Achtzehn Jahr – braunes Haar und frisch verlobt verbrachte ich die Weihnachtsferien 1962 bei meiner Großmutter in Berlin. Das war praktisch, denn nur ein Stockwerk höher wohnte mein Verlobter Hajo und es war geplant, Silvester bei Jana und Justus, Freunde von Hajo, zu feiern. Justus' Mutter war zu ihrer Schwester nach Westdeutschland gefahren und so hatten wir die große 5-Zimmer Wohnung ganz für uns.
Schon am Tag zuvor gingen wir zu viert einkaufen, ca. dreißig Leutchen waren eingeplant, also schleppten wir ganz beträchtliche Mengen an Lebensmitteln und Getränken in die Wohnung. Die beiden Männer dekorierten Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer, die alle mit Flügeltüren verbunden waren und geizten nicht mit Luftschlangen, Girlanden und Wanddekorationen. Alles, was irgendwie nach Kunstwerk und halbwegs teuer aussah, wurde entfernt, damit ja kein dummes Malheur passieren konnte.
Am nächsten Vormittag begannen Jana und ich, plattenweise Canapees, Buletten, Eierhälften und zig Schüsseln mit Salaten vorzubereiten.
Vor allem mit den Canapees gaben wir uns viel Mühe, die Verzierungen wurden immer verrückter und auch die hartgekochten halben Eier bekamen ein Häubchen aus Mayonnaise, Lachsersatz oder deutschem Kaviar. (Das war zu dieser Zeit Luxus pur für den normalen Mittelstand)
Gegen Abend trudelten die ersten Gäste ein, Jana und ich konnten uns gerade noch umziehen und ein wenig aufpeppen und schon ging es los. Die schon wochenlang zuvor aufgenommenen Tonbänder mit den Hits dieser Zeit dröhnten durch die Zimmer (die Nachbarn feierten entweder selbst, weg oder zumindest vorgewarnt!) und die Pärchen tobten sich auf dem herrlich glatten Parkett aus.
Die Flügeltüren zwischen den Zimmern standen sperrangelweit auf – also Platz satt. Nur die im Boden eingelassenen Angeln, die waren schon mal für einen gewaltigen Stolperer gut und sie vernichteten in dieser Silvesternacht drei Absätze der hochhackigen „dämlichen“ Pumps!
Die Stimmung war super, natürlich flossen Wein, Bier und andere flüssige Köstlichkeiten in Strömen, das kalte Buffet wurde ebenfalls kräftig geplündert. Nur unsere mühselig kreierten Verzierungen, vor allem der deutsche, schwarzblaue Kaviar vom Stör, der war wohl nicht so beliebt und landete selten in den Mägen, sondern eher mit einem beherzten Schwupp auf dem Rand der Pappteller.
Das neue Jahr haben wir, um es ja nicht zu verpassen, zugleich per Radio- und Fernsehsender begrüßt. Küsschen links und rechts wurden reichlich verteilt und die jeweils zusammen gehörenden Paare brauchten dann schon mal etwas länger, bis sie sich eng umschlungen die Wünsche für das hoffentlich gemeinsame Neue Jahr 1963 ins Ohr oder etwas verrutscht, an den Hals oder noch etwas tiefer in den, zu diesem Anlass, etwas üppigeren Ausschnitt geschmust oder genuschelt hatten.
Die zunächst ständig prall gefüllte Tanzfläche wies nach Mitternacht erste Lücken auf, dafür waren alle verfügbaren Sitzmöbel und Sofas doppelt besetzt. Und Justus, schon seit vielen, sehr vielen (zu vielen?) Jahren mit Jana zusammen und vielleicht nicht mehr so auf intensiven Schmusekurs aus, kam auf eine Idee. Er verschwand kurz und kam mit einem Luftgewehr zurück. Er heftete eine dicke schwarzweiße Zielscheibe mit Ringen und Mittelpunkt an die Wand über das Buffet.
Keiner wusste so recht, was ihn geritten hatte, auf jeden Fall klappte er den Lauf auf, nahm sich einen der Pappteller, schnippte mit dem Finger den verschmähten Kaviar auf, schmierte ihn in die Höhle, in der normalerweise der Diabolo platziert wurde, klappte den Lauf wieder hoch,…. avisierte die Zielscheibe und drückte ab. Wir hielten uns die Ohren zu, aber es war nur ein etwas matschig klingendes Quietschen zu hören.
Die Zielscheibe bekam sage und schreibe sechs schwarze Punkte ab, querbeet – dafür war die großformatige Ornamenttapete rundherum mit schwarzen Flecken übersät. Jana sprang auf und rief: „Bist Du wahnsinnig, was glaubst Du wohl, was Deine Mu….“, ihr versagte die Stimme und sie prustete los, „gib mal her, ich will auch mal!“
Ihr Blick wanderte von der Zielscheibe auf die linke Buffetseite, auf der eine große Büste stand, die den Kopf von Dante darstellte. „Ist das Marmor?“, und bevor Justus was dazu sagen konnte, machte es wuuuutsch… und Dante hatte einige brombeerfarbende Sommersprossen im Gesicht.
Nun gab es kein Halten mehr, jeder wollte mal und unter Lachen und Gegröle wurde der arme Dante mit Kaviar beschossen, bis nicht mehr viel Weißes zu sehen war und das Tapetenmuster dahinter im Einheitsbrei verschwand. Aus dem kurzen Lauf der Luftpistole tropfte blauschwarze Lake auf den hoffentlich versiegelten Parkettboden und im Raum stank es inzwischen schlimmer als in einer Fischmarkthalle.
Das Fest ging weiter, die Musik wurde wieder aufgedreht und das Tanzbein geschwungen. Jana und ich brachten den stinkenden und glitschigen Dante in die Küche und schrubbten unterm Wasserhahn sein Haupt, während Justus und Hajo wohl mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, die Tapete, das Buffet und den Boden zu säubern.
Es gelang irgendwie nichts richtig und da wir natürlich auch nicht mehr so ganz nüchtern waren, erheiterte uns das eher und als Jana nach einigen Minuten konstatierte: „Von wegen Marmor! Dante ist ein alter Gipskopp!“, da kriegten wir uns vor Lachen überhaupt nicht mehr ein. Natürlich ging die Farbe nicht ab und wir beschlossen, es doch lieber morgen nochmal zu versuchen.
Es war eh verabredet, dass alle, die Zeit und Lust hatten, am nächsten Tag zum Spätschoppen wieder antreten sollten, um dann auch die Wohnung wieder klar zu machen und auch die restlichen Canapees und Salate zu vertilgen.
Hajo und ich erlebten unseren „Frühschoppen“ am Neujahrsmorgen allerdings erst mal bei einer fantastischen Aufführung von Beethovens Neunter mit der „Ode an die Freude“ und von dort ging es direktemang ins Chaos zu Jana und Justus und den anderen. Jaaa, es sah durchaus schon wieder alles ganz manierlich aus.
Einige kleine blauschwarze Tupfer auf dem Parkett waren bereits unter dem wieder ausgerollten Perserteppich verschwunden. Das Buffet und die Tapeten sahen erstaunlich sauber aus – nur Dante fehlte.
Wo war Dante? In der Badewanne fand ich ihn, er hatte sich zu heute Nacht nicht wesentlich verändert und hatte Ähnlichkeit mit einem schwarzweiß gesprenkelten Dalmatiner. Justus stellte lapidar fest: „Der ist hin! Ich bring ihn morgen zum Abschleifen und wenn das nicht geht, muss ich ihr wohl einen Neuen kaufen. So’n Gipsschädel kann doch nicht so teuer sein.“ Und so geschah es dann auch.
Als die Mama nach zwölf Tagen wieder in Berlin eintraf und ihre Zimmer prüfend in Augenschein nahm, blieb ihr Blick an der Büste hängen und sie stellte anerkennend fest: „Oh, kaum ist man mal ein paar Tage weg, schon ist Dante um einige Zentimeter gewachsen!“, und zu Justus gewandt, „hast Du ihn vielleicht statt der Blumen gegossen?“
„Nein, aber mit Kaviar beschossen!“ – Nein, das hat er sich mit Sicherheit verkniffen, aber Rede und Antwort stehen musste er dann wohl oder übel doch.
Texte: gittarina
Bildmaterialien: Cover: http://mypics.at/d/9509-4/silvester-feuerwerk-7774.jpg
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2012
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