*Frühling allerorten …*
Alles auf Anfang
Gemeinsam gegen die Not der Tiere
Unser Spendenziel sind Tiere in Not, Tiere, die aus der Tötung gerettet, ausgesetzt, unterernährt, krank und als verwahrlost aufgegriffen werden. Die Autoren verzichten auf jegliches Honorar, der Nettoerlös geht also vollständig als Spende an die Tierrettung „Arca Fabiana - Tierrettung Azoren e.V.“Allen Autoren ein herzliches Dankeschön und unser besonderer Dank gilt Heike Helfen, die uns das von ihr entworfene und gemalte Coverbild ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt hat.
Die Originalausgabe erschien im März 2017
bei BookRix GmbH & Co.KG als e-book
und das Taschenbuch über Print on Demand
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Infos zum BuchCopyright © 2017 Gitta Rübsaat (Hrsg. und Mitautor)
Alle Rechte liegen bei den Autoren
Cover Illustration: ©Heike Helfen
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autoren zulässig. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen, so wie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.
Vorwort - Phil Humor
Einerseits Frühjahrsmüdigkeit, andererseits mehr Frühlingsgefühle, als dem Partner lieb ist. Was macht der Frühling mit uns, was stellt er mit uns an? Uralte Programme werden aus dem Winterschlaf gerissen: Mithalten mit der Natur, die zu dieser Jahreszeit völlig ausflippt und alles begrünt und umdekoriert. Man wandert, einen zieht es hinaus zu Begattungsversuchen. Der alljährliche Neubeginn wird inszeniert, man macht sich vor, man könne sein Leben neu erfinden, definieren; die Hormone stimmen dem begeistert zu. Selbst wenn man im Herbst des Lebens steht - wobei einige Körperteile sich schon verabschiedet haben -, verlangt der Frühling, dass man sich wie Springinsfeld aufführt, und man tut es, sogar bereitwillig.
Die Seele macht Frühjahrsputz - sie will auf den Putz hauen - dabei rieselt schon der Mörtel. Was soll’s, tun wir den Hormonen den Gefallen und versuchen, zu gefallen. Neuer Schwung in alten Lenden; ist der Frühling bei uns wirklich in guten Händen? Der Osterhase ist da skeptisch, er versteckt die Ostereier vorsorglich nicht an allzu kniffligen Orten - es soll Ostereier geben, die liegen da schon seit mehreren Generationen.
In dieser Anthologie wird versucht, dem Frühling Reverenz zu erweisen, dabei weiß er selber nicht mal, wie viele Lenze er zählt: Die Welt kommt ihm uralt vor, und dass er im Zeitrad wieder oben liegt - das Ganze erscheint ihm wie eine viel zu schnelle Karussellfahrt, aber es ist seine Saison und er meldet sich zum Dienst. So lässt er denn also sein blaues Band flattern durch die Lüfte, wie eine zu alt gewordene Cheerleaderin. Aber er hat’s noch immer drauf.
Frühling, das ist Helligkeit,
Frühling, das ist Leuchten,
Frühling, Tage werden länger.
Frühling bringt uns Sturm und Wind,
Frühling ist ein ungestümer Geselle.
Frühling weiß noch nicht, wohin
die Reise geht ...
Frühling will alles,
bringt unsere Körper durcheinander.
Frühling, du bist der Inbegriff
der Jugend!
Du bist das Synonym für Werden und Wachsen!
Alle verbinden mit dir nur
gute Eigenschaften,
doch du bist ein unsteter Geist.
Mal strahlt die Sonne vom blauen Himmel,
im nächsten Moment
der Regen über die Scheiben rennt.
Dann braust der Wind durch lichte Wälder,
und Schnee und Hagel peitschen
die zarten Blütenfelder.
Du bist wie alle Jugend,
du stürmst und drängst,
schießt über dein Ziel hinaus,
keiner kann dich bändigen,
trotzdem lieben dich alle,
denn deine liebliche Seite
ist unwiderstehlich!
Jetzt waren die Voraussetzungen vorhanden, die Krone der Schöpfung zu erschaffen. Doch weil er langsam müde wurde, verschob Gott diesen Kraftakt auf den nächsten Tag.
Der Samstag brach an und Gott schuf die Tiere des Landes, all die Spinnen und Nashörner, die Springböcke und Ohrwürmer. Eine Menge Arbeit, und erst gegen Abend fiel ihm ein, dass er noch den Menschen zum Leben erwecken wollte.
In einem heute nicht mehr nachzuvollziehenden Akt der Großzügigkeit schenkte er seinem letzten Geschöpf nicht nur das Leben, er übereignete ihm darüber hinaus alles, was er bisher geschaffen hatte, übergab ihm die gesamte Erde zu treuen Händen. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellte.
Doch das ist nur die Geschichte der ersten, zugegebenermaßen ereignisreichen Woche. Richtig interessant wurde es erst, als die Schöpfung sich selbst überlassen blieb. Adam und Eva pflanzten sich fort, ganz wie ihnen aufgetragen wurde. Dass sie sich dabei das Paradies verscherzten und Mord und Totschlag die Tür öffneten, war Schicksal. Wäre jedem von uns passiert, davon bin ich überzeugt.
Auch die ersten Generationen danach erledigten ihre Pflichten ganz zu Gottes Zufriedenheit. Er hatte Freude an der Entwicklung und beglückwünschte sich zur Erfindung der Evolution, die dank des Zufalls, der ihm schon bei der Erschaffung des Wetters dazwischengefunkt hatte, unvorhergesehene Ergebnisse versprach. Doch dann geschah das Undenkbare, das einer Katastrophe gleichkam: Nach einigen Generationen erlahmte der Fortpflanzungseifer, die Menschen gingen dem Auftrag zur Vermehrung nur noch lustlos nach.
Gott erschrak bis ins Mark, als er diese Entwicklung bei einer Routinekontrolle entdeckte. Was war zu tun? Die Lethargie war ohne seine Intervention entstanden, wie sie nun wieder vertreiben? Wie brachte er seine höchsten Geschöpfe wieder dazu, sich miteinander zu beschäftigen und für Nachwuchs zu sorgen?
Zum Glück war Gott allwissend: Wenn es eine Lösung gab, würde er sie finden. Das erforderliche Wissen war vorhanden, nur wo? Schublade um Schublade durchforstete er, in einer Geschwindigkeit, die alle heutigen Suchalgorithmen in den Schatten stellte, bis er endlich die Psychologie mit der Himmelsmechanik verknüpfte und ein Plan Gestalt annahm. Eilige Berechnungen und Simulationen ergaben einen optimalen Wert von 23,5.
Mit einem kleinen Stibbs brachte er die Erdachse aus dem Gleichgewicht, und mit einer Neigung von 23,5 Grad zur Ekliptik stabilisierte sie sich wieder. Die Auswirkungen zeigten sich nicht sofort, sodass die Menschen auf der Erde Zeit hatten, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Der weiße Regen erfüllte sie zunächst mit Schrecken, denn er ging mit einer ungewohnten Kälte einher. Die unerträgliche Hitze in manchen Gegenden des Gesteinsbrockens bräunte die Menschen und schuf das neue Phänomen des Sonnenbrands und unterschiedliche Hautfarben. Dass sich die Blätter der Bäume, der guten Freunde der Menschen, zu gewissen Zeiten bunt verfärbten, belustigte die Bewohner der Erde zunächst. Doch als die Blätter dann vertrockneten und abfielen, kam Panik auf. Wie sollten sie jetzt die Säuberung nach der Notdurft vornehmen? Wer schon einmal ernsthaft vor dieser Frage stand, findet das sicher nicht lustig.
Im Gegensatz zu den anderen neu entstandenen Jahreszeiten war der Frühling von Anfang an ein Hit. Der Plan war aufgegangen. Die Freude über den scheidenden Winter schuf, wie erwartet und berechnet, neue Lebenslust und steigerte die Geburtenrate so, dass der Fortbestand der Menschen gesichert schien. Erst in neuerer Zeit gibt es wieder Probleme mit der Zukunftsfähigkeit der Menschheit, doch da helfen solche Kinkerlitzchen wie das Verbiegen der Erdachse nicht mehr weiter.
Das ist die wahre Geschichte der Entstehung der Jahreszeiten, und wer etwas anderes behauptet, hat entweder keine Ahnung oder ist ein verdammter Atheist.
Bald kommt das Frühjahr. Und damit auch einige Veränderungen. Nicht nur in der Natur, sondern auch im Kleiderschrank. Jedes Jahr die leidige Frage: Was bleibt drin, was muss raus.
Und dieser 'Kampf' hinterlässt überall seine Spuren.
Die Schranktür öffnete sich und mit einem tiefen Seufzer flogen 3 T-Shirts auf den Dielenboden.
„Wann wird es endlich wieder Sommer“, sang ein dicker Pullover höhnisch. Was ihm den strafenden Blick einer blaugestreiften Bluse einbrachte.
„Du hast erst mal ausgedient“, meinte sie leicht gereizt.
Ein grüner Wollpullover seufzte sehnsüchtig: „Wenn es danach geht, komme ich nie dran. Dabei bin ich so schön geworden.“ Seine mehrfach gezwirnten Fäden schimmerten in vielen Schattierungen.
„Ja“, meinte die blaue Bluse, „so schlank wird sie nie mehr werden. Du warst eben zu lange auf der Stricknadel.“
Der grüne Pullover lies deprimiert seinen Kragen hängen. „Aber noch bin ich da. Vielleicht findet sich ja mal ein Liebhaber. Ich bin so ungefähr Größe ...“
„Psst“, mahnte eine alte Jeans, „über ihre Größe spricht man nicht mehr“, und betrachtete bekümmert die Falten in ihren Hosenbeinen. „Na immerhin passe ich noch.“ „Was wollt ihr“, meldete sich ein blaues Kostüm in Leinenoptik, „ich hänge schon über zehn Jahre hier. Dabei bin ich ein JL Kostüm und war mal ganz schön teuer.“ Kokett hob es seinen Rock und ließ weiße Spitze hervor blitzen.
Die Bluse hatte sich wieder den T-Shirts zugewandt. „Dank meiner seid ihr noch eine Weile tragbar. Also hört auf zu jammern.“
Ein T-Shirt ganz in weiß schaute erstaunt zu ihr rüber. „Meinst du nicht, es ist eher umgekehrt? Wären wir nicht, wärst du schon lange in der Altkleidersammlung. Dir würden ja sämtliche Knöpfe springen.“
Die Bluse straffte sich hochmütig. „Und du ohne mich ein Putzlappen. Ohne meinen umspielenden Stoff sähe sie mit dir aus wie eine Wurst.“
Das Kostüm hatte sich inzwischen einem apfelgrünen Spitzenjäckchen zugewandt. „Ach ja, deine besten Tage sind ja auch schon vorbei“, meinte es mitleidig. „Wer trägt denn noch apfelgrün.“
„Letztes Jahr war das wiedermal In“, meinte das Jäckchen eifrig und wedelte mit dem gleichfarbigen Täschchen. „Sie kann es euch erzählen. Fast hätte ich eine neue Besitzerin gefunden.“
„Ja, auf dem Flohmarkt“, meinte das Kostüm hämisch. „Vielleicht hättest du deinem Täschchen Gesellschaft leisten sollen. Aber sie kann sich ja so schlecht trennen, wie man an mir sieht.“
„Das nennt man Treue“, rief ein dicker Pullover in Norwegermuster von oben. „Die Arbeit, die sie in mich gesteckt hat, ist unbezahlbar“ meinte er dann noch stolz.
Doch dann warteten alle einträchtig darauf, was mit den 3 T-Shirts geschehen würde. „Vielleicht werden sie ja nur frisch gewaschen“, meinte die Jeans mitleidig, aber wenig überzeugt.
„Oder sie näht etwas Neues daraus“, mutmaßte das Spitzenjäckchen tröstend.
Die im Schrank verbliebenen T-Shirts seufzten schwer: „Wohl kaum. Die Mühe lohnt nicht. Sie werden wohl den Weg aller T-Shirts gehen.“
Und schon hörten sie aus dem Hintergrund eine dunkle Stimme: „Schatz, hast du mal einen Putzlappen für mich?“
Und unter herzzerreißendem Gejammer wurden die T-Shirts in einzelne Teile gerissen. Gleichzeitig ging die Schranktüre wieder zu.
„Gnadenfrist“ seufzten die verbliebenen Bewohner einträchtig.
Gerade hat es geklingelt. Die Schüler betreten den Kunstraum. Es ist sehr laut. Stühle fallen vom Tisch und krachen auf den Boden.
„Stellt euch erst mal alle auf und werdet leise. Ich möchte euch gerne begrüßen! Nein, jetzt noch kein Wasser holen! Erst mal aufstellen!“
Fünf Minuten später, es ist etwas leiser geworden.
„Guten Morgen Klasse fünf!“
„Guten Morgen Frau Zimmermann-Godecke!“
Lehrerin begeistert: „Kinder, schaut hinaus! Es ist Frühling! Und den wollen wir heute malen!“
Enttäuschtes Gemurmel.
Lehrerin etwas weniger begeistert.
„Dazu müsst ihr einen grünen Hintergrund malen und dann mit Gelb, Rot, Orange und Blau Farbtupfer in das Bild setzen. Wenn alles trocken ist, schneiden wir aus Glanzpapier die Schmetterlinge aus und kleben sie auf!“
Lehrerin zeigt Beispielbild hoch, das sie selber gemalt hat.
„Kann ich was Eigenes malen?“
„Darf man auch eine braune Wiese malen?“
„Ich finde meinen Block nicht!“
„Wieso müssen wir immer malen?“
„Was meinen Sie, Frau Zimmermann-Godecke, soll ich lieber den Haarpinsel oder den dicken Borstenpinsel nehmen?“
„Nimm lieber den Borstenpinsel, Max, für die Farbtupfer nimmst du dann den Haarpinsel!“
„Welche Farbe würden Sie mir empfehlen? Lieber das dunkle Blau oder das etwas hellere?“
„Ich würde das dunkle Blau empfehlen, dann kommt der Kontrast mit den Gräsern besser raus!“
„Ich finde meine Wasserfarben nicht!“
„Hast du schon in eurem Fach nachgeguckt?“
„Wir haben ein Fach???“
„Der Max hat einen Frosch in mein Bild gemalt. Geben Sie ihm endlich eine Strafarbeit!“
„Max, mal auf deinem eigenen Bild! Oh, der Frosch ist wirklich gut geworden. Den kannst du doch in der Wiese lassen!“
„Der Kevin hat bei mir auch was rein gemalt! Und das passt nicht zum Frühling!“
„Was hat er denn gemalt? Vielleicht passt es im weiteren Sinne ja doch!“
„Einen Schneemann!“
„Ich setze euch jetzt auseinander!“
„Aber ich will hier bleiben!“
„Ich auch!“
„Der Max setzt sich jetzt dahinten zu Emilia!“
„Neieieieieiein!!!“
„Ich habe mich jetzt für den kleineren Pinsel entschieden, aber ich komme nicht voran!“
„Du solltest doch den Borstenpinsel nehmen!“
„Aber der kleine Haarpinsel liegt besser in der Hand!“
„Dann nimm den kleinen Haarpinsel!“
„Muss der Hintergrund heute fertig werden?“
„Ja, sonst musst du das Bild mit nach Hause nehmen!“
„Aber ich habe so wenig Zeit ...!“
„Darf ich mal ganz schnell auf die Toilette?“
„Die Stunde hat doch eben erst angefangen. Du bleibst jetzt hier!“
„Frau Zimmermann-Godecke, der Alex trinkt sein Malwasser!“
„Alex, ab jetzt nur noch Filzstifte!“
„Frau Zimmermann-Godecke, Kunst ist mein Lieblingsfach!“
„Was meinen Sie, Frau Zimmermann-Godecke, könnte dieses Bild noch eine Eins werden?“
„Mal es erst mal fertig. Ich kann dazu noch nichts sagen!“
„Können Sie den Hintergrund für mich malen? Meine Hand tut so weh!“
„Hilfe, mein Pinsel verliert Haare! Bewerten Sie das mit?“
„Ich finde meinen Block immer noch nicht!“
„Dürfen wir mal nach draußen? Andere Lehrer gehen auch mit uns raus!“
„Nein, ihr habt jetzt Kunst!“
„Nie dürfen wir nach draußen!“
„Es ist doch so herrlich! Schauen Sie mal raus, es ist doch Frühling!“
Lehrerin schaut aus dem Fenster, sie fühlt sich elend, der Hals kratzt.
„Ihr habt ja recht, Kinder! Lasst uns auf die Wiese hinter der Schule gehen und den Tag genießen!“
Kinder stürmen fröhlich hinaus, der Lärm ebbt ab. Lehrerin folgt ihnen und blickt in den blauen Himmel. Ein Schmetterling landet auf ihrem Kopf, sie hört Vogelstimmen. Augenblicklich geht es ihr besser. Endlich Ruhe! Sie liebt den Frühling.
Langsam senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Glutrot ging die Sonne unter und ein eisiger Wind trieb schwarze Wolkenfetzen am Himmel entlang. Friedhelm saß am Steuer seines Autos und fuhr durch den Feierabendverkehr nach Hause. Nichts deutete darauf hin, dass heute ein besonderer Tag war. Es war alles wie immer. Auf den Straßen drängten sich die Autos. Die Straßenbahnen fuhren im zehn Minuten Takt und die Menschen drückten sich in die Läden und Kaufhäuser, um schnell noch etwas einzukaufen. Während Friedhelm sein Auto an einer roten Ampel anhielt, dachte er an das bevorstehende verlängerte Wochenende. Endlich konnte er sich vom Stress der Arbeit erholen. Drei Tage für ihn und seine Frau Bruni ohne die Tretmühle des Alltags.
Seit die Kinder aus dem Haus waren, hatten er und seine Frau enger zusammengefunden. Die beiden lebten ihr kleines glückliches Leben, arbeiteten die Woche über fleißig, fielen niemals auf und hatten wenig Kontakt zu ihren Mitmenschen.
Friedhelms Handy, das er achtlos auf den Beifahrersitz gelegt hatte, begann zu klingeln. Unwillig presste er sich das Telefon gegen das rechte Ohr, während er versuchte, den Wagen mit einer Hand in der Fahrspur zu halten. Er zuckte zusammen, als er die Stimme seiner Mutter hörte: "Hallo mein Junge, holst du mich am Wochenende ab", zwitscherte sie. Friedhelms Hände wurden schweißnass. Er hatte vergessen, dass am kommenden Wochenende seine Mutter zu Besuch kam. Dabei tat sie das jedes Jahr für vier Wochen. Immer zur selben Zeit. Stets im Frühling, wenn die Blätter an den Bäumen wieder hellgrün zu sprießen begannen, die Tage länger wurden, die Sonne abends viel später unterging und viele Menschen Frühlingsgefühle entwickelten.
Vielleicht hatte er diese Tatsache einfach verdrängt. Wie auch immer, seine gute Laune war wie weggeblasen und er hatte Mühe den Wagen zu steuern. Seine Mutter hatte eine penetrante Art, immer wieder von Ereignissen zu erzählen, von denen sie schon vor Jahren berichtet hatte.
„Deine Mutter ist senil“, hatte Brunhilde gesagt. Sie musste es wissen. Sie arbeitete im Altenheim. Aber das nütze Friedhelm wenig. Seine Mutter würde kommen, und mir ihr die vier schlimmsten Wochen des Jahres.
„Ich freu mich auf dich mein Junge“, flötete Mama und beendete das Gespräch mit einem wehmütigen Seufzer.
„Es ist jedes Jahr dasselbe“, murmelte Friedhelm verärgert, während er den Wagen beschleunigte. Seine Mutter würde sich auf der Couch breitmachen und ihm seinen gewohnten Platz vor dem Fernseher nehmen. Sie würde reden und reden und dabei alle Krankheiten durchnehmen, die sie im Laufe ihres achtzigjährigen Daseins offensichtlich überlebt hatte, ohne dass ihr Mundwerk dabei zu Schaden gekommen war.
Sie würde den Balkon und den Backofen zum Glänzen bringen und ihren legendären Gemüseeintopf kochen. „Das Fleisch muss gut angebraten werden und die Kartoffeln sollten nicht zu weich sein“, hörte er sie sagen. Sie strapazierte ihn jedes Mal mit einem unerschöpflichen Vorrat an guten Ratschlägen, die weder er noch seine Frau hören wollten. Wenn er später als sonst von der Arbeit kam, würde sie wie eine kleine verschüchterte Maus, steif vor Angst und Sorge, in seinem Fernsehsessel sitzen, ihn mit großen Augen ansehen und flüstern: „Ich dachte, dir ist etwas passiert.“ Und erst wenn er sie ausführlich über die Gründe seines Zuspätkommens aufgeklärt hatte, würde sie ins Bett gehen.
„Sie ist eine Glucke, und seit Vater gestorben ist, konzentriert sie sich auf mich“, murmelte Friedhelm ungehalten, während er den Wagen in die Garage fuhr, ausstieg und das Garagentor wütend mit einem lauten Knall schloss. Er wusste nicht, was er dagegen tun konnte.
Doch diesmal sollte alles anders kommen. Zwei Tage, nachdem seine Mutter angekommen war, und wie immer ihren angestammten Platz im Wohnzimmer eingenommen hatte, stand Brunhilde abends mit offenem Mund und vor Erstaunen aufgerissenen Augen vor der Couch, als er heimkam.
„Da“ stammelte sie und zeigte auf Friedhelms unbesetzten Fernsehkuschelplatz. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre blonden Haare standen vom Kopf ab. Sie schienen sich vor Entsetzen zu sträuben. „D … deine Mutter ist nicht da.“
„Hast du die Wohnung abgesucht, hast du bei der Nachbarin geklingelt?“, fragte Friedhelm.
„Natürlich, das habe ich sofort gemacht. Die Nachbarin hat sie heute noch nicht gesehen“, erwiderte Brunhilde.
„Ich habe die Verantwortung für sie, was soll ich nur tun?“, stammelte Friedhelm nervös und ging mit schnellen Schritten im Wohnzimmer auf und ab.
„Sie ist kein Kind mehr, sie ist für sich selbst verantwortlich. Vielleicht ist sie nur mal eben in die nächste Kneipe gegangen“, sagte Brunhilde, die sich wieder gefasst hatte, mit spöttischem Unterton. „Oder sie irrt in der Stadt herum und findet nicht wieder nach Hause“, ergänzte sie. „Bei uns im Altenheim kommt so etwas öfters vor. Neulich ist die Frau Berger …“
„Ich will das nicht wissen“, sagte Friedhelm energisch und hob abwehrend beide Hände in die Höhe.
„Ist auch nicht wichtig, Frau Berger ist in der Zwischenzeit verstorben. Dafür haben wir eine andere Frau die ...“
„Es reicht, wir wissen nicht, wie lange sie weg ist, wir wissen nicht, wo sie ist. Ich rufe die Polizei an“, sagte Friedhelm energisch und ging zum Telefon.
„Ist sie verwirrt?“, fragte der Polizist, der er nach längerem Warten endlich am Telefon war
„Ja, nein, ich weiß es nicht“, stammelte Friedhelm.
„Wenn sie bis morgen früh nicht da ist, benachrichtigen Sie uns noch einmal. Vielleicht sitzt sie irgendwo und amüsiert sich“, versuchte der Polizist, Friedhelm zu beschwichtigen.
„Aber sie kennt sich in der Stadt nicht aus“, sagte Friedhelm verzweifelt. Im Geiste sah er seine Mutter durch die Straßen irren, sah sie, wie sie frierend durch die Dunkelheit lief und seinen Namen rief. Vielleicht war sie von einem Auto angefahren worden, der Fahrer war geflüchtet und sie lag hilflos und verletzt auf einer einsamen dunklen Seitenstraße.
„Ich rate Ihnen, gehen Sie schlafen, sie wird bestimmt wieder zurückkommen“, sagte der Beamte und legte den Hörer auf.
Als am nächsten Tag der Morgen graute, erhob sich Friedhelm mit bleischweren Gliedern. Langsam tappte er durch die verwaiste Wohnung in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Seine Mama war immer noch nicht da und Brunhilde war bei der Arbeit. Mit der Kaffeetasse in der Hand ging er ins Wohnzimmer und sah sich unsicher, wie auf einen glücklichen Zufall wartend, um. Aber sein Fernsehkuschelplatz und ihr Zimmer waren nach wie vor leer.
Das Haus, in dem Friedhelm und seine Frau wohnten, war ein malerisches Mehrfamilienhaus inmitten der Altstadt. Ein großer Balkon mit einem verschnörkelten Eisengeländer zierte das braun-rote Backsteingebäude. Die Nachbarn kannten sich und halfen sich gegenseitig aus. Doch wer aus dem Haus ging, war nach ein paar Minuten in der brodelnden Großstadt. Nur ein paar Stufen musste man hinaufstiegen und danach eine kurze Strecke auf dem Kopfsteinpflaster zurücklegen, um in die nächste Wirtschaft zu kommen. Dicht daneben waren ein Stundenhotel und das Altenheim.
Das alles hatte Friedhelms Mutter bei ihren letzten Besuchen nicht interessiert. Doch diesmal war alles anders. Nur einmal war sie auf den Balkon gegangen, um sich umzusehen. Da hatte sie ihn bemerkt, diesen kleinen hageren, weißhaarigen Mann mit dem Stock und dem langen weißen Bart. Er stand auf der kleinen Grünfläche vor dem Haus und nickte ihr freundlich zu. Sie waren ins Gespräch gekommen.
„Ich heiße Friedrich, wohne im Altenheim und gehe jeden Tag auf ein Bierchen hier in die Kupferschmiede“, hatte er mit einem gewinnenden Lächeln gesagt.
Und als er fragte: „Wollen Sie mich begleiten, ich lade Sie ein“, stimmte sie spontan zu. Diese Frau gefiel Friedrich, sie war in seinem Alter und wie sie gesagt hatte, auch oft alleine. Und ihr Name war Gertrude … Trudchen, genauso hatte seine verstorbene Frau geheißen.
Gertrude hatte nicht gewagt, ihrem Sohn von der Einladung in die Kupferschmiede zu erzählen. Dazu kam sie sich zu alt und zu albern vor. Und so war sie einfach gegangen, hatte sich still und heimlich davongeschlichen wie ein ganz junges Ding, das seinem strengen Vater nichts von ihrem Rendezvous erzählen will.
Die Kupferschmiede war ein gemütliches Lokal mit großen Eichentischen und bequemen rot gepolsterten Sitznischen, umrahmt von Weinblättern aus Plastik, die sich an der Wand entlang hangelten.
Bruno, der Wirt, ein empfindsamer Mann, der das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen kannte, hatte das Lokal vor ein paar Jahren gepachtet. Er hatte zu all seinen Stammgästen ein gutes Verhältnis. Und für viele war er Sorgenbrecher und Beichtvater zugleich. Seine blauen Augen musterten jeden Gast genau. Und er bemerkte sofort, ob jemand hierhergekommen war, um sich einen netten Abend zu machen, oder um sich von etwas Unangenehmen, das ihn beschäftigte, abzulenken.
Friedrich kam seit einem Jahr regelmäßig jeden Tag, um seinem Alltag im Altenheim einen angenehmen Abschluss zu geben, wie er sagte. Er trank immer nur ein Bier und unterhielt sich mit ihm. Danach ging er wieder zurück ins „Altensilo“ wie er seine Unterkunft nannte. Doch noch nie war er in Begleitung einer Frau gekommen.
Bruno riss erstaunt die Augen auf, als das Pärchen die Wirtschaft betrat. Die Frau sah sich unsicher um, sie fühlte sich fremd. Aber Friedrich flüsterte ihr etwas ins Ohr und kurz danach blitzen ihre blauen Augen und sie musterte Bruno neugierig. Und jetzt lächelte sie. Sie war mollig und gut genährt, ihr von Falten durchfurchtes Gesicht und der graue Haarschopf ließen vermuten, dass sie das siebzigste Lebensjahr überschritten hatte.
„Oha, heute mal in Begleitung“, stellte Bruno überflüssigerweise fest, gab der Frau die Hand und begleitete die beiden zu Friedrichs Platz am Stammtisch.
Friedrich schien heute mehr Bier zu trinken als sonst. Eine Stunde nach seiner Ankunft hatte er schon das zweite Glas getrunken. Als Bruno ihm das Dritte brachte, sagte die Frau: „Das Fleisch muss gut angebraten werden, und die Kartoffeln sollten nicht zu weich sein.“
Friedrich nickte nur und nippte an seinem Glas. Auf irgendeine Art und Weise wirkte er gleichmütig, wie Bruno fand. Beim dritten Bier erkannte Friedrich, dass diese Frau immer dasselbe erzählte. Sie erzählte von ihrem verstorbenen Mann, sie sprach von ihrem Sohn. Und vom Essen. Solche Aspiranten gab es im Altenheim genug.
Das war nichts für ihn. „Gibt es in deinem Leben keine Höhepunkte? Was hast du noch vor, wovon träumst du?“ Fragte er und zog die Mundwinkel nach unten wie ein kleiner Junge, der nicht bekommen kann, was er möchte und deshalb schmollt. Gertrude sah ihn erstaunt an. Sie räusperte sich, ihr fehlten die Worte, was wirklich selten geschah. Nach einer langen Gesprächspause, in der sie mit gesenktem Kopf am Tisch saß und mit dem Zeigefinger das Muster der Tischdecke nachzog fragte sie: „Wovon träumst denn du?“ Und Friedrich begann zu reden.
Im Morgengrauen erwachte Bruno aus wirren Träumen. Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass er sich immer noch in seiner Wirtschaft befand und auf einem Stuhl saß. Sein Schädel schmerzte und seine Hand, die er als Stütze benutzt hatte, damit sein Kopf nicht auf den Tisch fiel, schmerzte ebenfalls. Bruno seufzte, streckte sich und sah sich um.
Auch Friedrich und Gertrude saßen immer noch am Stammtisch. Aber Friedrich war näher zu Gertrude gerückt und hielt ihre Hand. Beide sahen sich stumm in die Augen und es schien ihm, als ob sie sich ohne große Worte verstanden.
„Hei ihr Turteltauben, jetzt ist Zapfenstreich, geht nach Hause“, sagte Bruno und stand auf. Die beiden Alten, die in einer anderen Welt zu sein schienen, blickten erstaunt auf.
Friedrich reagierte als Erster. „Oh, anscheinend haben wir die Zeit vergessen“, sagte er, stand schwerfällig auf, hakte Gertrude unter und gemeinsam verließen sie, etwas schwankend, das Lokal.
Als Friedhelm am Abend dieses Tages nach Hause kam, saß seine Mutter wie immer auf seinem Fernsehkuschelplatz. Sie sah müde aus, ihre Augen waren kleine Schlitze und sie schien Mühe zu haben, nicht einzuschlafen.
„Schön, dass du da bist, Junge, ich habe dir etwas zu erzählen“, sagte sie.
Und Friedhelm fragte sich, ob diese Frau langsam senil wurde. „Ja, dann erzähl mir mal, wo du in der letzten Nacht gewesen bist. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, sagte er gereizt.
„Tut mir leid, ich hätte dich anrufen sollen, aber ich habe nicht daran gedacht“, antwortete sie.
„Du denkst doch Tag und Nacht an mich, zumindest hast du das immer gesagt“, warf Friedhelm ein.
„Ja, aber im Leben kann sich vieles ändern, auch noch in meinem Alter“, sagte Gertrude ausweichend. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Wenn sie darüber nachdachte, wie sie sich verhalten hatte, schämte sie sich. Aber nur ein wenig.
„Letztendlich bin ich für mich selbst verantwortlich, setz dich, und hör mir zu“, sagte sie dann energisch, und deutete mit dem Zeigefinger auf den Platz neben sich. Und Friedhelm setzte sich, froh, dass seine Mutter wieder da war, und er die Polizei nicht mehr rufen musste.
Er räusperte sich und wartete neugierig auf die Erklärung seiner Mutter. Friedhelm konnte sich vorstellen, dass sie sich verirrt und die Nacht in einem Obdachlosenasyl verbracht hatte. Er konnte sich vorstellen, dass sie … nein, mehr konnte er sich nicht vorstellen, wenn er ehrlich war.
Das, was sie ihm erzählte, konnte er kaum glauben. Sie hatte sich verliebt? In einen Mann aus dem Altenheim?
„Er heißt Friedrich? Er hat einen langen weißen Bart und sieht aus wie der Nikolaus? Der kommt an Weihnachten, falls du dich erinnern kannst“, bemerkte er skeptisch, als Gertrude mit ihrem Bericht zu Ende war.
„Es ist so, wie ich gesagt habe. Kannst du dir nicht vorstellen, dass auch alte Menschen das Bedürfnis haben, noch einen Partner zu finden?“, bemerkte seine Mutter mir rauer Stimme. Friedhelm wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er musste es akzeptieren, auch wenn er es nicht verstand.
Noch im selben Frühling zog Gertrude um. Sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Cover: Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0080-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gemeinsam schreiben wir gegen die Not der Tiere.
Unser Spendenziel sind Tiere in Not, Tiere, die aus der Tötung gerettet, ausgesetzt, unterernährt, krank und als verwahrlost aufgegriffen werden. Die Autoren verzichten auf jegliches Honorar, der Nettoerlös geht also vollständig als Spende an die Tierrettung „Arca Fabiana - Tierrettung Azoren e.V.“
Die Autoren:
Ingrid Alias, Rita Bittner, Heidrun Böhm, Roland Boehme, Ralf von der Brelie, Edge, Angela Ewert, Christof Finkler, Jasmin Frei, Doris Frese, Elisabeth Goetzens, Michaela Haidenthaller, Annelie Heyer, Phil Humor, Elke Immanuel, Martina Jud, Anneliese Koch, Elke Lehmann, Klaus-Rainer Martin, Dörte Müller, Marcel Porta, Sweder van Rencin, Robustus, Gitta Rübsaat, Manuela Schauten, Roland Schilling, GaSchu, Lisa Skydla, Klam Swietz, Ute Wunderling