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Das Tor ist offen

"Die Mauer ... wird in fünfzig und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben", erklärt Erich Honecker noch Ende Januar 1989.

 

Als ehemalige Berlinerin war für mich von jeher alles interessant, was in West- und Ostberlin und der Ostzone oder Sowjetzone, später dann DDR geschah. Manchmal war ich für meinen Verlobten, der als Berliner nicht mehr nach Ostberlin durfte, als Kurier „drüben“ und immer heilfroh, wenn ich wieder im Westen gelandet war.

 

Auch die monatlichen Fahrten von unserem westdeutschen Wohnort bei Köln nach Berlin waren nie ohne Spannung und stets mit einem Aufatmen verbunden, wenn wir die „Ostzone“ endlich hinter uns lassen konnten. Mehrfach hatte ich erlebt, dass es bedrückend lange dauerte, bis wir in Helmstedt den Transitzettel bekamen oder auch in Dreilinden die Erlaubnis zur freien Fahrt nach Westberlin.

 

Ab und zu fuhr ich auch allein nach Berlin, geheuer war es mir nie. Und prompt bescherte mir meine erste Nachtfahrt, kurz nachdem ich meinen Führerschein hatte, ein unangenehmes Erlebnis der besonderen Art. Ich fuhr auf der linken Spur, da die rechte eher an eine Stoßdämpferprüfstrecke vom TÜV erinnerte – sie bestand hauptsächlich aus Schlaglöchern und Rillen. Irgendwann sah ich vor mir etwas Dunkles auftauchen, dachte an ein fahrendes Auto vor mir, doch es bewegte sich nicht. In letzter Minute zog ich vor Schreck nach links (statt nach rechts), fuhr über den Grasstreifen und stand dann auf der linken Spur der Gegenfahrbahn. Stieg aus und sah mir das „schwarze Ungetüm“ an. Es war ein stattlicher Traktor, ohne Beleuchtung – ohne alles.

 

Während ich da so stand und das Monster begutachte, fiel mein Blick auch mal auf mein Auto, Licht an – Tür auf, drüben auf der anderen Fahrbahn. Und da wurde mir dann doch anders, meine Knie wurden weich und der Gedanke, wenn da nun ein Fahrzeug von Berlin nach Westdeutschland … auf der linken Spur natürlich …  als ich endlich wieder im Auto saß, zitterten nicht nur die Knie, auch mein Herz raste. Es waren sicher nur Sekunden, die ich zum kurzen Vorglühen des Diesels brauchte – ich hatte das Gefühl es waren Stunden. Solche „kleinen Schikanen“ sorgten mit dazu, dass die Stimmung nicht besonders positiv war, wenn es um Ostdeutschland ging.

 

Ein andermal hatte man es auf meinen neuen Wildledermantel abgesehen, den ich mir zwei Wochen zuvor in Holland gegönnt hatte. Er lag auf der Rückbank und wurde von den Grenzpolizisten in Dreilinden beschlagnahmt. Die Anklage lautete: „Den haben Sie auf einem Parkplatz auf der Transitstrecke von jemanden übernommen!“ Ich beteuerte das Gegenteil und glücklicherweise fiel mir ein, dass ich die Quittung noch in meinem Portemonnaie hatte. Und genau die rettete mich vor weiteren Verhören. Auch das trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich eine gute Freundin dieses Regimes wurde.

 

***** 

 

Seit Mai 1989 mehrten sich die Unruhen in der DDR. Noch wenig spektakulär wurde am Montag den 4. September in der abendlichen Tagesschau gemeldet, dass in Leipzig nach den Friedensgebeten eine kleine Demonstration auf dem Kirchhof der Nikolaikirche stattgefunden habe. Auf gerade mal fünf Transparenten war u.a. zu lesen „Für ein offenes Land mit freien Menschen“.

Da zum gleichen Zeitpunkt etliche Reporter aus der BRD wegen der Leipziger Herbstmesse dort waren, wurden sie Augenzeugen, wie Stasibeamte die Transparente herunter rissen und versuchten, die Demonstration aufzulösen. Daraufhin ernteten die Geheimpolizisten laute „Stasi raus!“ -Rufe.

 

Ende September dann die Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich, die Besetzung der Deutschen Botschaft in Prag, Genschers Verkündung am 30. September – das Freudengebrüll klingt mir noch heute in den Ohren. 

Gebannt verfolgte ich die Anfänge dieser Demonstrationen, die sich nun wöchentlich wiederholten und die Menschenmenge immer mehr anschwellen ließ. Die Spannung stieg von Montag zu Montag, intensiver hätte mich zu dieser Zeit kein Krimi fesseln können. In dieser Zeit telefonierte ich mal mit meiner Ex-Schwiegermama in Westberlin, die das ganze Geschehen aber eher zurückhaltend beurteilte und meinte, sie hätte da keine große Hoffnung.

Erst als Erich Honecker am 17. Oktober gestürzt wurde und zunächst Egon Krenz das Ruder übernahm, änderte sich ihre Meinung. Sie sagte einmal: "Wenn die Grenze wirklich geöffnet wird, muss ich vorher noch viel einkaufen, denn dann werden die Läden bald überfüllt und die Regale werden in Nullkommanix leer sein." Wie recht sie hatte, sollte sich dann bald zeigen.

 

Am 9. November war ich abends mit einer Gruppe bis 21 Uhr in meiner Praxis und schaltete dann zuhause den Fernseher an. Ich hörte Hanns Joachim Friedrichs, der an diesem Abend die Tagesthemen moderierte: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten; sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: dieser neunte November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.

 

Ich nehme an, mein Mund stand offen, so geplättet war ich und dann sah ich nur noch die Bilder: Massen von Menschen und Autos, die mit strahlenden Augen von Ost nach West drängten. Auf dem Kudamm ein großer Volksauflauf mit hupendem Autokorso und wildfremden Menschen, die sich in den Armen lagen. Ich konnte gar nicht genug davon sehen, war völlig aufgewühlt und aus dem Häuschen und heulte dabei vor Rührung wie ein Schlosshund. 

Gerne hätte ich meine Begeisterung mit jemand geteilt. Ein guter Freund wohnte in Köln und ich wusste, dass er als Arzt an diesem Tag nächtlichen Bereitschaftsdienst hatte. Also rief ich ihn an. Er meldete sich verzögert, aber mit klarer Stimme. Meine Stimme überschlug sich förmlich: „Ist das nicht irre, mein Gott, ich krieg mich gar nicht mehr ein …“ – „Äh, wie, was ist denn los?“ – „Guckst Du denn nicht, die Mauer ist auf, ist das nicht toll?“ – „Wie die Mauer ist auf?“ – „Mensch, die Berliner Mauer, die Grenze von West nach Ost und umgekehrt, wieso guckst Du denn nicht, Du hast doch Nachtdienst!“ – „Ich hatte mich gerade etwas hingelegt und bin wohl eingeschlafen, ich guck dann vielleicht mal!“ – Mein „Na denn tschüss!“, war sicher nicht mehr sehr freundlich, ich konnte dieses Desinteresse in diesem Moment überhaupt nicht verstehen. Aber ich sah es später ein, ein Kölner Urgestein, nie in Berlin gewesen … was kratzte den die DDR oder die Mauer?

 

Nun saß ich mit meinem Glücksgefühl allein auf der heimischen Couch und guckte verheult und verquollen die halbe Nacht alles noch mal und immer wieder … 

 

*****

 

Ende Mai bis Anfang Juni 92 war ich endlich mal wieder in Berlin, zu einer Tagung. Eigentlich gab es genug Abendprogramm oder Möglichkeiten, sich bestens zu unterhalten, aber ich hatte mir für zwei Tage später Karten für die Komische Oper im ehemaligen Ostberlin reservieren lassen. Das Taxi stand um 19 Uhr vorm Hotel. Ich stieg hinten ein, da auf dem Vordersitz eine Aktentasche lag. Ein älterer Herr drehte sich zu mir um, ich nannte mein Ziel. Er strahlte mich an: „Wenn Sie wollen, können wir durch das Brandenburger Tor fahren, das ist ab heute für Linien-, Reisebusse, Taxis und Radfahrer geöffnet  …“, fast bittend schaute er mich an, „wollen Sie?“

„Aber ja, das ist ja ein Traum! Ich bin wissentlich noch nie durch das Brandenburger Tor gefahren oder gegangen, bin ja mit 6 Jahren aus Berlin raus, und als ich wieder hier war, war die Grenze dicht, das ist ja Wahnsinn!“

 

Er fuhr los. Allein die Annäherung an dieses stattliche Monument, ließ schon die ersten Schauer über meinen Rücken laufen. Ich kann gar nicht konkret beschreiben, was das für ein Gefühl war beim Durchfahren. Ich glaube, ich habe sogar die Luft angehalten und plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Ich schaute schnell von hinten in den Rückspiegel in der Hoffnung, dass mein Taxifahrer das nicht gesehen hatte – aber da stellte ich fest, dass auch er Tränen in den Augen hatte.

Unsere Blicke trafen sich und er drehte sich um; „Sollen wir noch mal?“ Ich nickte nur, sprechen konnte ich grad nicht. Er stellte den Taximeter aus, drehte eine Kurve (man konnte zu diesem Zeitpunkt nur von West nach Ost das Tor passieren) rund um das Tor und noch einmal fuhren wir hindurch – es ist kaum zu beschreiben: ein solch denkwürdiges, befreiendes, befreites Gefühl. Ich kann es gar nicht so ausdrücken, denn die Gefühle spielten einfach Achterbahn.

Er lieferte mich dann an der „Komischen Oper“ ab. Als ich meinen Geldbeutel zog, schüttelte er den Kopf: „Nein, ich will kein Geld – es war einfach zu schön, mit Ihnen gemeinsam diese Fahrt zu machen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen gerne meine Karte für die Rückfahrt!“

 

Ach ja, ich hatte Karten für Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ – allerdings dieses Mal als Opernaufführung von Benjamin Britten.

Es passte – aber sowas von ...

Kleiner Exkurs

"Die Mauer ... wird in fünfzig und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben", erklärt Erich Honecker noch Ende Januar 1989.

Die Vorboten, das dem nicht so sein wird, waren weder zu übersehen noch zu überhören. Bereits am 2. Mai 1989 beginnen ungarische Grenzsoldaten mit dem Abbau des Stacheldrahtzaunes zu Österreich.

Unabhängige Bürgergruppen, die die Stimmenauszählung am 7. Mai in den Wahllokalen überwachen, überführen die SED der Fälschung der Kommunalwahl-Ergebnisse. In Ost-Berlin und anderen Städten wird am 7. jeden Monats öffentlich gegen die Wahlfälschung demonstriert.

Zu Beginn der Sommerferien ziehen viele ausreisewillige DDR-Bürger die Konsequenz: Sie besetzen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin und die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Tausende meist junge Leute fahren nach Ungarn mit dem Ziel, über Österreich in die Bundesrepublik auszureisen. Am 10. September öffnet die ungarische Regierung die Grenze zu Österreich auch für DDR-Bürger. 

DDR-Bürgern wird der Grenzübertritt von der Tschechoslowakei nach Ungarn verwehrt. Ende September besetzen über 10.000 DDR-Bürger die Botschaft der Bundesrepublik in Prag, um ihre Ausreise zu erzwingen. Am 30. September gibt Honecker nach und lässt die Flüchtlinge ziehen. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet die Nachricht vom Balkon der Prager Botschaft aus.

Die DDR-Regierung zeigt weiter Härte und lässt die Grenze zur CSSR schließen. Gleichzeitig befiehlt Honecker, die immer zahlreicher stattfindenden Demonstrationen "im Keime zu ersticken".

Sein Plan, in Leipzig Panzer "zur Einschüchterung" auffahren zu lassen, wird jedoch von führenden Militärs verworfen. Am 17. Oktober wird Erich Honecker im SED-Politbüro gestürzt.

Sein Nachfolger Egon Krenz kündigt eine "Wende" an, doch die Kundgebungen gegen die SED breiten sich nun in der gesamten DDR aus. Hunderttausende Menschen fordern freie Wahlen, die Zulassung von Oppositionsgruppen und Reisefreiheit. Und am 9. November fällt schließlich die Mauer...

 

*Teilweise übernommen aus Bekanntmachungen der Bundeszentrale für politische Bildung.

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Texte: Gittarina
Bildmaterialien: Cover: http://www.kairo.diplo.de/contentblob/2302346/Galeriebild_gross/433515/19891109_Mauerfall_Brandenburger_Tor.jpg
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2013

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