Die Originalausgabe erschien im August 2016
bei BookRix GmbH & Co.KG als e-book
Der Nettoerlös dieses Buches geht ohne Abzüge an die
"Arca Fabiana - Tierrettung Azoren e.V."
Copyright © 2016 Gitta Rübsaat (Hrsg. und Mitautor)
Alle Rechte liegen bei den Autoren
Cover Illustration: ©Heike Helfen
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Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
so wie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Herbst
Elisabeth Zimmerer
Ich liebe diese Herbsttage,
wenn der Wald rotgrüngoldenblau brennt.
Ich liebe nebelhafte Gespinste über
sterbendem Beerengesträuch,
taunasse gilbende Gräser,
die lila Gesichter der Herbstzeitlose,
Silberdisteln am Wegrand.
Ich liebe den unwirklich blauen Himmel,
wenn die Sonne die sterbende Natur tröstet.
Ich liebe die Spatzenschelte in frostgequälten
Blüten.
Ich liebe das herbstliche Sterben mit der
Hoffnung auf ein Wiedererwachen.
****
Drachentanz
Enya Kummer
Es ist Oktober, ein sonniger Tag nahe dem Nordseestrand. Fast ist es, als wolle sich der längst vergangene Sommer noch einmal zurückmelden. Aber obwohl das Wetter herrlich ist, künden sich die Herbststürme bereits an. Ein starker Wind treibt die weißen Wolken scheinbar im Zeitraffer am Himmel entlang und verändert immer wieder das blaue Band, das sich endlos bis zum Horizont hinzieht. Das am Sommerende wehende, goldgelbe Korn, wellengleich in seiner Bewegung, ist lange geerntet. Doch das Goldgelb der Stoppelfelder hebt sich warm vom kühlen Blau des Himmels ab.
Die kleine Marie hüpft aufgeregt um ihren Vater herum, der gerade einen Drachen hinauf in dieses Blau schickt. Zusammen haben sie ihn zu Hause gebaut und mit hierher genommen auf das Feld, um ihn steigen zu lassen, ihm ein Stück Freiheit zu geben. Lustig sieht es aus, wie er seinen bunten Schwanz im Wind tanzen lässt, sich windet, scheinbar herabstürzt, um sich dann wieder im Aufwärtsschwung den weißen Wattewölkchen zu nähern.
„Ich will auch mal!“, ruft Marie aufgeregt und tippelt neben dem Vater her, der Mühe hat, den Drachen zu halten. Der Wind schwingt sich in Böen auf, ebbt ab. Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten. So zögert der Vater zunächst, Marie die Schnur zu überlassen. Doch dann wird es ruhiger, der Wind gönnt sich eine Pause.
„Aber gut festhalten!“, sagt der Vater zu dem Mädchen, als er ihm den Griff in die Hand drückt, an dem die Drachenschnur befestigt ist. Und wie Marie festhält! Mit beiden Händen umklammert sie die hölzerne Stange. Die Arme gestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, schaut sie dem Drachen zu, wie er fröhlich seine Kapriolen schlägt. Manchmal steht er still in der Luft, dann wieder wiegt er sich sanft hin und her.
Plötzlich frischt der Wind erneut auf und zerrt an der Schnur. Marie beginnt zu laufen, wird mitgezogen von der unsichtbaren Kraft.
„Warte!“, ruft der Vater, aber Marie hüpft über das Feld. Kleine Sprünge, sie wird mitgerissen und es sieht aus, als wolle sie sich auch in die Luft erheben. Auf wunderbare Weise scheint das Mädchen mit dem Drachen zu tanzen, leichtfüßig, wie von einer stummen Melodie geführt. Auf einmal aber schießt der Drachen empor, dreht sich ein paar Mal und steigt höher und höher. Marie sitzt am Boden, die leeren Hände nach oben gestreckt und schaut ihm hinterher.
„Flieg, flieg!“, hört der Vater sie rufen, als er herbeieilt.
„Warum hast du losgelassen?“, fragt er und kniet sich zu dem Mädchen hinunter.
Marie zögert und meint dann: „Ich glaube, er wollte es. Er hat so doll gezogen, da musste ich ihn einfach freilassen. Jetzt besucht er bestimmt die Wolken.“
„Vielleicht hast du recht“, meint der Vater, „aber schade ist es trotzdem.“
Beide schauen dem immer kleiner werdenden Drachen nach, wie er als bunter Punkt den Wolken scheinbar näher kommt.
„Ob er es wohl bis zur Sonne schafft?“, fragt Marie.
Der Vater schüttelt den Kopf. „Nein, meine Kleine, der Weg ist zu weit für ihn. Und er würde verbrennen. Du weißt, die Sonne ist sehr heiß.“
Marie nickt. „Aber er schafft es bestimmt bis über die Wolken. Und dann kann er die Sonne immer sehen, sogar im Winter.“
****
Wie ich unsichtbar wurde
Annelie Heyer
Langsam, ganz langsam wurde ich unsichtbar.
Erst fiel es mir nicht auf. Jahrelang nicht. Ich kann auch nicht sagen, seit wann ich unsichtbar wurde.
Es ist mindestens fünfzehn Jahre her.
Als ich neununddreißig Jahre alt wurde, gab ich im Freundes- und Bekanntenkreis kund, dass ich nun meine Generalbeichte ablegen wolle.
„Ach“, sagten sie, „warum denn das.“
„Weil ich meine, dass mit neununddreißig die Jugend vorbei ist. Nun muss es seriöser zugehen.“
Mit der Seriosität wurde es langsam auch langweilig und ich schob die Beichte noch drei Jahre hinaus.
Doch dann musste ich mich einer Unterleibsoperation unterziehen.
Von nun an ging’s bergab.
Eine Hormontherapie und das erfolgreiche Bemühen, nicht mehr zu rauchen, ließen die Pfunde klettern.
Ich hätte mir ein Pflaster auf den Mund kleben müssen, dass einzige, garantiert erfolgreiche Mittel zum Abnehmen.
Andererseits sah ich ganz schlanke, modisch gekleidete und wohl frisierte Damen meines Alters, in der Stadt promenieren.
Drehten sie sich herum und ich sah in faltige Gesichter, die so gar nicht zum übrigen Outfit passen wollten, fand ich das erst recht nicht schön.
Man muss zu seinem Alter stehen, ansonsten macht man sich leicht lächerlich.
Ich schloss Frieden mit dem Älterwerden und seinen weniger erfreulichen Seiten. Noch bin ich gesund, besuche ein, meinem Alter entsprechenden Fitnessclub und pflege mich, das muss sein.
Doch nun wurde ich unsichtbar.
Kein anerkennender Pfiff oder der gewisse Blick, den Männer so unnachahmlich senden - alles weg.
Nicht plötzlich, aber es fällt mir immer öfter auf.
Nun ja, jetzt kann man andere Dinge genießen:
Ein gutes Essen, ohne die Kalorien zu zählen, mit einem hervorragenden Wein dazu, ist auch nicht zu verachten.
Gemütlichere Schuhe, mit denen ich lange und ohne Fußbeschwerden laufen kann.
Weniger lange Abende in verräucherten Kneipen.
Ein wesentlich entspannteres Gespräch mit Männern, ohne die entsprechenden Antennen auszufahren.
Enkelkinder knutschen und den Ausruf: „Oma, hör’mal!“ genießen.
Die Erkenntnis wächst, jedes Alter hat seine guten und weniger guten Seiten.
****
Overthrill und Zuckerwatte
Roland Schilling
Als ich neulich in der Stadt einkaufen war, wurde ich auf einen Flyer aufmerksam. Er war von einem örtlichen Omnibusunternehmer. Sie boten eine Fahrt zum Münchner Oktoberfest an.
Ich wollte schon immer mal live den Bieranstich mit dem Oberbürgermeister der Stadt München und vor allem mit unserem Ministerpräsidenten sehen. Ich nahm den Flyer mit und beschloss, eine Familienkonferenz ein zu berufen.
„Familie,“ sagte ich, als ich sie alle versammelt hatte, „wir hatten schon lange keinen Familienausflug mehr.“ Während ich den Flyer auf den Tisch legte, fuhr ich fort. „Wie wär's mit dem Oktoberfest in München, nächsten Samstag.“
Mein Sohn David nahm den Flyer in die Hand. „Mit dem Bus?“, fragte er in einem Ton, als ob ich ihn mit dem Heuwagen vor der Disko absetzten wollte.
„Na, wir können auch eine Stretchlimo mieten“, antwortete ich.
„Au ja,“ rief meine Tochter Lena begeistert.
„Das war ein Scherz“, konterten mein Sohn und ich im Duett.
„Also“, fing ich an, ihnen die ganze Sache schmackhaft zu machen, „wir werden mit einem brandneuen luxuriösen Reisebus fahren. Er wird uns direkt an der Theresienwiese absetzen. Wenn wir mit dem eigenen Auto fahren würden, müssten wir außerhalb parken und dann schauen, wie wir irgendwie mit öffentlichen Verkehrsmitteln da hin kommen.“
Das hatte sogar meinen Sohn überzeugt. Er fand das Oktoberfest an sich schon cool und wollte auch mal den ultimativen Overthrill einer der Achterbahnen erleben, was immer das auch sein sollte. Meine Tochter wollte sich den Bauch mit Zuckerwatte voll stopfen, wie sie es ausdrückte. Na ja, wie viel Zuckerwatte kann schon in so eine Neunjährige rein passen. Und meine Frau erhoffte sich, einigen Prominenten zu begegnen. Die Sache war also beschlossen. Oktoberfest, wir kommen. Nächsten Samstag würden wir uns aufmachen, das weltweit größte Volksfest der Welt - O-Ton Reiseveranstalter - zu besuchen.
Am nächsten Samstag klingelte um 5 Uhr früh der Wecker. „Warum so früh, Frau?“, nörgelte ich in mein Kopfkissen, aus einem wunderschönem Traum gerissen, „der Bus fährt doch erst um Acht.“
„Willst du etwa aus dem Bett in die Klamotten springen, ohne duschen und ohne Frühstück? Und die Kinder müssen wir auch noch fertig machen!“, antwortete sie.
„Warum willst du denn die Kinder fertig machen? Sie haben doch nichts getan“, murmelte ich, noch immer schlaftrunken. Während meine Frau aufstand, drehte ich mich nochmal zur Seite. „So früh krieg ich sowieso kein Frühstück runter. Für mich nur einen Eimer Kaffee bitte,“ murmelte ich und gönnte mir noch die fünf Minütchen Schlaf.
Dann aber raffte ich mich auf. Schließlich war der Ausflug ja meine Idee. Was war ich nur für ein Vorbild für meine Kinder. Als ich mich zum Badezimmer aufmachte, sah ich meinen Sohn am Türstock lehnen. „Lena!“, sagte er nur und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Badezimmertür.
„Oje“, bemerkte ich, „das kann dauern.“
Mein Sohn stimmte mir stumm nickend zu. Meine Tochter legt sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Obwohl, oder gerade weil sie erst Neun ist. Da steht sie ihrer Mutter in nichts nach. Bevor nicht auch das letzte Härchen da sitzt, wo es sitzen soll, wird das Badezimmer nicht verlassen.
„Ich schau' mal. Was der Kaffee macht,“ teilte ich ihm meine weitere Vorgehensweise mit.
In der Küche hatte meine Frau bereits ganze Arbeit geleistet und ein reichliches Frühstück auf den Tisch gezaubert. Es tat mir ja Leid, dass sie sich so viel Mühe gemacht hatte, doch ich bekam so früh wirklich keinen Bissen hinunter. Nur das schwarze Gold des Morgens, meinen Kaffee.
Meine Frau warnte mich, dass ich vor Mittag wahrscheinlich nichts mehr zu Essen bekam und riet mir, doch wenigstens ein Brötchen für die Fahrt einzupacken. Doch ich lehnte ab. Ein echter Mann hält so was aus.
Als wir fertig waren, machten wir uns auf den Weg zum Busbahnhof, wo der Reisebus uns bereits erwartete. Pünktlich um Acht fuhr er los. Der Busfahrer begrüßte uns, erzählte einige Fakten über das Oktoberfest, teilte uns mit, wo und wann wir uns bei der Abfahrt wieder treffen sollten, erinnerte uns daran, dass Samstag war und die Geschäfte zu einem Einkaufsbummel einluden, bemerkte noch, dass er Snacks und Getränke während der Fahrt zum Verkauf anbot und wünschte uns noch einen schönen Tag auf dem Oktoberfest.
Das mit den Snacks hätte er lieber nicht sagen sollen. Eine Stunde nach Fahrtantritt meldete sich mein leerer Magen. Ich rutschte nervös auf meinem Sitz hin und her. Meine Frau fragte, was ich hätte.
„Ich hab Hunger“, antwortete ich.
„Na, dann geh vor und hol dir was!“, befahl sie.
Ich ging nach vorne und holte mir einen Schokoriegel. Ich kam ziemlich missmutig wieder zurück. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte meine Frau, als sie meine finstere Mine sah.
„Zwei Euro hat er dafür verlangt“, sagte ich und hielt ihr den Schokoriegel unter die Nase.
„Na, dann iss ihn schnell, bevor du zur Diva wirst!“, lachte sie. Sie spielte damit auf einen Werbespott im Fernsehen an, aber sie hatte ja Recht. Nächstes Mal würde ich auf sie hören und mir was von zu Hause mitnehmen.
Kurz vor 10 Uhr kamen wir dann in München an. Der Busfahrer erinnerte jeden noch einmal daran, wann wir uns hier wieder einzufinden hätten.
Um 12 Uhr sollte der Anstich sein. Genug Zeit also, um gemütlich in Richtung des Zeltes zu schlendern, in dem das Ereignis stattfinden sollte. Dort angekommen, sahen wir schon eine enorme Menschenmenge, die sich vor dem Zelt versammelt hatte.
„Vielleicht haben sie noch nicht geöffnet“, mutmaßte meine Frau.
Doch als wir uns näherten, sahen wir den Grund des Menschenauflaufs. Ein großes Schild klärte uns auf: „Wegen Überfüllung geschlossen.“
„Na, sauber“, sagte ich, „Und jetzt?“
„Shopping!“ kam postwendend die Antwort meiner Tochter. Wir mussten ihr zustimmen. Es machte keinen Sinn, von jetzt, bis spät Abends auf diesem Festplatz rum zu lungern. Wenn wir schon mal in München waren, konnten wir uns auch mal die Stadt ansehen.
Wir verließen also die Wiesn und machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Mein Sohn blieb am Bordstein stehen und sah nach links und rechts und wieder nach links. Ich wusste nicht, wonach er schaut und fragte ihn deshalb.
„Wartest du, bis der gestrige Tag vorbei kommt, oder was?“
„Ich schau nach einem Taxi“, war seine Antwort. „Ein Taxi“, rief ich, „wozu hat dir der Herr zwei gesunde Beine gegeben? Wir laufen.“
Ich fand, der kurze Abstecher in die Stadt war eine gute Idee, doch für meine beiden Damen musste der Bummel durch die Kaufhäuser die Hölle gewesen sein. Alles, was sie kaufen wollten, müssten sie ja bis zum Abend mit sich herumschleppen.
Jedenfalls sahen wir den Bieranstich dann doch noch live. Auf einem Großbildfernseher in einem Kaufhaus.
Als wir unseren Stadtausflug beendet hatten, gingen wir zurück zur Wiesn. Mein Sohn wollte endlich mit der Achterbahn fahren. Meine Tochter war noch zu klein dafür, was uns eine Messlatte am Eingang verriet. Also stellten nur mein Sohn und ich uns der Gefahr, wie echte Männer. Kaum hatte ich mich in den engen Sportsitz eingefädelt, schloss sich der Sicherheitsbügel mit einem beängstigenden zischenden Geräusch.
Was ich nicht wusste war, dass das keine herkömmliche Achterbahn war, bei der die Wagen ruckelnd auf eine Anhöhe gezogen wurden, um sich dann todesmutig in die Tiefe zu stürzen. Nein! Dies war eine so genannte Katapultachterbahn. Bei der wirst du abgeschossen, so schnell schaust du nicht. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Beschleunigung beim Start der Wagen drückte mich dermaßen in die Rückenlehne, dass ich dachte, man würde uns auf den Mond schießen. Ich wusste nicht, wie viele Schrauben, Wellen oder Loopings wir durchrasten. Ich wusste nicht, was oben und unten war. Ich wusste noch nicht einmal mehr, in welcher Stadt wir uns befanden, als die Wagen so abrupt bremsten, dass ich dachte, der Sicherheitsbügel würde mir einige Rippen brechen.
Als ich ziemlich benommen und umständlich ausstieg, lachte mein Sohn.
„Na wie war's?“, wollte er wissen.
„In so ein Höllending kriegst du mich mein ganzes Leben nicht mehr rein!“, antwortete ich.
Doch zum Ausruhen war keine Zeit. Denn schon hatte mich meine Tochter an der Hand und zerrte mich zur gegenüber liegenden Geisterbahn. In diesem Fahrgeschäft schloss sich der Bügel nicht zischend, man musste ihn manuell schließen.
„Wenigstens werden wir da nicht rein geschossen“, bemerkte ich, als wir auch schon in die Finsternis der Schattenwelt eintauchten.
Bei jedem gruseligem Pappkamerad, der uns entgegen sprang, stieß meine Tochter einen gellenden Schrei aus. Dabei hielt sie die ganze Zeit meine Hand. Am Ende dachte ich, meine Hand wäre in einen Schraubstock geraten.
Endlich waren unsere Seelen erlöst und der von einem Teufel geschobene Wagen hielt polternd an der frischen Luft des Oktoberfestes.
„Ich will noch mal!“, rief meine Tochter begeistert, als wir das Fahrgeschäft verließen.
„Aber du hattest da drin doch Angst“, entgegnete ich, während ich meine Hand schüttelte, um wieder etwas Gefühl rein zu kriegen.
„Nö“, antwortete sie.
„Aber warum hast du dann geschrien wie am Spieß?“
Sie lächelte, „Na, weils Spaß gemacht hat.“ Weibliche Logik, sag ich da nur.
Aber es gab ja noch so viel zu sehen. Meiner Tochter kaufte ich noch ihre Zuckerwatte, meinem Sohn Popcorn, meiner Frau ein Lebkuchenherz mit irgendeinem sinnfreien Spruch und mir eine 500g Tüte gebrannte Mandeln. Ich brauche immer gebrannte Mandeln, wenn ich auf einer Kirmes bin. Das ist ein Naturgesetz.
Dann betraten wir den Himmel der Bayern. So jedenfalls stand es auf einem großen Schild über der Bühne des Festzeltes. Es war eines der wenigen Zelte, die nicht wegen Überfüllung geschlossen waren, aber es herrschte doch ziemliches Gedränge. Mühsam kämpften wir uns durch die Reihen, als ich eine Gruppe Jugendlicher sah, die Anstalten machten, ihren Tisch zu verlassen.
„Da wird was frei!“, teilte ich meiner Familie mit und lotste sie zu dem frei werdenden Tisch. Ein sich im mittleren Alter befindliches Paar verblieb noch sitzen, deshalb fragte ich höflich, ob diese Plätze noch frei seien.
„Jo, freili!“, war die Antwort des stilecht in Lederhose, Trachtenjacke und Gamsbarthut gekleideten Mannes. Seine Frau im feschen Dirndl, lächelte uns freundlich zu, während wir Platz nahmen.
Die Bedienung nahm die leeren Krüge unserer Vorgänger mit und unsere Bestellung auf. Ich bestellte zwei Maß Bier für mich und meine Frau, eine Maß Spezi, also das beliebte Cola-Orangensaft Mischgetränk, für meinen Sohn und eine Limo für meine Tochter.
Erstaunlich kurze Zeit später kam sie mit einer enormen Menge Maßkrüge im Arm zurück und stellte diese knallend auf den Tisch, während sie mir die Summe, die ich für die Getränke zu zahlen hätte, ins Ohr brüllte. Inzwischen schleuderte nämlich die Kapelle auf der Bühne ein ohrenbetäubendes 'Prosit der Gemütlichkeit' durchs Zelt. Ich blätterte die Euros auf den Tisch, die wir sonst nicht mal in einer Woche für Getränke ausgaben.
Nachdem sie uns unsere Getränke hingeschoben hatte, nahm sie den Rest der Maßkrüge wieder an sich, um sie an andere Gäste zu verteilen. Auch unser bayuwarischer Sitznachbar hatte eine frische Maß erhalten und prostete uns zu. Klirrend begegneten sich unsere Krüge und der erste Schluck kühles Oktoberfestbier rann unsere Kehlen hinab.
Inzwischen hatte ein weiteres Paar, das eindeutig dem schwäbischem Volksstamm zu zuordnen war, die noch verbleibenden zwei Plätze an unserem Tisch entdeckt und nahm Platz. Die Kapelle spielte deutsche Schlager aus längst vergangenen Tagen, wahrscheinlich um das Zelt von den ganzen Jugendlichen zu befreien, denn auch meine Kinder wollten sich lieber noch mal den Festplatz ohne ihre Erziehungsberechtigten ansehen.
Nach einem erneutem „Prosit der Gemütlichkeit“ verabschiedete sich die Kapelle in eine kurze Pause. Die Bedienung kam mit einem Arm voll leerer Krüge und einem „Kim glei!“, das an die Neuankömmlinge an unserem Tisch gerichtet war, vorbei gehuscht.
Wenig später kam sie dann wieder vorbei, um die Bestellung der beiden Schwaben auf zu nehmen. Der Mann orderte eine Maß Bier und seine Frau fragte ganz freundlich: „Ham se au a Glas Wasser?“
Mein bayrischer Nachbar lachte schallend. „Wennst a Wasser saufn willst, gehst and Isar,“ meinte er.
Seine Frau knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite, womit sie ihm wohl zu verstehen gab, dass er sich mit seinen Äußerungen etwas zurück halten sollte. Die Schwäbin tat aber so, als hätte sie diese Bemerkung überhört.
Schließlich hatte die Kapelle ihre Pause beendet und kam als Rockband wieder. Einige hatten ihre Blasinstrumente gegen E-Gitarren ausgetauscht und kündigten an, dass sie nun einige Songs der 'Spider Murphey Gang', einer Münchner Band, spielen werden. Schon als die ersten Klänge des Gitarrenintros von „Skandal im Sperrbezirk“ das Zelt erbeben ließen, standen die ersten Gäste auf den Bänken und klatschten im Rhythmus mit.
Auch meinen bayrischen Freund, der anscheinend schon einigen dieser Maßkrüge den Garaus gemacht hatte, hielt es nicht länger auf seinem Sitz. Umständlich kletterte er auf die Bank und klatschte und stampfte zum Takt der Musik, dass ich dachte, gleich würde die Bank durchkrachen und wir würden Bekanntschaft mit dem harten Bierzeltboden machen. Doch bayrische Bierbänke halten anscheinend einiges aus.
Inzwischen kamen auch unsere Kinder zurück. Meine Tochter hatte Glück an der Losbude, sie hatte eine Captain Kitty Plüschfigur im Arm. Sie setzte die weiße Stoffkatze vor sich auf den Tisch. Als mich der Typ mit seiner Augenklappe, dem Knopfauge und dem aufgestickten Lächeln angrinste, kam mir der Kerl irgendwie suspekt vor. Irgendwoher kam er mir bekannt vor, ich wusste nur im Moment nicht woher.
Außerdem waren sie noch mal in der Geisterbahn. Ich erkannte es daran, weil mein Sohn seine Hand schüttelte, um wieder Gefühl rein zu bekommen Als die Band „Sommer in der Stadt“ spielte, standen fast alle Gäste auf den Bänken und sangen oder lallten - je nach Verfassung - den Song mit. Schräg gegenüber von uns tanzten sogar zwei junge Damen in feschen Minidirndln auf dem Tisch. Ein Blick von meiner Frau sagte mir aber, dass mich die zwei bayrischen Grazien nicht weiter zu interessieren hätten.
Außerdem war es schon ziemlich spät und wir mussten uns auf den Weg machen, wenn wir den Bus nicht verpassen wollten. Als wir das Zelt verließen, spielte die Band, wie zum Abschied, noch einmal das „Prosit der Gemütlichkeit“. Nur diesmal in der Hardrockversion.
Ein letztes Mal schlenderten wir über den nun bunt glitzernden und leuchtenden Festplatz, der in eine vielstimmige Melodie getaucht war. Wir stiegen in unseren Bus ein, der uns sanft nach Hause schaukelte. Unsere Kinder waren so müde, dass sie gleich in ihre Zimmer verschwanden, während meine Frau und ich den Tag noch bei einem Glas Wein Revue passieren ließen.
Dann gingen auch wir zu Bett. Und ich träumte noch lange von 'Overthrill und Zuckerwatte'.
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Im Spätherbst am See
Matthias März
Mir war schlecht. Ich war so etwas von wütend, nachdem ich das in der Zeitung gelesen hatte. Sie hatten es tatsächlich getan. Der Rat der Stadt hatte beschlossen, dass unser See vernichtet werden soll. Eigentlich war es gar kein See, sondern nur ein besserer Teich, man konnte ihn locker durchschwimmen, auch längs. Er erstreckte sich circa vierhundert Meter in der Länge und war nur achtzig Meter breit. Zusammen mit seinen vier Nachbarn bildete er jedoch ein recht ansehnliches Areal, umgrenzt von dem Überflutungsgebiet des Flusses.
Es war ein Naturparadies, dort konnte man sich vom hektischen Stadtleben erholen. Kinder tollten hier auf den Wiesen herum oder fingen Frösche, um sie gleich danach wieder freizulassen. Der mittlere der Teiche war der Beliebteste. Sein Wasser war besonders klar, aus unbekannten Gründen mieden Enten und andere Wasservögel ihn. Hier hatte ich ein Großteil meiner Kindheit verbracht, hatte mich das erste Mal mit Sonja getroffen und später, als ich älter war, immer mit meinen Kumpels den Vatertag gefeiert.
Jetzt sollte das alles zu Ende sein. Das ganze Gelände sollte geflutet werden, um einen „richtigen“ See zu schaffen.
So einen für Schicki-Micki-Leute mit Uferpromenaden, Tretbootverleih, Ausflugsdampfern und Ständen,
wo diese Typen Champagner oder Austern schlürfen konnten. Für Natur war da kein Platz mehr.
Die Pläne für das Projekt lagen bereits seit vier Jahren auf dem Tisch, viele von meinen Freunden und ich hatten bis zuletzt gehofft, dass es nicht dazu kam. Jetzt war alles zu spät. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende kam mir irgendwie bekannt vor.
„Hallo“, sagte sie zunächst nur und dann: „Weißt du noch, wer ich bin?“
Ich war mir nicht sicher, aber antwortete spontan: „Sonja?“
„Richtig geraten! Na, dann hast du mich ja doch nicht vergessen, nach so vielen Jahren. Ich hatte deine Nummer noch und habe es einfach mal versucht. Du wohnst immer noch in der gleichen Wohnung?“
„Ja, aber jetzt alleine. Meine Mutter ist vor zwei Jahren in ein Pflegeheim gezogen.“
„Oh, das tut mir leid. Ja, die Zeit vergeht. Ich musste eben gerade an dich denken, als ich Zeitung las.“
„Die Sache mit dem See? Stell dir vor, du kamst mir dabei auch sofort in den Sinn.“
„Das war eine wunderschöne Zeit damals, das kommt nie wieder. Und jetzt wird alles zerstört, nur aus Profitgier.“
„Wohl wahr. Leider konnten wir nichts dagegen tun. Sag mal, Sonja, hast du Lust, dich mit mir zu treffen? Ich lade dich auf einen Kaffee ein.“
Natürlich hatte sie Lust. Schon fünf Stunden später saßen wir in dem kleinen Bistro am Marktplatz.
Meine damalige Freundin genoss einen Latte Macchiato, ich hatte – nach einem verwunderten Blick der Bedienung – einen ganz normalen Kaffee bekommen. „So bist du, Thomas!“, stellte Sonja fest und ergänzte: „Gradlinig, konservativ, ohne Schnörkel, wie damals.“
„Das hat mir im Leben aber viel genützt.“
„Ich sage ja auch nicht, dass das verkehrt ist. Darum habe ich mich damals in dich verliebt, Tommy.“
Ich errötete. Umso mehr bedauerte ich es jetzt, dass unsere Beziehung auseinander gegangen war. Ich Idiot hatte damals mit Iris angebandelt, dieses zwar eine hübsche aber hinterhältiges Luder aus der Parallelklasse. Sonja bekam das natürlich mit und Aus war es mit uns. Aber manchmal macht man im Leben Fehler, die man später bereut. Sie erzählte mir, dass sie studiert hatte und seitdem als Rechtsanwältin arbeitet. Erst vor fünf Jahren war sie in unsere Stadt zurückgekehrt, ich hingegen hatte meine Heimat nie verlassen.
„Ich habe eine verrückte Idee, Thomas“, sagte Sonja und flüsterte: „Lass uns zum See fahren, aber nicht zum Nacktbaden.“ Ich lachte, denn dafür war es wirklich zu kalt, so schön das auch damals war. Wir hatten Mitte November und es hatte die ersten Nachtfröste gegeben. Aber es war sehr reizvoll, sich noch einmal unseren See anzusehen, selbst im Herbst.
Kurzerhand tranken wir aus, ich bezahlte und wir machten uns auf den Weg zu unserem Paradies, das schon bald keines mehr sein würde. Im Auto bemerkte Sonja: „Es war mir klar, dass du einen Mercedes fährst, Thomas. Das passt!“
Immer wieder fand sie die richtigen Worte. Und sie hatte auch noch Recht, ich war sehr altmodisch.
Wir benötigten eine knappe halbe Stunde, bis wir beim See am Rande unserer Stadt angekommen waren. Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz ab. Wütend erblickten wir dort die ersten Baustellenschilder. Eine Zeichnung stellte dar, wie es hier schon bald aussehen würde.
„Ich möchte wissen, wann die das hier aufgestellt haben, wenn der Ratsbeschluss doch erst gestern war“, sagte ich und Sonja ergänzte:
„Und ich möchte wissen, wie die die Genehmigung von der Naturschutzbehörde bekommen haben. Da sind bestimmt irgendwelche Gelder geflossen.“
Arm in Arm gingen wir den schmalen Trampelpfad entlang, der zum mittleren der Teiche führte. Jetzt im Herbst war es natürlich nicht so traumhaft wie Frühling oder im Sommer. Aber auch diese Jahreszeit hatte ihre Reize, auch wenn die Bäume schon fast all ihre Blätter verloren hatten.
Nun standen wir am Ufer und blickten zur anderen Seeseite.
„Die haben schon die ersten Bäume gefällt, diese Schweine“, rief Sonja verärgert.
Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ich glaube nicht, dass das mit den Baumaßnahmen zusammenhängt. Das wäre völlig sinnlos und würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Außerdem musst du dir mal die Flächen der Baumstümpfe ansehen. An einigen Stellen hat sich bereits Moos gebildet. Das sind keine frischen Fällungen!"
„Stimmt, das klingt logisch. Ich stimme dir zu.“
Sie setzte sich auf den linken Stumpf und seufzte: „Zu dumm, dass ich Familienrechtlerin bin und mich mit Naturschutz nicht so gut auskenne. Sonst hätte ich vielleicht doch noch einen Dreh gefunden, das Projekt zu stoppen. Weißt du übrigens, wer da Expertin ist?“
„Na, sag schon!“
„Iris Domeyer, geborene Müller, deine Ex.“
„Ex ist übertrieben, wir waren gerade einmal drei Monate zusammen.“
„Das hat für mich gereicht. Aber ich habe garantiert keinen Bock, diese doofe Kuh anzurufen.“
„Ich auch nicht. Aber ich habe eine andere Idee. Kannst du dich noch an Bernd erinnern?“
„Dieser kleine Dicke mit der komischen Nase und der Hornbrille? Na
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: BookRix-Gemeinschaft Gruppe Biografisches
Bildmaterialien: Heike Helfen, Design
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6720-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
26 Autoren schrieben für einen guten Zweck:
Rita Bittner, Heidrun Böhm, Ralf von der Brelie, Angela Ewert, Doris Frese, Annelie Heyer, Phil Humor, Silvia Hunziker, Anneliese Koch, Sieglinde Koch, Enya Kummer, Martina Laurenz, Elke Lehmann, Matthias März, Martina Pawlak, Marcel Porta, Willy Rencin, Gitta Rübsaat, Manuela Schauten, Stephanie Schauten, Roland Schilling, Helga Schmiedel, GaSchu, Lisa Skydla, Ute Wunderling, Elisabeth Zimmerer.