Japanreise
Zwei Monate später ...
Die Einladung zur Preisverleihung für besonders hervorragende wissenschaftliche Leistungen war völlig überraschend gekommen. Diesmal hatten die Japaner zur Ehrung geladen. Offenbar hatte die Vorarbeit zu Säuerlings Antiseren- und Medikamentenforschung nun doch Früchte getragen – das jedenfalls sagten die Kollegen aus Japan.
Und auch wenn Rosenrunge befürchtete, sich an der Seite des Preisträgers fehl am Platz zu fühlen – immerhin war Säuerling allein die wissenschaftlich treibende Kraft der Antiserenforschung – hatte Manfred ihn doch davon überzeugen können, dass er es ohne seine Unterstützung niemals so weit geschafft hätte. Es sei somit ein Muss, dass er ihn begleite. Vielleicht war es aber auch sein verschmitztes „Hey, Mann, wir fliegen nach Tokio, Kumpel! Das ist die größte Metropolregion der Welt!“, was Rosenrunge schließlich zur Mitreise bewegt hatte.
Ja, Tokio war in der Tat eine Metropolregion, die den Schwierigkeitsgrad einer Expedition durch das Amazonasgebiet bei Weitem übertraf. Und das hatten sie bereits am Flughafen festgestellt. Fast eine halbe Stunde lang hatten sie gebraucht, um ein Taxi zu ergattern. Sie hätten mit oder ohne Pedro jeden noch so schwierigen Weg durch den tiefsten Morast am Amazonas oder durch den dichtesten Urwald schlagen können.
Aber ein Taxi am Narita International Airport zu bekommen und dann auch noch den richtigen Weg zum Kongresshotel zu finden, war nicht nur eine besonders komplizierte Expedition, sondern eine Tortur mit ungewissem Ausgang. Aber sie genossen es dennoch. Und versuchten ihre gute Laune zu bewahren, hielten gepflegte Konversation mit dem japanischen Taxifahrer, der doch tatsächlich ein paar Brocken Englisch sprach.
Gigantische Wolkenkratzer, dicht befahrene Straßen, ein Hupen, ein Getöse. Menschenmassen strömten an ihrem halb geöffneten Seitenfenster vorbei, und dabei wehte ihnen der erste Hauch staubiger Tokioluft entgegen.
„Ja, dagegen ist Hamburg ein Mäusepups!“, lachte Rosenrunge und streckte den Kopf hinaus, um auch den Gipfel der Metropolstadt zu Gesicht zu bekommen. Säuerling nickte wissend und deutete auf eine der vielen elektronischen Werbetafeln, auf der gerade ein Werbetrailer für die neuste iPhone-Generation lief. Das war keine Stadt, sondern ein riesengroßer elektronischer Spielplatz.
„Ja, die Stromrechnung möchte ich nicht sehen!“
„Erinnerst du dich noch an die Schlagzeile über das heftige Erdbeben? Danach mussten sie aus Sicherheitsgründen das wichtigste Atomkraftwerk abschalten. Die kleineren Atomkraftwerke mussten rund 20 Millionen Einwohner versorgen. Das war im Juli. Die Sommer hier sind besonders heiß und es herrschte ausgerechnet eine große Hitzewelle.
Die Temperaturen lagen um die 40 Grad Celsius im Schatten. Die Krankenhäuser hatten genug zu tun, es gab sogar eine Menge Hitzetote. Und jetzt stell dir mal vor, dass in jedem zweiten Fenster dieser Wohnapparate mindestens ein Standventilator gestanden hat und in jedem dritten eine Klimaanlage. Der Energiekonzern Tepco ist da ziemlich ins Trudeln geraten, denn die Generatoren kamen mit der Energieerzeugung nicht hinterher. Japan zählte in dieser schwierigen Zeit einen Energieverbrauch von über 3,5 Milliarden Kilowattstunden, allein im Großraum Tokio. 3,5 Milliarden ... eine unvorstellbar hohe Zahl ...“
Rosenrunge nickte. „Ja, auch der Hamburger Energiebedarf ist dagegen ein Mäusepups.“
Auf Säuerlings Gesicht breitete sich plötzlich ein besinnliches Lächeln aus. „Stell dir vor, in naher Zukunft bräuchten die Japaner gar keine Atomkraftwerke mehr, um diesen Strombedarf zu decken. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir ...“ Er zeichnete einen Halbkreis in die Luft. „Deutsche Wissenschaftler lösen Japans Energieproblem. Trotz Hitzewelle können 20 Millionen Menschen ihre Ventilatoren und Klimaanlagen sogar gleichzeitig einschalten.“
„Nun nimm mal den Mund nicht so voll, Süßling!“, lachte Rosenrunge. „Noch hast du nicht herausgefunden, ob deine Theorien auch umsetzbar sind. Falls du es vergessen haben solltest: wir wissen noch nicht, wie wir die Energie aus den Organen dauerhaft speichern können. Die Viecher lassen sich nicht so ohne Weiteres anzapfen. Es sei denn, du bringst sie freiwillig dazu, dass sie ihren Saft in unser System einspeisen.“
„Wir werden die Lösung schon noch finden. Dazu musst du dein Hirn allerdings etwas auf Touren bringen, sonst klappt es mit dem Denken nicht so bei dir. Hey, du bist der Fachmann für die Technik. Ich bin Wissenschaftler und Forscher. Ich mache mir weiter Gedanken über das Woher und du schraubst deine Ideen schon mal weiter in Richtung Wohin. Woher bekommen wir den Saft und wohin speichern wir ihn, wenn die Tiere freiwillig in unser System einspeisen würden?“
Rosenrunge sah seinen Freund erstaunt an. „Fängst du schon wieder mit dieser utopischen Idee an? Gibt es da etwas, was ich wissen sollte? Ist dir Tunca Porca im Schlaf erschienen und hat dir das Geheimnis seiner Energie verraten? Mal abgesehen davon: wollten wir das Thema nicht erst einmal ruhen lassen, bis sich die Lage wieder beruhigt hat? Vergiss nicht“, zählte er auf, „es besteht nicht nur dringender Terrorverdacht gegen dich, sondern du hast auch noch eine Anzeige des Deutschen Tierschutzbundes wegen Verstoßes gegen das Artenschutzgesetz am Hals.
Dann hast du noch einen Eintrag bei der Hamburger Zollfahndung wegen illegaler Einfuhr von Tierfutter aus exotischen Ländern. Außerdem stehst du unter strengster Beobachtung eines Schuldirektors und einer Dame vom Jugendamt. Du meine Güte, dass sie dich noch nicht verhaftet haben?!“
„Hast du mich gerade schon wieder Süßling genannt, Rchoche?!“
Sie lachten und genossen den Tag, bevor die abendliche Festlichkeit anfing.
Das Kongressgebäude übertraf all ihre Erwartungen. Sie wurden nicht nur empfangen wie Könige, sondern auch so behandelt.
„Genieß es, wer weiß, wie lange das noch anhält!“, zischte Georg, als man sie aus ihren Jacken pellte und ihnen mit Verbeugung ihren Platz zuwies.
„Diese Behandlung ist spätestens dann beendet, wenn du dich an den Flügel dort setzt!“
„Flügel?!“ Georg sah sich suchend um und sein Blick fiel auf das pompöse Klavier, das einsam und verlassen auf der kleinen Bühne thronte.
„Herr im Himmel, das ist ein Steinway-Flügel, C-227, Baujahr 1964. Das Teil kostet knapp hunderttausend Dollar. Es muss wie Engelsgesang klingen.“
„Na, für den Preis wäre das auch das Mindeste, was ich erwarten würde“, lachte Manfred und tippte sich gegen die Stirn.
„Du Kulturbanause, du hast ja keine Ahnung!“
„Ich und keine Ahnung? Von diesen Klimperkästen vielleicht nicht, aber gib mir eine Violine, dann streich ich dir den Vivaldi!“
„Ein Königreich, wenn ich darauf mal spielen dürfte“, unterbrach Georg verträumt und es schien, als hätte der schwarz polierte Lack des Flügels ihn in einen Bann gezogen.
„Vergiss es, Kollege! Das ist unmöglich. In diesen heiligen Hallen darf vielleicht Japans neuer Gott unter den Pianisten, Takashi Sato, mal klimpern, aber nicht du!“
„Takashi wer?“
Manfred winkte ab. „Konzentriere dich lieber auf die Preisverleihung da vorne. Über das Klimpern kannst du reden, wenn du wieder in Deutschland bist.“
„Wart’s ab, und sag nicht immer klimpern. Ich sag doch auch nicht zu deinem Geigenspiel Gezirpe oder Fideln“, schmollte Rosenrunge und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Flügel, bevor ihnen die Kopfhörer für die Übersetzung angelegt wurden.
Die Preisverleihung verlief eher nüchtern und die Lobeshymnen nahm Säuerling nur aus der Ferne, über den Dolmetscher, wahr. Seine Gedanken waren ganz woanders und kreisten immer noch um die letzten Wochen und den immer mehr wachsenden Druck.
Irgendetwas hatte sich verändert, seitdem sie aus Brasilien zurückgekehrt waren. Vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil er die ganze Angelegenheit nun mit vier Augen – Rosenrunges und seinen eigenen – betrachten konnte und nicht mehr nur aus der Sicht eines paranoiden Wissenschaftlers. Georg hatte schon damals, als er den Direktor beim Spionieren ertappt hatte, gesagt, dass Manfreds nächtliches Treiben für erhebliches Aufsehen gesorgt hatte. Selbst seine Kinder hatten es im Poolhaus aus den Fenstern beobachtet.
Sein Sohn hatte sogar unglaublicherweise eine Art Kinovorstellung daraus gemacht. Säuerling musste lächeln. Dieser kleine Schlawiner! Und irgendwann hatte man angefangen, Säuerling Fragen zu stellen. Fragen, die er nicht wahrheitsgemäß hatte beantworten können, weil die Zeit noch nicht reif war, die Wahrheit aussprechen zu dürfen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn auch nur irgendein Wort an die falsche Stelle gelangen würde. Es war schon viel zu viel an falsche Stellen gelangt. Er musste vorsichtig sein. Nicht nur, dass er ständig verschiedene Behörden und andere Nörgler zu Besuch hatte, um ihm das Haar in der Suppe nachzuweisen, sondern jetzt fingen sie auch an, ihm Haare in die Suppe zu legen. Das Wohl seiner Kinder sei durch seine Arbeit mit hochgiftigen Tieren in Gefahr, so hatte es die Dame vom Jugendamt ausgedrückt, als sie mit ihrer Aktentasche plötzlich vor seiner Haustüre stand.
„Uns liegt eine Anzeige gegen Sie vor, der wir leider nachgehen müssen! Ich hoffe, Sie verstehen das.“
Ja, natürlich hatte Säuerling Verständnis. Und er würde sogar noch besser verstehen, wenn sie ihm verriete, wer denn so freundlich gewesen sei, ihn bzw. seine Familie anzuzeigen.
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, die Sache ist streng Fischer ... ich meine, vertraulich“, hatte sie ihm geantwortet. Er war sich nicht sicher, ob der Versprecher beabsichtigt oder versehentlich aus ihrem Mund gerutscht war.
Säuerling hätte es sich ja denken können. Er hatte zwar als Erstes den Direktor verdächtigt, doch es war eher unwahrscheinlich, dass der dahintersteckte. Der Direktor schien sein eigenes Ding zu machen, was immer dies auch sein mochte. Aber die Fischers wollten ihm und seiner Familie das Leben schwer machen, koste es, was es wolle.
Die Dame vom Jugendamt konnte er, dank der neuen Sicherheitstüre und auch weiterer Sicherheitsvorkehrungen überzeugen, dass keine Gefahr im Verzug war. Das Badehaus war inzwischen zu einem ansehnlichen Labor geworden, das mit sämtlichen Sicherheitsmechanismen, also auch mit Alarmanlage und doppelverglasten Fenstern ausgestattet war.
Man kam hier weder herein noch heraus, wenn Säuerling es nicht wollte. Das hatte genügt, um sie zu überzeugen. Doch dieser Besuch reichte, um sich klarzumachen: Georg hatte recht. Sie mussten mit weiteren Experimenten warten, bis sich die Lage etwas beruhigt hatte und etwas Gras über sein nächtliches Treiben gewachsen war. Aber er hatte in den letzten Wochen, seit ihrer Rückkehr aus Brasilien, eine Menge Daten und Gedankenspiele zu Papier gebracht.
Er konnte nicht von seiner Idee ablassen und Papier war geduldig, ganz im Gegensatz zu ihm. Und während jetzt all diese Menschen hier in diesem Raum, bei dieser Tagung, wieder das taten, was Wissenschaftler immer tun, wenn sie zusammentreffen, war Säuerling mit seinen Gedanken schon wieder dort, wo er so schnell keinen mehr hineinlassen wollte ..., hineinlassen durfte.
„Herr Säuerling, ich gratuliere Ihnen!“ Der kleine Japaner schien ihn mit Absicht aus seinen Gedanken reißen zu wollen und lächelte ein freundschaftliches Lächeln. „Ich bin Dr. Yakazi und seit diesem unglaublichen Ergebnis, was die Neutralisierung des Tetrodotoxins der Tetraodontidae-Familie betrifft, bin ich ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit.“
„Ja, die Kugelfische hatten es mir schon immer angetan“, lachte Manfred verlegen und reichte ihm die Hand.
„Bitte verzeihen Sie mir meine Neugier“, begann Yakazi, „aber ich bin immer wieder interessiert an den Hintergrundgeschichten und Beweggründen, warum jemand all seine Kraft und sein Wissen in solche komplexen Forschungsarbeiten steckt – und Sie wissen ja selbst, wie lange die Welt schon an einem Gegengift für den Kugelfisch gearbeitet hat. Wie schafft man so etwas innerhalb so kurzer Zeit?“
Manfred spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. So viel Lob und Anerkennung aus dem Mund einer wissenschaftlichen Größe wie Dr. Yakazi klang zwar wie Musik in seinen Ohren, machte ihn aber verlegen.
„Nun ja“, begann Manfred. „Ich muss dazu sagen, dass die Firma Westmark mir wirklich vollkommen freie Hand gelassen und die Sache großzügig finanziell gefördert hat. Wir haben die Tiere studiert, ihre genetischen Codes geknackt und neben modernster Technik und Ausrüstung gehörte dazu ein großes Maß an Reisebereitschaft.“
„Sie sind selbst um die ganze Welt gereist, um unsere Gifttiere zu studieren?“
„Ja, natürlich. Ich bin der Meinung, wenn man etwas herausfinden will, dann muss man das Individuum in seiner ganzheitlichen Blüte und Schönheit erkunden, erst dann kommt man zum Kern und kann sich mit der Genetik beschäftigen.“
„Ist das das Geheimnis Ihres Erfolges?“
„Nein, nicht ganz“, sagte Manfred und lächelte geheimnisvoll. „Natürlich habe ich mir in all den Jahren eine neue Denkweise angeeignet, die – davon bin ich jedenfalls überzeugt – einen entscheidenden Teil zu meinem Erfolg beigetragen hat.“
„Eine neue Denkweise?“
„Man muss einfach das Unmögliche in Erwägung ziehen. Oder wie John Nash in dem Film A Beautiful Mind einst erklärte: Meine Suche führte mich durch das Physische, das Metaphysische, das Wahnhafte und wieder zurück! Und ich habe die wichtigste Entdeckung meiner Karriere gemacht.“
„Ich verstehe ...“, lächelte Yakazi. „Sie haben also, nachdem das Physische und Metaphysische auszuschließen war, einfach das Unmögliche versucht, um an Ihr Ziel zu gelangen?“
Manfred nickte und zwinkerte.
„Na, das nenne ich doch mal Wissenschaft!“, lächelte Yakazi.
Das anschließende Abendessen mit dem Wissenschaftskomitee lenkte Säuerling ein wenig von seinen Gedanken ab. Und das lag nicht nur daran, dass eine kulinarische Köstlichkeit nach der anderen serviert wurde, sondern auch an den Gesprächsthemen bei Tisch. Er war zwar schon sehr viel in der Welt herumgekommen, aber intensive Tischgespräche unter Wissenschaftlern, die kannte er bisher nur aus Deutschland.
Und dort erlebte er Kongresse immer als zwanghaftes Zusammentreffen von Fachidioten, was zur Folge hatte, dass auch fachidiotisiert wurde, was das Zeug hielt. Allerdings konnte er sich auch nicht ganz davon freisprechen. Er war einmal mit Odalys zu einem Empfang eines Freundes eingeladen, der sein neues Architektenbüro einweihen wollte.
Und je später der Abend wurde, desto mehr hatte Säuerling das Gefühl, als läge das Hauptaugenmerk nicht auf dem Anlass des Empfangs, sondern auf dem historischen Bauwerk, in dem sie sich befanden. Und so sehr er sich mit Odalys an diesem Abend auch über diese neue Form des Smalltalks amüsiert hatte – wenig später ertappte er sich selbst dabei, dass bei der Jahresversammlung des Tropeninstituts Hamburg alle Gespräche immer wieder in ein und dieselbe Richtung gingen: in Richtung seiner eigenen Wissenschaft.
Doch hier schien es anders zu laufen. Dr. Peter Lanscot, ein Naturwissenschaftler aus Atlanta, unterhielt sich mit Dr. Yakazi nicht über seine Arbeit, sondern sie sprachen über ihr liebstes Hobby – die Koikarpfen.
Fassungslos hörten Rosenrunge und Säuerling zu, mit welcher Leidenschaft Lanscot von den Fischen sprach und auch immer wieder betonte, welchen Wert die Tiere für ihn hatten.
„Sie sind nicht nur ein Statussymbol“, erklärte er. „Sie strahlen etwas Magisches aus. Nicht umsonst hat König Shoko von Ro einen Koi an den großen Philosophen Konfuzius verschenkt und von einer unglaublichen Stärke gesprochen, die diese Tiere in sich tragen und auch weitergeben. Ein Koi ist der einzige Fisch, der es schafft, die Wasserfälle des Gelben Flusses zu bezwingen, ohne auch nur eine Schuppe zu verlieren.“
Dr. Yakazi erzählte von der benachbarten großen Kohaku-Farm in Sanbosashi. Ein groß angelegtes Gehege, wo nicht nur die verschiedensten Koi-Arten gezüchtet, sondern von dort auch in die ganze Welt verkauft und verschickt würden. An gut betuchte Hobby-Aquaristen, Liebhaber und Menschen, die gerne ihren Luxus auf besondere Art und Weise zeigen wollten.
„Wäre das nicht ein interessanter Tagestrip für Sie, meine Herren?“, fragte Dr. Yakazi strahlend.
In Rosenrunges Gesicht zeichnete sich der Hauch von entschlossener Ablehnung ab, die er aber nicht in Worte zu fassen wagte. Es schickte sich nun mal nicht, seinen Gastgeber vor den Kopf zu stoßen, ohne dafür einen wirklich triftigen Grund zu haben. Er sah Säuerling an, der urplötzlich seine Hand unter das Kinn legte und einen nachdenklichen Blick aufsetzte.
„Eine Koi-Farm besuchen? Warum nicht? Vielleicht kann ich mir dort ein paar Tipps einholen, wie ich zu Hause besser mit meinen Aquarien umgehen kann, auch wenn ich nur die einfachere und etwas pflegeleichtere Variante des Fisches mein Eigen nenne.“
„Kois sind nicht einfach nur Fische, Mr. Säuerling! Sie sind ein Meisterwerk, ein Geschenk der Natur an jene, die ihre ganze Pracht und Schönheit zu schätzen wissen.“
Noch lange versuchten die Fischexperten die beiden Deutschen zu bekehren, während die Gläser mit Reiswein und anderen alkoholischen Getränken geleert und immer wieder nachgefüllt wurden. Mit jeder weiteren Minute wurde die Stimmung lockerer und ausgelassener. Und während Säuerling gegen den heranschleichenden Schwips ankämpfte, hatte Georg ganz andere Pläne. Er musste nur noch den richtigen Augenblick abpassen, damit sein Vorhaben nicht in einem Desaster endete.
Wie ein Fuchs begann er sich und seine Umgebung abzutasten, damit auch der letzte Zweifel wich. Auch wenn er nicht Takashi Sato war, hatte er die Fingerfertigkeit und auch das Talent, und dies einmal auf einem echten Steinway-Flügel unter Beweis stellen zu können, das war wie ein Jackpot im Lotto.
Immer noch einsam und verlassen stand der Steinway da und schien auch an diesem Abend nicht zum Einsatz zu kommen. Das Programm musste bisher ohne Pianisten auskommen und die Bigband schien von ihrer eigenen monotonen Fahrstuhlmusik geradezu gelangweilt. Und Rosenrunge konnte es den Musikern nicht einmal übel nehmen. Sie waren hier auf einer Preisverleihung für wissenschaftliche Studien und nicht auf einem Festival für klassische Musik.
Noch nicht ..., dachte Georg und begann instinktiv, unter dem Tisch seine Finger zu dehnen und aufzuwärmen. Dann stand er langsam auf. Sah sich noch einmal um und stellte fest, dass es niemanden, selbst Manfred nicht, interessierte, dass er seinen Platz verlassen wollte. Die obligatorische Pinkelpause, die so ziemlich jeder hier in dieser Halle regelmäßig und spätestens nach dem fünften Glas Reiswein einlegen musste, war jetzt Georgs beste Tarnung. Schnellen Schrittes strebte er zur Bühne, erreichte sie unbemerkt und erschlich sich somit den Weg zum Steinway.
Zärtlich strich er über den Hunderttausend-Dollar-Lack und öffnete vorsichtig die Tastenklappe. Ein ermahnendes Räuspern ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Der Bassist der Bigband gab ihm mit einem stechenden Blick zu verstehen, dass er die Finger von dem guten Stück lasse sollte.
Georg antwortete ihm mit einem Blick, den wohl nur Musiker aus Leidenschaft untereinander richtig deuten können, denn als Georg mit dem Senden seiner stummen Botschaft fertig war, nickte der Bassist ihm freundlich zu und brachte seine Band nach wenigen Sekunden zum Verstummen.
Der Augenblick, als Georg am Flügel Platz nahm, noch ein letztes Mal seine zehn Finger zum Knacken brachte und schließlich mit Chopins Minute Waltz begann, war einfach magisch. Das monotone Raunen der verschiedensprachigen Unterhaltungen ebbte langsam ab und ging in ein stummes, staunendes Lauschen über. Georgs Hände glitten wieder und wieder über die Tasten des Flügels und entlockten ihm Melodien, die noch keiner in diesem Saal gehört hatte an diesem Abend, die vielleicht sogar noch keiner jemals so gehört hatte wie in diesem Augenblick.
Wortlos und mit einem Gefühl in der Magengegend, das noch offenließ, ob er sich jetzt in Grund und Boden schämen oder doch stolz auf diese Aktion seines Freundes sein sollte, starrte Manfred auf den Rosenrunge, den zu kennen er noch bis vor wenigen Sekunden geglaubt hatte.
Manfred hatte ihn schon oft live erlebt. Georg konnte Saxophon spielen, bis ihm die Puste wegblieb. Er konnte singen, bis einem die Tränen kamen, und auch am Klavier war er ein Ass. Doch das hier, das war mehr. Das hatte etwas Vollkommenes. Manchmal war es nur eine hauchzarte Berührung, die einer Taste einen Ton entlockte, der sanft durch die Halle getragen wurde und nicht nur die feinen Haarzellen in den Ohren zum Schwingen brachte, sondern zugleich die Herzen berührte.
Er war verrückt! Ja, Georg war definitiv verrückt! Er konnte nicht wissen, wie ein japanischer Sicherheitsdienst reagieren würde, wenn ein deutscher, etwas angeheiterter Wissenschaftler plötzlich eine Bühne stürmte, sich eines Hunderttausend-Dollar-Flügels bemächtigte und darauf Chopin spielte.
Wenn er Glück hatte, würden die Herren von der Security ihn nur höflich bitten, sich von dem Flügel zu entfernen. Wenn er Pech hatte, würden sie gleich, wie bei einer Razzia wegen eines Yakuzza-Verdächtigen, die Bühne stürmen und ihn dort herunterzerren.
Manfred wagte nicht, sich umzusehen. Zu groß war die Befürchtung, in Yakazis empörtes Gesicht zu blicken, um sich dann im Anschluss anhören zu müssen: „Das ist ja mal wieder typisch deutsch, kein Benehmen und kein Respekt vor fremdem Eigentum – aber eines muss man Ihnen lassen, Flügel können Sie bauen!“
„Du Idiot!“, rief Manfred stumm in Richtung Bühne und fuhr sich nervös durch die Haare.
„That’s wonderful! Really wonderful“, hörte er plötzlich eine Stimme, die zweifellos Dr. Peter Lanscot gehörte.
„Great! Ich liebe es!“, bemerkte Yakazi und nickte anerkennend. „Ihr Freund hat wirklich ganz großes Talent. Und es braucht eine Menge Mut, um sich ungeübt vor ein Publikum zu setzen und dieses Stück zu spielen.“
Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis Manfred die Worte registriert und in seinem Kopf verarbeitet hatte. Doch erst als das Komitee und der Rest der Halle plötzlich zu applaudieren begannen und Georg vor Begeisterung ihr Bravo zuriefen, verstand er. Die Leute liebten Georg und dafür liebte er ihn auch.
„Das war meisterlich, mein Bester!“, entfuhr es ihm, als Georg irgendwann nach einer kleinen Zugabe überglücklich an den Tisch zurückkam.
„Ich habe auf einem echten Steinway-Flügel gespielt, unfassbar!“
„Wenn wir unser Ding durchgezogen haben, Kumpel, dann schwör ich, kauf ich dir einen!“
„Ja genau, und ich besorge dann die Stradivari für dich und dann veranstalten wir gemeinsam eine kleine Jam-Session! Ich klimper und du fiedelst!“
„Sag bitte nicht fiedeln zu meiner Kunst – ich zelebriere, mein Lieber!“ Sie lachten und bestellten noch eine weitere Runde Reiswein für Tisch 6.
Experiment Electrophorus - Kurzbeschreibung
Manfred Säuerling und Georg Rosenrunge, zwei Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, zwei Wissenschaftler auf zwei unterschiedlichen Gebieten, zwei Freunde mit unterschiedlichen Interessen, zwei Welten, die aufeinander treffen. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: die Vorliebe für das Abenteuerliche und die Faszination der Natur.
. Während einer Forschungsreise durch den tropischen Regenwald machen er und Rosenrunge schließlich eine bahnbrechende Entdeckung: biologische Energieressourcen, das Tier als Kraftwerk – die Operation Electrophorus beginnt. Aus der Entdeckung wird erst eine utopische Idee, dann eine Vision und schließlich gelingt es den beiden – ganz nach Alexander von Humboldts Theorien und einer Menge Experimente später – genau diese ungeahnte Stromquelle massen- und auch netztauglich zu machen.
Eine ganze neue Ära der Energiegewinnung beginnt und bedeutet somit das Aus für monopolisierte Preistreiberei herkömmlicher Energieerzeuger. Doch diese weltbewegende Entdeckung bringt nicht nur weitere Nominierungen für den Nobelpreis, sondern auch Schattenseiten – der Kampf der Giganten beginnt.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Entwicklung von Antiseren und Medikamenten bringt weltweite Anerkennung.Die Japaner laden ein zu einem der wichtigsten Kongresse mit unabsehbaren Folgen.