Seine Frau nennt ihn Karl, wenn er mal wieder da ist, ansonsten „Weiberheld“, „Hallodri“ oder „Hans Dampf in allen Gassen“, seine Freunde und Freundinnen sprechen ihn liebevoll mit Karlchen an, bezeichnen ihn aber auch als „Globetrotter“ oder "Weltenbummler“. Seine beiden Kinder sagen zu ihm schlicht „Daddy“ und so lerne ich ihn mit knapp eineinhalb Jahren Mitte Juni 1945 in Berlin kennen: meinen Großvater väterlicherseits. Da ist er 57 Jahre alt und voller Tatendrang wie eh und je.
Ob er je einen Beruf erlernt hat, weiß ich nicht, ich vermute, er hätte ihn ohnehin nicht lange ausgeübt, weil sein Drang nach Neuem stets viel zu groß war. Als er im 1. Weltkrieg als Soldat eingezogen werden sollte, nimmt er einen Job auf einem englischen Frachter an und ward nicht mehr gesehen. Anfang der Zwanziger kehrt er zurück und lernt dann in Berlin ein rassiges Mädel mit brasilianischen Wurzeln namens Ricarda kennen. Die beiden heiraten 1925.
Sie arbeitet weiterhin in einem Krankenhaus als Hauswirtschafterin und er geht Klinkenputzen mit Erdal. Eine neuartige Schuhcreme aus Mainz, die „Stiwwelwix“ in der markanten roten Metalldose mit dem Frosch. Sie ging weg wie warme Semmeln. Es war ja genau die passende Zeit der stets auf Hochglanz gewienerten schwarzen Stiefel und Uniformen.
Sie können sich bald eine schöne große Wohnung in der Pariserstr. 9 in Wilmersdorf leisten, weil Sofie, Karls Mutter, die zwei der hinteren Eckzimmer für sich beansprucht und einen guten Teil der Miete schultert. Dreißig Meter Flur, sechs große Räume, Küche, Bad und Abstellkammer und gegenüber der Küche übern Flur im Hinterhaus, noch das Zimmer für die Haushaltshilfe.
Das Familienglück wird noch getoppt durch die Ankunft der ersehnten Kinder: Kronprinz Karl-Günter im April 1926 und drei Jahre später Tochter Gisela.
Ricarda ist nun zu Hause, kümmert sich um Haushalt, Kinder und natürlich um seine Mutter. Und Karl? Der empfindet Hitlers Machtübernahme 1933 als absolute Katastrophe und geht postwendend in den Widerstand. Eine Entscheidung, die sicherlich viel Unruhe in die ganze Familie brachte.
Es bleibt wohl nicht allzu lange geheim, doch eine Wohnungsdurchsuchung konnte ihn nicht überführen. Zumal der Bäckermeister im Erdgeschoss, bekennender Nazi von der ersten Stunde an und späterer Blockwart, im Brustton der Überzeugung, immer wieder verkündet: „In meinem Hause gibt es keinen Verräter, den hätte ich doch schon längst ans Messer geliefert.“
Karl wird zum Charles und flieht zur Vorsicht 1934 nach Frankreich, nistet sich in ein Landgut ein und betreibt zusammen mit den Eigentümern eine Schweinezucht. Sein Versuch, seine Familie in Berlin zwischendurch mal mit einem fetten Schweinebraten zu beglücken, scheitert, weil ihn die Blutspur, die aus dem Anhänger auf die Strasse tropft, verrät. Die Grenzer schicken ihn zurück – ohne Schwein - aber nun hat er auch genug vom Schweinkram und übernimmt im Elsass kurzentschlossen eine marode Knopffabrik.
Seine Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst sind längst geknüpft und die beordern ihn im Frühjahr 1940 nach England, um ihn vor den deutschen Angriffen auf Frankreich aus der Schusslinie zu bringen.
Der Versuch, auch alle Familienmitglieder nach England übersiedeln zu lassen, scheitert an Sofie, die sich strikt weigert, Deutschland zu verlassen, weil sie nie und nimmer auf einer fremden Insel sterben will und … weil sie den englischen Begriff für Friedhof - cemetary – nicht ausprechen kann!
Karl, nun Charly genannt, nutzt die Zeit in Südengland, um nicht nur sein Englisch zu perfektionieren, nein, er lässt sich gleich mal zum Berlitz-School-Teacher ausbilden und gibt dann auch Unterricht an deutschen und französischen Sprachschulen. Nebenbei schreibt er ein Buch über das Idiom – also ein Lexikon für deutsch-englische und englisch-deutsche Redewendungen.
In Berlin wird es langsam ungemütlich, Anfang 1943 bekommen die Häuser in der Pariser beim Luftangriff gewaltige Treffer ab. Das Haus 11 fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen, das Feuer droht auf die Nummer 9 über zu greifen. Mit Wassereimern bewaffnet, müssen alle noch nicht eingezogenen männlichen Hausbewohner ran, um zu verhindern, dass die Dachbalken Feuer fangen und die dünne Brandschutzmauer zu heiß wird.
Das geht so eine ganze Nacht lang und danach ist noch lange nicht Schluss. Einige Tage später trifft eine Luftmine das Haus. Im vierten und dritten Stock zerbersten die Außenmauern der hinteren Erkerzimmer. Die Außenwände von Sofies Wohnzimmer sowie vom Musikzimmer sind eingestürzt und die Möbel liegen zertrümmert auf der Straße. Nur der große schwarzlackierte Flügel, auf dem der nun knapp 17jährige Sohn Karl-Günter, KG genannt, trainiert, fliegt nicht davon. Der rutscht auf dem glatten Parkettboden mit der Druckwelle in eine Zimmerecke und bleibt dort brav stehen.
Das alles erfährt Karl in England nicht, denn Ferngespräche oder Briefe sind zu gefährlich. Und ich glaube, ohne die fantastische Hausgemeinschaft in Berlin, hätte Ricarda das alles bis zum Kriegsende sicher nicht so tapfer durchgestanden.
Kaum, dass die Kunde von Hitlers Selbstmord und der Kapitulation im Mai 1945 über den Kanal nach England gelangt, fängt Karlchen an, Pakete zu packen. Seine Geheimdienstmission für die Amis findet mit diesen Ereignissen erst einmal ein Ende und es drängt ihn, endlich wieder nach Berlin zu Frau und Kindern zurück zu kehren.
Paket Nr. 7 trifft eine gute Woche danach in der Pariserstr. 9 ein und Ricarda weiß, nun kommen noch sechs weitere und zum Schluss wird auch er wieder vor der Tür stehen. Und so ist es dann auch.
Und genau so wird er es immer wieder gestalten, denn als besonders sesshaft und ausdauernd kann man Karlchens Leben nun wahrlich nicht bezeichnen. Ricarda erfährt von seiner jeweiligen Rückkehr auch weiterhin nur durch das erste Paket mit der letzten Nummer der jeweiligen Serie und kann sich dann in etwa ausrechnen, wann der meist aushäusige Göttergatte mal wieder zuhause eintrudelt.
Karl kommt also im Juni 1945 nach elf Jahren zurück nach Berlin, die Familie war wieder vollständig, sie hatte sich inzwischen sogar vergrößert. Eine Schwiegertochter namens Lilo und Gitta die erste Enkelin waren dazu gekommen.
Aber das Ehepaar hat sich auseinander gelebt. Ricarda, inzwischen 48 Jahre alt, hat sich von dem rassigen Mädel mit südamerikanischen Blut von einst in eine gestandene Hausfrau gewandelt, die schließlich etliche Kriegsjahre den Rest der Familie durchgezogen hat und jetzt eher ernsthaft und bereits ein wenig verhärmt und matronenhaft wirkt.
Und Daddy, grad 57 Jahre alt, steht so richtig in Saft und Kraft und hat außerdem Blut geleckt und an seinem Dasein als Weltenbummler und Geheimnisträger großen Gefallen gefunden. Denn nun gibt es ja einen neuen Feind für Karlchen und 'glücklicherweise' auch für die Amerikaner: nämlich die Russen!
Zunächst gründet er kurzerhand eine Schauspieltruppe und zieht mit diversen Lustspielen durch die Stadtteile – natürlich sind seine fast erwachsenen Kinder KG und Gisela dabei.
Seine Absicht: mit diesem Unternehmen möchte er die kriegsgeschädigte, bedrückte Berliner Bevölkerung mal ein wenig aufmuntern. Sein Gewinn dabei: er kann mit seinem Grüppchen durch die Lande ziehen, kann wieder ungehindert und unauffällig unterwegs sein, frei von häuslicher Enge.
Was wirklich dahinter steckte, erfuhr ich erst sehr viel später: auf diese Art und Weise kommt er nicht nur im Westen Berlins herum, sondern auch im Ostteil der Stadt und kann somit die Entwicklung der Ostzone und späteren DDR in aller Ruhe ausspionieren und an seine Arbeitgeber weiter leiten.
Das ändert sich schlagartig als 1952 die Grenzen zwischen Ost- und West dicht gemacht werden und die Einreise in den Osten für Berliner erschwert wird. Außerdem bekommt er von einem Freund gesteckt, dass sein Interesse für die sowjetisch besetzte Zone wohl auffällig geworden ist.
Wieder bricht er seine Zelte in Berlin ab, bekommt von den Amis ein komfortables Asyl in Bremen. Dort besuchen mein Vater und ich ihn 1953, als ich meine Sommerferien in Hamburg bei meinem Vater verlebe. Segeln und Schiffchen fahren sind sein Hobby und offensichtlich kann er sich das auch gut leisten.
Was ihn bewegt, Bremen zu verlassen und nach Bad Soden in den Taunus zu ziehen, weiß ich nicht, ich vermute eine Frau! Denn dort wohnt er, gar bald mit einer Frau Sommer zusammen, die ich bei einem Besuch kennenlerne und einfach nur fürchterlich finde. In meinen Augen eine totale Zimtzicke. Mit ihr zusammen übernimmt er die Leitung einer Großwäscherei in Bad Ems und seine Freizeit verbringt er auch hier auf seinem Boot.
Aber lange hält auch das nicht an, denn bereits im Jahre 1958 verlässt er Bad Soden und zieht nach Starnberg in Bayern. Dort will er dann wohl seinen „Unruhestand“ etwas gemütlicher, hauptsächlich auf seinem Schiff, auf dem See verbringen. Doch daraus wird nichts!
Seine neue Lebensabschnittpartnerin wähnt sich gar bald in den Wechseljahren, die Folge bekommt dann etwa sieben Monate später den Namen Marianne. Die Mutter ist 45 und der Vater 72 Jahre alt.
Ich nehme heute an, dass dieser Familienzuwachs meinem Vater KG sehr wohl bekannt war, ansonsten hatte offensichtlich keiner eine Ahnung. Zwei Jahre später platzte jedoch die Bombe. Zusammen mit meinem Vater KG und seiner Schwester Gisela aus England besuchten wir Daddy in Starnberg. Er und seine Partnerin öffneten die Haustür und ich sah sofort im Flur einen Kinderhochstuhl. Mit meinen 18 Jahren war ich wohl noch ziemlich naiv und überzeugt, dass dieser nur für eine Enkelin der Frau Weber gedacht war.
Ich wunderte mich nur, dass Tante Gisela schon den ganzen Tag und auch dort in der Wohnung eine ziemlich miese Stimmung hatte, denn sie war sonst eher ein Ausbund an Fröhlichkeit. Beim anschließenden Spaziergang am Starnberger See waren alle dabei, als plötzlich mein Vater ein wenig zurückblieb und mich rief.
„Na, wie gefällt Dir Deine neue Tante?“
„Wieso Tante, hat er die etwa geheiratet?“
„Nein, ich meine die kleine Marianne!“
„Wieso Tante, ist das nicht eine Enkelin von Frau Weber?“
„Nein, das ist ein Kind von Daddy und Frau Weber und somit Deine Tante!“
Ich muss wohl hörbar nach Luft geschnappt haben und meine Stimmung schlug auch in Empörung und moralische Entrüstung um. Das konnte doch nicht möglich sein, wie kann man denn mit über 70 noch Kinder machen und überhaupt und so. In dem Alter macht man doch sowas nicht mehr…. Ich war richtig sauer und ahnte nun auch, warum Tante Gisela so komisch drauf war.
Das gemeinsame Mittagessen im Restaurant wurde eher zu einem Schweigemahl. Tante Gisela und ich kriegten kaum einen Ton raus, nur KG versuchte die gute Laune zu forcieren und unterhielt sich angeregt mit Daddy und dieser „blöden“ Tante. Denn in meinen Augen hatte natürlich nur sie, die Frau Weber, Schuld daran, doch nicht mein Großvater! Wüste Gedanken blockierten mein Hirn und ich war heilfroh, als wir wieder nach Frankfurt fuhren, um dort den Rest meiner Sommerferien genießen zu können.
Es wurde still um Daddy und ich hörte erst Ende 1969 von Oma Ricarda wieder von ihm. Ein Paket von ihm war in Berlin angekommen. Mit der Nummer 24 – was bei ihm so viel hieß, dass noch 23 unterwegs waren. Was war passiert?
Mein Großvater hatte wohl ausgedient. Frau Weber wollte den alten Herrn nicht auch noch bis zum Ende seines Lebens pflegen und hatte Hals über Kopf mit ihrer Tochter Marianne Starnberg verlassen, um zu ihrer Mutter ins Ruhrgebiet zu ziehen. Und Daddy packte, schickte wie immer ein Paket nach dem anderen nach Berlin, stand dann auch bald selber vor der Tür und begab sich nunmehr in die Obhut der Frau, die er vor gefühlten 100 Jahren mal geheiratet hatte.
Sein Tod, zwei Jahre später, ließ uns – so traurig es auch war – im Nachhinein dennoch ein wenig schmunzeln. Nein, er starb nicht wie ein normaler Mensch im Bett.
Ricarda wollte für ihn und sich eine kleinere Wohnung suchen. Die große 6-Zimmerwohnung war ihr zu groß und nach einer gründlichen Renovierung des ganzen Hauses durch die neuen Besitzer, auch zu teuer. Inzwischen gab es preiswertere Wohnungsangebote für Studenten, da wurde es immer schwieriger, die Räume noch gewinnbringend zu vermieten.
Daddy tat sich zwar schwer mit dem Gedanken, er hasste Enge – Weite und Größe war seine Welt. Trotzdem wollte er bei der Suche nach einer passenden kleineren Wohnung dabei sein.
Mit der U-Bahn fuhren sie Richtung Wannsee, denn ein Platz am Wasser war nun mal sein Herzenswunsch, wenigstens das sollte sein – sie kamen aber nie an der neuen Adresse an. Er hatte, so vermuteten wir alle - wohl doch innerlich beschlossen, nicht mehr in eine neue Wohnung umzuziehen – auch nicht zum Wannsee. Ein Herzinfarkt im Abteil der U-Bahn nahm ihm die endgültige Entscheidung ab. Es war die letzte kurze Reise unseres Globetrotters und Weltenbummlers.
Und wir alle waren einhellig der Meinung: Daddy, oder auch Karl, Karlchen Charles oder Charly - hat es genau so gewollt!
Was sagte Marianne, seine jüngste Tochter, so treffend zu mir am Telefon: „Ich mochte ihn wirklich sehr gerne und er mich wohl auch, aber er konnte nicht sesshaft sein, war wohl immer auf Achse, zumindest in Gedanken – das sagte meine Mutter mal. Er war schon ein außergewöhnlicher Mensch!“
Das konnten wir alle nur bejahen.
Texte: Gittarina
Bildmaterialien: eigene Bilder
Cover: Archivfoto
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2019
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