Wunderheilung
Etwa zwei Stunden später huschte ein kleiner Mexikaner mit Zahnlücke und einem seltsamen Schatten im Schlepptau über die Flure des Engativa Hospitals mit dem Ziel, ungesehen zu bleiben. Das war eine ganz neue Herausforderung für ihn, denn für gewöhnlich herrschte, egal wo er auftauchte, immer Aufruhr wie durch Pauken und Trompeten, besonders dann, wenn es um die Corrida de Toros ging.
Er fixierte Zimmer 408, sah sich dann nach allen Seiten sorgfältig um und achtete besonders auf die kleine Kolumbianerin, die es sich scheinbar zur Hauptaufgabe gemacht hatte, in diesem Zimmer ein und aus zu gehen. Auf ihrem Namensschild stand „Schwester Odalys“, das hatte er sich gut gemerkt.
Sie durfte ihn am wenigsten sehen, sonst würde sein Plan nicht aufgehen. Georg Rosenrunge hatte er vorhin mit seiner brachialen Überredungsgewalt in der Hauscafeteria im untersten Stock geparkt. „Du musst unbedingt etwas essen, Amigo! Denk an deinen nervösen Magen! Immer schön essen und trinken bevor du...“
„Schon gut, Matador!“, hatte Rosenrunge seufzend kapituliert. “Ich füge mich deiner Gewalt und hau mir ein saftiges Steak und einen Kaffee rein. Ich hoffe, dass es hier Steaks gibt?“
„Aber natürlich doch! Steak vom feinsten Stier!“
Ja, ihn war er schnell losgeworden. Und auch Odalys war in diesem Augenblick nirgendwo zu sehen, die Luft war also rein.
„Àndale!“, zischte Pedro und schob die Gestalt ungeduldig die letzten Meter über den Flur, bevor er mit ihm im Zimmer 408 verschwand.
Manfredos Zustand war unverändert, aber dennoch im grünen Bereich, das hatte er Dr. Garrahan sagen hören. Aber das hatte ihn nicht zufriedengestellt und das wiederholte Herzflattern von heute Nachmittag erst recht nicht. Und er war sich sicher: hier konnte die normale Schulmedizin nichts mehr ausrichten.
Manfredo fühlte sich auf seiner karibischen oder mexikanischen, wie auch immer, Fraueninsel scheinbar zu wohl. Und es war die Insel des Teufels, davon war er überzeugt. Der Teufel hielt ihn fest, hielt ihn davon ab, zu ihnen zurückzukehren. Und diesen Teufel konnte nur er, der große Yae Fashan, ihm austreiben. Erwartungsvoll blickte er seine bogotanische Schnellerrungenschaft, die ihn ein halbes Vermögen gekostet hatte, an und hoffte auf irgendeine Regung.
Der Mann war ihm so unheimlich wie die Augen des Stiers, in die er einst im Pamplona blicken musste. Bevor die Faust eines Mitläufers, dem er zuvor seinen Ellenbogen ins Gesicht rammte, ihm den oberen Vorderzahn ausschlug. Ja, die Augen des Stiers, die waren ihm in der Tat unheimlich. Aber so unheimlich und stierähnlich Yae Fashan auch war, man hatte ihm dennoch gesagt, dass er nicht nur der beste Geistheiler, sondern obendrein auch noch ein anerkannter Exorzist sei.
Er habe schon einigen Familien aus ihrer Besessenheit geholfen. Somit hatte er gleich zwei Moskitos mit einer Klappe geschlagen. Wenn Fashan Manfredo nicht heilen konnte, so konnte er aber ihm zumindest den Teufel austreiben, der ihn daran hinderte, wieder aufzuwachen.
„Was ist passiert?“, fragte Yae Fashan aus einem tiefen zerfurchten Gesicht, dessen jede einzelne Falte für eine Menge Weisheit stand – allerdings Weisheit von der Sorte, die irgendwo jenseits von Himmel und Hölle stand. Pedro schluckte. "Ein Schlangenbiss“, antwortete er. „Ein mächtig böser Schlangenbiss. Hat ihm die Schuhe ausgezogen."
Yae Fashan flüsterte etwas Unverständliches und zog einen kleinen Beutel aus seiner Tasche. Pedro verfolgte jede einzelne seiner Bewegungen und hätte ihm gerne die eine oder andere Frage gestellt.
Fragen, wie „Was zum Teufel tust du da?“ oder aber auch: „Du wirst meinem Manfredo doch nicht weh tun?!“ Aber Yae Fashan hob jedes Mal, wenn er allein nur zum Sprechen ansetzen wollte, mahnend die Hand und hinderte ihn mit einem energischen „Psssst!“
„Die Geister dulden keine Störungen von drittklassigen Sterblichen. Ich bitte um absolute Ruhe!“
„Perdón!“
Dann drückte Yae Fashan Pedro mit grimmiger Miene eine Trommel in die Hand und forderte ihn auf, den Takt anzugeben. Pedro gehorchte prompt und begann ehrfürchtig mit den Handflächen auf der zornvollen Damaru zu trommeln. Das Tier, welches seine Haut für die Bespannung lassen musste, grinste ihn dabei geradewegs aus seinem Schoß an. Ich habe mir den Teufel persönlich von der Straße geholt, dachte Pedro, dann brach auch er plötzlich in leisen Sprechgesang aus.
Zehn Minuten später betraten Schwester Odalys und Rosenrunge zeitgleich das Zimmer und erstarrten noch mitten im Lauf, als Yae Fashan gerade in Ekstase geriet und sich wankend und tanzend durch den Raum bewegte, während Pedros Trommel noch immer den Takt angab. „Was zum...“, Rosenrunge verstummte, als er die Situation registriert, in seinem Kopf schließlich zu einer Meinung verarbeitet hatte.
Ein Feuer der Wut züngelte sich durch seine Magenwände, arbeitete sich durch seine Adern, nahm seinen Weg über die Fäuste, die sich mit einem kurzen Zucken zusammenballten und brach schließlich in einem unaufhörlichen Wortschwall aus seinem Mund. „Sag mal, hast du sie nicht mehr alle, Fernandez?! Das kann nicht dein Ernst sein! Wie kannst du es wagen, hier so einen vermoderten Quacksalber einzuschmuggeln?!
Das hier ist eine Intensivstation!“ Pedro winkte augenrollend ab.
„Reg dich nicht auf Georg, das ist nicht gut für deinen nervösen Magen, du weißt doch...!“
„Ach, halt’s Maul!“
Und während Rosenrunge und Pedro sich ein weiteres erbittertes Wortgefecht lieferten, war es Schwester Odalys, die sich über Manfreds Kopf beugte, um zu sehen, ob es ihm gut ging.
„Catastrófico idiotez!“, sagte Odalys leise. Es dauerte einen Augenblick, bis Manfred Säuerlings Bewusstsein die Worte dieser Frau verstanden hatte. Er sah sie nicht, aber er spürte und roch sie. Da war wieder dieser himmlische Duft von Orchideen. Und er befand, dass es jetzt an der Zeit wäre, die Augen zu öffnen und zu handeln, bevor diese Engelsstimme mitsamt ihrem Duft wieder im Nirwana verschwand. Noch nie hatte er gehört, dass eine Frau so wunderbar wüste Beschimpfungen aussprechen konnte.
“Was machen die nur mit Ihnen, Señor Säuerling?!“, seufzte sie leise und begann, ihn neu zu betten. Als Manfred die Augen halb öffnete, blinzelte er gequält und es dauerte einige wenige Sekunden, bis er sich an den plötzlichen Lichteinfall gewöhnt hatte. Doch dann blickte er direkt in zwei wunderschöne schwarzbraune Augen, deren Wimpern schier bis ins Unendliche reichten.
Es waren Augen die strahlten, Augen die lebten und die kleinen, hauchdünnen Fältchen verrieten, dass es lachende Augen waren. Die Augen einer fröhlichen, lebenslustigen Frau, deren Stimme nicht nur wie Engelsgesang klang, sondern die auch wie ein Meer aus Rosen duftete. Immer tiefer versank er in ihrem Glanz, als könne er nur dort die Antwort auf all die Fragen finden, die er sich bisher noch nie zu fragen gewagt hatte. Doch ihre Augen verrieten ihm noch etwas anderes.
Etwas, was er zunächst nicht richtig deuten konnte. Etwas, was ihn anlockte, ihn näher zu sich heranzog, um ihn zu paralysieren. Sehe ich tief in dir etwa doch ein Meer von Traurigkeit? Was für ein Geheimnis trägst du in dir, schöne Unbekannte? Stumm hauchte er ihr diese Frage entgegen und spürte im gleichen Augenblick, dass er gerade eine Entscheidung getroffen hatte.
Er würde die Antwort darauf nur finden, wenn er ihr nahe sein könnte. Und er würde alles darum geben, um ihr nahe zu sein. Er würde alles darum geben, immer wieder in diese Augen schauen zu dürfen. Sie zu ergründen, sie zu...
„Catastrófico idiotez! Jetzt hören sie auf! Das hier ist ein Krankenhaus – er wacht auf!?“
...alleine dafür würde es sich lohnen weiterzuleben, selbst wenn das ganze Zimmer mit schrecklichen Idioten übersät war. Es würde ihn nicht mehr davon abhalten aufzuwachen. Nichts und niemand würde ihn jemals mehr daran hindern aufzuwachen, wenn er nicht so schrecklich müde wäre. Verzweifelt kämpfte er gegen die geballte Kraft seiner Lider an, doch sie schlossen sich erbarmungslos, wie das Tor eines Hochsicherheitstraktes. Er wollte nach ihrer Hand greifen.
Er wollte sie festhalten und sie bitten, nie wieder fort zu gehen, doch sein Arm reagierte auf keinen seiner Befehle. Er spürte, dass sie gegangen war, was blieb, war ihr wundervoller Duft und ihre Stimme, die er aus weiter Ferne noch hören konnte, wie sie rief: „La madre que te parió! Schnell, wo ist Dr. Garrahan?“ Dann fiel er wieder in die Dämmerung.
Im Raum herrschte plötzlich eine unheimliche Stille. Pedro und Georg hatten abrupt zu streiten aufgehört und sahen sich erstaunt an. „Was hat sie da gerade gesagt?“, fragte Rosenrunge und starrte auf die offen stehende Türe, durch die sie mit wehenden Haaren auf den Flur gestürzt war. „Sie sagte, dass Manfredo wach geworden sei...“
Sie standen wie angewurzelt da und richteten langsam ihren Blick auf den schlafenden Manfred, dessen Finger sich ganz offensichtlich gerade in seine Bettdecke gekrallt hatten. „Mensch Manni“, rief Rosenrunge und stürzte sich an das Bett seines Freundes. Doch die Freude wich der großen Enttäuschung, als er sah, dass die Augen immer noch geschlossen waren. Doch dann sah auch er plötzlich die Veränderung in seinem Gesicht. Es hatte wieder Farbe gefunden und auch seine Augenlider verrieten, dass wieder Leben in ihnen war.
Auch Pedro vergewisserte sich von dem neuen Zustand seines Manfredo. Dann blickte er zur Türe. Dort, wo er den alten Yae Fashan gerade noch hatte stehen sehen. Doch der war bereits schon gegangen. Durchgebrannt mit seinen 50 Dollar, die er noch schnell auf 25 runter handeln wollte, immerhin musste er diese aus eigener Tasche zahlen. Aber auch wenn er nicht mehr dort stand, war er sich sicher, dass Manfredo einzig und allein wegen ihm, seinen Trommelkünsten und vielleicht auch ein bisschen durch Yae Fashans Hilfe, wieder zurückgekehrt war.
Ein breites glückliches und zufriedenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Gracias a Pedro, ich bin einfach der Beste!“, sagte er leise zu sich selbst.
Odalys Wangen leuchteten vor Aufregung, als sie wieder zurück kam. Unsanft drückte sie Pedro und Georg zur Seite, um Manfred sehen zu können. Instinktiv griff sie nach seiner Hand und suchte seinen Blick. „Mein Name ist Schwester Odalys “, hauchte sie und lächelte sanft.
„Ich bin froh, dass sie wieder da sind, Señor Säuerling. Ich habe bereits Dr. Garrahan gerufen, damit er nach ihnen sieht.“ Sie sah ihn an und griff nach seiner Hand. Manfreds Augen waren wieder geschlossen, doch sie fühlte einen zärtlichen Gegendruck in ihren Handflächen und auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln.
Sie warteten jetzt schon eine halbe Ewigkeit auf dem Flur. Jedenfalls kam es Rosenrunge wie eine Ewigkeit vor, seitdem Dr. Alvaro Garrahan sie aus dem Zimmer geschickt hatte, damit er nach Manfred sehen konnte. Er war zwar endlich aus dem Koma erwacht, aber seine Wahrnehmung war noch sehr getrübt. Er müsse erst noch untersucht werden, um mögliche Folgeschäden abzuwägen, hatte Odalys gesagt. Pedro saß Kerne kauend auf einer Bank im Flur und hielt angeregt eine Rede.
„Manfredo ist wahrhaftig ein Kämpfer! Wie 1981, El Viti. Ich werde niemals dieses Lächeln in seinem Gesicht vergessen, als er nach einem dramatischen Kampf neben dem erlegten Stier stand und in die Menge blickte. Das war...mucho fantastico!“ Georg hörte ihm nicht zu. Er wollte ihm nicht zuhören und mit jeder weiteren Minute in diesem stickigen Gang wuchs in ihm der Drang, die Tür zur Intensivstation aufzureißen oder zumindest mal anzuklopfen, um zu fragen, ob das Kaffeekränzchen da drin noch etwas länger dauern würde.
Denn er wäre jetzt wirklich sehr darauf erpicht, seinen fast totgeglaubten und komatisierten Freund endlich mit einem Handschlag zu begrüßen. Verdammt, was dauert das denn so lange? fluchte er stumm und sah auf die Uhr.
„Wenn Manfredo wieder auf den Beinen ist, dann nehme ich euch beide einfach mit nach Mexiko oder wir machen einen Abstecher nach Spanien, ihr müsst euch das unbedingt mal ansehen...“
Vielleicht würde er Manfred auch einfach in die Arme schließen und eine heimliche Träne verdrücken, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass ihn die Warterei wahnsinnig machte, und dass auch Pedro ihn wahnsinnig machte. Und er schwor sich, ihn bei der nächsten Stierkampf-Bemerkung einfach aus dem Fenster zu werfen.
Es wäre die einfachste Methode, um ihn los zu werden und falls er den Sturz aus dem siebten Stock doch überleben würde, dann hätte er gleich die nötige Hilfe, die er brauchte. Er trat zum Fenster und sah hinunter auf die Straße. Es herrschte reger Verkehr. Die Hitze flimmerte auf dem Asphalt, während Autos und knatternde Vespas wild durcheinander fuhren und dazwischen Fußgänger liefen wie die Ameisen.
Das Krankenhaus lebt wahrscheinlich allein nur von dieser Kreuzung, dachte Rosenrunge und betrachtete das Wirrwarr mit einer Mischung aus wachsendem Unbehagen, aber auch Erstaunen. In Deutschland hätte es unter diesen Umständen, mit diesem Verkehrsaufkommen und ohne Ampel schon eine Massenkarambolage mit unzähligen Toten und Verletzten gegeben.
Entweder hielt hier irgendein schützendes höheres Wesen die Hand über diese Kreuzung oder aber die Menschen waren ein eingespieltes Team, das genau wusste, wie, wann und wo man diese Kreuzung überfuhr. Natürlich immer mit dem Hauptaugenmerk, selbst dabei nicht überfahren zu werden. Das eingespielte Team...wo die eine Hand immer wusste, was die andere tat...Verlässlichkeit, Vertrauen, Freundschaft. Wieder wanderte sein Blick auf die Stationstür in der Hoffnung, dass endlich etwas passieren würde. Und in der Tat, es passierte etwas. Dr. Alvaro Garrahan trat heraus und begrüßte Georg mit einem freundlichen Lächeln.
„Er ist noch etwas benommen und spricht sehr langsam, aber wir konnten bis jetzt keinerlei Folgeschäden feststellen. Alles im grünen Bereich, sie können jetzt zu ihm. Aber bitte nicht zu sehr überfordern, das gemeinsame Schachspiel muss wohl noch etwas warten.“
„Ich verstehe“, lächelte Georg, schob sich aber dann in erkennbarer Eile an dem Doktor vorbei und ging geradewegs Richtung Zimmer 408, Pedro folgte ihm wortlos. Odalys war immer noch im Zimmer und war gerade mit Manfreds Kopfkissen beschäftigt, doch Georg registrierte sie kaum. Er trat ohne zu zögern an das mit Geräten und Apparaten umringte Bett und sah seinem Freund zum ersten Mal seit Tagen wieder in die Augen.
„Hey, Muchacho!“, sagte er vorsichtig. Und, als hätte sein Ruf eine Staubwolke direkt in Manfreds Rachen geweht, musste dieser unwillkürlich husten. Aber es war kein alarmierendes Husten. Es war ein lebendiges Husten, das lediglich nach einem Glas Wasser verlangte. Instinktiv reagierte Georg und reichte ihm ein Glas von dem stillen Nass.
Jetzt hatte auch Pedro Mut gefasst, seinen Auftraggeber zu begrüßen und winkte Manfred etwas dümmlich zu. „Bist du endlich zurück von der Insel der Frauen, ja?!“
„Insel der Frauen?“, fragte Manfred rauh und sah Pedro erstaunt an. „Das kann dir Pedro, später erklären“, sagte Manfred. „Mann, du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Deine Liebe zur Natur in allen Ehren, aber musste es gleich eine Lanzenotter sein?“
„Lanzenotter?“ Säuerling drehte seinen Kopf langsam zur Seite und versuchte sich aufzusetzen. Doch allein der Versuch rief plötzlich den stechenden Schmerz wieder in sein Bein und er sank zurück. „Verdammt, was haben die mit meinem Bein gemacht?“
Rosenrunge sah erst Pedro, dann Odalys hilfesuchend an. Sie nickte und gab ihm aber mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er es ihm auf sanfte Weise erklären sollte. Dann sagte er schließlich: „Ja, es war eine Schlange, die dich aus den Schuhen gehauen hat. Das Gift hat sich rasendschnell in deinem Unterschenkel ausgebreitet.
Die Schlange hat ihr Gift direkt in deine Vene injiziert. Du kannst wirklich von Glück reden, dass Odalys da war. Sie hat dir nicht nur dein Bein gerettet, sondern auch deinen weißen Arsch, Muchacho!“ Odalys lächelte verlegen und man konnte ihr im Gesicht ansehen, dass sie die letzten Worte von Georg, trotz ihrer gebrochenen Wortschatzes, sehr wohl verstanden hatte.
„Erinnere dich an die weisen Worte, die Alexander von Humboldt einst sagte: Der Mensch muss das Gute und Große wollen, das Übrige hängt vom Schicksal ab! Und das hier, mein Lieber, das hier war dein großes Schicksal!“
„Humboldt verzapft wirklich so einen Blödsinn?“, Säuerling lächelte schmerzverzerrt.
Schwester Odalys verabschiedete sich mit einem stummen Nicken und verließ den Raum. Säuerling sah ihr nach und sein enttäuschter Blick verriet, dass er es schade fand, dass sie ging. „Mein großes Schicksal, was?“, wiederholte er gedanken-versunken.
„Der Arzt sagt, dass du bald wieder der Alte sein wirst“, sagte Rosenrunge. „Ehrlich gesagt fürchte ich mich davor!“ Säuerling lachte, wenn auch immer noch etwas kläglich. „Und haben die Ärzte dir auch schon verraten, wie lange das noch dauern wird? Im Übrigen, wann wird hier eigentlich mal Tacheles geredet? Irgendwie habe ich den Eindruck, als will mir hier keiner sagen, wie schlimm es wirklich um mich steht oder zumindest, wie schlimm es um mich gestanden hat. Es war also eine Bothrops?“
Pedro und Georg sahen sich fragend an.
„Bothrops Asper Terciopelo, die amerikanische Lanzenotter“, fuhr Manfred wissend fort. „Ihr Gift ist eines der komplexesten Schlangengifte, das bisher untersucht wurde. Es zerstört nicht nur die Enzyme, sondern wirkt obendrein auch noch wie ein Fleischzartmacher. Es zerstört das Gewebe und hemmt die Blutgerinnung. Mit anderen Worten: Wer von so einem Vieh gebissen wird, kann den Löffel abgeben.“ Säuerling sagte es so dahin, als säße er am Kamin und würde sein Wissen gerade irgendwo aus einem Lexikon entnehmen.
„Muchacho“, sagte Rosenrunge und in seiner Stimme lag der Hauch von gezwungener Selbstbeherrschung. „Mann, ich habe wirklich gedacht, das war es. Ende aus! Der Säuerling verlässt nun den brasilianischen Boden in einer Kiste.“
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, begann Manfred. „Ich erinnere mich nur noch an dieses scheußliche Gesicht eines Tokaouwas. Wie er mich angesehen hat...Und ich kann mich auch erinnern, wie er mit seinem Pfeil und Bogen auf mich gezielt hat. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist der stechende Schmerz in meinem Bein und an deinen Gesichtsausdruck. Ich dachte, er hätte einen dieser Pfeile auf mich geschossen und dann war ich weg.“
„Ja, das warst du in der Tat“, rief Pedro belustigt. „Weg vom Fenster und ab auf die Insel der schönen Frauen, was?“
„Apropos schöne Frauen“, sagte Manfred andächtig. „Was hat Odalys damit zu tun? Du sagtest, sie wäre es gewesen, die mich gerettet hat?“
Rosenrunge zog sich entschlossen einen Stuhl heran, Pedro nahm auf der anderen Seite Platz. „Das ist eine lange Geschichte, Manni! Aber du hast ja eh im Moment nichts Besseres zu tun, oder?“
Säuerling lächelte und hörte dann gespannt den lebhaften Erzählungen der Beiden zu. Erst als Pedro mit einem abschließenden „...der Hubschrauber kam sehr schnell. Sammy hatte den Notruf als erstes gehört und ist direkt gestartet, afortunadamente - zum Glück -!“
Bis zum Schluss hatte Säuerling alles mit angehört und jedes einzelne Wort ohne mit der Wimper zu zucken aufgenommen. Ob er sie auch wirklich verarbeiten konnte, wusste Rosenrunge nicht. Dafür, dass er fast von der Schippe gesprungen wäre, war Manfred viel zu gelassen, fast schon gleichgültig.
So als würden sie ihm von einer fremden Person erzählen, die mitten im Regenwald aufgrund eines anaphylaktischen Schocks kollabierte und drohte, an ihrer eigenen Zunge zu ersticken. Es war nicht seine Geschichte, zumindest tat er so. Erst als Rosenrunge ihm die Sache mit seinem Bein erklärte, verzog er schmerzverzerrt das Gesicht.
„Ohne jetzt zu sehr ins Detail gehen zu wollen, aber die Entzündungen hatten sich schon sehr tief ins Gewebe gefressen und die Schwellung war an einer Stelle so groß, dass das komplette Hautgewebe zerstört wurde. Dieses Teufelszeug hat dir deine halbe Wade...“ Säuerling winkte angewidert ab.
„...sie mussten eine Hauttransplantation durchführen, um die Wunde schließen zu können.“
„Wie war das Wetter die letzten Tage?“, lenkte er schließlich ab und sah aus dem Fenster. Der Smalltalk dauerte noch knapp eine Stunde.
Irgendwann später, Pedro hatte sich schon verabschiedet und war ins Hotel gegangen, sagte Säuerling nachdenklich: „Ich glaube, wir sollten den Sinn und Zweck unserer Reisen noch etwas vertiefen.
Ich möchte etwas Sinnvolles machen. Etwas, wofür es sich wirklich lohnt, diese Gefahr und diese Strapazen auf sich zu nehmen. Alexander von Humboldt in allen Ehren, aber ich finde, der Menschheit ist mit der Erforschung neuer Antisera besser geholfen.“
Georg sah seinen Freund lange und abschätzend an, um irgendwo den Punkt zu erkennen, der ihm Aufschluss darüber gab, ob er jetzt scherzte, es ernst meinte, oder seine Worte unter dem Einfluss der Komanachwirkungen gesagt wurden. „Ja, ich werde mich in Zukunft mehr der Antiserenforschung widmen!“
„Ja klar!“, lachte Rosenrunge. Und irgendwann bekommst du den Nobelpreis, weil du es geschafft hast, das tödliche Gift des Kugelfisches zu neutralisieren. „Vergiss es!“
„Wir werden sehen!“, scherzte Manfred und lächelte. Schließlich stand Georg auf und verabschiedete sich, versprach aber, am nächsten Tag wiederzukommen. „Georg?“
„Ja, amigo?“ „Danke!“
Georg nickte stumm und verließ schließlich lächelnd das Zimmer.
„Ach, und Georg?“, rief Manfred wieder.
„Was denn noch?“
„Wärst du so nett und würdest Schwester Odalys Bescheid geben, dass mein Kissen schon wieder verrutscht ist und ich deshalb auf ihre überaus fürsorgliche Hilfe nun ganz besonders angewiesen bin?“
Er grinste und Georg verschwand kopfschüttelnd im Gang.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Der große Yae Fashan, der Wunderheiler wird von Pedro
engagiert. Er verteilt Pülverchen und tanzt mit kleinen Trommeln um das Krankenbett von Säuerling.
Hilft das wirklich? Der Teufel muss ausgetrieben werden. So Pedro.