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Prolog

 „Willkommen beim wöchentlichen Motivationskurs! Für die, die mich noch nicht kennen: Ich bin Gabriel, euer Motivationstrainer. In diesem Kurs werden wir zusammen versuchen, jeden von Euch wieder aufzubauen. Egal, was ihr hinter Euch habt, in diesem Zimmer wird keiner aufgrund seiner Vergangenheit verurteilt. Damit sich hier auch keiner fürchten muss, dass von ihm etwas Persönliches an die Öffentlichkeit gerät, möchte ich Euch kurz an die Regeln erinnern: Was hier drin geschieht, bleibt auch drin. So, gibt es dann noch Fragen?“

Stille. Die Teilnehmer blicken schweigend zu Boden.

„Gut, dann können wir ja mit der heutigen Stunde beginnen. Ich sehe, wir haben ein paar neue Teilnehmer. Will jemand von Euch den Anfang machen? Du vielleicht?“ Er sieht aufmunternd zu einem Mann, der daraufhin zögerlich nickt.

„Mhm ... Okay.“ Er reibt nervös mit seinen Händen über die Hose.

„Schön. Dann erzähl uns doch erst mal was von Dir.“

„Also mein Name ist Sven ... Ich bin 51 und arbeite als Steuerberater.“ Die anderen nicken ihm begrüßend zu.

„Schön, Dich kennen zu lernen, Sven. Bist du zufrieden mit deinem Leben?“ Gabriel blickt ihm direkt in die dunklen, traurigen Augen.

„Zufrieden? Ich würde eher sagen, ich ertrage es. Meine Frau …“ Seine Stimme bricht. Er räuspert sich und spricht weiter. „Sie ist vor drei Jahren gestorben. Seitdem ist es nicht mehr dasselbe. Ohne sie habe ich einfach vergessen, wie es ist, Spaß zu haben, das Leben zu genießen ... Ich hab das Gefühl, ich vegetiere nur noch vor mich hin. Ich fühle mich so kraftlos. Total unfähig, irgendetwas zu tun oder zu erreichen. Das Einzige, was mich einigermaßen am Leben erhält, sind meine beiden Söhne. Aber auch die haben mittlerweile ihre eigene kleine Familie. Ich habe nur noch meine Arbeit."

„Du hast also keine Hoffnung mehr, dass es wieder bergauf geht?"

Sven blickt auf und sieht Gabriel das erste Mal in die Augen: „Doch… Seit einem Monat wieder ein bisschen.“ 

„Das ist schön zu hören, Sven. Was hat sich denn in dem Monat verändert? Gab es ein spezielles Ereignis, das dich bewegt hat?“

„Ja ... Es war Anfang Februar, da musste ich geschäftsbedingt nach Frankfurt fahren. Doch ich habe den Zug verpasst. Normalerweise passiert mir so etwas ja nicht, aber die Nacht zuvor hatten meine Nachbarn eine Party gefeiert. Ich glaube, jemand hatte Geburtstag. Und da ich deshalb kaum schlafen konnte, habe ich morgens dann auch den Wecker nicht gehört und somit den Zug verpasst…“

„Komm mal zum Punkt!“, kommt es von einem Mann mit Glatze.

„Bitte! Nicht vergessen: Wir lassen jeden ausreden! Rede weiter, Sven.“

„Ehm, ja. Ich musste dann ein paar Stunden auf den nächsten Zug warten und bin deshalb viel später in Frankfurt angekommen. Es war schon stockdunkel. Ich habe ich mich dann zum Hotel fahren lassen und bin auf mein Zimmer hoch. Dort habe ich beim Fernsehen die Nachrichten eingeschaltet und erfahren, dass der Zug, den ich verpasst hatte, Stunden nach seiner Abfahrt einen Unfall hatte. Er ist mit einem anderen Zug zusammengestoßen. Es gab 17 Tote.“

„Das ist ja übel! Da hast du aber Glück gehabt! Wenn man bedenkt, dass du den Zug ja fast genommen hättest!“, meint eine Rothaarige.

„Genau. Und die Tatsache, dass ich so viel Glück hatte, hat mich darüber nachdenken lassen, dass es vielleicht doch einen Sinn in meinem Leben gibt. Das ich verschont wurde, muss doch irgendeinen tieferen Sinn haben, oder nicht? Ich glaube, irgendetwas oder irgendjemand will, dass ich noch ein Weilchen hier bleibe und dieses Leben auch würdige.“

„Und was denkst Du, wer oder was das ist, Sven?“

„Also ich glaube ja nicht an Gott und bin auch sonst nicht religiös oder so, aber der Gedanke, dass vielleicht meine Frau mich gerettet hat… der lässt mich nicht mehr los.“

„Dann glaubst du, dass deine Frau sozusagen als Schutzengel über dir wacht?", fragt Gabriel überrascht.

„Ja, ich denke schon. Denn ...“

„Sowas wie Geister gibt‘s nicht. Und erst recht keine Schutzengel“, murmelt plötzlich ein Mann neben Sven vor sich hin.

„Du bist auch neu hier, nicht wahr? Wie ist Dein Name?“, fragt Gabriel den Fremden.

„Ich bin Dennis“, antwortet der Mann widerwillig.

„Gut, Dennis. Wieso bist davon überzeugt, dass es keine Geister oder Schutzengel gibt?" In Gabriels Stimme schwingt Enttäuschung mit.

„Säße ich dann hier ohne linken Arm?“

„Wie ist das denn passiert, Dennis?“

„Ja.. also mir wurde vor zwei Jahren diagnostiziert, dass ich einen bösartigen Tumor im Arm habe ... Und damit es nicht zur Streuung von Tumorzellen kommen konnte, wurde mein Arm gleich ein paar Tage darauf amputiert. Und jetzt bin ich halt ein beschissener Krüppel.“ Dennis schaut beschämt weg. Seine Miene hat sich versteinert.

„Das finde ich nicht, Dennis. Aber weil es passiert ist, denkst Du jetzt, mit einem Schutzengel, der über dir wacht, wäre es gar nicht zu einem bösartigen Tumor gekommen?“

„Genau. Ist doch logisch. Außer mein persönlicher Schutzengel hasst mich. Aber davon geh ich mal nicht aus. Engel sind ja Geschöpfe des Himmels, nicht der Hölle, oder lieg ich da falsch?“ Er schaut Gabriel herausfordernd an.

„Das kommt ganz auf deine Definition des Begriffs „Schutzengel“ an, Dennis“, sagt Gabriel geheimnisvoll.

„Wie lautet denn Ihre Definition, Gabriel?“ fragt Sven auf einmal.

„Gute Frage.“ Er lächelt. „Dazu erzähle ich Euch am besten eine Geschichte…"

 

Kapitel 1: Sommerferien

Da war es schon wieder.
Dieses durchdringende, unnachgiebige Piepsen. Wie jeden Morgen holte es Lana auch heute so sanft aus ihrer Traumwelt, als würde sie der Oberoffizier der Armee höchstpersönlich aus dem Bett kommandieren.
Mal ehrlich: Dieser penetrante, schrille Ton war alles andere als „angenehm“, wie es ihr der Verkäufer im Geschäft hatte verklickern wollen. Sie musste den Wecker unbedingt loswerden, sobald sie einen Ersatz gefunden hatte.

Sie drehte sich genervt auf die Seite und ertastete nach einigem Stöhnen und angestrengtem Schnaufen die Schlummertaste, entschied sich dann aber doch für die Off-Taste. Für heute waren ihre Ohren jedenfalls genug gequält worden.
Mit einem müden Gähnen setzte sie sich auf und streckte sich. Ihr Rücken fühlte sich an, als hätte sie auf allem gelegen außer auf der Matratze. Sie sollte ernsthaft darüber nachdenken, sich abends vor dem Schlafen gehen an die Bettpfosten zu fesseln, damit sie sich nachts nicht mehr so viel drehen und wenden und sonstige Kunststücke vollführen konnte. Irgendwann würde sie sonst noch sicher mitten in der Badewanne aufwachen.

Lana blickte noch einmal auf den Wecker und schlurfte ins Badezimmer. Die Birne leuchtete mit einem leichten Flackern auf und erhellte das winzige Bad, in dem trotz der Enge mysteriöser Weise noch zusätzlich eine Wanne ihren Platz finden musste. Dabei wurde sie kaum genutzt. Was aber auch daran liegen mochte, dass der Abfluss verstopft war und niemand Lust hatte, nach dem Baden das Wasser abzupumpen. Zum Glück gab es ja noch die Dusche. Lana stellte sich einige Minuten unter den Wasserregen des Duschkopfs und genoss die Wärme.

Noch mit tropfenden Haaren tapste sie fünf Minuten später aus dem Bad über den Flur in das gegenüberliegende Zimmer und zog die Rollläden hoch.
„Wäh!“ Lana stöhnte angeekelt.
Der Lichtschein offenbarte ihr eine völlig vernachlässigte Küche. Nicht nur der schöne Holzboden war voller Krümel, auch der Esstisch war übersät von benutzten Gläsern und Tellern vom gestrigen Abendessen. Der Mülleimer quoll schon über und ließ Lana schnell die Luft anhalten.
Sie zog den Müllbeutel raus und verfrachtete ihn eilig vor die Tür. Lana schloss wieder die Tür und schnappte nach Luft. Viel besser! Sie schob das herumliegende Geschirr auf dem Tisch zur Seite und fing an, sich Frühstück zu machen.

Während sie Toast mit Quark und Nutella - ihre Lieblingskombination - in sich hineinstopfte, sah sie durch die schmutzigen Küchenfenster nach draußen. Der Himmel war so voller Wolken, dass er wie eine weiße Wand wirkte. Kein Lichtstrahl konnte sich bei diesen Massen bis auf die Erdoberfläche durchkämpfen. Aber Lana mochte solches Wetter. Am liebsten hatte sie aber den Herbst. Gut, dass der nicht mehr so weit entfernt war.

Nachdem sie noch einmal kurz einen Blick auf die Küchenuhr erhascht hatte, räumte sie alles weg und warf sich ihre Tasche über die Schulter. Außer einem dicken Buch rutschte noch ein Regenschirm darin herum. Man konnte ja nie wissen. Noch ein schneller Griff zum Schlüsselboard und schon war sie zur Tür raus.

Die Räder ihres grünen Fahrrads rollten mit rasender Geschwindigkeit über den feuchten Stein durch einige Pfützen hindurch, sodass es spritzte.
Lana atmete tief durch. So früh morgens war die Luft in der Stadt am besten. Und nach dem nächtlichen Regen fühlte sie sich in den Lungen noch viel frischer an als sonst. Der Wind konnte allerdings ganz schön nerven. Sie balancierte das Rad kurz mit einer Hand weiter geradeaus und steckte sich geschickt den Pony mit ein paar Haarklammern nach hinten.

Sie bog um die Ecke und fuhr an einigen Frühaufstehern vorbei, die ihr gewohnt genervt hinterhersahen.
Ihre Blicke verfolgten sie noch einige Meter, bis sie merkte, wie das unwohle Gefühl, beobachtet zu werden, langsam nachließ. Lana war bei den Rentnern hier nicht so beliebt. Das lag aber eher an den alten Schachteln als an ihr. Sie musste zwar zugeben, dass sie nicht besonders hilfsbereit oder kommunikativ im Umgang mit „hilfsbedürftigen“ Menschen war und ihnen ab und zu vielleicht auch mal die Zunge rausstreckte, wenn sie sie mal wieder so vorwurfsvoll anblickten, aber dass sich die Alten von den paar Jugendlichen in der ruhigen Gegend fast schon terrorisiert sahen, war ja letztendlich nicht ihre Schuld.
Plötzlich schallte das tiefe Läuten der Kirchenuhr des Ortes an ihr Ohr und verriet ihr, dass es mittlerweile schon sieben Uhr war. Lana stöhnte und trat noch einmal kräftig in die Pedale und bretterte ungeniert die letzten hundert Meter quer über den Stadtrasen in Richtung Autobahn, während sie hinter sich noch jemanden "Unverschämt!" rufen hörte.

„Da bist du ja endlich!“, rief ihr Vater und kam ihr entgegen, als sie schließlich in den Vorhof der Tankstelle einbog. Nachdem sie ihr Rad sicher abgeschlossen hatte, ging sie auf ihren Vater zu und begrüßte ihn. „Hast du die Schlüssel?“
„Die liegen drinnen. Wenn du Mittagspause machst, vergiss nicht, abzuschließen, Lana.“
„Schon klar.“ Ihr Vater lächelte leicht und kramte seinen Autoschlüssel hervor.
„Schläft deine Mutter noch?“ „Wie immer“, antwortete Lana resigniert. Sie wollte gerade die Unordnung erwähnen, da bemerkte sie, wie müde er aussah.
„Gut… dann muss ich mir wohl selbst was zu essen machen. Wir sehen uns dann nachher, Schatz.“ Ihr Vater umarmte sie noch einmal herzlich und stieg dann in den kleinen Kombi.
„Bis dann“. Lana winkte ihm zum Abschied, als er davonfuhr.

Schon traurig, dass ihr Pa der einzige war, der was für seine Familie tat. Ihre Mutter sollte sich daran mal ein Beispiel nehmen. Aber wenn sie den ganzen Tag nur pennte, wunderte es Lana überhaupt nicht, wenn sie nichts mitbekam. Sie betrat gähnend die Tankstelle und pflanzte sich hinter der Theke hin.
Zum Glück war hier so gut wie nie was los. Da konnte sie ihre Krimis lesen und bekam fürs Nichts-tun gleichzeitig Taschengeld. Schon praktisch, wenn der Vater selbstständig war. Sie holte ihr Buch aus der Tasche, machte es sich auf dem Drehhocker gemütlich - sofern das überhaupt ging – und begann, in die Welt von Detektiv Shawn einzutauchen.

 

***

 

Hey Tagebuch,

ich hab zwar so etwas hier noch nie gemacht – also die eigenen Gefühle, den Tagesablauf und so in ein Buch schreiben – aber meine Mom meint, mit einem Umzug beginnt ein neues Leben. Und somit ist es auch gut, das Leben neu anzugehen. Zum Beispiel eben mit einem Tagebuch.

Ach, tut mir leid. Du weißt ja noch gar nicht, wer ich bin. Warte mal – sag ich grade „du“ zu einem Buch? Naja. Was soll’s: Ich heiß Noah, bin achtzehn Jahre alt und gehe noch zur Schule. Aber nicht mehr lang! Ich komme in zwei Wochen in die 12. Klasse.

Bis dahin möchte ich noch die Stadt erkunden. Ich kenn mich hier ja noch so gut wie gar nicht aus. Die Schule, auf die ich bald gehe, habe ich aber schon im Vorbeifahren sehen können. Der Campus scheint sehr groß zu sein und ich hab auch schon Sportplätze entdeckt! Ich hoffe, ich finde dort auch schnell Anschluss im Unterricht und natürlich Freunde. Ich vermiss meine alten Kumpels ja schon ziemlich… Bisher hab ich hier zwar kaum Jugendliche in der Umgebung gesehen, aber ich glaube, die Leute hier sind ganz nett. Unsere Nachbarn haben uns auch schon willkommen geheißen und uns zum Abendessen eingeladen.

Ihr Haus sieht übrigens genauso aus wie unseres. Es ist nur blau gestrichen. Unseres ist knallig gelb. Als ich das erste Mal eingetreten bin, war ich sprachlos. Wir haben so riesige Zimmer und endlich mal zwei Bäder, statt nur einem! An das Wohnzimmer ist sogar ein Erker angebaut. Da wird Mom bestimmt eine gemütliche Leseecke hinzaubern. Ich hab mit Jona gleich zu Anfang Schere-Stein-Paper um das coolere Zimmer gespielt. Und ja! Ich hab gewonnen. Die Fenster meines Zimmers zeigen übrigens auf den großen Wald hinter unserem Haus. Manche würden jetzt denken: Oh Gott. Ein dunkler, tiefer Wald gleich neben mir. Aber ich find’s großartig. Es ist so ein beruhigendes und angenehmes Gefühl, bei den Hausaufgaben aus dem Fenster sehen zu können und dabei nicht auf eine vollbefahrene Straße oder den fernsehschauenden Nachbarn schauen zu müssen. Außerdem sehe ich auch öfters Eichhörnchen und ich liebe es, sie beim Klettern und hektischem Umgucken zu beobachten.

Wenn die Schule auch so cool wie die Gegend hier ist, dann freu ich mich schon richtig auf mein letztes Schuljahr. Ich muss dann auch mal wieder aufhören. Mom ruft. Wir gehen jetzt zum Abendessen rüber. Ich bin auch schon richtig hungrig vom ganzen Umzugsstress.

Bis dann!

Kapitel 2: Nur Verrückte

Es war mittlerweile schon Mittag und die Sonne knallte gnadenlos auf ihn herab. Hab Erbarmen, dachte Gabriel in den Himmel blickend und lächelte erschöpft. Sein Blick fiel kurz auf die Uhr an seinem Arm. In einer Stunde würde ihn Lucas ablösen.

Er holte tief Luft und setzte wieder ein Lächeln auf. Freundlichkeit war das A und O in diesem Job. Dabei hoffte er immer insgeheim darauf, dass die Passanten zurücklächelten.
Aber heute schien die Sonne auch den Menschen zu schaffen zu machen. Keiner war bisher nur kurz angehalten und hatte ihm zugehört. Aber immerhin hatte er schon fast alle Flyer verteilt.

Eine alte, missmutig dreinschauende Frau rauschte plötzlich an ihm vorbei und schleifte ihren Hund hinterher. Wenn man das winzige Ding überhaupt noch Hund nennen konnte. „Entschuldigen Sie, verehrte Dame, ich…“ setzte er an, während er ihr hinterherjoggte. Doch statt anzuhalten, unterbrach sie ihn schon vorwurfsvoll. „Sehen Sie nicht, dass ich es eilig habe! Belästigen Sie jemand anderes!“ Damit ließ sie ihn stehen und dackelte davon. Ihr hinterher ein verstörter Pudel.

Gabriel blickte ihr enttäuscht nach und lief dann wieder zurück. Heute war wirklich kein guter Tag für seine Mission. Als er wieder auf seinem Stammplatz stand und einladend mit den Flyern vor sich her wedelte, spielte er schon mit dem Gedanken, sich schon jetzt von seinem Kollegen ablösen zu lassen. Da blieb sein Blick auf einmal an einer jungen Frau auf der anderen Straßenseite hängen.

Wieso gerade sie ihm auffiel? Er wusste es nicht. Vielleicht war es ihr gemütlicher Gang, der sie von der hektischen Masse abhob. Oder ihre desinteressierten Augen, die emotionslos und leer vor sich her blickten, während ihr langes blondes Haar im Wind flatterte.
Gabriels Blick blieb noch eine Weile an der Fremden haften, als ihr dunkelblonder Schopf plötzlich um die Ecke bog und aus Gabriels Blickfeld verschwand. Er schaute kurz nach rechts und links, überquerte eilig die Straße und drückte sich an einigen Passanten vorbei, bis er es um die Ecke geschafft hatte. Doch das Mädchen war schon in der Masse von Menschen verschwunden, die in diesem Moment aus der Straßenbahn stiegen. Gabriel lief noch ein Stück weiter, konnte sie aber nirgends mehr entdecken.

Verzweifelt sah er sich in alle Richtungen um. Aber egal, wohin er blickte, er schaute nur in fremde Gesichter, die ihn zum Teil genervt ansahen. Wohl deshalb, weil er mitten auf dem Gehweg stehen geblieben war und sich die Menschen an ihm einen Weg vorbeibahnen mussten.
Plötzlich blieb sein Blick an einer Imbissbude schräg vor ihm hängen. Ah, da ist sie!, dachte er erfreut, als er den dunkelblonden Schopf wiederentdeckt hatte und folgte der jungen Frau bis vor das Geschäft, in das sie gerade eingetreten war.
Durch die Schaufenster konnte er das Mädchen beobachten, wie es sich am hinteren Ende der Schlange anstellte und wartete. Nach ein paar Minuten verließ es wieder den Laden und lief ihm direkt in die Arme.

„Pass doch auf!“ schimpfte die junge Frau, nachdem sie sich einigermaßen wieder gefangen hatte. Sie hatte gerade  noch verhindern können, dass ihr Döner ihr aus der Hand auf die Bluse rutschte. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich, während ihre Augen ihn verärgert anblitzten.
„Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nur das hier geben.“ Gabriel reichte ihr einen Flyer und lächelte. Doch das erhoffte Zurücklächeln blieb aus. Das Mädchen ignorierte seine Geste und ließ ein genervtes Stöhnen von sich. Dann ging es ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und war nach wenigen Sekunden wieder in der Masse verschwunden.

„Hey!“ rief er der Unbekannten noch hinterher. Doch sie war weg. Gabriel setzte sich traurig auf die Treppen vor der Imbissbude und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Er hätte nie gedacht, dass es hier unten so schwierig werden würde. Dass es kein Klacks werden würde, hatte er schon geahnt, als ihm seine Mission erörtert worden war. Aber nachdem Lucas ihn an seinem ersten Tag hier erstmals herumgeführt und die Stadt und vor allem die Menschen gezeigt hatte, war er so fasziniert von ihrer Selbstständigkeit und ihrer Intelligenz gewesen, dass er die ganzen ignoranten Gesichtsausdrücke wohlwollend ausgeblendet hatte.


Doch nun - nach sechs Monaten - konnte er nicht mehr wegschauen. Er konnte die Tatsache nicht mehr verdrängen. Die Tatsache, dass die Menschheit eine selbstgefällige und intolerante Art war, die sich weder um den Erhalt ihrer eigenen Rasse sorgte, noch um den der anderen, die mit ihnen auf diesem Planeten lebten. Er warf einen letzten Blick auf die vorbeieilenden Passanten und stand auf. Er musste sich eine neue Strategie ausdenken.

 

***

 

Lana schaute auf, als die Eingangstür der Tankstelle aufschwang. Hinein kam ein hochgewachsener Junge, der in ihrem Alter sein musste. Mit einem breiten Lächeln nickte er ihr als Begrüßung zu und blieb dann vor dem Zeitschriftenregal stehen. Genervt schweifte Lanas Blick wieder in ihren Krimi. Nur noch ein paar Seiten fehlten, dann würde sie endlich erfahren, wer die Putzfrau umgebracht hatte.

Detektiv Shawn sah in die Runde. Die Beteiligten starrten nervös vor sich hin. Er blickte einen nach dem anderen von ihnen an. Jeder hier hatte ein Motiv gehabt, die Frau zu töten. Aber er wusste, dass es nur einem hätte  gelingen können. Nur einer passte letztendlich in das Täterprofil. Und das war…

Plötzlich hörte sie ein Pfeifen und schaute auf. Das Gepfeife kam von dem Jungen. Der griff sich gerade was aus dem Regal und trat an die Theke. „Hey. Ich nehme die hier ... “, er zeigte auf die Zeitschrift „Und ... mhm ... noch eine Coke.“ Lana legte das Buch genervt zur Seite und holte wortlos eine Cola aus dem Gefrierschrank hinter sich. „War’s das?“, fragte sie missmutig. „Jo.“

Lana scannte den Barcode auf der Zeitschrift, wobei sie den Titel lesen konnte: aerokurier. „Ich möchte mal Pilot werden“ bemerkte er, als ihm ihr skeptischer Blick auffiel. Lana antwortete nicht. Das kümmerte sie genauso wenig wie die Tatsache, dass sie ihn hier noch nie gesehen hatte. „Ich bin Noah und du?“, setzte er zum Gespräch an. Er versuchte scheinbar, Small Talk zu machen. Sie ignorierte ihn aber weiterhin und gab ihm sein Rückgeld.

Er blickte leicht enttäuscht auf die Münzen in seiner Hand, zuckte dann kaum merklich mit den Achseln und nahm die Cola und die Zeitschrift an sich. „Wer weiß… vielleicht sehen wir uns ja mal.“ sagte er zum Abschied und lächelte sie noch ein letztes Mal an. Dann verließ er summend wieder die Tankstelle.

Lana schüttelte verständnislos den Kopf. Wieso laberten sie nur alle heute so voll? Erst der Typ vor der Imbissbude und jetzt so ein überfröhlicher Milchbubi. Sie musste nach dem Abi unbedingt gleich ausziehen. Am besten in eine andere Stadt, wo nicht nur Verrückte rumliefen.

Kapitel 3: Der Test

Hey Tagebuch,

ich bin’s mal wieder. Heute beginnt die letzte Woche der Sommerferien. Ich hab mittlerweile schon ein paar Bekanntschaften geschlossen. Ich hab unter anderem einen Jungen auf dem Fußballplatz kennengelernt und wir haben dann zu dritt (Jona war auch dabei) zusammen ein bisschen gekickt. Er ist echt cool. Leider geht er auf eine andere Schule als ich.

In der letzten Woche habe ich neugierig die Stadt ausgekundschaftet. Weißt du, was es hier gibt?! Halt dich fest: einen Flugplatz! Er liegt etwas abseits am Rand der Felder. Ich habe ihn nur zufällig gefunden, als ich mich einmal mit meinem Rad verfahren habe. Hier ist schon alles ziemlich groß, nicht so wie in unserem alten Dorf.

Jedenfalls habe ich einen Mann getroffen, er ist der Mechaniker dort. Und er hat mir erzählt, dass der Platz momentan stillgelegt ist. Leider. Aber bis zum nächsten Jahr soll er saniert und auf den neuesten technologischen Stand gebracht werden. Dann ist er wieder voll in Betrieb. Voll geil! Vielleicht kann ich da ja nach meinem Abi ein Praktikum machen. 

Ach, Mom und Dad streiten gerade. Komisch. Seit wir hier eingezogen sind und Dad endlich wieder als Dachdecker arbeiten kann, kriegen sich die beide immer öfters in die Haare. Ich glaube, es geht darum, dass Dad zu wenig im Haushalt macht. Aber ist ja auch egal. Dad wird sicher bald wieder zuhause mehr mithelfen können. Ich meine, natürlich will er sich zu Anfang besonders bei der Arbeit anstrengen. Er will ja festangestellt werden nach seiner Probezeit. Aber ich denke, er schafft das. Und dann war der Umzug auch nicht umsonst. Hoff ich jedenfalls.

Ich habe übrigens ein Mädchen kennengelernt. Naja, eher gesehen. Sie hat mir leider nicht ihren Namen verraten. Ich weiß nur, dass sie in der Tankstelle zwischen der Autobahn und dem Flugplatz arbeitet. Sie müsste aber in meinem Alter sein, bestimmt jobbt sie da also nur in ihrer Freizeit.
Vielleicht hab ich ja das Glück, dass sie auf meine Schule geht. Ich fand sie ja schon ziemlich süß. Sie hat langes dunkelblondes Haar und tiefe, dunkle Augen, in denen man sich glatt verlieren könnte. Sie sagt zwar fast nichts und ist distanziert, aber das ist sie zu Fremden wahrscheinlich immer. Wenn wir uns nochmal sehen sollten, lade ich sie einfach mal ins Kino ein.

Naja, ich geh dann mal schlafen. Ich bin hundemüde.

Bis bald!

 

***

 

Gabriel wusste, dass er das nicht tun sollte, aber nun dachte er schon seit einer Woche ununterbrochen an dieses Mädchen von der Imbissbude. Er bekam ihren leeren Blick einfach nicht mehr aus dem Kopf. Auch wenn Lucas ihm davon abgeraten hatte, musste er es einfach wagen. Er musste sie testen.

Er hatte mittlerweile herausgefunden, dass sie in einer Tankstelle am Rand der Stadt aushalf. Und auch, dass sie jeden Tag in ihrer Mittagspause in das nahe Stadtzentrum lief, um sich in der gleichen Imbissbude, in der er sie beim ersten Mal gesehen hatte, etwas zu Essen zu holen.

Er blickte in den strahlend blauen Himmel und lächelte. Die Sonne ließ die Straßen der Stadt am heutigen Tag in einem goldenen, hellen Licht schweben. Die Passanten hatten es diesmal weniger eilig und manch einer blieb ein paar Sekunden  stehen, um die letzten warmen Sonnenstrahlen des Sommers auf seiner Haut prickeln zu lassen.

Gabriel sah aufgeregt auf seine Uhr. Es war schon kurz nach 12. Gleich müsste sie auftauchen. Er setzte sich in Bewegung, überquerte die Straße und stellte sich wie geplant auf die andere Seite, um dort gespannt auf das Mädchen zu warten. Währenddessen zogen Massen an Menschen vor seinen Augen vorbei und er versuchte, sich auf dunkelblondes, langes Haar zu konzentrieren.

Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Da war sie! Er schloss die Augen, spannte die Muskeln an und legte los.

 

 ***

 

Lana war gerade in Gedanken beim letzten Fall ihres Krimihelden Shawn, als sich ihr plötzlich eine dunkle Gestalt in den Weg stellte. Sie blickte erschrocken auf und sah direkt in die Augen eines alten, stinkenden Obdachlosen. Sein Gesicht war faltig und voller Schmutz. An seiner linken Backe klebte etwas Bräunliches. Oh Gott, sie wollte gar nicht wissen, was es war.

Angeekelt drehte sie sich weg und versuchte sich an ihm vorbeizudrücken, doch der Mann war hartnäckig. „Has su mal ‘n Euro für mich, Kleines?“, lallte er und sah sie mit einem schiefen Lächeln an. Seine gelben Zähne blitzten ihr entgegen und ein süßlicher Gestank kroch in ihre empfindliche Nase. Sie schüttelte angewidert den Kopf und kämpfte sich an ihm vorbei. Als sie es endlich geschafft hatte und sich noch einmal umdrehte, war er verschwunden.
Seltsam. Sie starrte auf den Platz, auf dem der Obdachlose gerade noch gestanden hatte, als sie ein Schreien aufschreckte. Sie drehte sich, jetzt sichtlich genervt, wieder um und entdeckte am Straßenrand ein kleines Mädchen, das sich mit Tränen in den Augen das wunde Knie hielt. „Auuua! Maaami!“ Der Schrei war ohrenbetäubend. Lana stöhnte und sah sich um. Keine Mami in Sicht.

Ist ja nicht mein Problem, dachte sie schließlich, zuckte mit den Achseln und ging, ohne das weinende Mädchen noch eines letzten Blickes zu würdigen, weiter. Doch weit kam sie nicht. Denn als sie sich zum Gehen wendete, stolperte sie fast über einen Mann, der gebückt den Boden nach etwas absuchte. „Meine Brieftasche! Bitte, hilf mir doch einer!“ hörte sie ihn verzweifelt jammern. Erst jetzt entdeckte sie, dass der Mann blind war. Neben einer schwarzen Brille erblickte sie noch einen Stock – wohl einen Blindenstock – unter seinem Arm.

Er rief weiter nach Hilfe, doch irgendwie, Lana wusste nicht wieso, kam niemand. Sie sah auf ihre Uhr. Oh Gott, wenn sie noch weiter hier herumstand, konnte sie dich den Döner sparen. Ihre Mittagspause war gleich vorbei. Hektisch drängte sie sich an dem blinden Mann vorbei und rannte eilig davon.

 

***

 

Der Blinde verstummte und richtete sich wieder auf. Nachdenklich nahm er die schwarze Brille ab und sah Lana hinterher. Er hätte nie gedacht, dass ein Mädchen in diesem Test durchfallen könnte. Jetzt musste er es sich wohl eingestehen: Er war noch naiver, als er selbst geglaubt hatte.

Die Menschen überraschten ihn immer wieder. Doch leider zum größten Teil auf negative Weise. Aber wie sollte er an diese Sorte Mensch wie das Mädchen herankommen, wenn sie ihn schon als verletztes Kind nicht wahrnahm?

Gabriel ging grübelnd über die Straße und gesellte sich zu Lucas, der bereits auf ihn wartete.
„Lucas, ich…“
„Sag nichts, ich weiß es schon. Hatte ich dir nicht geraten, es zu lassen? Solche Tests bringen uns nur in Gefahr.“
„Aber ich hab doch dafür gesorgt, dass nur sie mich sehen kann.“
„Das ist schon schlimm genug… Aber vergessen wir es. Nur bitte hör bei solchen Dingen das nächste Mal auf deinen alten, aber erfahrenen Freund.“ Lucas lächelte leicht, woraufhin Gabriel beschämt nickte.
„Ja, du kannst dich darauf verlassen.“ Er übernahm Lucas‘ Flyer und betrachtete sie nachdenklich.

Sie waren von ihm selbst entworfen worden. Im Hintergrund war auf dem oberen Foto ein Mann zu sehen. Benebelt vom Alkohol saß er auf einem Stuhl mit einer Schnapsflasche in der Hand. Man sah ihm die Depressionen regelrecht an. Für das untere Bild hatten sie den Mann noch einmal abgelichtet. Diesmal als Lehrer einer Grundschulklasse. Während er beschäftigt auf die Tafel zeigte, hörten ihm die Schüler scheinbar interessiert zu. Über dem ganzen stand ein etwas veralteter Spruch, der dafür aber umso aussagekräftiger war: „Gib niemals auf.“

Als sich Lucas zum Gehen umwandte, hielt Gabriel ihn an der Schulter zurück.
„Lucas… verstehst du es, wenn ich hiermit erst einmal aufhören möchte?“ Lucas blickte ihn fragend an, verzog aber keine Miene.
„Wie meinst du das?“ Sein Gegenüber lächelte.
„Ich glaube, ich habe eine Idee.“  
Lucas unterbrach ihn nervös: „Aber du willst doch nicht wieder so einen Test…“ Gabriel schüttelte den Kopf.
„Diese junge Frau… Jeder, der so tickt wie sie, wird niemals in unsere Kurse kommen.“
„Aber dagegen können wir nichts machen. Wir können nur denen helfen, die sich eingestehen, dass sie Hilfe brauchen.“
„Lucas, ich sage dir. Wenn ich es schaffe, an dieses Mädchen heranzukommen und es wieder zu einem fröhlichen, zielstrebigen Menschen machen kann, dann… dann kriegen wir das bei allen Jugendlichen hin, die so ticken wie sie. Und du weißt wie viele das sind."
Lucas sah ihn skeptisch an, aber nickte. „Wenn du denkst, dass es nötig ist, dann tu es. Aber wie willst du es anstellen? Du kannst sie ja schlecht dauernd verfolgen. Sie würde dich für einen Stalker halten und dich anzeigen.“
„Ich glaube, ich habe schon eine Idee…“ sagte Gabriel verheißungsvoll und blickte hinunter auf die Flyer in seiner Hand.

Kapitel 4: Herbstlaub

Lana sah von ihrem Buch auf, als die Tür des Klassenzimmers laut aufschwang. Hinein kam, oder besser schwebte, ein junger Mann mit Aktentasche unter dem Arm und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, dicht gefolgt von einem Jungen, der Lana bekannt vorkam. War das nicht der Typ aus der Tanke?

Sie beobachtete, wie er vor der Klasse stehen blieb und nervös in die Runde lächelte. Na toll, schon wieder ein Neuer. Sie wollte sich gerade wieder ihrem Krimi widmen, da ertönte die Stimme des Breitmaulfrosches – Pardón – des Mannes mit dem breiten Lächeln.

„Guten Morgen! Mein Name ist Herr Bichel. Und ihr seid wohl meine neuen Schüler, die 12b, hab ich Recht?“ Jemand hustete. Keine Antwort ist ja bekanntlich auch eine Antwort.

Herr Bichel grinste unbeirrt weiter und strich sich durch die kurzen braunen Haare. Seine Gesichtszüge waren auffällig weich für einen Mann, seine Augen glitzerten enthusiastisch. Wenn Lana es nicht besser gewusst hätte, hätte sie ihn wohl für einen Studenten gehalten, so jung und unverbraucht wie er wirkte.

„Und ich werde dieses letzte, wichtige Schuljahr euer Ethiklehrer sein.“ Nach einer weiteren kurzen Stille, räusperte sich der Neue, der immer noch vorne stand.

„Achja. Ihr habt auch einen neuen Mitschüler. Stell dich doch mal kurz vor.“

„Hi“, kam es nervös von dem Neuen. „Ich bin Noah, 18 Jahre alt und neu in der Stadt.“

„Danke, dann darfst du dich jetzt setzen, Noah.“ Lana beobachtete, wie der Neue sich auf einen freien Platz ganz vorne erleichtert fallen ließ, seine Schulsachen auspackte und sie schön nebeneinander vor sich hinlegte. Typisch Streber halt.  

„Und jetzt würde ich euch bitten, euch nacheinander vorzustellen, dann kann nicht nur ich euch besser kennenlernen, sondern auch Noah.“ Er zwinkerte dem Neuen vor sich zu, als wären sie alte Freunde und wandte sich dann erwartungsvoll zu Jonas, der wohl anfangen sollte. Diesen Mist wollte sich Lana keinesfalls antun und wollte sich wieder völlig auf das Buch unter ihrem Tisch konzentrieren. Doch da hatte sie die Rechnung ohne den Breitmaulfrosch gemacht.

Kaum hatte sie ein paar Minuten gelesen, da spürte sie schon, wie er sich direkt vor ihrem Pult aufbaute. Als sie gespielt unschuldig aufsah, begegnete sie seinem strengen Blick und doch meinte sie auch einen Funken Neugierde in seinen Augen zu sehen. Er räusperte sich. Sie hatte wohl ihren Einsatz verpasst.

„Und wer bist du? Mädchen mit dem Buch?“ Seine Worte trafen sie unerwartet direkt, doch Lana konterte gekonnt frech.

„Ich bin das Mädchen mit dem Buch, das jetzt weitergelesen werden will.“ Damit senkte sich ihr Blick herausfordernd wieder auf die Zeilen zu ihrem Schoß. Sie konnte fühlen, wie der Lehrer sie noch einige Sekunden musterte, bis er sich abwendete und wieder zur Tafel zurückkehrte.

Sie war etwas überrascht, wie leicht das gewesen war, aber auch gut. Dann konnte sie endlich erfahren, wer der Serienmörder war, der die rothaarigen Mädchen ermordet hatte. Sie hörte noch, wie Noah irgendetwas davon erzählte, dass er gerne Fußball spielte, da hatte sie auch schon das ganze Gerede ausgeblendet und war in die Welt des Detective Shawn eingetaucht.

 

Irgendwann wurde sie vom eindringlichen und unüberhörbaren Rasseln der Schulglocke unsanft aus ihrer imaginären Welt herausgeholt. Dass Noah neben ihr stand, merkte sie erst jetzt.

Sein Blick lag auf ihrem Buch, dass sie gerade zuklappte. Genervt blickte sie zu ihm hoch.

„Irgendein Problem?“

„Nein… mir ist nur das Lesezeichen aufgefallen. Ist das ein Ahornblatt?" In seinem markanten Gesicht zeichnete sich ein scheues Lächeln ab.

„Keine Ahnung, kümmre dich um deinen eigenen Kram“, schnauzte Lana ihn fast schon wütend an, schnappte sich ihre Tasche und drängte sich an ihm vorbei in die Pause.

Noah blickte ihr verwirrt hinterher. Was hatte sie denn plötzlich? Hatte er was Falsches gesagt? Noahs Miene hellte sich wieder ein wenig auf. Er sollte das auf jeden Fall regeln.

Er nickte Herr Bichel zum Abschied kurz zu und verschwand dann eilig in den Massen aus Schülern, die sich am Klassenzimmer vorbei in den Hof drängten.

Als das Zimmer sich geleert hatte, ließ sich der neue Lehrer mit einem erleichterten und zugleich erschöpften Seufzen auf seinem Stuhl nieder und musterte nachdenklich den Platz, auf dem wenige Sekunden zuvor noch Lana gesessen hatte.

Der Gesichtsausdruck des Mannes blieb unverändert und doch blitzte in seinen blauen Augen etwas Rätselhaftes auf.

 

***

 

Eine leichte Brise umspielte das lange Haar des kleinen Mädchens und kitzelte seine zierliche Nase, als es die frische Luft tief einatmete. Mit leuchtenden Augen streckte es beide Arme aus und fing an, sich um sich selbst zu drehen.

Immer schneller und schneller glitten die Farben an ihm vorbei, bis sie schließlich ineinander übergingen, verflossen und ganz neue Farben erschufen. Es hatte noch nie so einen bunten Wald gesehen! Lachend kam es zum Stehen und stolperte benommen ein paar Schritte zurück. Sein Kopf schien Achterbahn zu fahren.

Orientierungslos rannte es auf einen der Blätterhaufen zu und schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich genau inmitten des Meeres aus Orange, Rot, Gelb, Grün und Lila fallen zu lassen. Die Herbstblätter flogen um es herum hoch in die Lüfte und wirbelten im Wind umeinander her als würden sie tanzen, während es das Gefühl hatte, die ganze Welt drehte sich in diesem Moment wie in einem einzigen riesigen Karussell.

„Da bist du ja!“ Das freundliche Gesicht einer Frau schob sich zwischen das Mädchen und den strahlenden Himmel. Ihre haselnussbraunen Augen blickten sanft zu dem Kind hinunter. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihr in das lächelnde Gesicht.

„Moni!“ Das kleine Mädchen sprang quiekend auf und wäre fast wieder zurück auf den Po gefallen, hätte die Frau sie nicht gerade noch rechtzeitig an den kleinen Schultern festgehalten. Das Mädchen kicherte. Das Karussell war wohl doch noch nicht weg gewesen.

Seine Augen fielen plötzlich auf den Weidenkorb, den die Frau um den rechten Arm trug. Neugierig zupfte es an der Spitze des roten Mantels seiner Begleiterin.

„Du-huu! Was ist da dri-hin?“,  fragte es ungeduldig.

„Noch nichts. Da kommt aber noch was rein. Und rate mal, was?“

Das kleine Mädchen zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, während es grübelnd die Stirn in Falten legte. Über diese Reaktion musste seine Begleiterin lachen.

„Okay, ich verrate es dir“, sagte sie grinsend und hob ein schönes Blatt vom Boden auf, das sie dem Kind gab. Das Blatt leuchtete in einem intensiven Rot-Ton. Mit seinen fünf Zacken sah es aus wie ein Stern. Ein roter Stern.

„Blätter?“ Die Stimme des Mädchens klang unsicher.

„Ja, aber nur die schönsten.“ Damit erhob sich die Frau.

„Und was machen wir dann mit denen?“ Das Mädchen war noch skeptisch, blickte das rote Blatt aber neugierig an.

„Das verrate ich dir, wenn wir genug haben“, verriet seine Begleiterin und zwinkerte geheimnisvoll.

Das kleine Mädchen legte das farbenprächtige Herbstblatt vorsichtig in den großen Korb und sah sich vergnügt um. Mit einem lauten „Ich will die schönsten!“ rannte es zum nächsten Baum, wo es sich begeistert an die Arbeit machte.

 

Es waren einige Stunden vergangen, in denen die beiden Waldbesucher voller Tatendrang sich sogar durch das dichteste Gestrüpp gekämpft hatten, um auch wirklich an die allerschönsten Herbstblätter heranzukommen.

Nun saß das kleine Mädchen erschöpft mit seiner Begleiterin auf einem Baumstumpf. Neben ihnen ein voller Korb.

„Moni? Hast du was zu essen?“ Wie zur Bestätigung gab der Bauch des Mädchens brummende Geräusche von sich.

„Ja, warte“, antwortete die Frau, nahm ihren Rucksack ab und holte etwas heraus was in Alufolie eingeschlagen war.

„Ich habe Brote mitgenommen.“

Das kleine Mädchen grummelte unzufrieden.

Seine Begleiterin lachte. „Mit deinem Lieblingsbelag natürlich: Quark und Nutella!“

Das Kind riss die Augen auf, schnappte sich eines der Brote und fing an, es sich in den Mund zu stopfen.

 

Plötzlich hörten die beiden Blätterrascheln.  Schritte, die sich näherten. In der Ferne konnten sie eine dunkle Gestalt ausmachen.

„Monika!“ Die Stimme hallte durch den Wald. Sie klang besorgt und wütend.

„Lana!“

Auf einmal tauchte auf dem Wanderpfad ein Mann auf, der, nachdem er die beiden erblickte hatte, erleichtert auf sie zukam.

„Papa!“ Das Mädchen schluckte den Rest des Brotes hinunter, sprang auf und fiel in die Arme seines Vaters. Lächelnd beugte er sich zu ihr herunter und drückte sie fest.

„Was habt ihr denn solange gemacht, Süße?“, fragte er mit einem unergründlichen Blick Richtung Monika.

„Blätter gesammelt! Viele schöne Blätter! Guck mal!“ Lana zeigte stolz auf den Weidenkorb.

„Wie schön … Monika, wir müssen jetzt gehen. Helen wartet. Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.“ Damit wandte er sich zum Gehen.

„Warte!“ Lana riss sich aus seinem Griff und lief zurück zu ihrer Tante, die lächelnd ihre Nichte in die Arme schloss. Lana rückte wieder etwas ab und sah sie ernst an.

„Du wolltest mir doch sagen, was mit den ganzen schönen Blättern passiert, wenn wir fertig sind?“ Monika lächelte leicht.

„Das wird dir dein Papa erklären, hab ich Recht?“ Ihr Blick traf den ihres Bruders. Seine Gesichtszüge wurden etwas weicher.

„Natürlich.“

Die Frau nickte stumm, griff nach dem Korb und wandte sich wieder an ihre Nichte.

„Hier. All die bunten Blätter gehören jetzt dir.“ Lanas Augen weiteten sich überrascht und strahlten begeistert, als sie den Weidenkorb entgegen nahm.

„Und was ist mit dir?“, fragte sie plötzlich.

„Ich habe schon ganz viele hübsche Blätter zuhause."

„Okay.“ Lana zögerte kurz, setzte den Korb dann vorsichtig ab und drückte die Frau noch einmal fest. Ein angenehmer Geruch stieg ihr in die kleine Nase. Lavendel. Die Frau strich ihr durch das blonde Haar und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Bis bald.“

 

Nachdem ihr Vater den Korb an sich genommen hatte, liefen er und Lana entlang des Pfades nach Hause. Als sich das kleine Mädchen noch ein letztes Mal umdrehte und zum Abschied winkte,  sah sie, wie klein ihre Tante in der Ferne geworden war. Nur noch das kräftige Rot ihres Mantels leuchtete ihnen entgegen. Wie ein roter Stern, dachte Lana und kicherte.

 

Impressum

Bildmaterialien: Cover: schnulzenlady
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2013

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