"Ich kann mit dem Mädchen einfach nichts anfangen. Irgendwie kommt mir das ja alles ganz bekannt vor, aber ich weiß nicht, wie....... , wie ich`s einordnen soll."
Silke Voß war die Verzweifelung geradezu ins Gesicht geschrieben, war dieser Satz in ihrem Beruf doch eigentlich der Offenbarungseid schlechthin.
"Klar hab ich die Akte gelesen," fuhr sie fort, " aber das hilft mir auch nicht weiter. Da steht nur, dass das Mädchen einen Selbstmordversuch und eine ganz schöne Drogengeschichte hinter sich hat.
Sowas haben wir ja schon oft hier gehabt. Aber der Fall hier ist irgendwie anders. Außer diesen paar Sachen weiß doch kein Mensch irgendwas über das Mädchen. Nirgendwo ein Verwandter in Sicht, keine Freunde...nichts. Ist ja nicht `mal klar, wie die genau nach Deutschland gekommen ist und warum die so gut deutsch spricht."
Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
Die anderen Stationsmitarbeiter der Besprechungsrunde in der Jugendpsychiatrie in Wunstorf schwiegen oder blickten hilfesuchend auf den Stationsarzt.
"Okay, da haben wir noch viel zu tun", meinte der nach einer kurzen Stille, die nur vom Magenknurren von Uwe Scholz unterbrochen wurde. " Aber klar ist doch, dass das Mädchen aus gutem Grund bei uns ist. Solch einen Suizidversuch macht man nicht einfach so. Der war durchaus endgültig gedacht und nicht als Hilferuf.
Das Mädchen hatte halt nur Pech, dass das Wasserrohr in dem Heim so morsch war, dass es aus der Wand riss und der Kloraum überflutet wurde. Sonst wäre sie jetzt nicht hier.
Vielleicht versuchen sie einfach mal zu erklären, warum sie sich so schwer tun mit dem Mädchen.
Was hat die an sich, was uns die Kontaktaufnahme so schwer macht?"
Silke kniff die Augen zusammen und ließ nochmal alles an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.
Diese Dana war ihr unheimlich. Hinter der Maske dieser dunkelhäutigen Schönheit verbarg sich mehr, als nur ein sechzehnjähriges depressives Mädchen aus Marokko, das allein, ohne Verwandtschaft in diesem Land Asyl gesucht und gefunden hatte.
Niemand hatte irgendetwas über den Zeitraum vor ihrer Heimaufnahme vor drei Monaten herausfinden können. Sie war in Köln auf dem Bahnhof der Bahnpolizei aufgefallen und dann über mehrere Stationen schließlich im Sonnenhof in Daalburg gelandet.
Und nun war sie in der Jugendpsychiatrie.
- Und dann war da auch immer noch dieser Morrison oder so.
Über Danas Bett hing ein riesiges Poster eines langhaarigen jungen Mannes, diesem Jim Morrison eben. Den verehrte sie wie einen Gott. Auf ihrem Unterarm hatte sie eine selbstgemachte Tätowierung, ein Kreuz und die Worte: Jim is alive.
"Wer ist eigentlich dieser Jim Morrison?", fragte Silke plötzlich völlig zusammenhanglos in die Runde. "Der spielt bei der ganzen Sache mit dem Mädchen eine riesengroße Rolle, glaub ich.
Das muss irgendso`n Musiker sein. Hab ich aber noch nie was von gehört."
Bernfried Soller, ein Kollege von etwa fünfundvierzig Jahren, grinste sie frech an.
"Kannste auch nicht", meinte er verständnisvoll. "Ist auch schon ein paar Jährchen tot. Ist, glaub ich, 1971 auf merkwürdige Weise in Paris in einem Hotel tot aufgefunden worden. Hatte viel mit Drogen und Alkohol und so zu tun. Der ist Sänger bei den Doors gewesen. War damals eine sagenhaft gute und bekannte Band. Ist, glaub ich, in Paris begraben, da auf diesem berühmten Friedhof wo die Piaf und all diese anderen bekannten Typen begraben sind."
Die anderen aus der Runde sahen Bernfried erstaunt an.
"Auf dem Grab sollen immer frische Blumen liegen“, legte er noch mal nach. "Und immer noch gehen da jeden Tag Fans hin und heulen sich aus, hab ich gelesen , selbst so junge Typen, wie die Dana"
Bernfried lehnte sich zufrieden in seinen Sitz zurück.
"Und was machen die da? Ich mein...?"
"Hab ich doch gesagt," unterbrach Bernfried sie. "Die heulen da um den Typen. Weil er tot ist!
Warum fahren Leute zu Elvis` Haus nach Memphis? Was weiß ich, was die davon haben?"
*
Der Rest der Besprechung brachte die Teilnehmer der Runde auch nicht weiter in der Frage, was an Dana so anders war, als an den anderen jugendlichen Patienten der Psychiatrie.
Noch am selben Tag fing Silke an, sich über Jim Morrison zu informieren. Sie bekam heraus, dass er 1943 in den USA geboren und 1971 in einem Hotel in Paris angeblich an Herzschlag gestorben war.
Seine Auftritte mit den Doors hatten meistens mit einem Skandal geendet. Er war ein Sexsymbol für die Jugendlichen seiner Zeit gewesen. Die Texte der Doors waren immer sehr kompliziert, traurig, negativ und intellektuell gewesen .
*
In den folgenden zwei Wochen streute Silke ihr neues Wissen immer wieder geschickt in Gespräche mit Dana ein und so entstand eine dünne und brüchige Brücke des Vertrauens zwischen den beiden.
Einen Tag vor ihrem Urlaub bekam Silke ein paar merkwürdige Informationen.
Sie hatte Nachtwache gehabt und Dana war aus immer wieder neuen fadenscheinigen Gründen im Betreuerzimmer aufgetaucht, weil sie offensichtlich nicht schlafen konnte.
Irgendwann hatte sie dann ein belangloses Gespräch angefangen, was bei Jim Morrison und Paris geendet hatte.
Alles deutete darauf hin, dass Dana in Paris gewesen war, bevor sie nach Deutschland gekommen war und dass dort irgendetwas passiert sein musste, was mit der gesamten Sache danach, dem Asylantrag, dem Selbstmordversuch und der Einweisung in die Psychiatrie in direktem Zusammenhang stand.
Aber das blieb Danas Geheimnis.
Mitten im Gespräch stand sie plötzlich auf, sagte sie sei nun müde und verschwand in ihr Zimmer.
Silke setzte sich sofort an den Schreibtisch und machte eine Art Gedächtnisprotokoll.
Francois, Claudia, Hotel Perfect, schmieriger Portier, alter VW, Haarverkauf, Hausboot auf
der Seine, Rucksack, Geld geklaut, Friedhof gewohnt, viele Freunde Polizei, abgehauen, Deutschland
Am liebsten wäre sie jetzt am Ball geblieben, aber ihre Schwester in Straßburg erwartete sie und außerdem stand die Urlaubseinteilung seit Monaten fest. Die nächsten vierzehn Tage hatte sie frei.
Sie übergab die Station am Morgen der Frühschicht und erzählte nur kurz etwas von dem Gespräch mit Dana.
*
Am nächsten Morgen lachte die Sonne und nach einem ausgiebigen Frühstück zischten die Reifen ihres alten Opel Kadett über den glänzenden Asphalt der Autobahn Richtung Straßburg.
Sie freute sich auf das Treffen mit ihrer Schwester und auf vierzehn schöne Tage ohne tiefschürfende Probleme.
Die Autobahn war nicht sonderlich voll und sogar die Musik aus dem Radio passte zu Silkes Stimmung bis..... ja, bis dieses Lied angesagt wurde.
"Und nun noch eine schöne Ballade von einer Sängerin mit einer tollen Stimme.
Laureena Mc Kennet singt "Marrakesh" und jeder, der schon mal in Marokko gewesen ist,
weiß, wovon das Lied handelt."
Marokko - Dana - Paris ....alles war wieder da. Mitten auf der Autobahn, irgendwo zwischen
Beckfeld und Straßburg.
Die wunderschöne Ballade verklang ungehört. Silke war wieder da, wo sie vierundzwanzig Stunden vorher aufgehört hatte.
Sie steuerte die nächste Raststätte an und wühlte in ihrer Jackentasche. Der Zettel mit ihren Notizen war noch da.
Ein Blick auf die Straßenkarte zeigte ihr, dass sie genauso weit von Paris wie von Straßburg entfernt war. Sie seufzte tief und wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste.
Nach einem schlechten Kaffee mit einem gummiartigen Brötchen ging sie zur nächsten Telefonzelle und rief ihre Schwester an.
Minuten später war sie wieder auf der Autobahn. Sie drückte eine Kassette von Bruce Springsteen in den Kassettenrecorder und tippte fröhlich mit einem Finger den Takt auf das Lenkrad.
Ihre Schwester Tina war schon eine tolle Frau.
Sie hatte ihr nur kurz erklärt, was sie vorhatte und schon war Tina mit von der Partie gewesen.
"Hört sich ja spannend an," hatte sie gesagt, nachdem Silke ihr von Dana erzählt hatte.
"Ich wollte schon immer mal Detektiv spielen. Hol mich ab. Dann fahren wir zusammen nach Paris. Vielleicht können wir das Rätsel ja lösen und du kannst dann in deiner Klapse ganz groß rauskommen. Ich schmeiß inzwischen schon ein paar Sachen zusammen.
Morgen früh fahren wir los."
*
Es wurde ein langer Abend in Straßburg . Je mehr Rotwein die beiden jungen Frauen getrunken hatten, desto verrückter wurden die Geschichten, die sie aus Silkes Notizen zusammenbastelten.
Das Hotel Perfect in Paris fanden sie auf anhieb. Der Portier war genauso schmierig, wie Dana ihn beschrieben hatte und auch sonst war das HOTEL eher eine billige Absteige, als eine Empfehlung für einen tollen Parisurlaub. Als Ausgangspunkt für Lösung des Dana-Rätsels schien es für die beiden aber genau der richtige Ort zu sein.
Sie bezahlten erstmal für zwei Nächte und machten sich sogleich ans Werk.
Der Portier kannte angeblich weder eine Dana noch eine Claudia oder einen Francois.
Kein Wunder, denn er hatte auch die beiden jungen Frauen nicht nach ihren Namen gefragt, oder sie gar irgendein Formular ausfüllen lassen.
In der sogenannten BAR saßen ein paar hippie-ähnlich gekleidete, langhaarige Typen und
diskutierten heftig in haschischqualmgeschwängerter Luft über Geldprobleme.
Ein einzelnes Mädchen saß in einer Sitzecke und spielte Gitarre.
Tina und Silke setzten sich zu ihr und tranken einen Milchkaffee.
Sie lächelte die beiden an, spielte noch ein paar Akkorde und legte dann die Gitarre beiseite.
"Spendiert Ihr mir auch einen?", fragte sie ohne Umschweife in reinstem Hochdeutsch und nickte dabei zu den Tassen rüber. " Ihr seid doch aus Deutschland, oder?"
Die beiden waren ziemlich überrascht, dass man ihnen das sofort ansah.
Silke hatte sich am schnellsten wieder gefangen, stand auf und ging zur Theke. "Mit Zucker?" fragte sie als sie die Tasse in der Hand hielt.
Das Mädchen schüttelte lächelnd den Kopf.
"Ich bin die Dru," sagte sie, als Silke wieder am Tisch saß. "Wollt ihr auch zum Pere?"
Die beiden Frauen sahen sie verwundert an.
"Oder seid ihr wegen des Eiffelturms hier?" Sie kicherte laut in ihre große Kaffeetasse und kniff ihre Augen über dem Rand zusammen.
"Was meinst du mit Pere?", fragte Tina sie lächelnd. "Ist das was Besonderes? `Ne Disco oder so."
Dru prustete nun vollends in ihren Kaffee und kleine Tropfen bedeckten den halben Tisch.
"`Ne Disco!", lachte sie völlig entgeistert mit weit aufgerissenen Augen, "Pere Lachaise `ne Disco! Mein Gott, seid ihr naiv! Ihr kennt wohl wirklich nur den Eiffelturm, wah!
Der Pere, das ist der irreste Friedhof der Welt , Mensch! Da liegen alle, die mal irgendwie wichtig waren! Und Jimmy hat morgen Geburtstag!"
Sie kippte den Rest Kaffee herunter und ließ die Tasse schlaff auf den Tisch sinken.
"Und da gehen wir alle hin, - alle."
Sie starrte aus hohlen Augen auf den Tisch und nahm völlig teilnahmslos mit rechten Hand ihre Gitarre. Ohne die beiden anderen überhaupt noch zu beachten spielte sie ein Lied, dass Silke zwar schon mal irgendwo gehört hatte, aber keiner Gruppe zuordnen konnte.
Die beiden jungen Frauen hörten noch eine Weile zu, gingen dann aber, weil Dru sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen schien.
"Meine Güte," machte sich Silke vor der Tür aus der bedrückenden Stimmung als erste Luft.
"die war ja wohl völlig bekifft. Hast du die Augen gesehen? Total kaputt, die Frau."
Tina kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn.
"Ob der Jimmy dieser Jim Morrison ist, von dem du erzählt hast? Hast du nicht gesagt, dass der hier gestorben ist? Vielleicht ist der auch hier auf diesem Friedhof begraben, von dem die dauernd gefaselt hat., diesem Pere la Dingsbums da."
"Pere Lachaise, heißt der," verbesserte Silke sie aufgeregt. "Ich glaub das stimmt. Ich mein, davon gelesen zu haben. Das wäre doch was! Das wär doch `n Anfang. Los komm; das müssen wir sofort rauskriegen."
*
Eine Stunde später waren sie schlauer. Zwar waren sie nicht bis zum Grab durchgekommen, aber immerhin wussten sie jetzt, dass Jim Morrison tatsächlich auf dem berühmten Friedhof begraben war und dass jährlich hunderttausende zu seinem Grab pilgerten.
Die Polizei hatte an diesem Vorabend seines Geburtstages vorsorglich einen großen Teil des Friedhofes abgesperrt, um die Massen der Pilger wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Interessant war auch für die beiden Amateurdetektive gewesen, dass ihnen jemand am Friedhofseingang erzählt hatte, dass die Sperren die richtigen Fans sowieso nicht abhalten konnten, weil sie in den riesigen Grabhäusern überall auf dem Friedhof wohnten. Da ihnen die Stadtverwaltung wegen des großen Obdachlosenproblems keine anderen Übernachtungsmöglichkeiten anbieten konnte, waren sie quasi geduldet und lebten auf dem Friedhof, wie in einer Kleingartenkolonie.
Völlig geschafft kamen die beiden jungen Frauen am Abend wieder in ihr Hotel.
Dru begrüßte sie fröhlich an der Rezeption, als wären sie alte Bekannte.
"Na, beim Eiffelturm gewesen," fragte sie schelmisch lächelnd. "Toller Blick von oben, wah."
Die beiden erwiderten ihr Lächeln, erzählten ihr aber nichts von ihrem tatsächlichen Zielort.
"Trinkt ihr `nen Kaffee mit mir?" fragte sie. "Ist nichts los hier. Ich bin ganz allein."
Die beiden Frauen waren zwar todmüde, aber sie hatten auch irgendwie Mitleid mit dem Mädchen. Irgendwas ganz Trauriges verbarg sich hinter der aufgesetzten Fassade.
*
"Dieser Jimmy, von dem du heute Mittag geredet hast, der, der morgen Geburtstag hat. Ist das Jim Morrison?"
Dru drehte die Kaffeetasse nachdenklich in ihrer Hand.
"Der hat doch hier gelebt, oder?"
Dru sah Tina mit festem Blick an. Ihre Augen waren jetzt völlig klar und ihr Geist schien es auch zu sein.
"Jim Morrison, - ja", sagte sie mit klarer Stimme. "Jim Morrison von den Doors. Der legendäre Jim Morrison. Geboren in Californien, gestorben hier in Paris. Begraben auf dem Friedhof Pere Lachaise. Morgen wäre er 47 Jahre alt geworden. Und das gibt die Party überhaupt! Ganz groß! Direkt bei ihm! Wir alle lieben ihn!"
Sie hob pathetisch ihre Kaffeetasse, als wollte sie ihm zuprosten.
"Und ihr," fragte sie plötzlich. "Kommt ihr mit? Oder wollt ihr lieber zum Eiffelturm?" Sie kicherte wieder mit diesem komischen Unterton und starrte in die leere Kaffeetasse in ihrer Hand.
"Kann man da denn so hin?" fragte Silke vorsichtig. "Ich mein, kann da jeder....?"
Dru sah sie verständnislos an.
"Wie?... Was....? Ist doch `n Friedhof!" lachte sie schallend los. "Noch nie auf``m Friedhof gewesen? Da gibt`s keine Eintrittskarten. Da ist alles umsonst! Die sind da alle tot!
Tot, verstehst du, mausetot." Sie schrie Silke förmlich an und kam mit ausgestreckten Armen dämonisch grinsend aus ihrem Sitz hoch.
Silke wich erschrocken zurück. Irgendwas an diesem Mädchen war ihr unheimlich.
Dru sackte plötzlich wie ein Häufchen Elend in sich zusammen und fiel weinend in ihren Sessel zurück. "Tot, " murmelte sie leise, " mausetot, für immer."
Tränen tropften auf ihren langen weiten Rock und die beiden anderen saßen wie vom Blitz getroffen ihr gegenüber.
"Du kannst diesen Morrison doch gar nicht persönlich gekannt haben," sagte Tina plötzlich.
Sie setzte sich auf die Lehne von Drus Sessel und legte den Arm um sie. "Der war doch schon tot, als du noch gar nicht geboren warst. Warum heulst du denn so?"
Dru zog ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und hielt es vor ihr Gesicht. Irgendwas war aus ihrer Tasche gefallen und Silke hob es auf. Es war ihr Ausweis. Silke wollte ihn ihr gerade rüberreichen, als ihr Blick auf den Namen fiel.
Claudia Ferner, las sie, Dortmund, Laker Str.9
CLAUDIA. Bei Silke klingelten plötzlich tausend Glocken. Claudia und Francois!!
Das waren die Namen, die Dana ihr in der Nacht in der Psychiatrie gesagt hatte. Claudia und Francois.
Sie legte den Ausweis auf den Tisch und wartete bis Dru, oder wer immer das Mädchen war, ihre Tränen abgetrocknet hatte.
"Sag mal," fing sie ganz ruhig an, " kennst du eine Dana aus Marokko? Die hat hier auch mal gewohnt. Die kannte diesen Friedhof auch. Die...."
Weiter kam sie nicht. Dru hatte wieder angefangen zu heulen und diesmal war es mehr ein krampfartiges Schreien.
"Du heißt Claudia, oder", sagte Silke und strich ihr mit der flachen Hand über den Rücken. "Dana hat von dir erzählt. Sie sagte..."
Dru riss sich los und sprang plötzlich auf. Sie raste aus der Tür, raus auf die Straße. Ohne auf die vorbeirasenden Autos zu achten überquerte sie die Straße und verschwand in einer kleinen Gasse. Silke war ebenfalls aufgesprungen, aber Tina hielt sie am Arm zurück.
"Lass sie", sagte sie, " die ist doch völlig fertig. Außerdem kennt die sich hier aus. Die findest du sowieso nicht.
*
Den nächsten Morgen verbrachten Silke und Tina damit, die anderen Wörter von Silkes Aufzeichnungen irgendwie zusammenzubringen.
Dru, oder Claudia, wie sie eigentlich hieß, war nicht wieder aufgetaucht. Aus dem Portier war auch mit noch so schönen Augen nichts Vernünftiges herauszukriegen und ein Francois war weit und breit nicht in Sicht.
"Wir können doch nochmal zu diesem Friedhof gehen. Heute muss da doch irre was los sein, wo doch dieser Typ da Geburtstag hat . Vielleicht finden wir da die Lösung. Diese Claudia kennt auf jeden Fall deine Dana. Als du den Namen sagtest, hat`s die doch fast aus den Puschen gehauen!"
Silke sah Tina mit bissigem Blick an.
"Deine Dana, - wie das klingt! Als wenn jeder in der Klapse gleich MEIN Kind wäre!
Ist halt nur ein ungewöhnlicher Fall, irgendwie unheimlich..."
*
Der Friedhof sah eher wie ein Volksfest aus. Tausende von verrückt gekleideten und geschminkten Leuten turnten zwischen den protzigen Gräbern herum, überall war Musik,
Jongleure standen auf den Marmorstufen der Mausoleen und Feuerschlucker spuckten geräuschvoll ihre Flammen in den Himmel.
Die meisten der "Trauergäste" konnten höchstens zwischen zwanzig und fünfundzwanzig
Jahre alt sein, hatten den Betrauerten also nie lebend erlebt.
Manche der prachtvollen Grabhäuser sahen aus wie Einfamilienhäuser. Durch die schweren, offenen Metalltüren konnte man Matratzenlager sehen und Kleidungsstücke, die an Drähten von der Decke hingen.
Vor einem der Häuser wurde gegrillt und ein paar junge Laute saßen auf leeren Bierkästen
im Kreis um das Feuer herum.
Silke stupste Tina an den Arm.
"Da, sieh mal. Ist das nicht...?"
"Klar, das ist sie", rief Tina und ging zielstrebig auf die Gruppe los.
"Hallo Dru", sagte sie als sie direkt hinter dem Mädchen stand. "Lauf nicht gleich wieder los. Wir wollen nichts von dir. Wir sind nur wegen Dana hier. Dana hat große Probleme und Silke und ich wollen ihr helfen."
Einer der jungen Männer sah Drus ängstliches Gesicht und eilte ihr zu Hilfe.
"Problemes?", fragte er mit drohender Stimme und stellte sich leicht breitbeinig vor den beiden jungen Frauen auf. Und zu Dru gewandt sagte er fragend: " Police allemande?"
Dru schüttelte den Kopf.
"Setzt euch ", sagte sie zu den beiden Frauen. "Wollt ihr `n Wein?"
Die beiden setzten sich, etwas irritiert, für Polizistinnen gehalten worden zu sein, und auch der junge Typ setzte sich wieder auf seinen Platz.
"Was habt ihr denn mit Dana zu tun? Wisst ihr denn, wo die ist?"
Silke erzählte ihr den Teil der Geschichte, den sie erzählen konnte, ohne ihre Schweigepflicht zu verletzten. Dru sank bei jedem Satz mehr in sich zusammen.
"Das ist ja schrecklich", sagte sie schließlich und schlug wieder die Hände vor`s Gesicht.
"Dann hat dieses Schwein schließlich doch noch gewonnen, obwohl er längst tot ist. Ich hasse ihn, oh ja, ich hasse ihn!"
Nachdem sie sich nach einiger Zeit wieder etwas beruhigt hatte, erzählte sie die ganze Geschichte und es schien, als wäre das schon lange nötig gewesen.
Dana hatte Claudia in Paris im Hotel Perfect kennen gelernt und die beiden waren schnell Freundinnen geworden.
Jim Morrison war der Dreh-und Angelpunkt ihrer Freundschaft gewesen und sie hatten viel Zeit bei den Grabbewohnern von Pere Lachaise rund um Jimmys Grab verbracht.
Als ihnen das Geld ausgegangen war, waren sie sogar selbst auf den Friedhof gezogen und hatten eine Weile in einer Grabkammer gewohnt. Sie wollten unbedingt bis zu Jimmys Geburtstag bleiben, weil das nun mal das Größte für einen echten Fan war.
Durch die Friedhofsbewohner waren sie schnell an Drogen, hauptsächlich Haschisch und Marihuana, geraten und die gab´s natürlich nicht umsonst. Mit Betteln in den Straßen von Paris kam man zwar so einigermaßen über die Runden, aber manchmal reichte das eben nicht.
Darum war Dana irgendwann auf die Idee gekommen, ihre herrlichen, langen, schwarzen Haare zu verkaufen, um ihre inzwischen aufgelaufenen Schulden zu bezahlen.
Der Friseur, ein Typ von etwa fünfundvierzig mit graumelierten Haaren, war begeistert und entsetzt zugleich gewesen. Als sie ihm erzählt hatte, dass sie auf dem Friedhof wohnte, und das Geld unbedingt brauchte, hatte er ihr ein Angebot gemacht.
Er besaß ein Hausboot auf der Seine und war dabei, es zu renovieren.
Er bot Dana an, auf das Boot zu ziehen und es mit ihm in Schuss zu bringen. Die Miete könnte sie ja so abarbeiten.
"Dana wollte, dass ich mit auf`s Hausboot ziehe zu diesem Francois, aber irgendwie war der mir unheimlich. Der hatte sowas... ich weiß nicht."
Dru schluckte und Tränen rollten ihre Wangen herunter.
"Dieses Schwein. Dieses miese Schwein!"
Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich wie versteinert und die Tränen tropften auf den Boden.
"Der wollte von Anfang an....." sie schüttelte nur noch den Kopf und ihre Stimme versagte.
Tina nahm sie in den Arm und strich ihr über die Haare.
Dru sah sie erstaunt mit einem seltsam verklärten Lächeln an.
"Eine Woche nachdem Dana weg war, wurde die Leiche des Typen auf dem Hausboot gefunden. In dem Zeitungsbericht über seinen Tod stand, dass er seinen Laden und sein Hausboot nur dazu benutzt hätte, junge Frauen für Bordelle zu beschaffen und dass es sich wohl um einen Mord im Zuhältermilieu handelte.
Ein paar von uns haben noch eine Weile nach Dana gesucht, aber wir haben sie nicht gefunden.
Wir waren uns alle ziemlich sicher..."
Hier brach sie den Satz abrupt ab und löste sich aus Tinas Umarmung.
Sie drehte sich zu einem der jungen Männer in ihrer Nähe, nahm ihm eine Flasche Rotwein aus der Hand und trank ein paar große Schlucke.
"Worüber ward ihr sicher?" fragte Silke mit ernstem Gesicht, " dass Dana den Typen ...... umgebracht hat?"
Dru sah sie trotzig an und nahm wieder einen tiefen Schluck aus der Flasche.
"Ist doch scheißegal," rief sie, " irgend jemand musste es doch tun. Irgendjemand wird`s getan haben." Sie lachte kichernd in den Hals der Flasche, versuchte aufzustehen und wollte weggehen.
Silke hielt sie am Ärmel fest. "So einfach ist das nicht, " sagte sie, " du vergisst, warum wir hier sind, Dru! Dana ist in der Psychiatrie. - Nach einem Selbstmordversuch!"
Dru sah sie entgeistert an und fiel zurück auf den Boden.
"Die hat das nicht einfach so weggesteckt und das war`s! Die hat`s selbst erwischt, das vergisst du wohl! Das ist hier kein Film! Wir wollen Dana helfen, aber dafür brauchen wir dich."
*
Drei Tage später war Silkes Urlaub zu Ende. Dru hatte fest versprochen, mit Silke und Tina nach Deutschland zu fahren und mit Dana zu sprechen, aber sie tauchte am vereinbarten Treffpunkt nicht auf.
Zurück in Beckfeld traf Silke dann der nächste Schlag.
Dana hatte schon eine Lösung für das Problem gefunden.
Der Lokführer des ICE hatte keine Chance gehabt.
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2020
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