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D

ie Sonne spendete ihre letzten Strahlen.

Auf dem Gipfel von 50 Stockwerken schaute ich verächtlich auf
das Gewimmel des Fußvolks.
Ein allerletzter Sonnenstrahl streifte mein Gesicht.
Es schien, als wollte die Sonne mir ihre Freundschaft kündigen.
Sicher hatte sie alles beobachtet.
Ja, so musste es sein.

Die eben noch laue Luft wandelte sich in einen mächtigen Sturm. Er schrie mir ins Ohr. Meine Knie zitterten erbärmlich.

Was hatte es mich für eine Mühe gekostet, jetzt hier "Oben" zu stehen. Mit welchen gemeinen Worten hatte ich um mich geschlagen, ohne Rücksicht auf die Schwachen.
Warum auch! Behaupten, Kämpfen und gradlinig nach oben streben! Eine Devise, die sich in meinem Leben dauerhaft bewährt hatte.
Durch gläserne Wände beobachtete ich amüsiert die entgeisterten Gesichter. Schalldicht waren die Mauern meiner Sensibilität und die Antenne meines Zartgefühls einfach abgebrochen.
Vergessen die Labilität meiner Jugend.
Ich war OBEN!
Einsam? Nein! Oder doch?
Egal, alles erreicht, alles platt gewalzt. Mein Stolz ließ keine Schwäche zu und mein Bankkonto gab mir Recht.
Man respektierte mich, meinen Verstand, meinen Wagemut und mein Durchhaltevermögen.

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Der Wind fetzte sie aus meinem Gesicht. Was war das? Ich kämpfte hartnäckig gegen mein Gewissen. Nach Jahren der Gleichgültigkeit meldete es sich. Warum jetzt? Ich schrie: „Lass mich in Ruhe, verschwinde!“

Doch es brannte plötzlich in mir lichterloh! Fraß sich in mein Gehirn und zeigte mir,
dass in meinem gestählten Körper ein Herz schlug.

Zehn Kündigungen hatte ich verteilt, ohne eine Regung, ohne ein Fünkchen Mitleid. Roboter, die Effizienz und Kosteneinsparung versprachen, ersetzten die menschliche Arbeitskraft. Schicksale interessierten mich nicht. Davon wollte ich nichts wissen. Das war unprofessionell und zeugte von Dilettantismus.

Das Brennen verstärkte sich immer mehr. Mein Herz war ein Amboss und meine Seele schlug unaufhörlich zu.
Bumm! Bumm! Bumm! Es hörte nicht auf.

Worte griffen mich an, Worte, die vorher an mir abprallten:

„Herr Merkel, dass können sie doch nicht machen!“

„Wir haben eine Hypothek auf unserem Haus!“

„Mein Sohn lernt Tag und Nacht für sein Studium und
braucht seinen Vater!“

„Herr Merkel, ich habe Frau und Kinder zu ernähren. Bitte nehmen sie die Kündigung zurück. Schließlich arbeite ich schon über zwanzig Jahre in ihrem Unternehmen!“



Diese Sätze hämmerten in meinem Kopf und brachten meine Ohren zum Dröhnen.
Und wieder schrie ich: „Laßt mich in Ruhe, schweigt still, ich ertrage das nicht mehr!

Aus weiter Ferne vernahm ich eine beruhigende Stimme, leise, sehr leise, so dass ich sie kaum wahrnehmen konnte.
Ich versuchte mich zu konzentrieren. Jetzt! Jetzt verstand ich ihre Worte. Es war ein femininer zarter Tonfall. Er drang streichelnd zu mir wie durch einen feinen Schleier.

„Spring! Es ist ganz einfach, nur ein kleiner Schritt und das Hämmern in deinem Kopf hat ein Ende. Du bist frei! Frei, wie ein Vogel, der sich in die Lüfte erhebt. All die verletzten Seelen verlassen dich.
Schreite in eine stille und ruhige Nacht ohne die Messer deiner Albträume.
Spring, die Welt ist Deiner müde und überdrüssig. Laß dich einfach fallen mein Freund!“

Ich breitete die Arme aus und war frei!


Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: Eigenes
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Kurzgeschichten-Wettbewerb K&G April 2012

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