ihn der Vater war, den er nie hatte und von dem sie angeblich nicht einmal seinen Nachnamen wusste. Und das tat, trotz der ganzen Jahrzehnte, immer noch weh.

„Lass uns nicht mehr darüber sprechen, Mama!“, sagte Georg entschlossen und streichelte ihren Handrücken. „Ich verspreche hoch und heilig, dass wir Trivial Pursuit nicht mehr anrühren werden, wenn du kommst.“

„Nein Georg, wir sollten auf jeden Fall darüber sprechen...das wünscht du dir doch so sehr.“ Er sah sie erschrocken an.
„Ja, ich möchte es dir erzählen...alles. Und ich hoffe, du kannst mir am Ende verzeihen.“
Er holte tief Luft und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Seine Mutter wollte reden? Mit ihm? Über...Dad?

„Du glaubst gar nicht, wie schwer es mir gefallen ist, nicht über ihn zu sprechen. Er war ein wundervoller Mann, der wundervollste, den ich je kennengelernt habe. Bruce Terrel, Offizier einer amerikanischen Einheit, die damals in Hamburg stationiert waren.“
„Terrel? Du kennst also doch seinen Nachnamen?“, fragte Georg mit belegter Stimme.

Sie nickte. „Oh ja, und ob ich diesen Namen noch kenne. Ich habe dir doch erzählt, dass ich damals als Bardame in einem kleinen Pub gearbeitet habe. Nachdem mein Vater beim Angriff auf Polen ums Leben gekommen war, ging es meiner Mutter damals psychisch sehr schlecht. Mit dem wenigen Geld konnte ich mich und meine Schwester gut über Wasser halten. Weißt du, meine Mutter...“

„Ich habe Oma nie kennengelernt...“
„Ich weiß und ich möchte dir auch jetzt erklären, warum und weshalb das alles passiert ist. Gibst du mir ein Glas Wasser bitte?“ Es dauerte etwas, bis Georg ihre Bitte registrierte und sich aus seiner gedanklichen Lähmung befreien konnte.

Er stand auf, füllte wortlos ihr Glas auf und reichte es ihr. Und es dauerte unendlich lange, bis sie es an ihren Mund führte, um das belebende Nass zu trinken. Aber sie trank, unbeholfen, zittrig, aber mit Bedacht darauf, nichts zu verschütten, aber es gelang ihr nicht. Wie alt und gebrechlich sie doch geworden ist, dachte Georg traurig und reichte ihr ein Handtuch.

„So eine Schiete“, fluchte sie und kämpfte plötzlich mit den Tränen. „Nichts, aber gar nichts kann man mehr alleine machen, ohne dass etwas verschüttet oder hinunter fällt. Wo war ich stehen geblieben?“
„Bei Oma und dass du mir etwas erklären wolltest und dass du in einem Pub in Hamburg gearbeitet hast.“

„Oh ja, und es war ein mieser Laden. Ich mag es heute gar nicht mehr aussprechen, was sich die Herren und Damen der Schöpfung dort alles geleistet haben. Am Ende war der Kapitäns-Treff nur noch ein billiges Bordell. Das älteste Gewerbe der Welt würde in diesen schlechten Zeiten mehr Geld bringen, meinte Gerold, mein Chef.

Ich weiß nicht, woher er plötzlich all diese jungen Mädchen bekam, aber sie waren plötzlich da und arbeiteten für ihn. Blutjunge, arme Dinger, die ihr Selbstwertgefühl und wahrscheinlich noch eine Menge anderes irgendwo in den Gassen von Hamburg verloren hatten. Aber damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ich habe mich quer gestellt, habe versucht die Mädchen zu bekehren und sie auch teilweise vor Gerold beschützt.

Dieser herrschsüchtige Kerl hatte wirklich ein Händchen dafür, die Mädchen so zuzurichten, dass sie zwar noch gut aussahen, aber innerlich zerbrachen sie mit jedem weiteren Tag, an dem sie im Kapitäns-Treff arbeiteten. Und so kam es an einem Abend zu einer Auseinandersetzung zwischen mir und Gerold. Er fing an, mich zu beschimpfen, beleidigte mich und meine Familie als dreckiges Judenpack und das auch noch im Beisein der Gäste.

Als Jude beschimpft zu werden, unabhängig davon, ob man nun jüdischer Herkunft war oder nicht, war auch nach dem Sieg der Alliierten ein Problem. Wir waren keine Juden, aber wir wohnten mit einer Familie im Haus zusammen, deren Wurzeln im Judentum lagen.

Wir brauchten die Rosenbaums und die Rosenbaums brauchten uns, wir waren Freunde. Du hast übrigens damals noch mit dem kleinen Jakob Rosenbaum gespielt, aber daran wirst du dich nicht mehr erinnern können. Gerold, dieser miese Kerl hat mich, meine Familie und meine Freunde also beschimpft.

Und ich fand, dass wir alle schon genug Elend durchstehen müssen, als dass ich mich von so einem Besuffski vor einer versammelten Mannschaft bloßstellen lassen sollte. Also habe ich mich gewehrt.“
Sie lächelte selig. „Es war das erste und auch das einzige Mal, das ich ausgeholt und eine Ohrfeige erteilt habe. Meine Hand tat nach diesem Volltreffer richtig weh.“

Georg lächelte. „Du hast tatsächlich einen Mann, einen Zuhälter, in aller Öffentlichkeit geschlagen?“ Er schüttelte belustigt den Kopf.
„Ja, das habe ich: Und ich bin heute immer noch sehr stolz darauf, obwohl du weißt, wie ich generell zur Gewalt stehe.

Doch damals, auch wenn ich es selbst nicht glauben konnte, erhielt ich sogar tosenden Beifall für diese Tat. Besonders von einer kleinen Gruppe U.S. Soldaten, die hier ihr Feierabend Holsten trinken wollten. Unter ihnen war auch dein Vater. Und er war es auch, der schließlich dazwischen ging, als Gerold sich für seine glühende Wange rächen und mir an den Kragen gehen wollte. Danach habe ich den Laden nie wieder betreten.

Und das musste ich auch nicht, denn Bruce begleitete mich mit nach draußen und wir waren ab diesem Zeitpunkt unzertrennlich. Es war Liebe auf den ersten Blick, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte und ehrlich gesagt, wollte ich auch nichts dagegen tun.

Ich habe nicht gedacht, dass es am Ende des Krieges noch etwas Schöneres geben konnte, als die Hoffnung auf ewige Liebe in dunkelbraunen Augen sehen zu dürfen.“
Sie schwieg plötzlich. Und Georg konnte an ihren Augen ablesen, dass sie offenbar gerade in einem wunderschönen Erinnerungsbild zu versinken schien.

„Er war groß“, fuhr sie fort. „Hatte wunderschöne Augen, ehrliche Augen und ein Lächeln, das selbst die schlimmsten Verwüstungen durch das Bombardement der vergangenen Monate erhellte.

Und als wir draußen standen, sagte er nur einen Satz, in seinem gebrochenen Deutsch, der mich so gerührt hat, dass ich ihn nie vergessen werde:
`Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende – das ist von Demokrit. Sie haben Mut bewiesen und deshalb wünsche ich Ihnen auch jetzt alles Glück dieser Erde.´

Dann zog er seine Mütze, küsste mir die Hand und salutierte zum Abschied, bevor er ging. Und ich war hin und her gerissen. Es schickte sich nicht, als Frau einem Mann den Hof zu machen, das wusste ich. Ihm hinterherzulaufen war ein Ding der Unmöglichkeit, aber ich tat es dennoch an diesem Abend. Und weißt du, was ich zu ihm gesagt habe?“
Georg zuckte gespannt mit den Schultern. „Sag schon!“

„Ich sagte: `Das Glück wohnt nicht im Besitze und nicht im Golde, das Glücksgefühl ist in der Seele zu Hause – das ist auch von Demokrit. Ich finde, wenn wir beide eine Schwäche für griechische Philosophen haben, dann sollten wir uns unbedingt wiedersehen.`
Und wir haben uns wiedergesehen. Anfangs nur ein bis zweimal die Woche, später dann fast täglich. Wir waren so verliebt...“

Georg schwieg. Er fühlte sich komisch. Nein, er fühlte sich nicht nur komisch, sondern wie die männliche Form von Alice im Wunderland, deren Welt urplötzlich ganz andere Formen und Farben annahm.

Nur mit dem Unterschied, dass er sich nicht im Traumland befand, sondern in der Realität. Und in dieser Realität wussten seine für Emotionen verantwortlichen Systeme plötzlich nicht mehr, was sie fühlen sollten. Er liebte seine Mutter, das hatte er in den letzten Stunden mehr gespürt, als ihm lieb war, aber gleichzeitig meldete sich diese alte Wut in ihm zurück. Und diese alte Wut vermischte sich jetzt mit einem ganz neuen Gefühl, das er aber noch nicht so richtig definieren konnte.

Sein Vater war also doch kein einfacher One-Night-Stand ohne Rücksicht auf Verluste gewesen? Und warum um alles in der Welt war seine Mutter bis zum heutigen Tag nicht in der Lage gewesen, ihm das zu sagen?
Ohne dass er es wollte sah er sie vorwurfsvoll an. Und sie reagierte prompt mit Tränen auf diesen Blick. Tränen, die er jetzt nur schwer ertragen konnte, denn ihm war selbst zum Heulen zumute.
„Wie ist es weiter gegangen?“
Sie seufzte.

„Nun, ich wurde sehr schnell schwanger von ihm. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, was das damals bedeutete. In unverheiratetem Zustand schwanger zu sein, war die eine Sache. Es auch noch bleiben zu wollen, die andere. Ein uneheliches Kind zu haben und das auch noch von einem farbigen Alliierten war mit Abstand das größte Todesurteil für die Familienehre.

Und nicht nur das. Unsere Beziehung musste von Anfang an geheim bleiben. So kurz nach dem Krieg waren die Gemüter alle noch von den Geschehnissen gespalten, die Menschen waren den Alliierten nicht immer freundlich gesinnt. Besonders meine Mutter wetterte über die Soldaten, als sei jeder Einzelne von ihnen schuld am Tode ihres Mannes. Einmal spuckte sie einem US-Soldaten, der gerade Schokolade an die Nachbarskinder verteilte, ins Gesicht.

Er hat ihr diese abartige Beleidigung sehr übel genommen und ich musste wirklich all meine Überredungskunst aufbringen, damit er sie nicht gleich mit in Gewahrsam nahm. Ich war mir sicher, Mutter wäre vor Enttäuschung und Wut gestorben, wenn ich ihr damals von Bruce und mir erzählt hätte.

Selbst meiner Schwester habe ich mich nicht getraut, von dieser Liaison zu erzählen, aus Angst, dass sie es nicht verstehen würde. Und während ich versuchte, mich mit der Gewissheit abzufinden, dass ich schwanger war, kämpfte ich diesen schrecklichen Kampf zwischen meiner Familie und der größten Liebe meines Lebens.

Seine Einheit wurde abgezogen und er musste wieder zurück in die Staaten. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich schwanger war. Ich wollte, dass er frei und unbefangen abreisen konnte, ohne diese neue Verantwortung im Nacken. Und wir hatten nicht viele Wahlmöglichkeiten: ich musste entweder mit ihm gehen oder hier bleiben.

Hier in Deutschland mit ihm ein neues Leben anzufangen, wäre unmöglich gewesen. Wir wären hier nicht glücklich geworden. Und ich wäre mit ihm nach Amerika gegangen, wenn...."
"Wenn?", fragte Georg atemlos vor Aufregung.
"Wenn ich nicht meine Familie hätte zurücklassen müssen.

Mama ging es so unsagbar schlecht, sie hatte schon so viel verloren und auch Gerda trauerte immer noch um ihren Mann und stand allein mit ihrem Sohn da. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie im Stich zu lassen. Ich fühlte mich verantwortlich, verstehst du? Aber Bruce und ich versprachen uns noch am Hafen, dass wir uns regelmäßig schreiben würden, und er versprach mir auch, dass er bald wiederkommen würde, wenn er dürfte.

Dann, ein letzter Kuss und die Nordsee verschlang am Horizont das große Schiff, mit dem wunderbarsten Mann auf Erden. Gott, was habe ich mir damals die Augen ausgeheult. Und Gott, was habe ich mich gehasst, dass ich ihn hatte ziehen lassen, ohne das Wissen, dass er einen Sohn erwartet. Ich war mir sicher, er hätte alles für mich und später für dich getan, wenn ich es nur zugelassen hätte.

Allerdings habe ich diese schwere Entscheidung nach 9 Monaten schon bereut.“
„Nach meiner Geburt? Wieso, was ist passiert?“, fragte Georg und schenkte seiner Mutter, noch bevor sie ihn dazu auffordern konnte, bereitwillig nach. Sie bedankte sich mit einem Nicken und sprach dann weiter.

„Die Aufregung darüber, dass ich mit einem unehelichen Kind schwanger war – und das konnte ich seit dem sechsten Monat nicht mehr verbergen - sorgte für helle Aufregung. Mutter sprach von Zwangsadoption und sogar von der Idee, dieses kleine Wesen vor einem Waisenhaus auszusetzen. Anonym, und gleich nach der Geburt, damit niemand etwas erfuhr.

Sie hatte sogar schon Pläne mit unserem damaligen Hausarzt geschmiedet, der ebenfalls der Meinung war, dass es mir und meiner Zukunft schaden würde, das Kind zu behalten. Er hätte da auch schon eine Idee, wem er das Kind nach der Geburt überlassen könnte, entgeltlich, versteht sich."
Georg vergrub fassungslos das Gesicht in seinen Händen. „Was war Großmutter nur für ein Mensch?!“ Johanna nickte traurig.

"Es war eine andere Zeit damals, Georg, und es war eine schlimme Zeit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Kummer und Schmerz sich mit dem Krieg auf die Menschen niedergelegt hatte. Es gab keine Strohhalme, an die man sich festklammern konnte, es sei denn, es war jemand da, der einem dabei half, nach solch einem Halm zu greifen.

Wer niemanden hatte, und Mutter hatte niemanden, starb innerlich an gebrochenem Herzen und hegte gegen alles einen Groll...so wie Mutter. Je näher der Termin der Geburt rückte desto mehr Angst bekam ich, besonders vor ihr. Ich wusste nicht, wohin und zu wem, wenn es soweit war. Immer wieder gab es Diskussionen mit Mutter, in denen sie mir und meinem ungeborenen Kind drohte. Auch Gerda stand in dieser Zeit nicht gerade hinter mir.“

„Ich dachte, Tante Gerda sei...“
„Dazu komme ich später. Zunächst war da nur die Schande, die ich über diese Familie bringen würde und die sei laut Mama und Gerda unermesslich. Und zu diesem Zeitpunkt wussten sie nicht, dass dein Vater ein Farbiger mit namibischer Abstammung war.

Das erfuhren sie erst, als du in diesem kleinen Hinterzimmer einer Arztpraxis auf die Welt kamst.“ Georg sah sie erstaunt an. "Du hast mir erzählt, dass ich in einem Krankenhaus auf die Welt gekommen bin..."

"Nein, das stimmt so nicht", gab Johanna kleinlaut zu. "Die Rosenbaums, diese jüdische Familie, sie kannten einen Arzt, der ihnen auch zu Kriegszeiten stets beigestanden hatte, wenn es um ihre Gesundheit ging und die ihrer Kinder. Dr. Berthold war ein sehr lieber und hilfsbereiter Arzt. Ich habe mich ihm anvertraut und ihm erzählt, dass ich nirgendwo anders hin kann, ohne dass man mir mein Kind wegnehmen wollte.

Er hatte Verständnis. Allerdings klärte er mich darüber auf, dass die genetische Herkunft nach der Geburt offensichtlich wäre. Natürlich wäre es durchaus möglich, dass das Kind eine hellere Hautfarbe besäße, aber dennoch wäre die afrikanische Abstammung nicht zu leugnen - was auch sehr schade wäre.

Als die Wehen anfingen, rief ich ihn an. Wie versprochen holte er mich ab und brachte mich in seine Praxis. Die Geburt verlief ohne Komplikationen. Du warst ein gesunder und aufgeweckter Junge. Ich war so stolz auf dich!“ Sie streichelte ihm liebevoll das Gesicht und Georg kämpfte tapfer gegen den Drang, sich dieser Berührung zu entziehen.

Er wollte sie nicht zurückstoßen und verletzen, aber in seinen Gedanken tat er es dennoch, und sogar noch viel mehr. In seinen Gedanken wollte er sie anschreien, sie schütteln und sie fragen, warum sie ihm das nie erzählt hätte. Vielleicht wollte er Sie auch nur schütteln, um noch mehr von diesen Wahrheitsfetzen aus ihr herauszubekommen. Er wollte mehr hören, obwohl er gleichzeitig genau das nicht wollte.

„Nach zwei Tagen wagte ich voller Euphorie den Schritt nach Hause. Ich war mir sicher, dass dieses wunderbare Wesen in meinem Arm niemanden abstoßen könnte. Du warst so unglaublich niedlich, dass sich selbst Dr. Bertholds Krankenschwester in dich verliebt hatte.

Ich ging also mit dir nach Hause, doch das Erste, was Mama sagte, als sie dich sah: Oh Gott im Himmel, was ist das?! Das Zweite: Verlass sofort mein Haus und komm erst wieder, wenn du diese Schande losgeworden bist.
Ich bin gegangen und ich kam nie wieder. Die Rosenbaums verschafften mir eine Bleibe bei einer Familie, wo ich schlafen, essen und wohnen durfte und im Gegenzug in Hauhalt und Garten half.

Es war meine Schwester, die mich schließlich nach drei Monaten dort aufspürte, um mir mitzuteilen, dass Mama sämtliche Fotos von mir vernichtet und ihr verboten hatte, überhaupt nur meinen Namen zu erwähnen. Und sie war es auch, die mir schließlich weinend in die Arme fiel, sich entschuldigte und mir dann die ersten drei Briefe gab, die Bruce inzwischen an die alte Adresse geschickt hatte.

Ich war ihr sehr dankbar dafür, doch der Inhalt hat mir das Herz gebrochen. Seine Worte klangen jedes Mal so voller Liebe, voller Sehnsucht, doch ich war mir immer noch sicher: wir hatten keine Zukunft. Auch wenn er gekommen wäre, um mich zu bitten, mit ihm nach Amerika zu gehen.

Ich hatte Angst vor Amerika. Ich hatte Angst vor diesen permanenten Schreckensnachrichten über Rassentrennung, dieser Kampf Weiß gegen Schwarz, ich hatte einfach Angst um dich und deine Zukunft, Georg. Also beging ich den wohl größten Fehler meines Lebens: Ich schrieb Bruce einen Brief zurück, in dem ich ihm mitteilte, dass ich einen neuen Mann kennengelernt hätte und jetzt glücklich wäre.

Er sollte damit aufhören, mir Briefe zu schreiben, ich würde sie ab sofort nicht mehr beantworten, und ich schrieb ihm auch, dass auch er sein eigenes Glück suchen und finden sollte. Unerträgliches Schweigen erfüllte plötzlich den Raum. Johanna führte abermals mit zittrigen Fingern das Glas zum Mund und verschüttete abermals einige Tropfen. Doch diesmal fluchte sie nicht.

„Du hast was?“ Georg konnte seine Empörung nur schwer zügeln und wäre am liebsten quer durch das ganze Zimmer getobt. „Du hast ihn in den Glauben gelassen, dass du nichts mehr von ihm wissen willst? Und ohne ihm zu sagen, dass er einen Sohn hat?“ Sie nickte und sah Georg traurig an. Er ging schnaufend zum Fenster. Bloß jetzt nicht die Fassung verlieren!

Er starrte hinaus ins Leere und suchte verzweifelt nach einem Punkt, der ihn zur Ruhe zwang. Er spürte wie die alte Wut wieder in ihm hoch kam. Nach einer Minute des Schweigens hatte er sich wieder halbwegs im Griff. „Und hat er damit aufgehört, dir Briefe zu schreiben? Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Nein, er hat nicht aufgehört. Im Gegenteil.“
„Was hat er geantwortet?“
„Ich weiß es nicht...“

„Du weißt es nicht?! Aber du hast sie doch gelesen. Du wirst dich doch wohl noch dran erinnern können, wie er auf diese Nachricht reagiert hat“, fragte er und es lag ein Hauch von ungeduldiger Hysterie in seiner Stimme.

„Ich weiß es nicht, weil ich sie nie gelesen habe.“ Sie weinte wieder und Georg spürte, dass es die Tränen tiefer Verzweiflung waren. Er setzte sich wieder zu ihr.
„Immer wieder brachte meine Schwester Briefe von ihm, die ich dann ungeöffnet in eine Schublade steckte. Ich konnte sie einfach nicht lesen, aber ich konnte mich auch nicht von ihnen trennen und sie wegwerfen.

Es war wie ein magisches Band, was mich an diese Briefe fesselte, aber deren Anblick auch gleichzeitig mich immer wieder neu verletzte, wenn ich sie in meinen Händen hielt.“
„Was ist mit diesen Briefen passiert?“
"Ich habe irgendwann versucht zu vergessen, dass es sie überhaupt gibt und sie an einen Ort geschafft, wo ich sie auch nie wieder finden sollte.

Dummerweise scheint dieser Plan aufgegangen zu sein. Ich weiß es wirklich nicht mehr, wo ich sie versteckt habe. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, weil ich damals an ganz schlechten Tagen starke Medikamente gegen meine Traurigkeit nehmen musste. Ich habe sie versteckt, aber wo? Ich weiß es nicht mehr.“
"Aber sie existieren noch?"

Sie nickte. "Ich bin zwar seit damals mehrmals umgezogen, aber ich bin mir sicher, dass sie irgendwo in meiner Wohnung sind. Das einzige Möbelstück, was ich irgendwann ausrangiert habe, war ein alter Kleiderschrank und das Sideboard. Aber darin habe ich die Briefe auch nicht versteckt – es wäre zu einfach!“
"Hast du nicht selbst noch einmal danach gesucht?", fragte Georg ungläubig.

"Nein“, sagte sie nachdenklich, dann schwieg sie für eine ungewöhnlich lange Zeit. Und Georg sah es ihr an, dass sie scharf nachdachte. Vielleicht sogar etwas zu lange, denn plötzlich stand ihr die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben.

„Ich weiß, ich hätte das alles nicht tun dürfen. Heute weiß ich, dass es falsch war. Schlimmer noch, es war der größte Fehler meines Lebens und glaube mir, mein Junge, dafür büße ich heute noch. Aber ich habe mich bemüht, dich von all dem Kummer und Leid, was ich deswegen in mir trug, fern zu halten. Ich habe versucht, dir eine gute Mutter zu sein, habe dir jeden Wunsch von den Augen abgelesen, mich für deine Träume eingesetzt.

Mir hat es fast das Herz gebrochen, als du damals auf dieses Internat gehen wolltest. Aber ich habe es dir ermöglicht, selbst wenn es das Letzte gewesen wäre, was ich für dich getan hätte. Ich wollte, dass du irgendwann dastehst und dir allein all deine Träume erfüllen kannst, auf die ich damals verzichten musste.“

Sie schwieg einen kurzen Augenblick. Dann fragte sie plötzlich: „Warst du ein glückliches Kind, Georg?“
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. So, als kroch er jedes einzelne Jahr zurück, um noch einmal zu erleben, was er damals erlebt und gefühlt hatte. Manche Stellen erreichte er nicht mehr, sie waren zu weit weg und wieder andere Stationen seines Lebens zauberten ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Natürlich gab es Zeiten, die nicht einfach waren. Aber auch wenn er ein Schwarzer war, hatte er neben den üblichen Beleidigungen auch viel Anerkennung erlebt. Vielleicht, weil seine Mutter ihm nie das Gefühl gegeben hatte, anders oder schlechter zu sein. Vielleicht, weil seine Mutter ihm wirklich all das gab, was er brauchte, um glücklich zu sein.

Die Zeit im Internat war eine gute, eine schöne Zeit. Er hatte dort viele Freunde kennengelernt, auch Säuerling. Sie hatten dort zusammen Abitur gemacht und eine wunderbare Zeit erlebt, mit allem, was dazu gehörte. Ja, er war nicht nur ein glückliches Kind, sondern auch ein glücklicher junger Mann. Die Vaterfrage war immer präsent, aber es hatte sein Leben nicht nachhaltig beeinträchtigt.

Mama hatte dafür gesorgt, dass nichts und niemand ihn beeinträchtigte. Nur sie ganz allein war beeinträchtigt. Sie hatte viel gearbeitet, regelrecht von morgens bis abends geschuftet. Erst als Reinigungskraft in einem Krankenhaus, wo sie sich sogar eine lebensbedrohliche Infektion zuzog, und dann jahrelang in einer Großwäscherei.

Sie war so gut wie nie fort gewesen, ging nicht einmal mit Männern aus. Das alles hatte sie getan, für ihn. Für ihn, für sein Leben und für seine Träume. Doch was war mit ihr? Was war mit ihren Träumen und ihren Wünschen? Er hatte sie nie danach gefragt. Nicht ein einziges Mal. Er hatte es in all den Jahren nicht einmal gemerkt, wie schlecht es ihr wirklich ging.

„Gott, was bin ich nur für ein Idiot!“, brach es plötzlich aus ihm heraus. „Ich war so egoistisch. So verbohrt, so undankbar! Es tut mir leid!“
„Nein, mein Junge! Es tut mir leid! Es tut mir sogar aufrichtig leid, dass ich all die Jahre so unehrlich zu dir war. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich es dir erklären sollte. Ich hatte Angst, dass du mich dafür hassen würdest.“
„Dich hassen?“

Sie nickte und wieder überströmten Tränen ihr Gesicht. Ein Anblick, dem auch Georg nicht mehr standhalten konnte und losschluchzte.
„Ich könnte dich niemals hassen! Was glaubst du eigentlich, was ich für eine große Angst hatte, dich nicht mehr lebend wiederzusehen. Das, was du all die Jahre für mich getan hast, das was ich dank dir erreichen konnte, das kann kein Streit der Welt mehr kaputt machen.

Ich habe das einfach nur zu spät erkannt! Aber es ist niemals zu spät! Wenn du mir versprichst, dass du sehr bald hier wieder gesund und munter rauskommen wirst, verspreche ich dir, dass ich ihn suchen werde!“
Johanna starrte ihren Sohn erschrocken an. „Du willst ihn...suchen?“

Georg nickte entschlossen. „Ja Mama, ich werde Bruce Terell suchen! Denn er hat verdammt noch mal das Recht zu erfahren, dass er einen Sohn hat, und die Frau, die ihm damals das Herz brach, es aus Liebe zu ihm und ihrem Sohn getan hat. Außerdem erfülle ich mir damit den Herzenswunsch, von dem du sprachst. Also, wirst du endlich wieder auf die Beine kommen, Mutti?“
„Ja, mein Junge!“, sagte sie und lächelte. „Danke!“ Sie weinte leise und er umarmte sie liebevoll. Eine Weile verharrten sie so und es schien, als wollte der Eine den Anderen nicht mehr loslassen, aus Angst, dass dieser Augenblick nicht wiederkehren könnte.

"Wie lange wirst du noch bleiben?“, fragte sie ihn irgendwann müde.
„Natürlich so lange, bis es dir wieder besser geht.“
„Das ist schön!“ Georg merkte, wie ihr immer wieder die Augen zufielen. „Du solltest jetzt schlafen, Mutti.“ Sie schüttelte den Kopf. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin!“
„Das war ein ganz schlechter Scherz jetzt!“, knurrte Georg, konnte sich ein halbes Lächeln aber nicht verkneifen. „Na wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren!“

„Das, was ich dir jetzt aber sage, ist kein schlechter Scherz, hörst du? Geh zu Gerda. Sag ihr, dass du in meinem Auftrag ein paar Sachen für mich aus meiner Wohnung holen sollst und dass sie dir meinen Hausschlüssel geben soll. Wenn es dir und mir hilft, dass wir so wieder zueinander finden, wie ich es mir wünsche, dann geh und suche diese Briefe. Tu es für dich, tu es für uns...

"...und für Dad!", sagte Georg und lächelte dankbar. Wieder fielen ihr die Augen zu und sie hatte große Schwierigkeiten, sie wieder zu öffnen. „Ich werde jetzt gehen, Mama, damit du schlafen kannst. Je mehr du schläfst, desto schneller bist du wieder auf den Beinen.“ Sie gab ihm die Antwort mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung. Er stand langsam auf, griff nach seiner Jacke, gab ihr noch einen Kuss, dann ging er zur Tür.
„Danke!“, rief sie ihm noch leise nach, dann verließ er den Raum.




Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung

Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.

. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.

Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Sie erzählt ihrem Sohn nun endlich die Wahrheit über seinen Vater. Eine traurige Geschichte ohne Happy End. Rosenrunge gibt nicht auf und forscht nach seinem Vater.

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