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Der Schuldirektor

Es war gegen 16.30 Uhr, als ein schmaler und von Gicht gezeichneter Finger auf den Klingelknopf der Hausnummer 25, In de Booststraße , drückte. Neugierig sah Odalys aus dem Fenster. Sie erwartete keinen Besuch. Wenn sie heute jemanden erwartete, dann war es einen fluchenden Ehemann, der immer noch damit beschäftigt war, das Badehaus im Garten zu einem adäquaten Labor umzufunktionieren.

Das Unternehmen schien doch komplizierter zu sein, als sie bisher angenommen hatte. So kompliziert, dass es ihr fast schon wieder leid tat, dass sie ihn regelrecht rausgeschmissen hatte. Die Tiere schienen hierbei das größte Problem zu sein. Sie wusste nicht genau, welchen speziellen Exoten ihr Mann in seinen Terrarien züchtete, deren Gewöhnung an die neue Umgebung so problematisch war.

Offenbar waren Wesen dabei, die ganz besonders abhängig von den klimatischen Bedingungen waren und es somit eine Menge Aufwand und Leute brauchte, um die ganze Anlage aus den Nebenräumen der Villa in das verglaste Badehaus zu schaffen.

Er hat sich extra Helfer aus dem Tropengeschäft in St. Pauli kommen lassen, damit der Umzug so professionell wie möglich vonstatten gehen konnte. Heute wollten sie eigentlich fertig werden. Ihr Blick aus dem Fenster ging zunächst ins Leere, bevor er schließlich auf einer Gestalt am Haus hängen blieb.

Es war also nicht Manfred, der vor der Türe stand und klingelte, weil er seine Schlüssel vergessen hatte. Es war ein kleiner dicklicher Mann mittleren Alters, auf dessen Haupt ein altmodischer Hut thronte. Sie kannte diesen Hut. Dieser wurde schon einmal vor ihr gezückt und sie hatte so gehofft, dass sie diesen Jemand so schnell nicht wiedersehen musste.

Seufzend und bereits schon mit dem Schlimmsten rechnend ging sie zur Türe und öffnete.
„Guten Tag Frau Säuerling!“, sagte der Mann und lächelte etwas verhalten. „Bitte verzeihen Sie die Störung!

Es dauerte einen Augenblick, bis Odalys den Mann vor sich registriert und ihn in ihrem Kopf auch tatsächlich als Direktor der Grundschule St. Anna erkannt und schließlich auch begrüßt hatte. Doch es dauerte noch weitere schier unendlich lange Augenblicke, bis sie sich zu der Frage: „Was hat er schon wieder angestellt?“ herangewagt hatte.

„Nein, Nein!“, sagte Albert Petersen und winkte ab. „Samuel erfreut uns zurzeit mit seiner vollsten Aufmerksamkeit und seine Vorliebe für Tiere beschränkt er jetzt nur noch auf die Nachschulzeit.

Er hat die Vogelspinnen zu Hause gelassen. Jetzt gilt es nur noch die Ameisensaison abzuwarten, aber ich denke, die wird er in diesem Jahr auch auf dem Schulhof lassen.“
Odalys lächelte und versuchte, so gut es ging, etwas mütterliche Reue für die Vergehen ihres Sohnes zu zeigen.

Sie konnte sich aber dennoch ein stummes Lachen nicht verkneifen und das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass dieser starke sächsische Dialekt so gar nicht zu einem Hamburger Schuldirektor passte. „Ja, was soll man machen? Ganz der Vater“, entschuldigte sie sich schließlich. „Glauben sie mir, sein ungebändigter Forschungsdrang macht noch nicht einmal vor unserem Mittagessen halt.

Sie können sich gar nicht vorstellen, was er letzte Woche mit unserem Schweinebraten...“. Ohne dass Odalys es hätte verhindern können, hatte sich Petersen mit seinem aufgesetzten Direktorcharme in den Flur gedrängt.
„...ja natürlich, kommen sie doch herein“, sagte sie tonlos.

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht“, begann er. „Ich war nur gerade in der Gegend und dachte mir, ich statte ihnen einen kurzen Besuch ab. Ja, ich weiß, dass ist nicht üblich für Direktoren, vor allem, wenn der Schüler sich nichts hat zu schulden kommen lassen – und das hat er dieses Mal wirklich nicht in den letzten zwei Wochen - aber es gibt zur Zeit einige Gerüchte an unserer Schule, die ich sehr gerne aus dem Weg räumen beziehungsweise mit ihnen besprechen würde.“


Odalys schaute Petersen ungläubig an. „Gerüchte? Was für Gerüchte?“
„Nun, es sind zwar nur Kinder, aber auch Kinder können eine Geschichte wie ein Lauffeuer verbreiten. Und wenn zu diesem Lauffeuer noch etwas kindliche Fantasie hinzugedichtet wird, dann kann auch schon mal aus einem harmlosen Laubfrosch ein südamerikanischer Pfeilgiftfrosch werden oder aus einer Pyjamaparty der Blick hinter die Kulissen eines verrückten Professors.“

„Wie bitte?“, Odalys lachte laut auf und sah den kleinen dicklichen Mann ungläubig an.
„Nun, die Sache mit dem tödlich giftigen Frosch, der laut Aussagen der Kinder vor rund zwei Wochen in der Booststraße abhanden gekommen war, und der auch gleich einen Großeinsatz der Blankeneser Polizei ausgelöst hat, können sie ja nicht vor mir verleugnen. Normalerweise schenke ich Gerüchten meist keinen Glauben.

Und wenn es sich wirklich um einen solchen Frosch gehandelt hätte, dann wäre dies doch mit Sicherheit durch die Presse gegangen. Doch in der Zeitung habe ich nichts darüber gelesen. Und glauben sie mir, ich lese die Tageszeitung von der ersten bis zur letzten Zeile.

„Natürlich“, sagte Odalys verächtlich, ohne dass sie so klingen wollte. Aber dieser Petersen war so aufgesetzt und schmierig, dass sie sich sehr gut vorstellen konnte, wie er den ganzen Tag mit nichts Anderem verbrachte, als die Zeitung nach etwaigen Skandalen aus der Gegend zu durchforsten.

Das Ganze tat er natürlich noch unter dem Deckmantel „Direktor“ und natürlich auch in seinem Büro, wo ihm die Sekretärin in regelmäßigen Abständen seinen Kaffee brachte. Vielleicht würde er die Sekretärin dann auch genau sooft fragen, ob vielleicht ein neues Lauffeuer entfacht wurde. Ob die Eltern vom kleinen Lukas sich jetzt doch scheiden ließen und ob die Schmidts, von der Holzhandlung Schmidt,nun doch Konkurs angemeldet haben oder...

Ja, er hatte recht, dachte Odalys plötzlich. In der Zeitung stand wahrhaftig nichts von dem Vorfall. Allerdings musste Manfred dem Pressefritzen auch zwei große Scheine dafür hinblättern und vor allem ihm in die Hand versprechen, dass er im Laufe seiner Karriere als Wissenschaftler ihm noch die Story seines Lebens präsentieren und ihm auch gleich die alleinigen Veröffentlichungsrechte erteilen würde.

Allerdings nur, wenn das Pfeilgiftfrosch-Drama nicht in die regionale Presse gelangen würde. Manfred befürchtete Ärger mit der Aufsichtsbehörde und mit dem Tierschutzverein zu bekommen. Sie würden ständig bei ihm an der Türe klingeln, nach dem Rechten sehen wollen und ihm ständig in seine Arbeit pfuschen. Und wenn er eines im Moment nicht gebrauchen konnte, dann war es falsche Aufmerksamkeit zum falschen Zeitpunkt – so, oder zumindest so ähnlich, hatte es ihr Mann ihr erzählt.

„Ganz unter uns gesagt, Frau Säuerling, ich möchte ihnen nichts vorspielen und sage ihnen direkt, dass ich einen guten Draht zur Polizei, besonders hier in Blankenese, habe. Einen ziemlich guten sogar. Ja, auch in einer Grundschule kommen sich Pädagogen und Schutzleute näher, besonders wenn es um die jährliche Fahrradprüfung der Viertklässler geht.

Und wie es der Zufall so wollte, kam auch durch diesen guten Draht eine haarsträubende Geschichte heraus, dass ein 8jähriger in das wissenschaftliche Labor seines Vaters schleicht, einen Pfeilgiftfrosch entwendet, um mit ihm im Garten zu spielen. Dass ich natürlich bei dem Namen Samuel Säuerling hellhörig geworden bin, dürfen sie mir bitte nicht verübeln.“

Odalys schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, aber am wenigsten wusste sie, auf was genau Petersen hinaus wollte. Aber sie spürte ganz deutlich, dass es nichts Gutes sein konnte „Was genau kann ich jetzt für sie tun?“, fragte Odalys unsicher.

„Wenn ich ehrlich bin, würde ich gerne mit ihrem Mann sprechen, wenn er da ist? Ihr Sohn hat nun schon so viel von ihm und seiner Wissenschaft erzählt, dass ich ihn gerne kennenlernen würde.

Vielleicht kann ich dann auch besser mit der Entwicklung in der Schule und den ganzen Gerüchten umgehen oder zumindest in Zukunft einfach was dazu oder dagegen sagen. Wissen sie, das Wohl meiner Schüler liegt mir sehr am Herzen. Und es wird mir dann auch etwas leichter fallen, Samuel in die richtige Richtung zu lenken, wenn es wieder mit ihm durchgeht.“

„...wenn es wieder mit ihm durchgeht? Wie meinen sie das? Hat Samuel doch etwas ausgefressen?“ Odalys blickte ihn verwirrt an. „Nun ja, damit meine ich, sollte er wieder einen Klassenkameraden kopfüber in eine Toilette drücken wollen, weil dieser behauptet hatte, sein Vater sei ein verrückter Professor, dann...“.

Odalys sah ihn erschrocken an. „Das hat mein Samuel gemacht?“ Petersen nickte mahnend. Das war vorgestern. Aber der Fall hat sich schnell geklärt und bedurfte, aus meiner Sicht jedenfalls, keiner weiteren Konsequenzen. Kinder können grausam sein, aber als Kind ist es auch ihr gutes Recht, ihre Grausamkeiten auszuleben, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt.“ Sie nickte betroffen. „Frau Säuerling, kann ich Ihren Mann kennenlernen?“

„Aber natürlich doch, er ist gerade im Garten und richtet dort sein neues Labor ein. Wenn sie einen Augenblick warten würden, dann hole ich ihn.“ Petersen nickte zufrieden. Odalys verschwand ohne zu zögern im Gang des Flurs. Sie sah nicht, dass der Direktor sie mit einem erwartungsvollen, fast schon gierigen Blick verfolgte und sich schließlich verstohlen umsah.

Als er sich sicher war, dass der Augenblick unbeobachtet war, schlich er über den Flur und warf in jeden Raum einen kurzen Blick. Auch die Klinke der Türe, wo immer noch das Schild `GENIUS AT WORK´ hing, drückte er hinunter. Doch er wurde enttäuscht, sie war verschlossen. Wenige Sekunden später zückte er einen kleinen Block und begann, sich Notizen zu machen.

Odalys entdeckte Manfred irgendwo zwischen seinen alten Arbeitsräumen und dem Poolhaus. „Ich hoffe, du hast jetzt nichts zu meckern“, rief ihr Manfred entgegen. „Sonst mach ich das Terrarium mit den Lanzenottern auf und erzähle ihnen, dass du sie zum Abendessen braten willst!“
„Mach das lieber mal mit Petersen!“, sagte sie mürrisch. „Der steht nämlich oben und wartet auf dich.“
„Petersen?“ Odalys nickte. „Der Petersen?!“ Sie nickte wieder. „Nein, sag mir nicht, das unser Sohn...

„Nein, Samuel hat nichts Neues angestellt“, beruhigte Odalys ihren Mann. „Nun ja, jedenfalls nicht ganz“, schob sie kleinlaut nach. „Die Pfeilgiftfrosch-Geschichte hat nun doch auch die Runde gemacht und ich befürchte, daran ist unser Sohn nicht ganz unschuldig. Und auch ist mittlerweile die Rede von geheimen Pyjamapartys, in denen ein verrückter Professor die Hauptattraktion ist. Kannst du dir das erklären?“

Manfred starrte seine Frau mit halboffenem Mund an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie seine Hand augenblicklich in seiner Hosentasche zu zucken begann und in Sekundenschnelle eine Gauloises zum Vorschein brachte. „Bitte Manfred, jetzt nicht! Steck das Ding weg. Oder willst du noch mehr unangenehme Sachen hören? Der Direktor will mit dir sprechen.“

Manfred rollte mit den Augen und steckte die Zigarette missmutig wieder weg. „Was will er denn von mir?“
„Na was kann er schon wollen? Mit dir über diese `Gerüchte´ sprechen. Wobei ich die Sache mit den Fröschen noch nachvollziehen kann, aber was um alles in der Welt meint er mit der Hauptattraktion einer Pyjamaparty?

Übrigens...Petersen hat erzählt, dass Samuel dich verteidigt hat und einen Mitschüler ins Klo stecken wollte, weil er dich `Der verrückte Professor´ genannt hat.“ Für einen kurzen Augenblick war Manfred vollkommen sprachlos. Doch dann sagte er: „Das ist ja wirklich sehr niedlich, aber warum muss der kleine Bengel auch immer gleich Superman spielen und sich deswegen Ärger einfangen?“

„Weil er dein Sohn ist?“
„Was soll das heißen!?“
„Das soll heißen, dass du Samuel das nicht verübeln kannst, weil du wahrscheinlich genauso gehandelt hättest...“
„...wenn mein alter Herr nicht...ach lassen wir das!“
Sie lächelte.
„Hat er wirklich...ihn ins Klo?“
Sie nickte.

„Ist Petersen etwa auch deswegen gekommen?“
„Nein, es ist angeblich nur hier, weil ihn das Giftfrosch-Gerücht wohl sehr interessiert und er den verrückten Professor kennenlernen möchte, um genau diese Gerüchte aus der Welt zu schaffen. Was ja auch eigentlich recht löblich ist. Aber wenn ich ehrlich bin, denke ich, er ist einfach nur neugierig. Also lass ihn dich einfach kennenlernen, tù científico!“ -du Wissenschaftler-

„Mich científico kennenlernen?!“, lachte Manfred auf. „Na schön! Dann soll er mich jetzt einmal kennenlernen!“ Manfred klopfte sich den Staub von der Hose und folgte seiner Frau.
„Wir sollten dennoch dringend mit Samuel über diese Pyjamaparty sprechen!“

Als sie über die Gartenterrasse wieder ins Haus traten, stand Petersen immer noch wie angewurzelt im Flur. Und er schien sich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegt zu haben, dachte Odalys misstrauisch und tastete instinktiv ihr Sichtfeld nach möglichen Veränderungen ab, fand aber nichts.

Manfred streckte Petersen bereitwillig die Hand entgegen und lächelte sein bestes Vater-Lächeln. „Was kann ich für sie tun, Herr Petersen?“
Petersen blickte den großgewachsenen Mann mit einer Mischung aus Erstaunen und einer Portion Unbehagen an. „Herr Säuerling, wie schön sie kennenzulernen. Leider konnte ich sie noch nicht über den herkömmlichen Weg kennenlernen, wie bei unserem jährlichen Schulfest, was ich immer sehr bedauert habe.

Ich hoffe, sie nehmen mir diesen Überfall heute nicht übel?“
Säuerling schüttelte den Kopf: „Aber nein Herr Petersen, wie kommen Sie denn darauf? Nein, überhaupt nicht!“
Odalys schenkte ihrem Mann ein verstecktes Augenrollen, was er mit einem amüsierten Zwinkern erwiderte. „Darf ich fragen, wo Sie herkommen“, fragte Manfred interessiert. „Ihrem Dialekt zufolge, müsste das der schöne Osten sein.“

„Ja, da haben sie richtig geraten. Ich habe bis zum Mauerfall in Dresden gelebt. So ganz hören sie sich aber auch nicht wie ein gebürtiger Hamburger an. Liegen Ihre Wurzeln etwa auch außerorts?“

Für einen kurzen Augenblick dachte Manfred darüber nach, ihm von seiner Herkunft zu erzählen. Dass er 1949 in Dresden geboren wurde, und später mit seinen Eltern nach Berlin zog, wo Vatern 1953 während des Arbeiteraufstands auf mysteriöse Weise verschwand und letztendlich für tot erklärt wurde.

Und er dachte auch darüber nach, von der Flucht in den Westen, eine Woche vor dem Fall der Mauer, zu erzählen. Aber aus irgendeinem Grund, den er sich selbst noch nicht so richtig erklären konnte, tat er es nicht und antwortete nur:
„Meine Wurzeln liegen überall in Deutschland. Von Bayerischen Wald bis zu polnischen Grenze. Ich spreche so ziemlich jeden Dialekt.“

„Wie dem auch sei“, sagte Petersen verdrießlich, lächelte aber dann wieder.
„Ich würde sehr gerne etwas mehr über ihre Arbeit erfahren, insofern ich überhaupt berechtigt bin, dass sie mir diesen Einblick gewähren? Ihre Wissenschaften fallen doch nicht zufällig unter eine erhöhte Geheimhaltungsstufe?“ Manfred schüttelte den Kopf. „Geheimhaltungsstufe? Wie kommen sie denn darauf?“

„Nun, meiner Kenntnis nach, geht man mit wissenschaftlichen Studien nicht gerade hausieren. Manche Informationen sind eben nicht für den gewöhnlichen Bürger bestimmt und sollten nur in entsprechenden Kreisen besprochen werden.

Die Geheimnisse der Wissenschaft sind auch im Interesse des Staates und dort sollten sie für gewöhnlich auch bleiben und nicht an undankbare Kommunisten weitergegeben werden, finden sie nicht auch, Herr Säuerling?“ Für einen kurzen Moment herrschte erwartungsvolles Schweigen und es dauerte einen Augenblick, bis Säuerling seine Sprache wieder gefunden hatte. „Ach so, die Geheimhaltungsstufe!“, antwortete Säuerling und sah Petersen mit wachsendem Unbehagen an.

Irgendetwas lag in seiner Stimme, was Säuerling nicht gefiel und es lag nicht nur an diesem extremen Dialekt, den er sprach. Es war wie ein Déjà Vu, das er mit jedem Teil seines Körpers fühlen, aber noch nicht begreifen konnte. Er dachte nach.

Verschwommene Bilder aus längst vergangenen Zeiten stiegen in ihm auf und tanzten vor seinem inneren Auge, wahllos, zusammenhangslos und doch so deutlich, dass er die Stimme des Grenzbeamten noch ganz klar hören konnte. Identifizieren sie sich!

Und er hörte auch die Stimme des Mannes, der im Hause gegenüber gewohnt hatte und vom dem er manchmal Schokolade bekam, wenn dieser seine fünfminütige Hassparolenrede gegen den Westen gehalten und er brav zugehört hatte.

Wer bist du wirklich, Petersen? dachte Säuerling. Ein verkappter Stasimitarbeiter, der selbst heute nicht aus seinem krankhaften Kontrollzwang heraus kann? Instinktiv fuhr seine Hand in Richtung Hosentasche und berührten fast schon sehnsüchtig die Schachtel mit den Zigaretten.

Der Drang, den nach Nikotin schmeckenden Filter zwischen seinen Lippen zu fühlen, schien fast unerträglich.
„Was sagten Sie noch gleich?“ Petersen sah ihn aus seinen fischartigen Augen an, die vor Neugierde und Eifer aus ihren Höhlen zu springen schienen.

„Ich sagte: Sie meinen die Geheimhaltungsstufe“, antwortete Manfred. „Nun, höchste Geheimhaltungsstufe ist vielleicht etwas übertrieben. Die Forschung ist im Interesse der Allgemeinheit, also für den Staat sowie auch für die Bürger. Aber sie werden verstehen, dass ich ihnen hier keine Daten, Formeln oder Codes offenbaren kann, sonst bekomme ich Krach mit meinen Auftraggebern, beziehungsweise von meinen Geldgebern.

Aber ich kann ihnen gerne mein Labor zeigen, zumindest einen Teil davon. Also den Bereich, der nicht in irgendeiner Form unter Geheimhaltung fällt.„
„Sie entscheiden!“, lächelte Petersen künstlich und folgte Manfred. Zu seiner Enttäuschung betraten sie nicht den „GENIUS AT WORK“

Raum, sondern gingen durch die Terrasse in den Garten. Mit schnellen Schritten steuerten sie auf das Badehaus zu. Verwundert sah sich der Direktor um und suchte nach einer plausiblen Antwort, die ihn davon abhalten könnte, Herrn Säuerling danach zu fragen. Er spürte, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte.

Er konnte es förmlich riechen, dass er Dreck am Stecken hatte. Vielleicht sogar mehr als Dreck? Er hatte ein Gespür für solche Leute, er hatte lange genug bei der Staatssicherheit gearbeitet. Er kannte die Pappenheimer, die potentiellen Staatsfeinde, die jede freie Minute damit verbrachten, zum Boykott aufzurufen.

Dieser Abschaum der Menschheit, die nichts anderes im Sinn führten, als Unruhe in die Staatsordnung zu bringen. Durch sie war auch damals das System außer Kontrolle geraten und sie hatten verloren. Aber das würde ihm nicht noch einmal passieren. Er würde Augen und Ohren offen halten und er würde jedes noch so kleinste Detail in seinem Kopf speichern. Und dann, wenn der Feind einen Fehler machte, würde er zuschlagen.
„....nicht zuschlagen!“

Der Direktor zuckte erschrocken zusammen, als die Wortfetzen von Manfred an sein Ohr drangen. „Bitte entschuldigen sie, ich war gerade in Gedanken. Was soll ich nicht zuschlagen?“
Säuerling lachte. „Die Türe, Herr Direktor, die Türe bitte nicht zuschlagen, sie dient noch als Provisorium, bis die Sicherheitstüre geliefert wird. Wir stecken gerade noch im Umbau. Deshalb ist zurzeit alles etwas provisorisch.“

„So, so!“, murmelte Petersen halblaut und drängte sich an ihm vorbei ins Innere. „Darf ich fragen, warum sie ihr Labor in einem Gartenhaus unterbringen? Oder gehört das auch zu ihrem Provisorium?“ Petersens drängelnde Neugierde in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Nun, da unser Badehaus bisher nur eine bessere Abstellkammer für Gartengeräte war, hat sich allerdings jetzt herausgestellt, dass sich diese Räumlichkeiten besser für Forschungszwecke nutzen lassen, als meine Räume im Haus.

Mal abgesehen davon, dass hier auch der Ruhefaktor wesentlich höher ist, als mitten im Kern des Familiengeschehens, wenn sie verstehen, was ich meine. Haben sie auch Familie, Herr Petersen?“
Doch der Direktor antwortete nicht. Sondern sah sich mit fieberhafter Aufmerksamkeit und wachsendem Unbehagen weiter um.

„Ja, Herr Petersen, willkommen in meinem Reich“, rief Manfred feierlich. “Das Gebäude verfügt über sämtliche technischen Ausrüstungen, damit wir den Tieren auch die klimatischen Verhältnisse bieten können, die sie zum Überleben brauchen. Die Anlage hat mich ein Vermögen gekostet. Es ist somit alles ordnungsgemäß und artgerecht, sowie auch die Sicherheitsvorschriften eingehalten werden, auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht!“

Ungewollt lächelte Säuerling etwas dümmlich und es schien, als würde es daraufhin in Petersens Kopf hart zu arbeiten beginnen.
„Sie bauen ein Gebäude, was eigentlich für ein Schwimmbad gedacht ist, komplett um, geben ein Vermögen dafür aus, damit exotische Tiere darin Platz finden?“

„Korrekt!“, sagte Säuerling und schob ihn weiter durch den Gang. „Herr Säuerling, jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht. Nach was genau forschen Sie hier. Natürlich nur, wenn ich fragen darf?“
„Sie dürfen, Herr Petersen, Sie dürfen! Ich arbeite hauptsächlich als Chemiker für das Tropeninstitut Hamburg und entwickle neue Strategien und Möglichkeiten, Menschen das Leben zu retten, die Bekanntschaft mit einer geballten Ladung Naturgewalt in Milligrammform gemacht haben.“

Petersen sah ihn verständnislos an. „Mit anderen Worten: Ich bin in der Antiseren-Forschung tätig. Nach einem kleinen Vorfall vor einigen Jahren habe ich mich ausgiebig mit der Beschaffung und Entwicklung von Antiseren und Medikamenten beschäftigt.“

Säuerling krempelte sein Hosenbein hoch und stellte sein Bein auf einen Stuhl. Dann zeigte er die große, knapp 15 Zentimeter große Narbe, die seine Wade immer noch wie ein Mahnmahl zierte. „Das war der Biss einer Lanzenotter. Tödlich giftig. Das Gift hat mir eine gehörige Entzündung eingebracht. Es musste einiges an Gewebe entfernt werden.

Aber die Hauttransplantation aus dem Unterarm hat die schlimmsten Spuren beseitigt.“ Petersen verzog angewidert das Gesicht. Manfred zog sein Hosenbein wieder nach unten und führte ihn weiter. „Wissen Sie, ich wollte diese Tiere erforschen, wollte sehen, aus welchen Substanzen sich dieser schleichende Tod in ihnen zusammensetzt. Sie glauben gar nicht, wie faszinierend es ist, wenn allein nur das Berühren einer Froschhaut schon zum Tode führen kann?“

Er stockte und spürte, dass dies kein gut gewähltes Beispiel war. Immerhin war Samuels Abenteuer mit dem hochgiftigen Frosch einer der Gründe, der Petersen überhaupt erst zu ihm geführt hatte. Seine eigene Unverantwortlichkeit an dieser Stelle zu lobpreisen war mehr als nur unangebracht. Er dachte kurz darüber nach, wie er aus dieser Situation wieder herauskommen konnte.

„Das Gift eines Pfeilgiftfrosches wird über die Haut ausgesondert“, erklärte er schließlich. „Leben diese Tiere aber nicht unter ihren üblichen natürlichen Bedingungen, Klima, Nahrung etc., dann wird immer weniger Gift produziert, bis es schließlich ganz versiegt. Deshalb konnte Samuel den Frosch auch berühren, ohne dass ihm etwas zugestoßen ist. Das wusste ich natürlich und hielt es deshalb auch nicht für nötig, größere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

Obwohl: alle meine Tiere sind sicher untergebracht. Der skeptische Blick des Direktors wanderte zu der Eingangstüre des Badehauses, das Provisorium, und blieb dort für Sekunden hängen. „Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, entwickeln sie hier, in diesem...in diesem...besseren Treibhaus, Antiseren gegen tierische Gifte?“

Säuerling nickte. „Unter anderem ja, und das sogar mit Erfolg. Schauen Sie mal hier. Er deutete auf ein Dokument an der Wand – er hatte es erst heute Morgen mit einem Nagel und einem Hammer da hingehängt, um wenigstens ein bisschen von seiner Forscherwürde bewahren zu können. „Das hier ist eine meiner Auszeichnungen, in diesem Fall ist es sogar ein Forschungspreis.“

Interessiert schaute Petersen auf das gerahmte Dokument. „Für was war der Preis? Ich meine, für was genau haben sie diese Auszeichnung erhalten?“
„Das war für die Starthilfe, ein Antiserum zu entwickeln, das sogar das Gift eines Kugelfisches neutralisiert.“ Säuerling hielt kurz inne und suchte den Blick des Professors, der nur dastand und ihn mit offenem Munde anstarrte. „Und dazu brauchen sie all diese Tiere?“, Petersen sah sich mit einem unbehaglichen Blick um.

“Ich sehe Käfer, Spinnen, Frösche, Skorpione...und...“, er stockte. „was um Himmels Willen ist das für ein Tier?“ Er tippte mit dem Finger gegen die Scheibe des Terrariums, in dem ihn ein grüner Klumpen mit kalten glitschigen Augen anstarrte.

„Das ist eine Bombina variegata, eine Gelbbauchunke“, lachte Säuerling.
„Herr Säuerling?!“ Es war Swetlana, die ihn scheinbar vom Haus aus rief. Und sie rief ihn mehrmals, bis sie ihn durch die Scheiben im Badehaus sah und ihm mit einem Zettel in der Hand zuwinkte. „Das hat der Postbote gerade für sie abgegeben, ein Telegramm.“

„Ein Telegramm?“ Säuerling stutzte. „Herr Säuerling, ich wollte sowieso gerade gehen!“, sagte der Direktor und nickte verständnisvoll. Innerlich erleichtert und sichtlich entspannt begleitete er Petersen noch bis zur Einfahrt und verabschiedete sich so höflich, wie man sich eben von Gästen, selbst wenn sie ungebeten sind, verabschiedete.

Als Petersen mit seinem Wagen endlich davonfuhr, sah Manfred ihm noch lange nach. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas hatte Petersen an sich, was ihm nicht gefiel. Und dieses Etwas sagte ihm auch, dass er in Zukunft vorsichtiger sein musste.
Er lief zurück ins Haus und nahm schließlich das Telegramm entgegen.

Wer um alles in der Welt verschickt heute noch Telegramme?, dachte Säuerling und betrachtete den Brief feierlich, ohne aber wirklich nach dem Absender zu suchen. Im Zeitalter von bahnbrechenden Kommunikationsmöglichkeiten war das Satellitentelefon, was sie stets treu und immer funktionstüchtig auf ihren Reisen begleitet hatte, wohl noch die altmodischste Methode, um mit der Welt Kontakt zu halten.

Aber hier waren sie in der westlichen Welt. Und so sehr er das Handy auch manchmal verfluchte, war es doch für ihn mittlerweile zum Knotenpunkt der Kommunikation geworden.
Seitdem seine Frau ihn ins Badehaus verbannt hatte, hatte er es schon oft benutzt, um in Erfahrung zu bringen, ob das Mittagessen fertig war.

Er wollte sogar bald für diesen Zweck ein Haustelefon installieren. Warum also schickte ihm jemand ein Telegramm, wenn das Telefonieren per Handy doch so viel einfacher war? Er öffnete und las:
Buneas Tardes, manfredo!
Technische Ausrüstung wurde besorgt. Route steht. Nur noch der Zeitpunkt eurer Ankunft fehlt. Bitte dringend um Mitteilung, wann es losgehen soll.
Pedro




Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung

Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.

. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.

Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Schuldirektor, ein ehemaliger Stasimitarbeiter wird durch den Sohn , der Vogelspinnen und Pfeilgiftfrösche mit in die Schule bringt aufmerksam. Sein Stasitrieb wird angefacht , und er spioniert den Professor aus. Es ist nicht einfach nur ein Buch es ist auch ein Instrument wenn man es spielt elektrisiert es und bringt uns zum Lachen und zum Weinen.

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