*Einen Sommer lang*
Geschichten und Gedichte
Gitta Rübsaat (Hrsg.)
Autoren – Anthologie
Gemeinsam gegen Tiere in Not
Unser Spendenziel sind Tiere in Not, Tiere, die aus der Tötung gerettet, ausgesetzt, unterernährt, krank und als verwahrlost aufgegriffen werden.
Die Autoren verzichten auf jegliches Honorar, der Nettoerlös geht also vollständig als Spende an die „Arca Fabiana - Tierrettung Azoren e.V.“
Allen Autoren ein herzliches Dankeschön und unser besonderer Dank gilt Heike Helfen, die uns das von ihr entworfene und gemalte Coverbild ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt hat.
Die Originalausgabe erschien im September 2015
bei BookRix GmbH & Co.KG als E-Book
Copyright © 2015 Gitta Rübsaat (Hrsg. und Mitautor)
Alle Rechte liegen bei den Autoren
Cover Illustration: ©Heike Helfen
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autoren zulässig. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen, so wie das Speichern und Verarbeiten in elektronischenSystemen.
©Rita Bittner, ©Klaus Blochwitz, ©Heidrun Böhm,
©Roland Boehme, ©Heike Brands, ©Ralf von der Brelie,
©Angela Ewert, ©Doris Frese, ©GaSchu,
©Markus B. Hedstroehm, ©Annelie Heyer,
©Phil Humor, ©Silvia Hunziker-Suter, ©Anneliese Koch,
©Andrea Kochniss, ©Enya Kummer, ©Elke Lehmann,
©Ute Look, ©Matthias März, ©Martina Pawlak,
©Christa Philipp, ©Harry Reinert, ©Sweder von Rencin,
©Gitta Rübsaat, ©Katja Rübsaat, ©Manuela Schauten,
©Roland Schilling, ©Sabine Simon, ©Christine Singh,
©Summerfun, ©Rebekka Weber, ©Ute Wunderling
Coverbild: Heike Helfen
Sommer - Sabine Simon
Nein, doch nicht DEN?! - Gaschu
Sommer-Loch-Ness - Phil Humor
Der eiskalte Hammelbraten - Annelie Heyer
Der Kunstsommer - Angela Ewert
Mein Sommer mit Jiri - Enya Kummer
Sommerzeit - Heike Brands
Endlich Sommer - Harry Reinert
Grenzenlos … Sommer 2006 - Elke Lehmann
Ein Sommer mit Opa - Anneliese Koch
Die Macht der Sonne - Harry Reinert
Eine Sommerliebe - Gitta Rübsaat
Ein schöner Tag im August - Martina Pawlak
Sanfte Brise - Manuela Schauten
Eine traumhafte Wanderung - Doris Frese
Sommerflausen - Ralf von der Brelie
Vibrationen - Ute Look
Bayern war lecker - Rita Bittner
Strandpiraten - Roland Schilling
Ein Trollinger Urlaub - Heidrun Böhm
Mauersegler - Christine Singh
WAAHNSINN - Katja Rübsaat
Italien ich komme… Annelie Heyer
Schnee im Juli - Manuela Schauten
Sommertage in Paris - Enya Kummer
Herzklopfen im Radio! - Ute Wunderling
Ein Platz an der Sonne - Gitta Rübsaat
Sommerplausch am See-Silvia Hunziker - Suter
So etwas wie Liebe - Christa Philipp
Die Macht des Sommers - Phil Humor
Der Abend am See - Manuela Schauten
Der Juniabend, an dem Oma Martha starb - Rebekka Weber
Die Zeit mit Chelsea - Matthias März
Rentnerurlaub - Sweder von Rencin
Sonnenfinsternis - Christa Philipp
Der kleine Apfelbaum - Harry Reinert
Sommermärchen - Ute Wunderling
Mein Tunesien - Rebekka Weber
Zickenkrieg im Schullandheim - Gitta Rübsaat
Wilde Erdbeeren - Rita Bittner
Eine unwiederbringliche Stunde - Angela Ewert
Der mühsame Weg zum Triumph - Christine Singh
13. Juli 1985 - Andrea Kochniss
Der Eine des Anderen Feind? - Roland Boehme
Sommer, Sonne, Strand und Chaos - Summerfun
Ein Kamel im Schlafzimmer - Anneliese Koch
SOMMER - Harry Reinert - Lächeln - Ute Look
Ein kleines Stückchen Himmel - Heidrun Böhm
Sommerurlaub am Gardasee - Doris Frese
Ferien auf einem Gestüt - Klaus Blochwitz
Der letzte Sommer - Enya Kummer
Fernweh - Manuela Schauten
Sommer Ade - Annelie Heyer
Im Sommernachtstraum - Phil Humor
Mein griechischer Sommer - Ute Wunderling
Fernweh - Manuela Schauten
Sommer Ade - Annelie Heyer
Bleichst mein Haar
entdeckst meine Sommersprossen
kitzelst meine Haut
hab deine Hitze genossen
streichelst mich sanft
umhüllst mich mit Wärme
setze die Segel verlasse die Ferne
bin dir so nah
kann den Luftzug spüren
ein Gewitter zieht auf
als wir uns berühren
vom Blitz getroffen höre ich den Donner
und fühle genau
Du bist mein Sommer
„Nein, das ist doch nicht wahr, doch nicht den? Sagt, dass Ihr mich nur veräppeln wollt?“, entsetzt sehe ich meine beiden Freundinnen Susy und Maja an. Mein Gesicht spiegelt mit Sicherheit die Panik wieder, die langsam in mir aufsteigt. Doch die beiden biegen sich nur vor Lachen und nicken wie verrückt mit den Köpfen.
Vorsichtig sehe ich noch mal in die Richtung, wo dieser unsägliche Kerl steht, dieser widerliche Angeber und Großkotz, den ich schon die gesamten drei Tage, die wir Mädels hier am Ballermann sind, hasse und dem ich aus dem Weg gehe, wo ich nur kann. Ständig hat er versucht, einen auf Gentleman zu machen und mir zugenickt und mich angelächelt, immer mit einem Gesicht, das keine Niederlage zu kennen schien, aber nicht mit mir! Was bildet der sich ein?
Während ich noch meine, ihn heimlich zu beobachten, dreht er sich mir komplett zu, breites Siegerlächeln im Gesicht und dann hebt er lässig seinen Arm zum Gruß, winkt mir dreist zu und - ja - jetzt wirft er mir auch noch eine Kusshand zu. Eingebildeter Fatzke!
Ich laufe rot an, natürlich nur vor Wut.
„Ich muss ins Hotel, bitte, Mädels, lasst uns zurück gehen, ja?“, flehend sehe ich meine beiden Lieben an, aber die schütteln erbarmungslos den Kopf und Susy sagt, „Schatz, das hast du dir mit deiner Trinkerei eingebrockt, nun sieh mal hübsch zu, wie du da rauskommst. Wir können uns doch nicht den Rest des Urlaubs im Hotel verstecken, nur weil du hier jeden Idioten küsst, wenn wir nicht auf dich aufpassen!“ Vorwurfsvoll sehen mich beide an.
Was ist denn bloß gestern Abend passiert? Ich kann mich an nichts erinnern und mein Kopf tut sowieso noch weh, kann mir mal bitte jemand helfen, mich zu erinnern? Die Gedanken in meinem Kopf kreisen von mir zu ihm und wieder zurück. Niemals, denke ich, niemals habe ich DEN geküsst?! Das würde ich doch bestimmt noch nicht mal machen, wenn er der letzte Mann auf der Erde wäre?!
Stöhnend packe ich mir an den Kopf. Maja, die etwas mitfühlender ist als Susy, sieht mich nun doch mitleidig an.
„Hier“, sie reicht mir ein Kühlpack, das ich mir dankbar auf die Stirn lege und dabei schnell die Augen schließe.
Am besten schlafe ich erst einmal etwas, beschließe ich für mich und lege mich flach auf die Liege, schön im Schatten, damit ich nicht verbrutzele, auf der Stirn das Kühlakku ... ja, das tut gut, langsam fühle ich mich besser.
„Er kommt auf uns zu“, zischt Susy mir plötzlich ins Ohr, „Mach was! Schick ihn weg, hörst du? Ich will nicht jetzt die ganze Zeit so‘nen blöden Angeber im Schlepptau haben, nur weil du, wenn du Alkohol trinkst, wie im Fieberwahn handelst, alle Kerle durch die rosarote Brille siehst, mit denen von Mondschein faselst und die Parkbank suchst!“ - „Susy, bitte, ich war doch nicht mit dem wirklich weg?“
Mein Herz setzt fast aus.
Nun sehen mich die Zwei wirklich mitleidig an. Das ist ja noch schlimmer als ihre Neckerei! Oh Gott, das kann doch nur bedeuten, dass ich….Ich will diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken!
Und während ich noch grübele, kommt dieser Mensch ganz lässig näher, die Brust stolz geschwellt, den Kopf erhoben, allen Weibern am Strand im Vorbeigehen zuzwinkernd.
Ich sehe ihn mir genauer an, naja, es gibt Kerle, die schlechter aussehen. Das muss ich zugeben, aber seine arrogante Art, die ist unbeschreiblich abtörnend, noch nie konnte ich solche Männer leiden, ehrlich, noch nie!
Braun gebrannt ist er, groß, braune Haare und freche Augen … huch, nu‘ hat er gemerkt, dass ich ihn heimlich beobachte! Verständnisvoll zwinkert er mir zu und grinst wissend. Verflixt, warum werde ich nun schon wieder rot? Warum macht unser Körper nie das, was unser Verstand will? Mein Verstand will nun unbedingt, dass ich blass und vornehm-edel aussehe, arrogant und hochmütig wie eine Edle von und zu … und mich nicht verhalte wie ein kleines Bauernmädel, rot anlaufe, bloß weil der gnädige Herr mir zuzwinkert.
„Hallo Lisa!“ Er steht vor mir und seine Stimme ist, - wow - ich kann es nicht beschreiben ... Gänsehaut läuft mir über den Körper, mein Kopf ist eine Tomate, er wird sicher gleich platzen, mein Herz, es stolpert! Hilfe!!!
Ich bin bestimmt plötzlich krank geworden? Habe ich Fieber?
Oder stehe ich kurz vor einem Herzinfarkt? Was ist mit meinem Kopf los? Ich kann nicht mehr denken. Dabei habe ich doch sonst den Ruf, eine kühle Schönheit zu sein, die durch nichts zu erschüttern ist? Natürlich mal abgesehen von den Ausrastern, wenn ich Sekt trinke, hust … hätte ich doch gestern Abend das Glas Sekt nicht angenommen! Jetzt fällt es mir plötzlich ein!
Ich stand an der Bar, er kam dazu und gab mir einen Sekt aus und danach … da versinkt alles im Nebel.
„War ein selten schöner Abend gestern mit dir!“ Er lächelt mich an. Himmel, hat der weiße Zähne … automatisch presse ich meinen Mund zusammen.
Ich sehe bestimmt schon aus wie ein Kaninchen, also, Lisa, entkrampfe dich, bleib locker oder besser gesagt, werde locker, ermahne ich mich.
„Hallo“, krächze ich. Was ist das denn? Ich habe doch eine angenehme Stimme sonst, jedenfalls dachte ich das und nun kommt da so ein Vogellaut aus meinem Mund, ich möchte im Erdboden versinken. Susy und Maja grinsen nur, ich sehe es aus den Augenwinkeln.
In diesem Augenblick dreht er sich zu den beiden hin und grüßt die Zwei höchst freundlich und galant, dieser Schleimer! Und ich sehe, wie beide dahin schmelzen und ihre Vorurteile zerplatzen! Einfach Puff ... und weg sind sie und mit ihnen alle Bedenken gegen den „Angeber“. Sie sind Wachs in seinen Händen. Ich werde also allein gegen ihn kämpfen müssen. Verflixt, warum habe ich dann so weiche Knie? Das ist nicht gut …
„Lisa“, boah … wenn er das sagt, dann klingt selbst dieser Name unwiderstehlich! Sag es noch mal, bitte, noch mal!
„Lisa, ich würde euch Drei gerne zum Essen einladen, falls die Damen nichts anders vorhaben?“ Seine Augen versinken in meinen. Ich starre ihn nur an, kann kein Wort sagen, ich wünsche mir nur, er möge mich stundenlang so ansehen, - was für ein Gefühl, sicher ist es unanständig, denn es ist sooooo schön!
„Lisa? Hast du mich verstanden?“, er wird unsicher, weil ich nichts sage und das macht ihn mir plötzlich total sympathisch.
Schnell Lisa, trau dich!
„Was meint ihr beiden denn?“ Ich versuche, cool zu sein und befrage meine Freundinnen.
„Das ist eine nette Idee!“, antwortet Susy als Erste. - Natürlich Susy! Wer sonst? Und dabei zwinkert sie mir zu und Maja nickt nur verständnisvoll und lieb.
„Dann treffen wir uns um 14 Uhr in der Hotellobby? Es ist mir eine Ehre, meine Damen!“, bei diesen Worten lächelt er sie beide an und dann schaut er wieder mir in die Augen und sagt noch „Lisa?! Ich freue mich wirklich und kann die Mittagszeit kaum erwarten …“
Was für eine Stimme, ich weiß, ich sagte es schon ABER ... Ein Schauer nach dem anderen läuft mir den Rücken hinunter. Im Weggehen wirft er mir noch einen Kuss durch die Luft zu. Ist der nicht süß?! Versonnen starre ich hinter ihm her.
Kaum ist er weg, fallen meine Mädels über mich her, sie sind einfach begeistert und meinen, dieses Mal hätte ich ja endlich mal einen gescheiten Fang gemacht, sie hätten absolut nichts gegen ihn einzuwenden, wie er denn eigentlich heiße? Ich bekomme einen Schluckauf, ich fange an zu husten und bekomme keine Luft mehr, ja, wie heißt der denn eigentlich?
Ich weiß es gar nicht! Ich kann es selbst nicht glauben! Wenn er nun verschwindet? Dann kann ich noch nicht mal richtig von ihm träumen, denn er ist ja namenlos!!! Nein, bitte, bitte, das darf nicht passieren … er wird doch kommen? Er muss kommen.
Was könnt ich Euch bieten, würd ich wirklich existieren? Was wär Euch am liebsten: Wollt Ihr mich bei Fabel-Tieren? Sucht's Euch aus, ich bin bereit zu jedem Umquartieren.
Bin gewohnt im Sommerloch zu wohnen; Nessie heiß ich? Habt Ihr Namen, habt Ihr Macht – ja ja, Ihr sammelt fleißig. Katalogisiert, benennt's – pardon, doch darauf scheiß ich.
Seid Ihr Fliegen, die's im dunklen Drang zum Dung hin treibt? Füllt das Sommerloch mit Shit – was für News Ihr schreibt! Und als Top, als Krönung: Wie ist Nessie wohl beleibt?
Ist er Ungeheuer, nur ein Stör, ein Störenfried? Urzeitwesen, Unzeit-Wesen, nahm er keinen Abschied? Warum singt Ihr mir im Sommerloch dies Hohelied:
Dann entsinnt Ihr Euch an Urzeit, zarte Sehnsucht keimt. Seid mit allen Wassern doch gewaschen – abgefeimt. Hofft: Im Wasser des Loch Ness ein Ungeheuer reimt?
Haltet Ihr die Stille so schwer aus? Wenn keine Nachricht relevant, bedeutungsschwer – bekomme ich Gewicht. Aus der Tiefe das Mysterium womöglich spricht.
Och, Loch Ness – es birgt nur das Geheimnis, wenn Ihr's wollt. Bin präsent – wenn Ihr mir ungeheuer Beifall zollt. Sommerloch – mich in die Nesseln setzen? Nessie schmollt?
Bin ich etwa nun gewöhnt an brennendes Interesse? Würd ich leiden ohne saisonalen Druck der Presse? Boulevard – das macht mich wahr. Und wenn ich mich vergesse?
Nähr ich mich von fettgedruckten Schnipseln? Bin gerissen? Wie ein Schoßhund apportier ich – und bin scharf auf Bissen, die in Reportagen mir behagen – hab verschissen?
Wenn ich bin nur durch der Worte Macht? Seh Ungeheuer. Offenbaren mich? Ich bin bei mir – und bin nicht Euer. Menschen-Wohlgeordnetheit ist mir nicht lieb und teuer.
Freu mich dennoch auf das nächste große Sommerloch: Komm groß raus – doch war ich je und bin ich immer noch? Bin Wunschbild, Fantasie. Ich leb; bin das, worauf ich poch.
In den Sommermonaten fuhr ich, als ich noch im Schuldienst war, mit meiner Klasse für eine Woche auf die Nordseeinsel Terschelling. Hier hatten wir das gemütliche Jugendheim, dass dem Kreis Heinsberg von einem großzügigen Spender über viele Jahre lang kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, für uns alleine.
Das Wetter war herrlich, schönstes Strandwetter und wenn wir am Mittag und Abend, von den verschiedensten Freizeitspielen und Wanderungen am Meer entlang zu unserer Herberge zurückkamen, empfing uns eine warmherzige, immer gut gelaunte Hausmutter. Sie kochte hervorragend und es schmeckte allen, auch den sonst eher auf „Fastfood“ eingeschworenen Schülern.
Alle Schüler liebten diese kleine, mollige Frau mit den rosigen Wangen und den Lachfältchen um ihre blauen Augen. So manches Kind fand, an ihren mütterlichen Busen gedrückt, Trost bei Heimweh und kleinen Wehwehchen.
Nun war Ayahn, ein libanesischer Junge, der seit seiner Geburt in Deutschland lebte, besonders von Heimweh geplagt und er ließ sich nur zeitweilig von seinem Kummer ablenken. Das ging so weit, dass er auch keinen Appetit mehr hatte und sehr wenig aß.
Eines Abends legte die Herbergsmutter, die glaubte, Ayan, der muslimischen Glaubens war, würde das Essen nicht zusagen, liebevoll die Arme um ihn und sagte: „Weißt du was, Ayan, ich habe noch ein schönes Stück Hammelbraten in der Gefriertruhe, das bekommst Du morgen, extra nur für Dich!“
„Nee,“ erwiderte Ayan - im schönsten rheinischen Dialekt – „datt iss mich ze kalt!“
Anfang 1976 erzählte mir mein Bruder, der damals in Dresden Restaurierung studierte, seine Studiengruppe solle im Frühsommer ein Praktikum für Landschaftsmalerei machen, aber sie wüssten einfach nicht wo.
Wir lebten gerade das zweite Jahr in einem riesigen Pfarrhaus mitten im Gebiet der mecklenburgischen Seenplatte. Die oberen Mieter waren ausgezogen und so hatten wir unglaublich viel Platz. Mein Mann war im zweiten Vikariatsjahr.
Also sagten wir ganz schnell, das Praktikum könne bei uns stattfinden, wenn die Hochschule mitmache. Sie machte mit! Bezahlte sogar für Kost und Logis.
Mitte Mai rückte die ganze Truppe bei uns an – alle mit der Bahn. Mein Mann musste mehrmals zum Bahnhof in die nächste Kleinstadt fahren, um alle abzuholen. Für vierzehn Tage hatten sie auch nicht unerhebliches Gepäck dabei. Unser Trabant platzte fast aus allen Nähten. Die Gruppe bestand aus dem Professor, drei männlichen Studenten und sechs Mädchen, wovon eine ihre Zwillingssöhne von fünf oder sechs Jahren dabei hatte.
Alle wurden irgendwie oben im Haus verteilt – ein Jungen-, ein Mädchenzimmer, eines für den Professor und die junge Mutter bekam eines für sich und ihre Zwillinge allein.
Zu unserem großen Glück war von Anfang an wunderbares Sommerwetter, so dass wir fast Tag und Nacht draußen sein konnten. Wir bauten vor dem Haus eine große Tafel unter der Linde auf. Dort wurden alle Mahlzeiten eingenommen und abends versammelten wir uns dort zum Plaudern und Weintrinken.
Tagsüber verschwand die Gruppe in alle Richtungen zum Zeichnen und Malen oder auch zum Faulenzen und Baden. Abends wurde unter der Linde philosophiert. Leises Unbehagen machte einigen, dass sie nicht genau wussten, wer der Stasispitzel in der Truppe war, obwohl das eigentlich von seinem Hintergrund her klar war. Aber wir nahmen auch trotzdem nicht gerade ein Blatt vor den Mund.
Die Stimmung war gelöst und friedlich. Mit meinen Kochkünsten, die damals ja noch in den Kinderschuhen steckten, waren alle zufrieden, obwohl ich damals fast nur Tomatensauce kochen konnte, wie mein Schatz immer behauptet.
Unsere Töchter waren gerade vier und fünf Jahre alt und genossen den Trubel und spielten fröhlich mit den Zwillingen. Wenn nachts der Alkoholpegel gestiegen und der Professor längst in Morpheus Armen ruhte, luden wir den Trabant übervoll und fuhren oder liefen zum See im Nachbardorf und sprangen im Adamskostüm hinein, um uns zu erfrischen.
Das ging natürlich nicht unbemerkt vor sich, so dass wir sicherlich eine ganze Weile nicht nur Dorf-, sondern Gemeindegespräch waren - allein schon wegen des bunten Völkchens, das da im Pfarrhaus zu Besuch war…
Die zwei Wochen gingen wie im Fluge vorbei und schon war das Praktikum zu Ende. Natürlich gab es einen feuchtfröhlichen Abschiedsabend, bevor die Studenten etwas wehmütig wieder nach Dresden zogen.
Zum Abschied bekamen wir von jedem – auch vom Professor – ein gezeichnetes oder gemaltes Bild geschenkt, die zum Teil noch heute unsere Wände schmücken. Viele nette Eintragungen und Fotos in unserem Gästebuch zeugen von diesen unvergleichlichen zwei Wochen.
Im Dezember 1976 zogen wir hundert Kilometer weiter östlich ins nächste Pfarrhaus, wo mein Mann dann auch ordiniert wurde. Auch dort besuchten uns einige der Studenten wieder, weil es ihnen bei uns so gut gefallen hatte.
Mit diesem Praktikum war der unvergessliche Sommer aber keineswegs zu Ende, sondern er fing ja gerade erst an! Meine beiden jüngsten Geschwister, die nur ein Jahr auseinander sind, waren in derselben Konfirmandengruppe. Und diese Gruppe wollte eine Wanderung durch Mecklenburg machen – Ziel: Unsere Gemeinde für ein Wochenende – zwanzig Personen mit Pastor und Vikar. Sie passten alle irgendwie ins Pfarrhaus.
Oder hatten sie Zelte dabei? Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass die Tafel unter der Linde wohl den ganzen Sommer stehen blieb und immer wieder genutzt wurde.
Auch meine riesige Küche, die einem Hotel alle Ehre gemacht hätte, war in dem Sommer selten zu groß und wurde gut ausgenutzt. Meine Freundin aus frühesten Kindertagen - und ihr Mann kamen für drei Wochen aus dem Rheinland mit ihren beiden Kindern und verbrachten ihren Urlaub bei uns – wie viele weitere später auch. Die Kinder waren nur wenig älter als unsere Mädchen und verstanden sich prächtig zu viert und heckten zusammen manchen Unsinn aus. Besonders der einzige Junge in dem Quartett hatte immer großartige Ideen.
Die Vikarsgruppe meines Mannes traf sich bei uns mit Frauen und Kindern und zwischendurch immer wieder Familie und Freunde.
Ich kann mich an keinen Regentag erinnern in diesem Sommer wie im Süden…
Er stand da, lässig an die Seitenwand des Kiosks gelehnt. Sofort fiel mir „Der Zigeunerbaron“ ein, Sandor ... Welch merkwürdige Assoziation, aber dieser Junge hatte etwas von einem Zigeuner, ich war sofort fasziniert. Automatisch verlangsamte ich meinen Schritt. Ich wusste, dass ich ihn unhöflich anstarrte, konnte es aber in diesem Moment nicht verhindern.
Schlank, groß gewachsen, schwarze, etwas längere Haare. Er trug ein weißes Hemd ohne Kragen, das über der halblangen engen Hose zusammengeknotet war und er hatte keine Schuhe an, stand einfach barfuß auf dem Gehweg. All das nahm ich in der kurzen Zeit wahr, die ich benötigte, um an ihm vorbeizugehen.
Ich lief langsam, zögerte es hinaus, denn ich wollte diesen Anblick noch etwas festhalten. Seine Augen konnte ich nicht sehen, denn er blickte auf eine Zeitung, die in der Auslage des Kiosks steckte.
Dann war ich vorbei, beschleunigte meinen Schritt. Ich war auf dem Weg zur Schule. Diesen Vormittag nahm ich kaum etwas vom Unterricht wahr, denn meine Gedanken kreisten pausenlos um diesen jungen Mann, den ich insgeheim schon „meinen Zigeuner“ nannte. Ich weiß, es klingt albern, pubertär, aber ich war vierzehn, und derart schwärmerische Anwandlungen scheinen mir im Nachhinein durchaus normal.
Am nächsten Morgen und auch die folgenden Tage stand er wieder an der gleichen Stelle, immer in einem blütenweißen Hemd. Ob er wohl jeden Tag ein frisches anzieht?, überlegte ich. Immer war er barfuß.
Inzwischen hatte ich auch seine Augen gesehen, und ich war sicher, nie schönere erblickt zu haben. Dunkles Braun, aber mir schien, als funkelten kleine goldene Pünktchen in der Iris. Wenn ich an ihm vorbeiging, verlangsamte ich nun jedes Mal meinen Schritt. Ich überlegte auch fieberhaft, wie ich mehr von ihm erfahren konnte. Am dritten Tag dann lächelte er mich spontan an und rief mir ein fröhliches „Hallo“ zu, was dazu führte, dass ich über meine eigenen Füße stolperte, die sich scheinbar im Weg standen. Gerade als er hinzusprang – vermutlich um mich aufzufangen, falls ich fallen sollte – hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden und hastete weiter. Bestimmt war ich rot geworden.
Tagebuch, 8.8.1968
Er ist ein Zigeuner, er sieht aus wie Sandor aus dem Zigeunerbaron, nur irgendwie jünger, fast ist er noch ein Junge, kein Mann. Aber er ist älter als ich. Was ist nur mit mir los, dass ich ihn nicht mehr aus dem Kopf bekomme? Ich kann mich doch nicht in einen Typen verguckt haben, den ich nur vom Sehen kenne. Ist es das, was man als „Liebe auf den ersten Blick“ bezeichnet? Quatsch! Ich finde ihn einfach interessant.
Wo er wohl herkommt? Warum steht er da jeden Morgen? In einer Woche fangen die Sommerferien an und dann kann ich ihn nicht mehr sehen, weil ich ja nicht zur Schule muss. Es ist merkwürdig, dass ich mir darum Gedanken mache.
An diesem Abend kramte ich in meinen Schallplatten. Mein Onkel hatte mir vor einiger Zeit eine Platte geschenkt, „Zigeunerjunge“, gesungen von Alexandra. Das war nun nicht gerade meine Musik, ich stand mehr auf die Beatles, die Stones … und den „Zigeunerjungen“ hatte ich mir erst einmal angehört.
Aber an diesem Abend nun ließ ich die Platte wohl zwanzigmal hintereinander laufen, so dass meine Mutter irgendwann ins Zimmer kam und fragte, ob ich nicht zur Abwechslung mal einen anderen Song hören wollte. Seufzend verbannte ich die Platte in den Schrank.
Am nächsten Morgen passierte dann das, was meinen ganzen Sommer umkrempeln sollte. Mein „Zigeuner“ kam, als er mich erblickte, auf mich zu und blieb vor mir stehen. Ich konnte also nicht weiter. „Hallo, guten Morgen“, sagte er und lächelte, was sein Gesicht unglaublich weich machte, es beinahe mädchenhaft aussehen ließ.
„Guten Morgen“, sagte ich und meine Stimme klang wie Schmirgelpapier, so meinte ich. Mein Herz klopfte und ich fürchtete, dass er es sehen könne.
„Hast du was dagegen, wenn ich dich ein Stück begleite?“
War das gerade wahr? War das so etwas wie eine Anmache?
Ich schluckte und nickte. Barfuß wie er war, lief er neben mir her. Er konnte aber nicht bis zur Schule mitgehen, was würden meine Freundinnen sagen? Oder fragen?
Meine Güte, ich benahm mich wie ein kindisches Gör. Es war doch völlig egal, was irgendjemand dachte oder sagte. Er lief hier neben mir und plauderte. Es war so einfach, mit ihm zu sprechen. Die Worte kamen auf einmal wie von selbst.
Ich glaube, ich hatte noch nie jemandem zuvor so viel von mir in einer derart kurzen Zeit erzählt, so schien es mir. Am Eingang vom Zoo stoppte er plötzlich, nahm mich leicht bei der Schulter und drehte mich zu sich hin.
„Du hast den Sommer in dir, Enyuschka“, sagte er leise und seine Augen waren sehr ernst. „Ich würde gern ein wenig den Sommer mit dir genießen“. Er schaute ins Nirgendwo, verloren plötzlich sein Blick. Ich hatte nur im Ohr, wie er mich genannt hatte. „Enyuschka“ hatte noch nie jemand zu mir gesagt und ich wusste nicht wirklich, was ich dabei empfand.
„Magst du mit mir am Nachmittag ein Picknick machen, im Ostpark?“, fragte er. „Wenn du darfst, natürlich, du sollst ja keinen Ärger bekommen.“ Ich konnte nur nicken. So begann es, und wenn nicht schon vorher geschehen, war dies der Moment, als ich mich in ihn verliebt hatte.
Tagebuch, 9.8.1968
Er heißt Jiri und ist Tschechoslowake. Er spricht ein fehlerfreies Deutsch, nur am Tonfall merkt man, dass er nicht immer hier gelebt hat. Seine Mutter ist Deutsche, das erklärt es. Achtzehn Jahre ist er alt, vier Jahre älter als ich. Schon ein Mann eigentlich. Ich mag, wie er spricht, ich könnte ihm stundenlang zuhören.
Aber Jiri hat es heute Nachmittag geschafft, dass ich unheimlich viel geredet habe, dass ich meine Scheu verloren habe, und nun denke ich, dass wir uns schon ewig kennen. Aber eigentlich weiß ich nicht viel über ihn, er hat einige komische Andeutungen gemacht über sein Heimatland, dass es sehr schwer sei, dort zu leben, wenn man nicht denkt, wie sie es dort wünschen. Als ich ihn gefragt habe, wie er hergekommen ist und was er hier macht, meinte er nur, das sei eine lange Geschichte. „Ich erzähle sie dir mal, aber jetzt will ich nur den Nachmittag mit dir genießen“, hat er gesagt und dann wieder so verloren in die Ferne geschaut.
Es war warm, wir saßen auf einer Decke, die ich mitgebracht hatte, etwas abseits von den anderen Menschen, die auch die Sonne genießen wollten. Jiri hatte Cola und Salzbrezeln dabei und er meinte, es sei kein tolles Picknickessen. Ich fand es prima. Eigentlich hätte ich gar nichts essen oder trinken brauchen. Ich habe ihn dann gefragt, ob er Geige spielen könne. Das hat ihn sehr irritiert. Er hat so lange gebohrt, bis ich ihm vom „Zigeunerjungen“ erzählt habe. Da lachte er. „Nein Enyuschka, Geige spiele ich nicht. Aber irgendwann zeige ich dir, was ich spiele.“
Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen und nun grüble ich, was das wohl sein kann. Vielleicht Gitarre?
Das wäre lustig, dann könnten wir zusammen spielen. Morgen hat er keine Zeit, aber am Samstag möchte er mit mir in den Stadtwald gehen.
Ich muss verrückt sein. Was weiß ich schon von ihm? Mama darf nichts erfahren, sie würde energisch dazwischen gehen, und so kämpfe ich lieber mit meinem schlechten Gewissen, anstatt mir alles vermasseln zu lassen. Auch den anderen werde ich nichts erzählen. Mal wieder bin ich froh, dass ich tagsüber so ganz mein eigenes Leben führen kann.
Es waren wunderbare Tage in diesem Sommer. Inzwischen hatten die Sommerferien begonnen und ich hatte endlos Zeit. Viele meiner Freunde waren im Urlaub. Meine Mutter bekam kein frei und wir hatten beschlossen, erst in den Herbstferien zu meinen Großeltern an die Nordsee zu fahren. Ich war völlig unabhängig. Jiri und ich sahen uns nicht jeden Tag, aber so drei- bis viermal die Woche verbrachten wir einige Stunden gemeinsam. Wir liefen durch die Stadt, gingen in Parks und saßen auf der Wiese und er legte mir Herzen aus Gänseblümchen. Wir redeten. Nie hatte ich vorher mit einem Menschen solche Gespräche geführt. In der Clique wurde meist geblödelt, gealbert oder wir quatschten über die Schule, die neueste Musik, Filme oder über die nächste Party.
Mit Jiri war es anders. Auch wir lachten viel, er zumindest lachte oft über mich, aber auf eine sehr liebe Art. Er fand es lustig, dass ich so viel mit den Händen „redete“, und wenn ich sprach, ließ er kein Auge von mir. Er erzählte lustige Geschichten aus seiner Kindheit, da kam so einiges zu Tage, was er mit seinem älteren Bruder angestellt hatte. Nach und nach erfuhr ich auch mehr über sein Leben, das schwer wog, das mich sehr nachdenklich machte. Ich glaube, dass ich zu dieser Zeit anfing, mich ernsthaft für Politik zu interessieren. Jiri erzählte mir von den Verhältnissen in seinem Land.
„Weißt du Enyuschka,“ sagte er an einem Nachmittag betrübt, „das Leben wurde für uns immer schwieriger. Mein Vater ist Schriftsteller. Letztes Jahr gab es einen Schriftstellerkongress, dort wurde starke Kritik am Regime geübt. Die Folge war, dass die „Literani Listy“, die Verbandzeitschrift der Schriftsteller, verboten wurde. Viele wurden auch aus der Partei ausgeschlossen, so auch mein Vater.“
Ich hörte zu, wusste plötzlich, worauf es hinauslief.
„Ihr ward in Gefahr, oder?“
„Ja“, sagte Jiri. „Es braute sich was zusammen. Meine Mutter konnte als Deutsche problemlos zurück. Sie ist in München. Mein Vater hat es geschafft, dass mein Bruder und ich hier bei meinem Onkel unterkommen konnten. Erst waren wir in Österreich, nun sind wir hier, aber...“ Er stockte und seine Augen blickten wieder einmal ins Leere. Ich wartete. Da drehte sich Jiri plötzlich zu mir um, nahm meine Hand und lächelte. „Lass uns über anderes reden, ja? Die Zeit mit dir ist mir so kostbar, so unbeschwert.“
Ich hätte ihn gern umarmt in diesem Moment, aber etwas hielt mich ab.
Jiri griff in seine Hosentasche und zog eine Mundharmonika hervor. „Du wolltest doch wissen, was ich für ein Instrument spielen kann“, lachte er. Und dann - und dann begann er zu spielen.
Tagebuch, 19.8.1968
Er spielt so schön Mundharmonika, ich könnte ihm stundenlang zuhören.
Der Nachmittag fing eher betrüblich an. Jiri hat mir von den schlimmen Verhältnissen in Prag und seinem Land erzählt. Übers Radio hab ich ja schon etwas mitbekommen. Aber natürlich habe ich keine Ahnung, wie es da wirklich zugeht.
Er und sein Bruder sind hier, geflohen über Österreich. Seine Mutter ist in München. So schlimm ist es, dass sie keine Nachricht haben von ihrem Vater. Ich glaube, es geht ihm nicht wirklich gut. Ich würde ihn gern trösten, aber ich weiß nicht wie. Als er mir erzählt hat, dass es an Lebensmitteln fehlt, dass die Wohnungsnot groß ist, dass die Menschen darum kämpfen müssen, ihre Meinung sagen zu dürfen, da habe ich gemerkt, in welchem Schlaraffenland ich hier lebe. Ich kann wenigstens den Mund aufmachen.
Als Jiri heute diese wunderschönen Melodien gespielt hat, war das eine eigenartige Stimmung. Und dann dieser Satz. „Ich glaube, ich habe mich in die kleine Enyuschka ein wenig verliebt ...“
Mein Herz hat rasend geklopft. So etwas habe ich noch nie gefühlt.
Er hat mich gefragt, ob er mich küssen dürfe. „Hast du schon mal einen Jungen geküsst?“ Das wollte er doch ernsthaft wissen. Ich konnte nur nicken und dachte an die Küsse von Jan, die wir bei den Schmusesongs auf den Candlelightpartys ausgetauscht hatten.
Jiri hat mich geküsst und dieser Kuss war völlig anders, ich kann es nicht beschreiben, nur dass ich am liebsten die Zeit angehalten hätte.
Ich möchte es in die ganze Welt hinausschreien und doch gleichzeitig fest in mir verschließen. Dieser Kuss gehört nur mir, niemand braucht es wissen, so wie auch niemand etwas von Jiri wissen soll.
Dann kam dieser für mich furchtbare Tag. Jiri war nicht am verabredeten Treffpunkt, es war immer noch der Kiosk auf meinem Schulweg. Ich wartete und merkte, wie sich die Angst in mir ausbreitete.
War etwas passiert? Der Kioskbesitzer, der uns schon kannte, zuckte bedauernd mit den Schultern. Die Zeit kroch dahin, und als ich auf die Uhr schaute, sah ich, dass bereits vierzig Minuten vergangen waren. Mutlos und enttäuscht fühlte ich mich. Was sollte ich tun? Ich konnte ihn ja nicht erreichen. Wo er zurzeit lebte, wusste ich nicht. Als ich mich entschloss zu gehen, kam er. Er rannte auf mich zu, sein Gesicht und die Haare verschwitzt, und er hatte Schuhe an. Als ich ihn einmal gefragt hatte, warum er immer ohne Schuhe lief, hatte er gesagt: „Sie beengen mich, machen meine Schritte schwerer. Leider kann ich nicht das ganze Jahr barfuß laufen.“
Beinahe grob packte er mich nun am Arm. „Tut mir leid, ich muss weg, es geht heute nicht“, stieß er hervor, noch immer atemlos.
„Aber was ist denn?“, fragte ich. „Sag mir doch, was passiert ist!“ - „Ich muss zu meinem Bruder, es ist wichtig.“ „Und -“, er stockte. „Morgen fahre ich nach München zu meiner Mutter.”
Mein Herz setzte aus und dann holperte es mehrere Schläge lang. Nein, dachte ich, es hat doch noch gar nicht richtig angefangen ...
„Bitte, Jiri, nimm mich mit zu deinem Bruder“, bettelte ich. Er schüttelte zunächst den Kopf. Ich schaute ihn an, ließ den Blick nicht von ihm. Seine Augen wurden noch dunkler, als sie schon waren. Schließlich senkte er den Blick und meinte: „Na gut, komm.“ Er packte mich erneut am Arm und zog mich fort. Wir fuhren mit der Straßenbahn ins Westend.
Jiri hastete durch mehrere kleine Straßen und bald wusste ich nicht mehr, wo wir waren. Dann das Haus, grau, schmal unscheinbar. Jiri klingelte, drückte die Tür auf, als der Summer ertönte und schob mich in den dunklen Flur. Die Holztreppen knarrten bei jedem Schritt. Wir gingen in eine Wohnung im zweiten. Stock, die Tür stand offen.
Eine kleine Küche, kaum Möbel, ein Herd, ein Tisch, drei Stühle, ein fast leeres Regal. Jiri deutete auf einen der Stühle, ich setzte mich und wartete. Es war ein beklemmendes Gefühl. Jiri kochte Tee, setzte Wasser auf in einem alten Kessel, der noch pfiff, wenn das Wasser kochte. Plötzlich ging die Küchentür auf und ein Mann kam herein, etwas älter als Jiri, unverkennbar sein Bruder. Er war etwas stämmiger und kleiner, aber die Ähnlichkeit im Gesicht war frappierend.
Er stockte, als er mich sah und fing sofort an, in einer mir fremden Sprache mit Jiri zu reden.
„Das ist Enya“, sagte Jiri auf Deutsch. „Eine gute Freundin, es ist ok.“
Seine Stimme klang beschwichtigend. „Und das, Enya ist Matyas, mein Bruder.“
Ich murmelte ein „Hallo“, fühlte mich sichtlich unwohl, da ich spürte, dass ich keinesfalls willkommen war. Matyas brach nun in einen Redeschwall aus. An der Stimme hörte ich, dass er sehr zornig und aufgeregt war. Jiri antwortete und mir schien, er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Das ging eine Weile hin und her. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte laut: „Jiri, ich gehe lieber.“
Beide hörten auf zu reden. Der Bruder verließ die Küche, knallte die Tür zu.
„Komm, Enyuschka“, meinte Jiri dann.
Wir gingen zurück zur Straßenbahnhaltestelle, Arm in Arm. „Schaffst du es allein nach Hause?“, fragte er. Ich nickte. Ich war gewohnt mich in Frankfurt selbständig zu bewegen. Geld hatte ich auch immer dabei.
„Wann sehe ich dich?“, wollte ich fragen, doch irgendwie kannte ich ja die Antwort und daher stellte ich die Frage nicht. Jiri wartete, bis die Bahn kam. Er gab mir einen ganz leichten Kuss auf die Stirn und meinte: „Pass auf dich auf!“ Ich konnte nicht antworten in diesem Moment.
Tagebuch, 20.8.1968
Er ist weg. Es tut so weh ...
In dieser Nacht marschierten die Warschauerpakt-Truppen in der CSSR ein.
Ich verfolgte alles im Radio. Aus den Diskussionen in der Schule hielt ich mich raus. Ich sah immer Jiri vor mir und ein imaginäres Bild seines Vaters. An die 100 Menschen waren bei dem Einmarsch ums Leben gekommen.
Ich habe nie wieder etwas von Jiri gehört. Ein Weilchen noch spielte ich meine Platte mit dem Lied des Zigeunerjungen:
Zigeunerjunge, Zigeunerjunge,
wo bist du, wer kann es mir sagen?
Tam ta ta ta ta tam tam ta tam tam ta tam
doch es blieb alles leer.
Wenn des Sommers Wind ganz lau,
zart über Wiesen und Blüten streicht,
der Himmel leuchtet azurblau,
alles einem Meer der Träume gleicht.
Blumenduft in meinem Garten,
der Sommerwind weht ihn umher,
Schmetterling und Bienen warten,
zum Tanz in einem Blütenmeer.
Am Himmel weiße Wölkchen treiben,
ich lausch‘ den Bienen und Vogelgesang,
meine Gedanken mögen hier nur bleiben,
ach, wie lieb‘ ich diesen Klang.
Atmosphärisch, wie von Gott gemacht,
ein Traum von Tagen, die nie vergehen,
die Sonne hell vom Himmel lacht,
in Gedanken werd‘ ich‘s immer sehen.
Wochenende und ich will an meinen See. Ab ins Auto. Eine Kolonie, eine Wohnheimsiedlung, entstanden in der Nachkriegszeit, wurde von zwei kleinen Seen umgeben. Hier kamen drei meiner Geschwister und ich zur Welt und verbrachten die ersten Jahre unserer Kindheit Es war eine "arme Leute" Zeit, eine der Entbehrungen, aber wir Kinder waren glücklich. Was wir brauchten, hatten wir. Spielgefährten, die Siedlung, unsere Eltern und das Wasser.
Für uns, als Kinder, war der eine ein riesiges Gewässer. Der kleine See bestand eigentlich aus zwei kleinen Seen, mit einer bewohnten Insel. An zwei oder drei Häuser erinnere ich mich. Über zwei Brücken und der kleinen Insel, gelangte man auf die andere Seite der Seen. Aber durch die Möglichkeit des "hin und her", wurde es unser Abenteuergelände. Die beiden Verbindungen des Teiches, stets fast zugewachsen, gab unserer Phantasie viel Spielraum. Ein kleines Boot nur oder ein Kanu konnte die Enge passieren. Eine Unmenge Schilf an den Ufern, Seerosen in großer Zahl in der Mitte des Gewässers, sowie am Ufer der Insel, prägten das Bild des Teiches. So nannte man ihn den „Kleinen“. Es war eine traumhafte Kinderzeit.
Die liebevoll ausgebauten kleinen Lauben, sind inzwischen Urlaubsdomizile für die Wochenenden, problemlos auch im Winter zu nutzen.
In der Siedlung.
Langsam rolle ich den Sandweg entlang. Flankiert von Häusern, Gärten, allesamt mit zahlreichen Blumen, Bäumen und natürlich mit verschiedenen Hecken, als Grundstücksumrandungen versehen, die kaum größer als 50-60 qm sind. Unterschiedliche Hecken in Art, Farbe und Höhe, wirken wie eine bunte endlose Hecke.
Fahre jetzt am Abgang zum kleinen Badestrand vorbei. Welch ein Gefühl! Zu den Gerüchen, so vertraut, von Blumen, Büschen und anderen Gewächsen, höre ich das Kreischen von Kindern. Gerufene Kommandos von Erwachsenen und die Geräusche von tobenden und spielenden Menschen im Wasser.
Was haben wir im Wasser getollt. Gegenseitig nass spritzen. Unterwasser kriegen. Tick, du bist. vom drei Meter Sprungbrett der erste Köpfer. Arschbombe, Krampe dann schon Salto und vieles mehr. Der Sinnesreiz der Vorfreude gleich zu baden, meinen noch immer dort anzutreffenden Verwandten zu begegnen, übermannt mich. Fahre ein wenig schneller, um endlich da zu sein. Bei Onkel und Tante. Vier Familien behielten ihre ehemaligen Häuser als Wochenendquartiere.
Angekommen
Nach dem Verlassen des Autos, gehe ich eilig auf das still vor mir liegende Haus zu. Es ist niemand da. Schade, aber ich habe ja noch drei Möglichkeiten. Hätte mich vielleicht anmelden sollen. Nach einem weiteren vergeblichen Versuch, erreiche ich das Haus von Tante Manu und Onkel Heinz. Da steht ein Auto, also darf ich hoffen. Leise Musik nur, sonst kommen keine Geräusche aus dem Haus. Die Vögel, das Rauschen des lauen Windes im Blätterwerk, entfernte Geräusche vom Strand höre ich nur. Nachbarn sind auch nicht da. Nur auf der gegenüber liegenden Wegseite steht ein älteres Paar und beobachtet mich misstrauisch. Egal, die Klinke herunter gedrückt und siehe da, die Tür öffnet sich. Entschlossen betrete ich das Haus.
Meine Tante liegt auf dem Sofa und scheint zu schlafen. Öffnet jetzt aber die Augen und sieht mich erschrocken an, bis sie mich schließlich erkennt. Sie setzt sich auf und lächelt mir zu. „Das ist aber eine Überraschung. Du willst sicher baden, aber heute bin nur ich hier. Die Anderen sind alle unterwegs. Heute spät abends und morgen kommen sie.“
Plötzlich wirkt sie sehr ernst. „Und ich mag nicht. Du kannst mir aber Gesellschaft leisten bei einer guten Tasse Kaffee.“
So hatte ich es mir aber nicht vorgestellt. Kann doch alleine zum Strand gehen, denke ich. Frage aber nach Onkel Heinz. Die Hände knetend und zu Boden blickend flüstert sie „Er liegt im Krankenhaus.“
„OH, warum das?“ In der Sprechpause jagen Gedanken durch meinen Kopf. ‘Onkel Heinz?, dachte ich, ‘er ist zwar zuckerkrank, doch so…? Mann, ich wollte Spaß haben.‘
Fieberhaft überlege ich, wie ich aus dieser Nummer herauskomme. Habe aber sofort ein schlechtes Gewissen und frage nach. Die Antwort haut mich fast um.
„Er kommt wahrscheinlich nicht wieder. Heute Abend erst fahre ich wieder ins AK. Muss mich erst erholen von heute Morgen. Da bekam ich die Nachricht, als ich ihn besuchte.“
Übergangslos beginnt sie zu weinen. Als ich sie im Arm halte und tröste, fühle ich mich hilflos. Der angebotene Kaffee kommt mir in den Sinn und ich bleibe selbstverständlich bei ihr.
Im Krankenhaus
Der typische Geruch des Krankenhauses ist es, der meine Stimmung sofort drückt. Der Grund warum ich hier bin, ist natürlich mein Onkel. Leise schließe ich die Tür hinter mir und gehe langsam um das Bett herum.
Den alten Mann, der in mein Blickfeld kommt, sehe ich nur an. Das ist mein Onkel Heinz. Seine müden Augen liegen in tiefen Höhlen. Er ist kaum wiederzuerkennen. Ob er mich erkennt, ist für mich nicht auszumachen.
Einen Stuhl heranziehend, mich setzend, habe ich das Empfinden: er lächelt mir zu. Darum versuche ich, auch zu lächeln. Obwohl mir danach nicht zumute ist. Trauer spüre ich in mir. Ich bemühe mich nicht, es zu verbergen, sondern nähere mich seinem Gesicht.
„Du siehst müde aus Onkel Heinz, ich habe mir frei genommen, um dich zu sehen. Was ist mit dir?“ Sanft und leise bemühe ich mich, meine Frage zu stellen. „Krankenhaus ist nichts für uns, das wissen wir. Aber Tante Manu hat mich informiert, dass du hier liegst und ich bin sofort gekommen.“
Er sieht mich merkwürdig an. Den Blick kenne ich nicht. Mit müder Stimme antwortet er mir: „Hallo Hansi, schön dass du kommst, mein Kleiner“. Nach einer Pause, in der er kurz seine Augen schließt, fährt er fort, „du siehst ja, ich muss wieder zu Kräften kommen. Aber es wird schon wieder.“ Sein Kopf, den er ein wenig angehoben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hrsg. Gitta Rübsaat
Bildmaterialien: Cover: Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1277-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dank an alle Autoren:
Rita Bittner, Klaus Blochwitz, Heidrun Böhm, Roland Boehme, Heike Brands, Ralf von der Brelie, Angela Ewert, Doris Frese, GaSchu, Markus B. Hedstroehm, Annelie Heyer, Phil Humor,Silvia Hunziker-Suter, Anneliese Koch, Andrea Kochniss, Enya Kummer, Elke Lehmann, Ute Look, Matthias März, Martina Pawlak, Christa Philipp, Harry Reinert, Sweder von Rencin,
Katja Rübsaat, Manuela Schauten, Roland Schilling, Sabine Simon, Christine Singh, Summerfun, Rebekka Weber, Ute Wunderling
Coverbild: Heike Helfen