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Abschiedsträumereien

Im Dezember 1969 heiratete ich meine große Sommerliebe Jean. Getroffen hatten wir uns 1965 auf einer herrlichen Schiffsreise auf der „Koralle“, einem alten Charterfrachter, der uns acht Wochen lang von Kiel nach Lissabon, Alicante, Barcelona, Algier und zum Schluss noch nach Kingston upon Hall schipperte. Immer mit einigen Tagen Ruhepause, die uns Zeit gab, Land, Stadt und Leute kennen zu lernen. Eigentlich dachten wir bei unserem Abschied in Hamburg, er fuhr weiter nach Würzburg und ich nach Berlin, dass wir uns wohl nicht mehr wiedersehen würden.

 

Doch es kam anders, wir wurden ein Paar und freuten uns im März 71 über die Geburt unserer gemeinsamen Tochter Katja. Die körperliche Behinderung unseres Kindes schweißte uns zunächst noch enger zusammen, dass die Beziehung damit jedoch gleichzeitig zu bröckeln begann, haben wir wohl beide nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen. Daran war, für mein Gefühl, mein Schwiegervater nicht ganz unschuldig.

 

Ich hörte durch Zufall mit, dass er seinem Sohn energisch zuredete, sich von mir zu trennen, eine andere Frau zu suchen und mit der endlich mal ein gesundes Kinder zu zeugen, damit diese Familienschande nicht auf ihm sitzen bleibe. Unsere Tochter eine Familienschande? Ich glaubte, mich verhört zu haben, hatte ich aber leider nicht.

Wie auf Befehl verliebte er sich ein Jahr später in eine andere Frau und ward kaum noch gesehen. Die Geliebte war zwar verlobt, aber der Gehörnte arbeitete als Assistentsarzt weit weg im Norden und kam nur ab und zu übers Wochenende zu ihr. Das waren dann die raren Wochenenden, an denen ich den Meinigen, meist misslaunig, an meiner Seite hatte. Auch die Heirat mit dem angehenden Onkel Doktor änderte nur kurzfristig was daran und mir war klar, dass hier geht über kurz oder lang schief und ich konzentrierte mich ganz und gar um meine Restfamilie und meine berufliche Ausbildung.

 

Vermutlich hatte ich in dieser Zeit unserer Beziehung innerlich längst gekündigt – das wurde mir aber erst viel später klar.

 

1979/80 trennten wir uns und sahen uns danach nur noch selten und nur, wenn er unsere Tochter abholte oder brachte. Jahre später, nachdem sich all seine Längs- und Querbeziehungen aufgelöst und sich wieder neu verbandelt hatten, bekam Jean mit der neuen/alten Liebe endlich sein Wunschmodell á la Katja Ebstein: noch eine Tochter - nun aber blond, langbeinig und nach DIN genormt! Nach vierzehn Jahren starb ganz plötzlich seine Frau und Mutter dieses Kindes und nicht sehr lange danach bekam Jean für sich selbst die Diagnose Speiseröhrenkrebs gestellt.

 

Ein Schock! War der frühe Tod der Mutter nicht schon schlimm genug? Und nun auch er! Jean und ich telefonierten nach vielen Schweigejahren wieder und wir besuchten uns auch gegenseitig. So trafen sich zwei, eigentlich noch ganz muntere Invaliden zum gemeinsamen Plausch, in dem aber nicht die Vergangenheit oder die aktuellen Krankheiten im Vordergrund standen, sondern sich eher zu einem freundschaftlichen, sehr netten Austausch generierte.

 

Da seine erst 16jährige Tochter Gina hoffnungslos sowohl mit Haushalt, Versorgung und der Erkrankung ihres Vaters überfordert war, kümmerte sich seine erste Tochter Katja vermehrt um alles. Nach der kraftzehrenden Operation und Chemotherapie ging es ihm nur kurze Zeit besser, er konnte sogar noch einmal von seinem Wohnort in Würzburg zu mir nach Mergentheim fahren.

 

Ja, ich bekam einen gehörigen Schreck, bleichgesichtig, abgemagert, hohläugig – vom ehemaligen dunkel gebräunten Strahlemann war nicht mehr viel übrig geblieben. Nur Gestik und Stimme waren unverkennbar seine. Sein gesamter Zustand wurde statt besser immer schlechter und da die Kinder eine Rundumbetreuung natürlich nicht leisten konnten, kam gar bald eine Pflegeperson ins Haus.

 

Doch auch das war kein Dauerzustand, ich gab Katja den Tipp, in Würzburg eine Unterbringung zu finden, die von Hospizmitarbeitern geführt oder zumindest mit betreut wird. Diese wurde schnell gefunden. Jean kam in ein Spital und dort in ein Zimmer, das man sich kaum schöner vorstellen konnte. Das war kein Krankenzimmer im üblichen Sinne: freundliche Farben, tolle Fensterdekorationen und Bilder an den Wänden. Keine sterilen Krankenbetten oder Gestelle, sondern Holz in warmen Farben – das alles sah eher aus wie ein Wohnraum, in dem zufällig ein Bett stand.

 

Es klingt vielleicht pervers angesichts der Realität, aber diese Atmosphäre vermittelte nicht Angst und Schrecken, sondern eher Wärme und ein Wohlgefühl. Was auch auf die Besucher sicherlich abfärbte und man gerne dort hinkam und blieb. Während meines ersten Besuches, ich löste Katja von ihrem „Nachmittagswachdienst“ ab, dämmerte er eigentlich mehr vor sich hin und sprach kaum. Bei den nächsten Besuchen war er jedoch putzmunter und sehr redefreudig. Das hatte allerdings zur Folge, dass Mund und Lippen sehr schnell trocken wurden, aber dafür gab es ja diese Zitronensaftstäbchen, die ich im Schwesternzimmer holte.

 

Wir kamen immer wieder auf unsere damalige Sommertour zu sprechen und kramten unsere Erinnerungen wieder aus. Da Menschen oft unterschiedliche Wahrnehmungen von identischen Erlebnissen haben und diese dann natürlich auch so im Gedächtnis speichern, wurden das sehr heitere Rückblicke. Wir sprachen über genau den gleichen Moment oder Ablauf – und jeder hatte es trotzdem anders erlebt oder empfunden.

 

Er fragte mich: „Wann hast Du Dich in mich verliebt?“

„Sofort! Ich sah Dich beim Betreten dieses Warteraumes und wusste – das ist er. Du nicht?“

„Nö, da musste ich ja erst noch die beiden anderen checken!“

Ich musste wirklich laut lachen, das war so typisch für ihn, erst mal gucken, welches Naschwerk ihm am besten zusagt und dann schnell zuschlagen und ab in die Tüte.

 

„Weißt Du noch, da oben in der Burg von Alicante, dieser tolle Flamenco-Abend?“

„Ach ja, natürlich, das war sehr laut, ne? Da saß doch auch unser besoffener Servicefritze plötzlich rum, obwohl der sich angeblich ein Bein gebrochen hatte. Ja, und der Glühwein in der Pause, der war sensationell!“

(Innerlich musste ich lachen, lieferte er mir doch unbewusst wieder ein Puzzleteil, warum das mit uns nichts werden konnte!)

 

An einem Nachmittag äußerte er den Wunsch, noch einmal eine Reise zu machen, wenn er „das hier überstanden hat“ …  mir blieb eine Weile der Mund offen und mir wurde klar, was mir meine Tochter schon andeutete: er ist noch nicht bereit, zu gehen! Nun, man kann ja durchaus noch ein wenig träumen, obwohl einem eigentlich klar ist, dass sie sich nicht mehr erfüllen lassen. Aber seine Stimme, sein ganzer Gesichtsausdruck hatte kein träumerisches Lächeln, ihm war das bitterernst.

 

Ich brauchte einen Moment, um seine Stimmung für mich klar zu kriegen und dann schaltete ich um: „Wo würdest Du denn gerne nochmal hinfahren?“

„Wärme, Wasser, Strand, Sonne, Segelboot, noch einen kleinen Törn vielleicht, weiß noch nicht. Kommst Du mit?“

„Natürlich, Jean, ich bringe Dir beim nächsten Mal ein paar Reiseprospekte mit und dann schauen wir mal, ob wir da was finden!“

„Das ist gut!“ 

Erschöpft von unserem langen Gespräch machte er die Augen zu und döste vor sich hin und ich fuhr irgendwie rundum zufrieden nach Hause.

Ja, ich besorgte die Reiseprospekte tatsächlich und blätterte sie durch, strich sogar ein paar lohnende Ziele für ihn an, obwohl ich natürlich wusste, wie sinnlos das eigentlich war. Aber der Wunsch, ihm damit noch eine Freude zu machen, war stärker - auch wenn es immer nur ein Traum bleiben würde.

 

Nur wenige Tage später ‚segelte‘ er allein davon, still und leise …

 

Genauso war und bleibt er in meiner Erinnerung

Impressum

Texte: gittarina
Bildmaterialien: http://www.kostenlos-fotos.de/fotos/displayimage.php?pid=2734
Cover: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

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