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Für den Tod meiner Schwester

„Die Einsamkeit ist die liebste Gespielin des Wahnsinns.“(Walter Moers)

 

In dem kleinen Raum ist es still. Totenstill.
Nur wenig Licht dringt durch das massive Gestein. In fast völliger Dunkelheit bewegen sie sich. Große, pelzige Körper. Ihre Schwänze peitschen ungeduldig umher, während sie aus ihren schwarzen Löchern hervorkriechen. Sie huschen über den glitschigen Stein und klettern geschickt die staubigen Möbel herauf. Jedoch  finden sie auch hier nichts zu fressen. Nur Schmutz und Schimmel und noch mehr Schmutz.
Plötzlich strecken sie ihre kleinen Schnauzen in die Luft und schnuppern. Sie springen wieder auf den kalten Boden und verkriechen sich in ihren dunklen Nestern.

Ich blinzelte, als sich plötzlich ein Schatten über mich legte. Meine Schwester stand vor mir und begrüßte mich „Hey, Jane.“ Ich rappelte mich auf und umarmte sie. „Hey! Ich dachte, du kommst erst morgen!“ Grace setzte sich neben mich und lehnte sich erschöpft zurück. „Wir hatten Schwierigkeiten. Ein paar haben Alkohol getrunken.“ „In eurem Alter?“ Grace nickte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, als es anfing zu piepsen.
Da entdeckte ich ein mir sehr bekanntes Muster darin. Mein Lieblingstop! Es hatte sich also doch nicht in Luft aufgelöst. Ich sprang auf und griff wütend danach. „Grace! Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst keine Klamotten von mir nehmen. Und erst recht nicht meine Lieblingssachen!“

In einer Ecke des Kellers regt sich plötzlich etwas. Stöhnen ist zu hören. Ein Stöhnen vor Schmerzen. Ein strenger Geruch verbreitet sich im ganzen Raum und lässt sogar die Ratten zurückweichen, als das bisher leblose Bündel anfängt schwer zu atmen.

Als ich nach Hause kam, war sie immer noch weg. Ihr Bett unberührt. Die Polizei stand vor dem Haus und auch innen waren schon zahlreiche Beamte und inspizierten Grace’ Zimmer. Meine Eltern saßen bedrückt in der Küche. Ein Kommissar nahm gerade ihre Anzeige auf. Mein Schock saß tief. Der Streit gestern mit Grace hätte nie so ausarten dürfen. Nun war sie weg. Abgehauen. Wegen ihrer eigenen Schwester. Und immer noch nicht zurück. Ich hatte Angst. Angst, dass ihr etwas passiert war.

Das Bündel wendet sich zur anderen Seite. Inmitten der verschmutzten Leinen taucht etwas Helles auf. Das Gesicht des Mannes ist blutig. Seine Augen wie bei einem Wahnsinnigen nach oben verdreht. Filzige, nasse Haare umgeben seinen Kopf. Mit zitternden Fingern greift er sich an den Hals und würgt.

Als wir es erfuhren, brach meine Mutter zusammen. Mein Vater wollte es nicht glauben. Aber die Leiche sei eindeutig identifiziert worden, meinte der junge Polizist. Er war bedrückt, als er es uns mitteilte. Aber er empfand keine Trauer.
Grace. Meine kleine Schwester. Sie war tot. Ich verkroch mich stundenlang im Garten und wippte mich beruhigend vor und zurück. Doch nichts half. Es war meine Schuld. Wäre ich nicht so wütend geworden, wäre sie nie davongelaufen. Dann wäre sie jetzt nicht tot. Und ich hätte noch eine Schwester. Aber so war es nicht. Nicht mehr. Ich war ein Einzelkind.

Der alte Mann ist erschöpft. Seine Kraft reicht kaum zum Atmen. Immer wieder fängt er an, in der Dunkelheit Schatten der Vergangenheit zu sehen. Und immer wieder jammert er panisch und versucht die Geister der Halluzinationen mit herumwerfenden Armen zu vertreiben. Doch sie bleiben.
Denn sie leben in seinem Kopf. Schon seit langer Zeit.

Es verging viel Zeit, in der man nach Grace’ Mörder suchte. Nach dem Fahrer, der sie nach dem Autounfall einfach liegen ließ. Es gab viele Verdächtige und viele Vernehmungen. Als sie ihn schnappten, hofften wir alle, dass endlich Gerechtigkeit käme.
Aber er schien es nicht gewesen zu sein. Sie ließen ihn wieder frei. Und langsam stellten sich alle noch so erfolgsversprechenden Spuren als nutzlos heraus, sodass die Polizei auch noch nach einem Jahr im Dunklen tappte. Sie hatten es mittlerweile aufgegeben. Niemand glaubte noch daran, den Täter jemals fassen zu können. Der Mörder blieb einfach da draußen. Unbestraft.
Meine Eltern hatten sich verändert. Meine Mutter hatte sich eine kleine, heile Welt aufgebaut, in der meine Schwester, ihre jüngste Tochter, nicht mehr existierte und auch nie existiert hatte. Alle Gegenstände, die an Grace erinnerten, waren verschwunden. Kein einziges Foto war geblieben. Die Tür und die Fenster zu ihrem einstigen Zimmer zugemauert. Meinen Vater interessierte das weniger. Er arbeitete sich vor Frust fast tot. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht den ganzen Tag auf seiner Arbeit verbrachte und erst um 3 Uhr morgens wieder zurückkam.
Depressionen. Wir hatten sie alle. Bei jedem äußerten sie sich auf andere Weise.

Ein Streifen Licht fällt in den Raum, als die schwere Tür quietschend aufschwingt. Der Mann blinzelt. Hinein kommt eine dunkle Gestalt, welche sich neben das Häufchen Elend kniet. Grob flößt sie ihm ein paar Tropfen Wasser ein und verschwindet. Die eiserne Tür fällt zu und den Mann umgibt wieder tiefe Dunkelheit.

An diesem Tag wurde mir alles zu viel. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Seit 2 Jahren waren meine Eltern nicht mehr dieselben. Nur noch Fremde, die sich nicht um mich oder sonst jemand anderen kümmerten. Und meine Mutter brachte das Fass zum Überlaufen, als sie an diesem Morgen einen Brief erhielt, der eigentlich an Grace gerichtet war. Irgendjemand da draußen fragte sich wohl, warum sie sich nicht mehr meldete.
Doch statt dem Brief zu antworten, lachte meine Mutter nur. „Wer ist Grace? Kind, kennst du dieses Mädchen? Seltsam, dass wir Post für Fremde bekommen.“ Dann gab sie ihn dem Postboten zurück und ließ mich entsetzt im Garten zurück. In dieser Nacht packte ich endgültig alle meine Sachen zusammen und floh. Einfach nur weg von diesen Verrückten. Weg von meiner Vergangenheit. Weg von den Erinnerungen an Grace.

Er hat inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange er jetzt schon hier ist. Wie lange er die Sonne nicht mehr gesehen hat. Ob Tag oder Nacht ist. Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er hier seit einer Ewigkeit liegen muss. Denn er spürt seine Gelenke kaum noch. Seine Beine sind taub und seine Zehen kann er schon lange nicht mehr bewegen. Aber wozu auch?

Doch ich konnte nicht einfach so mit meiner Vergangenheit abschließen. Grace’ Tod verfolgte mich nach wie vor jede Nacht in meinen Alpträumen. So entschloss ich mich, der Sache endgültig ein Ende zu setzen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sagte das nicht Jesus?
Im darauffolgenden Jahr recherchierte ich. Ich sammelte Zeitungsartikel. Ich bestach korrupte Polizisten für eine Auskunft. Ich stahl sogar Akten von der Polizeistelle in meinem Heimatort.
Und endlich, endlich hatte ich seinen Namen.

Wieder kriechen die Ratten aus ihren Löchern. Angst haben sie schon lange keine mehr vor ihm. Sie wissen, er kann ihnen nichts tun. Er kann ja nicht einmal aufstehen. Fast hämisch klettern sie über seinen schmutzigen Körper und schlagen ihm herausfordernd ihre nackten Schwänze ins Gesicht.
Doch er wehrt sich nicht. Sie sind doch die einzigen Freunde, die er hier unten hat. Die einzigen, die ihm noch das Gefühl vermitteln zu leben.

Nach drei Monaten kannte ich ihn in- und auswendig. Ich wusste, wo er wohnte. Mit wem er zusammen war. Wie seine Kinder hießen. Und wer seine Freunde waren. Ich wusste, wann er morgens das Haus verließ und wann er abends wieder zurückkam. Wusste, in welche Restaurants er ging, welche er mied und wo er während seiner Mittagspause aß. Ich kannte seinen Tagesablauf. Kannte seinen Alltag und zuletzt auch ihn selbst. Und da war ich überzeugt. Überzeugt, dass die Polizei den Falschen hatte laufen lassen.
Es war Zeit sich zu rächen. Auge um Auge, Zahn um Zahn… Eines Abends, es war schon dunkel, da verließ er nichtsahnend und unbekümmert pfeifend sein Bürogebäude. Er war ja so naiv! Es war ganz leicht.
Keiner sah es. Die Dunkelheit umgab uns wie ein Schutzmantel.
Keiner hörte es. Die lauten Geräusche der Autos überdeckten alles.

Plötzlich hört er Schritte. Sie kommen näher. Vor dem Raum endet das Geräusch und der Mann beobachtet, wie die schwere Tür aufgeschlossen wird und grelles Licht den Raum erfüllt. Schreiend kneift er die Augen zusammen und versucht, sich die Hände schützend davor zu halten. Da nähern sich ihm die Schritte. Es ist ein Klackern. Wie bei hohen Schuhen.

Nachdem ich ihn in die Dunkelheit gezerrt und ihn zum Schweigen gebracht hatte, verfrachtete ich seinen schweren Körper in den Kofferraum. Es war nur ein Mietwagen. Man konnte ja nicht sicher genug gehen. Als ich mich ins Auto gesetzt hatte und den Motor anließ, lächelte ich zufrieden. Grace, dachte ich, du bekommst deine Vergeltung. Damit fuhr ich los. Aus der Stadt. Hinaus in die tiefste Dunkelheit des Waldes.

Das Klackern hält kurz vor ihm inne, dann entfernt es sich wieder. Doch das blendende Licht bleibt. Langsam zieht er die Hände von seinen Augen weg und wagt einen Blick. Nachdem sich seine Augen etwas an die Helligkeit gewöhnt haben, erkennt er schräg vor sich einen kleinen Tisch. Drei Stühle stehen um ihn herum. Alle sind leer.
Der Mann schreckt zurück, als die Schritte sich wieder nähern. Hinein kommt eine große, bunte Geburtstagstorte. Getragen von einer jungen Frau, welche ihm jedoch keine Beachtung schenkt. Sie stellt den Kuchen in die Mitte des Tisches und deckt diesen liebevoll für drei Personen. Er verfolgt ihre Bewegungen mit starrem Blick. Seine Augen tränen. Er bringt kein Wort heraus. Da kommt sie plötzlich auf ihn zu. Der alte Mann hält sich die Hände schützend vor das Gesicht.
Doch sie tut ihm nicht weh. Sie schließt nur seelenruhig seine Ketten auf. Er sieht sie bestürzt an. Ist das das Ende? Oder ist er frei? Was soll jetzt geschehen?
Bevor er weiter darüber nachdenken kann, fordert sie ihn mit einer Handbewegung auf, aufzustehen. Doch es gelingt ihm nicht. Er hat keine Kraft.
Grob zieht sie ihn nach oben und schubst ihn auf einen der Stühle. Er betrachtet sehnsüchtig die Schokoladentorte. Wie lang hat er sowas wohl nicht mehr auf seiner Zunge zergehen lassen können? Die fremde Frau setzt sich ihm gegenüber und schneidet ihm langsam ein Stück ab. Er beobachtet sie fragend und irritiert. Dann lenkt sich seine Aufmerksamkeit völlig dem Kuchen zu.
Plötzlich fängt sie an zu reden. Erst kann er sie nicht verstehen. Die Worte kommen ihm wie eine andere Sprache vor. Wie lange hat er wohl keine Menschenseele mehr reden hören? Doch er achtet nicht weiter auf sie. Er ignoriert das Besteck, greift zum Teller und fängt an, den Kuchen in sich hinein zuschaufeln. Während er isst, bekommt er langsam wieder Kraft. Krächzend fragt er, wer heute denn Geburtstag habe. Doch Jane lacht nur. „Na Grace! Weißt du das denn nicht?“
Er hält inne und wischt sich den Mund ab. Nachdenklich betrachtet er die Frau. Grace… Das sagt ihm irgendetwas. Doch bevor er sich richtig erinnern kann, erstarrt schon sein Blick.
Sekunden später kippt er tot vom Stuhl.
Jane nimmt wortlos Geschenkpapier vom Tisch und breitet es über der Leiche aus. Zum Schluss klebt sie noch eine große glänzende Schleife darauf. Zufrieden betrachtet sie ihr Werk und wendet sich lächelnd zum dritten Stuhl am Tisch.

„Alles Gute zum 18., Grace. Ich hoffe dir gefällt dein Geschenk.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Geschrieben für den Literatur-Kurs der 11. Klasse. Vielen Dank, Herr L. für dieses wunderbare Jahr!

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