Mein Schreibtisch lag vor mir wie eine Einbahnstrasse. Kein Wenden mehr möglich. Auftrag an Auftrag geheftet, so dick, dass die Büroklammern kurz vor dem Zerbersten waren.
Nur ganze acht Tage Versäumnis.
Niedergestreckt durch eine dicke Bronchitis und immer noch hustend,hockte ich sinnierend auf meinem Bürostuhl. Dem Telefon hatte ich den Garaus gemacht, in der Hoffnung, wenigstens einen Teil ungestört abarbeiten zu können. Die Tür zu meinem Büro war, nicht wie sonst, angelehnt. Nein, sie war zu! Bloß keine unnötige Störung, das hätte mir gerade noch gefehlt.
„Los geht’s“, sagte ich laut zu mir. Nach fast vier Stunden ohne Pause war zumindest
der Berg direkt vor meiner Nase verschwunden. Meine Ellenbogen hatten wieder Platz
und dies entlockte mir schon mal ein kleines Aufatmen.
Gerade wollte ich eine liebe Kollegin aufsuchen, um wenigsten eine Brezel und einen
schnellen Cappu mit ihr zu genießen, da hörte ich im Flur laut knallende und forsche
Schritte. Klack – Klack! Klack - Klack! Es erinnerte mich an die Zeit der Pfennigabsätze. Eine grässliche Ära, der aufdringlichste Schuh, den ich je besaß. Aber dies waren ja nun schon mindestens gefühlte 100 Jahre her. Rumps! Die Tür ging auf und vor mit stand unser Chef mit einer kleinen Rothaarigen. Sie hatte einen schmalen Mund und ihr arroganter Blick rundete meinen gewonnen Eindruck ins Negative ab.
„Guten Tag Frau Herzberger, darf ich Ihnen eine neue Kollegin vorstellen! Frau Cordula Schuller! Sie leitet ab heute den Einkauf für die erste Etage unseres Hauses. Sicher werden sie gut miteinander auskommen!“
Frau Schuller streckte mir sichtlich gelangweilt ihre Hand entgegen! „Hallo Frau Herzberger, nett sie kennen zu lernen, hab schon viel von ihnen gehört!“ Zack – Und schon war der Spuk wieder vorbei! „Was war das denn“, dachte ich, „die hat uns gerade noch gefehlt!
Wieder so eine arrogante Zicke, die morgens in den Farbtopf fällt und dann mit ihren schlauen Sprüchen und geübtem Hüftschwung den Kollegen den Kopf verdreht.“
Mein Bild von Madame Schuller war fertig und sie stand auf meiner Liste „Vorsicht“ ganz oben. Hin und wieder sah ich sie in den nächsten Wochen an mir vorbei stolzieren und meine Meinung verstärkte sich nur. In der Mittagspause scharte sie die Männerwelt um sich herum, verdrehte sogar unserem Prokuristen den Kopf. Die Schleimspur der verzückten Herren zog sich durchs ganze Haus. Ich jedoch ging ihr aus dem Weg, so gut ich konnte. Zu allem Überfluss zog sie auch noch ganz in meine Nähe. Luftlinie waren es vielleicht 50 Meter, so dass ich ihr fast in die Suppe spucken konnte.
Doch es kam, wie es kommen musste!
Eines Abends wurden wir zu einem gemeinsamen Geschäftsessen gebeten. Mit einer dicken Aversion und einem „Geh mir ja nicht auf den Keks-Gesichtsausdruck“ betrat ich das Restaurant. Herausgeputzt saß sie inmitten von fünf vor Geifer triefenden Männern, die sich nach ihrer Gunst verzehrten. Mit Bravour entzog ich mich ihr während der geschäftlichen Verhandlungen und würdigte sie keines Blickes. Während des Essens hüllte ich mich in Schweigen, tat so, als müsse ich noch einmal alle Schriftstücke gründlich inspizieren und war heilfroh, als eine dem Anstand gebührende Zeit verstrichen war und ich mich höflich verdrücken konnte. „Dankeschön, meine Herren für den schönen Abend und für Ihr Vertrauen in unser Haus!“ Das waren meine letzten Worte und schon stand ich auf der Strasse. Erleichtert atmete ich die kühle Nachtluft ein und schickte einen dankbaren Blick nach Oben.
„Ein Glück, dass hätte ich hinter mich gebracht“, murmelte ich schlurfend und ehrlich gesagt, erschöpft vor mich hin. Auf dem Nachhauseweg ließ ich noch einmal den Abend Revue passieren und stellte fest, dass ich im höchsten Fall drei Sätze mit dieser Schuller gewechselt hatte. Bei all dem Groll gegen sie, beschlich mich dennoch plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Ich hatte doch tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Das irritierte mich! Krampfhaft versuchte ich, diese Gedanken abzuschütteln.
Zuhause angekommen, flogen als Erstes meine Pumps in die Ecke. Diese Schuhe quetschten mir den kleinen Zeh ein und quälten mich schon den ganzen Abend. Doch die Dinger mussten an die Füße, koste es, was es wolle. Schließlich wollte ich ja halbwegs mithalten können neben Miss „Aufgetakelt“.Mit dem Nachlassen des Schmerzes verflogen auch gleichzeitig meine aufkommenden Gewissensbisse.
In einer knappen halben Stunde lag ich in den Federn und schwebte nach dem anstrengenden Abend sehr schnell ins Land der Träume.
Was war das? Ganz aus der Ferne vernahm ich ein schrilles Geräusch! Mein Wecker konnte es nicht sein. Die Dunkelheit um mich herum machte deutlich, dass es auf keinen Fall Zeit zum Aufstehen war. Träumte ich das nur? Das Geräusch wurde lauter. Endlich begriff ich, dass es die Wohnungsklingel sein musste. Total müde und benommen wackelte ich zur Tür und schaute durch den Spion. Was ich dort sah, ließ mich hellwach werden.
Cordula Schuller stand mitten in der Nacht vor meiner Tür. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und öffnete. Eine völlig verstörte Frau schaute mir entgegen.. Sie weinte und Blut lief ihr aus der Nase. „Bitte entschuldigen sie vielmals Frau Herzberger, dass ich sie geweckt habe“, schluchzte sie vor sich hin. „Kommen sie doch erst mal herein! Was ist denn um Himmels Willen mit Ihnen passiert?“, fragte ich völlig geschockt.
„Ich..ich“…stotterte sie weinend! „Ja, was denn, sprechen sie doch bitte“, sagte ich, so herzlich, wie ich nur konnte. Mein ganzer Groll schlug augenblicklich in Sorge und Mitleid um. Liebevoll drückte ich sie in einen Sessel, wusch ihr das Blut ab und beruhigte sie immer wieder. Nach einer Weile brach es aus ihr heraus. In wenigen Sätzen erzählte sie mir, dass sie den Job in unserem Haus eines Mannes wegens angenommen hatte. Es war eine Urlaubsbekanntschaft und sie sei ihm sehr schnell aus Hamburg hier her gefolgt und zu ihm gezogen. Schon nach kurzer Zeit musste sie feststellen, dass sie einem notorischen Choleriker aufgesessen war, dem schon des Öfteren mal die Hand ausrutschte. Und in dieser Nacht hatte er ihr wütend aufgelauert. Nach einer entsetzlichen Eifersuchtsszene schlug er sie mit der Faust ins Gesicht und prügelte sie aus der Tür.
Völlig verstört saß dieses Häufchen Elend nun in meiner Wohnung und immer wieder fing sie
zu schluchzen an. „Wo sollte ich denn hin, kenne doch noch niemand hier. Und gerade heute
erfuhr ich in der Firma, dass sie nur zwei Häuser von mir entfernt wohnen. Durch Zufall fuhren wir beide gleichzeitig vom Parkplatz und ich konnte sehen, dass sie hier eingebogen sind. Bitte, bitte, darf ich heute Nacht hier bei ihnen bleiben?“, fragte sie mich ängstlich. Aber natürlich, beruhigte ich sie sofort und schaute mir ihr Gesicht etwas näher an. Es war zwischenzeitlich beängstigend angeschwollen. Kurzerhand entschloss ich mich deshalb, sie noch in dieser Nacht ins Klinikum zu fahren. Frau Schuller ließ alles mit sich geschehen.
Ich schaute auf die Uhr. Es war 3:50 Uhr und um 04:30 Uhr saß ich auf dem Flur des Klinikums und wartete fast eine Stunde, bis sie wieder heraus kam.
Mit einer Schiene auf der Nase, die gebrochen war, gab sie der diensthabende Arzt wieder in meine Obhut. „Frau Schuller, solche Fälle werden von uns automatisch an die Polizei weiter gegeben. Da sie nicht hier bleiben wollen, muß ich sie fragen, wo sie jetzt hin wollen, “ fragte der Arzt mit besorgter Miene? „Sie bleibt erst mal bei mir, ich bin eine Kollegin von Frau Schuller, “ hörte ich mich sagen.
Mit den Worten: „Bitte erstatten sie so schnell als möglich Anzeige gegen diesen Mann und kommen sie morgen Nachmittag noch einmal zur Nachsorge in die Klinik“, verabschiedete uns Dr. Brenner.
Eine dankbare Frau Schuller fuhr mit mir nach Hause. Am nächsten Morgen rief ich in der Firma an und erzählte von dem Vorfall. Selbstverständlich gab man mir die nächsten Tage frei, so dass ich mich um das verstörte und traurige Frauchen kümmern konnte. In Begleitung eines Polizeibeamten holten wir zwei Tage später ihre Sachen aus der Wohnung.
Cordula erstatte keine Anzeige. Ihre Angst vor Rache war zu groß. Sie ließ sich von niemand dazu überreden.
Sechs Wochen nahm ich sie bei mir auf und ich musste feststellen, dass wir uns von Tag zu Tag sympathischer wurden. Das ganze Getue von ihr war nur eine Maske. In ihrem Innern lebte ein liebevoller und herzlicher Mensch. Alles andere war nur eine aufgebaute Schutzmauer, die ich fälschlicherweise für Arroganz und Affektiertheit hielt.
Aus uns beiden wurden dicke Freunde. Nach einiger Zeit fanden wir für Cordula eine schöne kleine Wohnung in meiner Nähe. Fünf Jahre waren wir unzertrennlich, fuhren gemeinsam in den Urlaub, hatten den gleichen Freundeskreis. Sie gehörte fast zu meiner Familie.
Eines Tages erzählte sie mir von einem Mann, den sie durch Zufall in einem Cafè kennen gelernt hatte. Cordula war bis über beide Ohren verliebt. Es dauerte auch nicht lange, bis sie mir ihre neue Errungenschaft vorstellte.
Günther, 25 Jahre älter als Cordula. Der erste Schock! Man nahm zwar den Alterunterschied nicht so direkt wahr, da er wesentlich jünger wirkte.
Sehr schnell merkten wir beide jedoch, dass zwischen Günther und mir keine Sympathie aufkam. Kurz und gut, ich mochte ihn nicht und er mich auch nicht. Er war mir zu glatt, zu dominierend. Leider bestätigte sich die altbekannte Weisheit auch in diesem Fall, dass eine Frau sehr oft immer wieder auf denselben Typ Mann fliegt. Und so war es dann auch. Günther entfremdete uns in nur wenigen Wochen dermaßen, dass ich mich immer mehr zurückzog. Unser geplanter Urlaub fiel natürlich auch ins Wasser und so fuhr ich stattdessen zu einer Freundin nach Kiel.
Zuhause wieder angekommen fand ich in meiner Post einen Brief von Cordula.
Sie teilte mir in kurzen Erklärungen mit, dass sie nicht nur zwischenzeitlich gekündigt habe, sondern auch schon mit ihrem Freund nach Bremen verzogen sei. Geschockt ließ ich mich in den gleichen Sessel fallen, in dem Cordula zu Beginn unserer Freundschaft schluchzend saß.
Und ich tat es ihr nun gleich. Bittere Tränen der Enttäuschung rannen über mein Gesicht.
Immer wieder las ich ihre Zeilen. Meines Erachtens wieder eine Kurzschlusshandlung, auf die ich nun leider keinen Einfluß mehr nehmen konnte.
Das Schreiben enthielt weder eine neue Adresse noch eine Telefon-Nummer.
Erst an meinem Geburtstag einige Monate später erhielt ich einen Anruf von ihr. Sie gratulierte mir und entschuldigte sich noch einmal in wenigen Sätzen für ihr plötzliches Verschwinden und versprach, sich wieder zu melden, wenn sie sich in ihrem neuen Job eingelebt hätte.
Allerdings machte sie ihr Versprechen nicht wahr. Und um ehrlich zu sein, bezweifelte ich ihre Worte schon damals. So war es dann auch. Nie wieder hörte ich etwas von ihr.
Wie gewonnen, so zerronnen.!
Texte: Allre Rechten liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Kurzgeschichten Wettbewerb
März 2012
der Gruppe K&G