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- weit weg von zuhause -

 

In meiner Schulzeit war es noch nicht üblich, jedes Jahr eine Reise mit der ganzen Klasse zu unternehmen, da mussten wir mit Tagesausflügen vorlieb nehmen oder auch mal einem verlängerten Wochenende, das uns eine Radtour von Werne zur Römerstadt Xanten bescherte.

Erst in der Untertertia durften wir eine ganze Woche in einer Jugendherberge in Marburg an der Lahn verbringen und das auch noch zusammen mit der Obertertia unserer Jungs. Ob sich unsere beiden Klassenlehrer vorher wohl darüber im Klaren waren, auf was sie sich da einlassen. Ich bezweifle es noch heute!

An einem sommerlichen Samstagmorgen ging die Reise los. Wie zwei Bienenschwärme umschwirrten sich Jungs und Mädchen und natürlich hatten sich die meisten schon ausgesucht, neben wem sie während der Fahrt sitzen wollten. Denn so mit 14 oder 15 Jahren gab es natürlich die ersten Flirts und Liebeleien, zumal die männlichen Schüler alle mindestens ein bis zwei Jahre älter waren. Und wer schon mal eine Runde gedreht hatte, passte altermäßig natürlich wunderbar zusammen, sofern man sich überhaupt leiden konnte.

Pia und ich standen mit unseren Freunden Pit und Al zusammen und freuten uns auf die lange gemeinsame Fahrt. Ein Bus in Sicht… upps, der war aber nicht sehr groß, wie sollen wir denn da alle …
„Da kommt ja noch einer“, rief jemand und tatsächlich, ein zweiter kleiner Bus im Anmarsch. Uns schwante schon was und uns schwante durchaus richtig.

Unsere beiden Klassenlehrer wollten wohl vermeiden, dass es bereits auf der Hinfahrt zu – sagen wir mal – engeren Kontakten kommen konnte und so nur noch schnell „winke, winke“ und nach Geschlechtern getrennt kletterten wir in den entsprechenden Bus. Eine kleine Pinkelpause an einer Raststätte und der Möglichkeit und uns was zu trinken zu kaufen, unterbrach unsere Fahrt – von den Jungs keine Spur.

Wir Mädels fuhren zuerst in Werne ab, wir tuschelten und rätselten jetzt natürlich, ob das alles extra so arrangiert wurde und wir waren uns nicht mehr sicher, ob wir unsere Jungs überhaupt noch einmal wiedersehen würden. Vielleicht schliefen sie ja in einer anderen Jugendherberge? An der Raststätte tauchten sie auf jeden Fall nicht auf und wir fuhren alsbald wieder ab. So ein Mist!

Am späten Mittag kamen wir in der Jugendherberge in Marburg an, der zweite Bus war noch nicht da. Inzwischen waren wir davon überzeugt, dass die Jungs gar nicht hier, sondern ganz woanders landen würden. Natürlich stürmten wir erst einmal unseren Schlaftrakt und sicherten uns – so gut es ging – die besten Plätze. Als Einzelkind war ich nämlich scharf auf die obere Liegestatt eines Stockbettes. Und ich bekam es. Leider – später habe ich das schwer bereut. Um mal zu verbotenen Zeiten zu verschwinden, war das obere Bett schlichtweg ungeeignet.

Wir bezogen also unsere Räume, inspizierten den Waschraum, auch da bekam jede von uns einen bestimmten Bereich, alles war super organisiert. Und dann wurden wir in den Speisesaal gerufen und dachten, wir sehen nicht richtig: Überraschung! Denn die Jungs saßen bereits an den Tischen und löffelten schon mal die Suppe.

Ein lautes Hallo zur Begrüßung mussten wir uns verkneifen, hier und da mal ein Winkewinkehändchen und gut war’s. Aber danach gab es kein Halten mehr – ich glaube, so schnell haben zwei Gruppen ihre Mahlzeit noch nie verputzt. Und wir trafen uns, weil auch ein Programm erst für den späteren Nachmittag angekündigt wurde, im Innenhof. Und dort mussten wir doch diese unvorhersehbare Trennung von Männlein und Weiblein erst mal ausführlich bereden und kritisieren.

Natürlich haben wir auch in kleinen Grüppchen das Gelände inspiziert, nahe an der Lahn gelegen gab es herrliche Spazierwege, einen riesigen Spielplatz mit zum Teil modernsten Geräten ausgestattet. Heute würde man wohl Abenteuerspielplatz dazu sagen, doch diesen Ausdruck gab es damals noch nicht. Und ganz wichtig für uns: auch ein großes Sportzentrum mit einem tollen Kiosk, in dem man Getränke, Süßigkeiten und natürlich auch Zigaretten kaufen konnte. Denn wer damals auch nur annähernd zu einer Clique gehören wollte, musste entweder rauchen oder was Alkoholisches trinken oder am besten beides zusammen. Die Woche war also gerettet.

Am späteren Nachmittag ging es dann zur ersten Besichtigung und zwar zur Kasematten-Führung durch die unterirdischen Festungsanlagen des Landgrafenschlosses sowie in die unterhalb gelegene Altstadt, der sogenannten „Oberstadt“. Den Sonntag hatten wir zur freien Verfügung, herrliches Wetter und wir eroberten in kleinen Grüppchen den Bootsverleih an der Lahn.

In unserem Boot war die Stimmung irgendwie gestört. Al und mir ging es prima, aber Pia hatte schlechte Laune und Pit guckte auch nicht begeistert aus der Wäsche. Was war los? Jetzt zu fragen – war für die Katz, da würde sowieso keiner von beiden offen reden. Also nahm ich mir Pia beim anschließenden Spaziergang vor: „Was ist denn los, Du ziehst ein Gesicht zum Gotterbarm!“
„Ruth, die blöde Ziege, himmelt Pit an, das musst Du Dir mal vorstellen!“
„Na und, solange Pit nicht zurück himmelt…“
„Jaaaa, schon, aber ich sehe ihm an, dass ihm das verdammt gut gefällt. Er hat vorgestern schon gesagt, dass ihm Ruths Haarfarbe so gut gefällt.“
„Ehrlich? Ich dachte, der steht auf blond, so wie Du bist.“
„Dacht‘ ich auch, aber nun schielt er der Trine da hinterher.“
„Hast Du ihn denn gefragt, ob er mit der gehen will?“
„Bist Du bescheuert? Meinste etwa, ich bring den noch auf gute Gedanken?“
„Soll ich mal nachhaken, ob da was ist?“
„Weiß nicht, der denkt sicher gleich, dass ich Dich geschickt hab‘.“
„Na und? Er kann doch wissen, dass Dir das stinkt!“
„Und wenn er ja sagt? Was dann?“
Vor uns hinbrütend kamen wir an einer Eisdiele an und wurden schon johlend von einer ganzen Gruppe begrüßt. Damit war dann auch das Thema erst mal vom Tisch.

Die nächsten Tage standen immer wieder geführte Besichtigungen an, bei denen wir Mädchen von den Jungs strikt getrennt wurden. Wir trafen also nur zu den Mahlzeiten zusammen und natürlich abends. Pia hatte sich wieder eingekriegt, es schien also alles wieder paletti zu sein. Bis zum Freitag ging alles gut. Wir waren nach einem Besuch des „Alten Botanischen Gartens“ zuerst auf dem Weg zum Kaiser-Wilhelm-Turm und sollten uns dann mit der Jungengruppe an einem Ausflugsort namens „Spiegelslust“ treffen (benannt nach Werner Freiherr von Spiegel zum Desenberg, der im 19. Jahrhundert in Marburg studierte und diesen Platz zu einem Ausflugsziel ausbaute). Dort gab es auch eine Gaststätte mit Gartenbewirtschaftung.

Pia und ich hingen ein wenig zurück und kamen so ziemlich zuletzt an dem Platz an und plötzlich blieb Pia wie angewurzelt stehen. Ich folgte ihrem Blick und sah Ruth, die lachend auf dem Schoß von Pit saß und mit ihm schäkerte. Pia drehte sich um und hatte schon Tränen in den Augen.
„Da gehe ich jetzt nicht hin, die hat’se doch nicht mehr alle…“
Bevor ich was sagen konnte, bemerkte ich, dass Al den Pit anstuppste und was sagte, worauf Ruth in unsere Richtung schaute, uns entdeckte und von Pits Schoß hoppste. Ich meinte, einen durchaus triumphierenden Blick bei Ruth entdecken zu können, den Pia glücklicherweise nicht sah, da sie dem Geschehen ja den Rücken zukehrte.

Zu Pia sagte ich: „Komm, hat sich erledigt, sie ist schon wieder weg!“
Sie drehte sich um und natürlich entdeckte auch Pit uns jetzt und kam uns entgegen. Pia wollte abhauen, aber er erwischte sie und sie verschwanden beide für eine Weile.
Ich ging natürlich zu Al, der mir nun auch entgegen kam und mich fragte, was denn los sei?
„Na, hör mal, Du hast doch daneben gesessen. Meinst Du etwa, das wäre in Ordnung, wenn die sich da einfach auf seinen Schoß setzt?“
„Ach, Quatsch, das war doch nur Spaß!“
„So hat sie aber nicht geguckt!“, ich merkte, dass ich langsam selber sauer wurde, „diese blöde Ziege weiß ganz genau, was sie macht!“

Als wir aufbrechen wollten, fehlten Pia und Pit, hm, was für eine blöde Situation. Wir mussten wohl oder übel beichten, denn spätestens beim Nachzählen wäre unseren Lehrern aufgefallen, dass zwei fehlen. Die waren natürlich nicht begeistert und während sie noch überlegten, was nun zu tun sei, bogen Pia und Pit um die Ecke. Natürlich mussten sie sich eine Gardinenpredigt abholen, aber die verlief recht glimpflich, zumal die Essenzeiten in der Jugendherberge eingehalten werden mussten.

Der Abend begann friedlich, aber hinter den Kulissen brodelte es. Jeder der wusste, was sich da am Nachmittag abgespielt hatte – und es gab eigentlich niemanden, der es nicht wusste – beobachtete natürlich genau, wie sich wer zu wem verhielt.

Auf dem großen Gelände der Herberge gab es einige Tischtennisplatten, die wir auch fleißig benutzten. Al und ich kloppten fast jeden Abend einige Runden und neben uns spielten heute Pia und Pit. Die nächste Platte wurde kurz drauf von Ruth und Georg erobert. Nun war Georg eine besondere Nummer: er war ein großer, durchaus gut aussehender junger Mann, der das auch zur Schau trug und bei den „Normalos“ nicht sonderlich gut gelitten war. Al und besonders Pit konnten ihn nicht ausstehen. Eine pikante Situation also.

Und Ruth spielte weniger mit dem Schläger oder Georg als mit dem Feuer: sie stand so, dass sie schräg vis à vis von Pit stand. Sie alberte rum, knallte die Bälle statt auf die Platte schon mal rüber in Richtung Pit, so dass der den Ball aufhob und ihn ihr, die natürlich gleich in seine Richtung rannte, wieder anreichte. Einmal, zweimal, dreimal, viermal … und Pia rastete aus.
„Spielst Du jetzt mit mir oder mit der Zimzicke da?“, brüllte sie Pit an, schmiss den Schläger auf die Platte und haute ab.

Unser Spiel war ja nun längst auch schon eine total unkonzentrierte Hin- und Herschieberei des Balles auf der Platte, denn unsere Aufmerksamkeit galt natürlich der aktuellen Show nebenan. Ich rannte also Pia hinterher und Al kümmerte sich wohl um Pit. Während sich die beiden einen hinter die Binde gossen, erfanden Pia und ich immer neue Worte der Beleidigung für Ruth – wir waren an diesem Abend sehr kreativ.

Eigentlich sollte an diesem letzten Abend ein kleines Abschiedsfest stattfinden, das allerdings völlig in die Hosen ging. Nicht nur uns war die Stimmung verdorben, irgendwie legte sich die schlechte Laune auf die ganze Meute, weil natürlich alle was mitbekommen hatten und das „Drama“ nun im absoluten Fokus stand. Ein richtig doofer Abend.

Immerhin kriegte ich es noch hin, dass sich Pit und Pia wieder versöhnten. Denn irgendwann tauchte Al auf und ich konnte ihn informieren und bitten, Pit mal zu holen. Nun, den Rest haben wir dann den beiden überlassen, erfolgreich!

Nun war denn auch wieder Samstag und es ging zurück in die Heimat, getrennt wie auf der Hinfahrt – aber angereichert mit vielen neuen Erfahrungen. Wobei, um ehrlich zu sein, die persönlichen Querelen mehr Eindruck hinterlassen hatten, als das, was Marburg an Sehenswürdigkeiten und Schätzen zu bieten hatte.

Die habe ich dann tatsächlich erst gut vierzig Jahre später mal ausführlich genossen!

Impressum

Texte: gittarina
Bildmaterialien: Archivbild
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2013

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