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Weihnachten in Werne

Es war das erste Weihnachtsfest, der erste Heiligabend, den ich mit meinen sechs Jahren in meiner neuen Heimat im Haus meines Großvaters Hans erlebte. Und tatsächlich auch das erste Weihnachtsfest, an das ich mich wirklich erinnere – alle anderen zuvor sind wie ausgelöscht.

 

Erst kurz zuvor, in der Nacht zu meinem Geburtstag, waren meine Mutter mit mir und einem ganzen Trupp unbekannter Menschen zu Fuß von Westberlin durch die Ostzone nach Westdeutschland gelaufen. Irgendwann, nachdem wir in der amerikanischen Zone ankamen, ging es weiter mit dem Zug nach Hamm und dort wurden wir dann abgeholt.

Von meinem Opa. Und als meine Mutter ihren Vater sah, zeigte sie auf ihn: "Schau mal, das ist Dein Opa!" Ich machte brav meinen Knicks: "Guten Tag, Opa!"

"Opa? Ich bin kein Opa, ich heiße Hans!", meinte mein Opa. Gut, dann war das auch geklärt und ab da hieß mein Opa eben Hans.

Unser neues Zuhause – welch ein Unterschied zu der halb zerbombten Bruchbude in Berlin. Ein großes Haus am Stadtrand mit einem recht großen Park- und Gartengelände drumherum. Hans, der "Herr Doktor" war stadtbekannt, auch wenn ich dieses Werne im Vergleich zu Berlin, eher als kleines Dorf ansah.

Kurz vor Weihnachten kam dann auch mein Stiefvater Klaus nebst Asta, meinem Geburtstagshund, nach Werne. Er hatte wohl zuvor den Haushalt in Berlin aufgelöst und reiste dann mit dem Zug an.

Meine Erinnerungen an das Weihnachtsfest beginnen damit, dass ich mit Frau Exner, unserer Haushaltshilfe, die ich über alles liebte, schon tagelang Kekse backen durfte. Teig kneten und durchwalken – das war herrlich und ich hörte zum ersten Mal, dass Finger knacken können, denn ab und zu machte es 'krrr', wenn sie besonders feste zugange war. "Macht nix, Gitta, das ist nur die Gicht!", meinte sie dann lachend.

Ich hatte keine Ahnung, was 'die Gicht' ist, also fragte ich nach.

"Ach, Gittalein, das kriegt man, wenn man alt wird!"

Schade, dachte ich, denn ich war noch jung, hätte aber auch gerne 'krrr' machen können, aber mir war klar, dass ich da wohl noch was warten muss.

Lustig fand ich auch, dass die Kekse, die vorher durch den Fleischwolf mit den verschiedenen Plättchen mit Mustern gedreht wurden, "Spritzgebäck" hießen. Sie wollten aber einfach nicht 'spritzen'! Verstehe einer die Welt der Erwachsenen.

Der Zugang vom großen Eingangsbereich zum Ess- und Wohnzimmer war schon am Morgen verschlossen, aber da ich mich dort sonst auch nicht viel aufhielt, kam mir das auch nicht sonderbar vor. Viel schöner war es, dass ich schon zum Mittagessen mit Frau Exner hoch in ihre kleine Wohnung durfte, in der sie mit ihrer Tochter Inge wohnte.

Dort war es warm und gemütlich. Warm, wohl weniger, weil die Heizung höher gestellt war, sondern wegen der heimeligen Atmosphäre. 

Frau Exner hatte eine Kuckucksuhr, die fand ich zu lustig und freute mich immer, wenn das Türchen aufging und der Piepmatz erschien und seine "Kuckucks" raus krächzte.

 

 

An diesem Tag war es das Signal, dass Frau Exner mit mir wieder hinunter ging und mich ins Esszimmer schickte. Ich dachte natürlich: 'Jetzt ist endlich Weihnachten', aber Pustekuchen: es war nur Abendessenszeit! Und was für ein Essen, pfui Teufel!

Der Tisch wunderschön gedeckt und ausgeschmückt und drauf eine große Suppenterrine. Ich wunderte mich zwar, weil es abends noch nie Suppe gegeben hatte, aber dann war das Entsetzen groß! Frau Exner füllte den Teller von Hans mit einem undefinierbaren Gematsche in hellbräunlicher Soße.

Auf meinen entsetzten Blick hin, kam die Aufklärung: "Das ist Gänseklein, den Gänsebraten gibt es erst morgen!"

Aha – aber ohne mich! Ich muss so entsetzt geschaut haben, dass sich Frau Exner zu Hans runter beugte und irgendwas flüsterte. Hans nickte nur und sagte dann zu mir: "Gitta, wenn Dir das nicht schmeckt, dann darfst Du bei Exners oben mitessen!"

Meine Mutter konterte: "Aber sie soll doch wenigstens mal probieren …"

"Quatsch, sie ekelt sich doch schon beim Anblick, das sieht man doch!"

Das war die erste gute Tat meines Großvaters – es folgten noch viele im Verlauf all der kommenden Jahre und dafür liebte ich diesen manchmal seltsamen Kauz.

Oben bei Exners gab es Brühwürstchen mit Kartoffelsalat – schlicht und ergreifend ein wahrlich himmlisches Gericht. Auch Asta bekam zur Feier des Tages ein ganzes Würstchen.

 

Dann, Frau Exner hatte so ein altes Vehikel von Haustelefon im Flur, ja, dann bimmelte es und wir gingen alle zusammen runter – und rein in die gute Stube!

Mir blieb die Luft weg: solch eine Pracht, den Tannenbaum kannte ich ja schon, der stand schon tagelang draußen im Hof, aber da war er nackig. Und nun so wunderschön geschmückt, noch viel schöner, als den vom Markplatz, den ich schon so toll fand. Dann all die kleinen und größeren Päckchen, in Weihnachtspapier eingewickelt.

Asta war völlig irritiert und überfordert und sorgte für die erste Bescherung, sie war ja gerade etwa zwölf Wochen alt und dann soviel eingepacktes 'Spielzeug' – da musste sie sich erst mal setzen! Frau Exner wollte sie sich noch schnappen, aber zu spät – stattdessen holte sie dann einen Wischlappen.

 

Aber dann die Bescherung für uns. Zuerst bekamen Frau Exner und ihre Tochter Inge je einen Umschlag und zusammen ein großes Paket. Ich wunderte mich sehr, warum die beiden das Paket nicht aufmachten, sondern nach einem Dankeschön nach oben trugen. (Dass sie den Inhalt, ein nagelneues Radio für ihr Wohnzimmer) selber besorgt hatten, erfuhr ich erst Jahre später!).

Dann war ich wohl dran, aber ich war gar nicht fähig, mich zu bewegen und stand immer noch wie eine Salzsäule vor dem Wunderland. Hans war es, der mich bei der Hand nahm und mit mir zum Baum ging und: "Na, dann guck doch mal … ", sagte, da war der Bann gebrochen und ich nahm den Puppenwagen, den ich ja längst entdeckt hatte, sozusagen in Besitz. Was ich aber erst jetzt entdeckte: im Puppenwagen lag, zugedeckt mit einer rotkarierten Decke, eine Negerpuppe*! Damit war für mich dieser Weihnachtsabend die Erfüllung schlechthin.

 

In Berlin hatte eine Freundin eine kleine (ähhh, viel kleinere) Negerpuppe und die hätte ich am liebsten geklaut, so toll fand ich die – und nun hatte ich selber eine und noch einen Puppenwagen dazu. Und ganz viele Anziehsachen, die meine Mutter genäht hatte, und alles musste natürlich gleich mal ausprobiert werden.

Was es sonst noch alles gab? Ich weiß es nicht mehr, keine Ahnung, auch nicht davon, was ich zum Verschenken gebastelt hatte.

Aber an den Abschluss des Abends, bevor ich ziemlich rasch mit meiner Puppe ins Bett geschickt wurde, den höre und sehe ich noch sehr genau.

 

Da die normale Weihnachtsmusik auf Dauer wohl nicht dem Geschmack der Erwachsenen entsprach, drehte meine Mutter am Radioknopf herum – bis, ja, bis eine sehr flotte Melodie erklang, die ich sogar kannte. Meine Mutter liebte diese Klänge, die Hans sofort mit intensivem Kopfschütteln begleitete und unwillig mit *Negermusik betitelte. Aber seine Tochter ließ sich nicht beirren, drehte den Ton lauter und tanzte im Zimmer herum.

 

Hans verließ schweigend das Zimmer, Lilo drehte die Musik noch lauter – und erstarrte: Hans kam zurück – in seinen beiden erhobenen Händen eine Axt. Lilo machte das Radio aus und Hans ließ die Axt sinken – und ich wusste ein für allemal: Hans hat hier die Hosen an.

 

Das war so und es blieb so: für mich ein zusätzliches und wunderbares Weihnachtsgeschenk, mein Schutzengel in Person meines Großvaters, mein Garant für Sicherheit in vielerlei Hinsicht. So habe ich ihn in diesem Augenblick empfunden. Gibt es ein schöneres Geschenk für ein kleines Mädchen, dass sich so oft unsicher und unwohl in ihrer eigenen Haut fühlte? Und es war kein Zufall, dass mein Blick meinen Stiefvater traf.

 

Anmerkung: *Bei der 'Negerpuppe hatte man damals noch keine Bedenken, dass es ein diskriminierendes Schimpfwort sei und bei der 'Negermusik*, handelte es sich um ein jazziges Stück von Benny Goodman.

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Tag der Veröffentlichung: 01.12.2022

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