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Geisterstadt

Meine Füße trugen mich unaufhaltsam weiter in die Innenstadt. Keine roten Ampeln, keine Autos und erst recht keine Massen von Passanten hielten mich auf. Aber wie sollten sie auch? Ich zog den Mundschutz enger und setzte nun doch vorsichtshalber meinen Motorradhelm auf, den ich provisorisch als Schutz mitgenommen hatte. Das Gewicht des Rucksacks lag schwer auf meinem Rücken und rief mir immer wieder ins Gedächtnis zurück, was ich hier eigentlich tat. Ich riskierte alles. Einfach alles. Aber das war mir in diesem Moment egal. Ich brauchte Gewissheit. Solang ich diese nicht hatte, konnte ich mein Leben nicht einfach normal fortführen.

Endlich entdeckte ich im wolkenverhangenen Himmel die dunkle Silhouette meines Ziels. Durch das schmutzige Sichtfenster des Helms verschwamm sie undeutlich vor mir, dennoch wusste ich, dass es der Tower war. Kein anderes Gebäude in der ehemaligen Millionenstadt war so hoch. Mein Ziel überragte mit seinen fast 333 Metern alle anderen. Statt Erleichterung, dass ich es bis hierher geschafft hatte, empfand ich nun mehr denn je das Gefühl der Unsicherheit. War es die richtige Entscheidung gewesen, hierher zu kommen? Was, wenn ich das vorfand, vor dem ich mich am meisten fürchtete? Wie könnte ich mit diesem Bild im Kopf überhaupt weiterleben? Die Fragen schwirrten mir wieder einmal durch den Kopf, wie so oft. Ich zog die Stirn in Falten. Diese Kopfschmerzen brachten mich um den Verstand. Ich brauchte ein Aspirin.

Nachdem ich eine Kopfschmerztablette aus der Seitentasche meines dicken Mantels gekramt hatte, lenkte ich mich ein wenig ab, indem ich jeden meiner Schritte zählte. Konzentriert eilte ich weiter und versuchte, so gut wie möglich nur nach vorne zu schauen. Nach hunderteinundvierzig großen Schritten erhaschte ich plötzlich aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung. Ich stoppte abrupt und konnte regelrecht fühlen, wie die Gänsehaut langsam meine Glieder entlang wanderte. Es fiel mir unglaublich schwer, den Kopf zu wenden. Aber letztendlich siegte die Neugier in mir über die Angst vor dem, was ich erblicken würde, und zwang mich, meinen Blick zur Seite schweifen zu lassen.

Mein Atem stockte. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit und ich merkte, wie mir mein Essen von vorhin wieder hochkam. Vor Schock konnte ich mich nicht rühren und starrte nur mit geweiteten Augen den zierlichen Körper einer Zwölfjährigen an, deren blasse Leiche aus den Trümmern eines kleinen Einfamilienhauses ragte. Eine dicke Ratte mit schmutzigem Fell saß direkt auf ihrem Kopf und stieß ihre kleinen Zähne in das tote Fleisch des Mädchens. Als hätte das Kanaltier meinen Blick gespürt, hob es den winzigen Kopf und starrte aus seinen tiefschwarzen Augen zurück, während sein nackter Schwanz unsicher durch die Luft peitschte. Ich schnellte herum und holte tief Luft. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich war fast da.

Meine Füße flogen über den brüchigen Asphalt direkt dem Tokyo Tower entgegen. Ich musste immer wieder größere Schutthaufen umgehen, die fast den ganzen Platz vor dem Gebäude bedeckten. Ich erblickte unter den Trümmern nicht nur Scherben und zerbrochene Dachziegel. Auch Kinderzahnbürsten und Schuhe konnte ich im Dreck erahnen. Aber das meiste, was zwischen dem Müll zu finden war und auch durch die Luft flog, war Papier. Rechnungen, Briefe, Werbung, sogar Hausaufgaben. Es gab nichts, was ich noch nicht gesehen hatte. Auch Geburtstagseinladungen waren mir auf meinem Weg durch die Stadt schon begegnet. Einsam und vergessen lagen sie am Straßenrand und erinnerten an all die Menschen, die ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben durften.

Nach weiteren zweihundertdreiundfünfzig Schritten erreichte ich endlich die große Glastür, die ins Innere des Gebäudes führte, das sich direkt unter dem Tower befand. Ich bahnte mir einen Weg durch die herumliegenden Glasscherben und schlüpfte durch den Eingang. Das Innere war nicht weniger verwüstet als die Innenstadt. Vor mir lag der Aufzug. Ich umging ihn eilig und kam zum Treppenhaus. Im dritten Stockwerk angelangt, brach ich mit einem schweren Stahlrohr, das ich zwischen den vielen Trümmern fand, die Tür zum Dach des Hauses auf und trat ins Freie.

Ein scharfer Wind ließ mich sogar in meinen warmen Wintersachen erzittern. Dabei war es erst Mitte Herbst. Genau ein Jahr später, ein quälend langes Jahr, nachdem das Erdbeben die Hauptstadt Japans heimgesucht hatte. Die Japaner waren kleinere Beben gewöhnt, aber dieses hatte alle übertroffen. Keiner hatte die Notfallpläne beachtet und war mit allem, was er tragen konnte, geflohen. Doch kaum jemand war schnell genug gewesen. Das Erdbeben hatte unzählige Atomkraftwerke hochgehen lassen und an den Küsten des Landes hatten riesige, durch die Erschütterung verursachte, Tsunamiwellen die Städte und Dörfer nahe des Meeres unter sich begraben. Im Fernsehen hatten sie tagelang immer wieder die gleichen Bilder gezeigt, die mich nicht mehr hochließen.

Im letzten Herbst befand sich auch Susann in Tokyo. Sie hatte zufällig eine Reise nach Japan gewonnen. Alles schien perfekt. Bis sie mich am Tag der Katastrophe aus dem Tokyo Tower voller Entsetzen anrief. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch bei der Arbeit und nicht zuhause, als ihr Anruf einging und sie die letzten Worte, die ich von ihr hören sollte, in den Anrufbeantworter brüllte. Abends hatte ich ihn angehört. Und als ich noch nichts ahnte von den schrecklichen Ereignissen, die sich am anderen Ende der Welt ereigneten, hörte ich ihre verweinte und zitternde Stimme. Im Hintergrund Schreien und panisches Trampeln. Dann wurde die Verbindung abgebrochen und ich saß wie ein Häufchen Elend vor dem Apparat auf dem Boden und wünschte mir so inständig, dass alles nur ein böser Albtraum war, der endete, wenn ich nur aufwachte. Doch dem war nicht so.

Erschöpft warf ich das Stück Metall neben mich und ließ mich nieder. Während ich mir Handschuhe überstülpte und die Hände in den Jackentaschen vergrub und die Wärme genoss, legte ich den Kopf zurück und betrachtete den riesigen, dem Eiffelturm so ähnlichen, Turm von unten. Nach ungefähr hundert Metern würde ich das orangefarbene Gerüst hinter mir lassen und das Restaurant erreichen. Das war mein erstes Ziel. Wenn ich sie dort nicht fand, musste ich weiter zur Aussichtsplattform, was weitere hundert Meter Strecke bedeuten würde. Da ich den Turm aber nicht senkrecht erklimmen, sondern die Stahltreppe empor steigen musste, die sich den ganzen Weg bis zum Aussichtspunkt hochschlängelte, würden mich die knappen zweihundert Meter wohl sehr viel mehr Zeit kosten als mit einer Leiter. Nachdem ich den Helm kurz abgenommen hatte und etwas Brot mit Käse zu mir genommen hatte, warf ich mir den schweren Rucksack wieder über und befestigte das kurze Metallrohr an der Seite meiner Tasche, falls ich es oben noch einmal brauchen sollte.

Nach Luft ringend hielt ich mich am Geländer fest und lehnte mich erschöpft an einen der dicken Stahlpfosten. Unter dem Helm war es mittlerweile so heiß wie in einer Sauna. Ich hatte das Gefühl, er klebte schon an meinem schweißnassen Kopf. Aber dennoch wagte ich nicht, ihn abzunehmen und zwang mich weiterzugehen. Kurz schweifte mein verschwommener Blick über das Geländer und ließ mich erschaudern. Wenn ich hier herunterfiel, wäre ich so gut wie tot.

Verbissen kämpfte ich mich weiter und hatte nach ungefähr weiteren fünfzig Metern Höhe endlich das Restaurant erreicht, welches, wie leergefegt, einsam und verlassen vor mir lag. Zweifelnd, ob ich sie hier finden würde, durchsuchte ich die riesige Halle und am Ende auch noch die Küche und die Toiletten. Doch wie schon vermutet, fand ich nichts, bis auf unzähliges zerbrochenes Geschirr, das beim Beben wohl aus den Schränken und von den Tischen hinunter auf den Boden gefallen war. Das einzige Anzeichen von Leben, was ich entdeckte, waren dicke kleine Maden und Kakerlaken, die über die Essensreste hergefallen waren und nun orientierungslos über den verwüsteten Boden krochen und krabbelten. Wie sie jedoch überhaupt erst nach hier oben gelangt waren, war mir selbst ein Rätsel. Schließlich befanden wir uns gut hundert Meter über dem Erdboden.

Ich folgte der Gerüsttreppe weiter nach oben, nachdem ich mich kurz hingesetzt hatte und in einer der verschließbaren Räume meinen Helm abgesetzt und etwas Frischluft getankt hatte. Hunger hatte ich keinen mehr. Ich war zu aufgeregt und nervös, um irgendetwas essen zu können. Die Treppen führten mich immer weiter gen Himmel. Irgendwann vergaß ich die schwindelerregende Aussicht um mich herum und achtete nur noch auf jeden einzelnen meiner schweren Schritte und vernahm nichts mehr, bis auf das dumpfe Geräusch meines Herzschlags und meinen regelmäßigen Atem.

Ich merkte, so konzentriert war ich, nicht einmal mehr, dass ich nach einer Ewigkeit, wie mir schien, die Aussichtsplattform erreicht hatte. Nachdem ich realisiert hatte, dass ich am Ziel war, sackte ich voller Erschöpfung zusammen und nahm trotz der Erkenntnis, dass das meine Gesundheit kosten könnte, mit letzter Kraft den Helm ab, riss sogar den Mundschutz hinunter und strich mir, nach frischer Luft schnappend, durch die kurzen, schweißnassen Haare. Unfähig, nur noch einen einzigen Schritt zu tun, legte ich meinen Kopf auf das kühle Metall und schlief augenblicklich ein.

Nur ein paar Meter neben mir lag der tote, zertrampelte Körper meiner Schwester Susann. Aber den sollte ich nie zu Gesicht bekommen.
Denn nachdem ich einschlief, wachte ich nie wieder auf.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ebenfalls für den Literaturkurs Klasse 11 geschrieben. Grund für das Thema des Textes war die Katastrophe in Japan 2011. Mein Beileid den Angehörigen der unzähligen Opfer. Ich wünsche euch alles Gute.

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