„Haben wir alles?“ – Jean klapperte ungeduldig mit den Autoschlüsseln, schnappte sich einen der Koffer und öffnete schon mal die Haustür. Ich nickte nur, während ich versuchte, die Mütze auf Katjas Köpfchen irgendwie gerade zu rücken und sie gleichzeitig in ihren Sportwagen zu setzen.
„Wo ist Jackie, hast Du den eingepackt, Mama?“
„Nein, Peter, Dein Stofftier muss noch in Deinem Bett liegen, hol es mal schnell!“
Zehn Minuten später standen wir tatsächlich samt Gepäck in der Garage und die Fahrt ging los in Richtung Bayerischer Wald. Nach zwei längeren Pausen und mindestens zwanzig Quengelfragen „Wann sind wir denn endlich daaaa?“, kamen wir am Nachmittag endlich an unserem Weihnachtsurlaubsort an. Wie bestellt lag das urige Hotel in einer wunderschönen Schneelandschaft – wir waren begeistert und stürmten die Hotellobby und dann unsere Zimmer.
Kaum hatten wir unsere Räume in Beschlag genommen und die Koffer geöffnet, klingelte das Telefon und unsere Miturlauber verkündeten ihre Ankunft. Mein Exmann Hajo nebst seiner Frau Ines und deren gemeinsame Kinder verkündeten: „Juchhu, wir haben es geschafft. Wir sind da und kommen jetzt mal hoch zu Euch.“ Nach großem Hallo und Drückerchen gingen wir erst mal zusammen einen Kaffee trinken, während die Kinder sich oben in unseren gegenüber liegenden Zimmern begeistert mit dem jeweiligen Spielzeug der anderen amüsierten. Wir hatten mit unseren beiden Wohnungen das ganze Dachgeschoss für uns – ideal!
Die nächsten beiden Tage vor Weihnachten verbrachten wir mit Spaziergängen, Schneeballschlachten, Rodelpartien und natürlich nutzen wir auch das hoteleigene Verwöhnprogramm in der großen Badelandschaft (den Begriff Wellnessoase gab es 1975 noch nicht). Mit der Kinderbetreuung wechselten wir uns oft ab, so dass auch die Mamas und die Papas immer mal wieder Zeit nur für sich hatten.
Am Mittag vor Heiligabend wollten Hajo und Ines mit ihren Kindern und Peter mal nach Furth im Wald, um sich das Städtchen anzuschauen und so fuhren Jean, Katja und ich zum Schlittenfahren zu einem uns empfohlenen, kindersicherem Rodelhang. Das Wetter war einfach nur wunderbar, die herrliche Winterlandschaft und dazu eine strahlende Sonne, die sogar die meisten Straßen schon vom Schnee befreit hatte.
So gegen halb vier waren wir trotzdem leicht durchgefroren, uns reichte der Rodelspaß und wir machten uns guter Dinge auf den Heimweg. Katja saß in ihrem Römer-Kindersitz und fummelte an ihrem Schließgurt herum, sie hatte vorher schon einige Male erfolglos versucht, den Gurt zu öffnen und plötzlich trötete sie mit stolzer Stimme los: „Guck mal, Mama, ich habe ihn auf!“
Leicht angesäuert öffnete ich meinen Gurt und begann, durch die beiden Vordersitze zu ihr nach hinten zu kriechen, um sie wieder anzugurten – in diesem Moment hörte ich knallende Geräusche, so als ob Jean massiv ins Lenkrad schlug und dazu „Scheiße!“ brüllte, irgendwas – dann war Stille. Ich hörte nichts mehr, ich spürte nichts mehr, ich merkte nichts mehr.
Ich kann nicht allzu lange weg gewesen sein, mein erster Blick ging nach hinten zu Katja – sie war nicht da! Panik brach in mir aus und ich schrie: „Katja ist weg!“ Da plumpste was und plötzlich lag Jean mit seinem Rücken neben mir und meinte: „Da ist sie doch“ und gleich danach erscholl ein Piepsstimmchen: „Das war aber glatt, Papa!“ Ich schaute wieder nach vorne und da lag sie und hatte eine blutende Wunde am Kopf.
Ich realisierte erst sehr viel später, was hier los war: Katja und ich saßen auf dem Innendach unseres Autos und Jean, der als einziger von uns vor dem Unfall noch angegurtet war, hing nun kopfunter, musste sich erst mal von dem Gurt befreien und landete damit neben mir. Und derart unsortiert, lagen wir auf dem Autodach auf der linken Straßenseite im Graben. Es gab nur noch eine einzige Fensterscheibe, alle anderen waren zerborsten, die Türen ließen sich nicht mehr öffnen und wir saßen sprachlos und wie paralysiert in der Schrottkiste, Katja krabbelte auf meinem Schoß.
„Mensch, raus hier, es stinkt nach Benzin!“, erscholl plötzlich eine ziemlich barsche Männerstimme und sofort kam Bewegung in meinen Mann. Er kroch dort, wo mal eine Windschutzscheibe war, hinaus und ich reichte ihm, wie selbstverständlich, gleich Katja hinterher. Und dann sah ich sie, rundherum um mich verteilt: lauter farbige Perlen, eindeutig von meinem mehrreihigen Modeschmuck, der damals hochmodern war.
Und ich sammelte geistesverloren und in aller Seelenruhe Perle für Perle in meine linke Handfläche und steckte sie in meine Hosentasche – als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres auf dieser Welt. Doch dann erreichte mich wieder diese schrecklich laute Stimme, die mich bewog, nun auch aus dem Wrack zu klettern. Kaum war ich draußen, hielt ein Rotkreuzauto auf der anderen Straßenseite, was der Mann mit der lauten Stimme gar nicht verstand: „Woher wussten die das denn schon?“
Die beiden Rotkreuzler packten Katja und mich hinten in ihren Wagen und fuhren los, warum Jean nicht mit kam, wunderte mich zwar, aber er wollte wohl beim Auto bleiben. Nach kurzer Zeit hielt der Sanka wieder an und der Beifahrer meinte: „Hier ist der Unfall, zu dem wir gerufen wurden, das wir bei Ihnen zuerst vorbei kamen, ist reiner Zufall.“
Links unten in der Böschung sah man nur das Hinterteil eines Autos, kein Mensch zu sehen, aber kurz drauf zu hören: „Wieso soll ich denn bei Ihnen mitfahren, ich kann doch selber fahren…“ und das beschwichtigende Gemurmel von einem der Retter. Sie nahmen den Mann, der sich massiv wehrte, vorne mit in die Führerkabine und klemmten ihn quasi zwischen sich ein.
Katja und ich saßen ja entgegen der Fahrtrichtung, aber ich riskierte einen Blick nach vorne und sah einen kugelrunden, blutroten Hinterkopf mit der zum Nacken hin zusammengeschobenen Kopfhaut und erkennbaren Haarresten. Mein erster Gedanke war: „Der wurde skalpiert wie ein Feind der Indianer!“
Nach einer Fahrt, die mir plötzlich endlos vor kam, weil ich sehr bemüht war, Katja abzulenken, landeten wir endlich in Furth im Krankenhaus. Katja bekam ein Klammerpflaster auf die Stirn und eine Tetanusspritze – ihr war, wie wir später feststellten, die Spitze vom Shellatlas an den Kopf geknallt. Ich hatte wohl eine kleine Wunde oben an der Nasenwurzel, offensichtlich von meiner Brille, die wir später zermatscht im Wrack fanden.
Und plötzlich meinte der Arzt zu mir: „Öffnen Sie mal bitte den Mund!“ – Ich muss ihn wohl sehr verdattert angeschaut haben: „Warum?“ Das bisher lächelnde Gesicht meines Gegenübers wurde ernst. „Oha, dann legen Sie sich bitte mal hier auf die Liege.“ Es wurde immer verrückter, was sollte denn das jetzt? Er untersuchte mit einer kleinen Stablampe meine Augen, maß den Blutdruck und ich sollte mit geschlossenen Augen mit beiden Zeigefingerspitzen die Nase berühren, was mir absolut nicht gelingen wollte.
„Sie sind in einem Schockzustand! Außerdem haben Sie sich auf die Zunge gebissen, deshalb das Blut im Gesicht, Ihrem Hals und am Pullover.“ - ‘Blut? Son Quatsch‘, dachte ich, schaute an mir runter und tatsächlich, mein beigefarbener Pullover hatte ziemlich großflächige Blutflecken. Auch meine rechte Hand war blutverschmiert und wie ich kurz darauf im Spiegel sah, natürlich auch das Gesicht.
Nach zwei Stunden gab der Arzt nach erneuter Kontrolle endlich Entwarnung und wir wurden von Hajo und Jean abgeholt. Natürlich war im Hotel die Weihnachtsfeier nebst Weihnachtsmenu längst gelaufen, aber Ines hatte zusammen mit dem Personal oben in ihrem Appartement ein kleines festliches Buffet aufgebaut. Nachdem wir zuerst mal die Bescherung für die inzwischen ziemlich zappeligen Kinder zelebriert hatten, gab es dann für alle noch ein tolles Abendessen. Aber nach einem Glas Sekt hatte ich das Gefühl, ich sei sturzbetrunken.
Das Erwachen am nächsten Morgen war mehr als seltsam. Ich hatte das Gefühl, dass jeder meiner Knochen einzeln irgendwo und völlig verdreht auf der Matratze lag und Jean ging es nicht anders. Wir konnten nicht ausmachen, wo es uns besonders weh tat, es schmerzte einfach alles. Nur Katja saß, trotz Beule am Kopf, bereits putzmunter inmitten ihrer Weihnachtsgeschenke.
Nachdem wir uns mühsam aus dem Bett gequält hatten, fuhren wir mit Hajo nach dem Frühstück nochmals nach Furth und schauten uns die schäbigen Reste unseres Autos an. Eingedelltes, platt gedrücktes Dach, dadurch nach außen gebeulte Türen, zerborstene Scheiben, Haube völlig schief, verbogen und natürlich über und über mit Grasbüscheln und Dreck überzogen.
Meine Güte, sah das grauslich aus! Hajo meinte spontan: „Kaum zu glauben, dass Ihr da überhaupt heil wieder rausgekommen seid!“
Ich glaube, in diesem Moment ist mir erst so richtig bewusst geworden, welch unverschämtes Glück wir alle drei hatten und ich sandte einen verstohlenen Blick gen Himmel und flüsterte ein „Dankeschön!“ nach oben zu wem auch immer, denn ich hatte das Gefühl, dass da wohl jemand schützend die Hand über uns gehalten hatte.
Und seitdem ist für mich Weihnachten auch wie ein kleiner zweiter Geburtstag, für den ich, wenn auch nur still und leise, sehr dankbar bin.
Texte: © gittarina
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2011
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