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Starke Kinder - schwache Eltern

Am 1. August 1968 begann für uns alle ein neues Leben. Mein Sohn und ich zogen nach Köln und lebten nun zusammen mit meinem Vater KG, der als Intendant im WDR arbeitete, in einem Häuschen mit Garten in Köln.

Sohnemann machte zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Kindergarten, der in nur wenigen Minuten am Ende unserer Straße gut zu erreichen war. KG startete seinen neuen Job im Rundfunkgebäude und ich hatte mir schon einige Wochen zuvor eine vorübergehende Stelle als Kindererzieherin in einem Direktorenhaushalt in Lindenthal, nur einige Ecken weiter, gesichert. Es sollte eine kurze Übergangszeit werden, bevor der Umzug nach Sindelfingen in Baden-Württemberg anstand. 

 

Mein erster Arbeitstag, einige Tage später an einem Montag, begann recht eigenartig – zunächst mal hatte ich abends zuvor vergessen, den Alarmknopf am Wecker zu aktivieren und verschlief.

Gegen neun Uhr sollte ich antreten, um zehn Minuten vor Neun wurde ich wach. Hektik brach aus, zweimal Katzenwäsche, anziehen, Minifrühstück für Peter, Frühstückstasche packen, Kindergarten und dann los.

Gegen zehn Uhr erreichte ich meinen neuen Arbeitsplatz. Mein Blick über das sehr hübsche Anwesen erfasste die Hausfront bis zu den Dachfenstern, von denen eines zersplittert war. Automatisch schaute ich herunter in den Vorgarten und entdeckte neben einigen Scherben, eine Flasche Dimple Scotch Whisky, leer natürlich.

 

Dann ging die edle weiße Haustür auf und heraus kam die Dame des Hauses. Sie hielt sich die Fingerspitzen vor das linke, eindeutig blaue und geschwollene Auge und versuchte irgendwie mich anzulächeln, was ihr jedoch völlig misslang.

„Gut, dass Sie da sind, mein Mann hat mich heute Nacht belästigt, ich gehe jetzt zum Arzt und lasse mir das hier bescheinigen und mich verarzten. Gehen Sie doch bitte mal hoch, die Kinder sind noch hinten im Kinderzimmer, kümmern Sie sich mal um die.“ Und dann rauschte Madame ab.

 

Schluck! Belästigt, nennt man das also heute! Ich wollte in diesem Moment nicht wissen, wie sie wohl ausgesehen hätte, wäre sie nach ihrer Meinung verprügelt worden ... Erstmal war ich heilfroh, dass mein Sohn nicht bei mir war, sondern im Kindergarten - das war ja ein toller Einstand!

 

Mit einem verdammt mulmigen Gefühl ging ich ins Haus, gleich die weißgoldene, geschwungene Treppe hinauf in die erste Etage, die Schlafzimmertür lag zersplittert im Flur, die Betten zerwühlt und leer, am Bad vorbei zu den Kinderzimmern, die von außen abgeschlossen waren. Die beiden Lütten, zwei und vier Jahre alt, saßen auf ihren Betten und freuten sich, endlich befreit zu werden.

Und ich stellte mir in diesem Augenblick vor, hier wäre aus irgendwelchen Gründen ein Feuer ausgebrochen, die Kinder hätten ihre beiden Zimmer nicht verlassen können. 

 

Sie schienen von der nächtlichen, vermutlich sehr lauten Kampfszenerie ihrer Eltern, nichts gehört zu haben. Da sie mich ja schon zweimal gesehen hatten und wussten, dass ich nun für sie da war, fremdelten sie nicht, sondern stürmten gleich in ihr nun offenes Spielzimmer, das noch vor ihrem Schlafzimmer lag.

Derweil konnte ich in Ruhe die Reste der Schlafzimmertür an der Wand aufstellen, das sah dann nicht mehr ganz so gewalttätig und zerstörerisch aus.

 

Doch wo war der Herr des Hauses? In welchem Zustand würde ich ihn wohl finden? Ich stieg mit Herzklopfen die Treppe zum Dachgeschoss hoch. Nach dem zersplitterten Fenster von außen zu urteilen, kam nur ein Raum in Frage – und tatsächlich, da lag er tief und fest schlafend und laut schnarchend in seinem Bett. Die Raumluft war dank der kaum noch vorhandenen Glasscheiben ausgezeichnet, seine Hände und Arme wiesen leichte Schürfwunden auf – aber einen akuten Handlungsbedarf konnte ich nicht erkennen. Die Kinder waren jetzt einfach wichtiger.

 

Waschen, Zähne putzen, Haare kämmen, anziehen – inzwischen war es kurz vor elf. Auf meine Frage nach ihren Frühstücksgewohnheiten bekam ich die Antwort im Duett: „Kaba!“- und Steven der Ältere ergänzte: „In unseren Bechern hier oben im Spielzimmer.“ Aha, also kein Frühstück zusammen mit Mama und Papa und Brötchen oder Müsli oder so? Nein!

 

Die Rückkehr der nun bestens verarzteten Dame des Hauses nutzte ich, um sie zumindest zu fragen, ob für das Mittagessen irgendetwas vorgesehen sei, bevor sie wieder in ihren türlosen Gemächern verschwand. Die Antwort: „Nein, schau‘n Sie mal und machen Sie halt was!“

Okay, ich schaute und machte was, nachdem ich die beiden Lütten gefragt hatte, was sie mögen. Die Antwort verwunderte mich nicht: Spagetti mit Tomatensauce! Und so geschah es!

 

Der Hausherr platzte dann am frühen Nachmittag in unsere Spielrunde, begrüßte mich und meinte nur: „Sie sehen, wie wichtig Sie hier für uns sind!“, nickte mir zu und verschwand wieder. Die Dame des Hauses hatte offensichtlich das Haus irgendwie wieder verlassen, ich fand sie nirgendwo.

Gegen vier war meine Dienstzeit eigentlich beendet, denn um halb fünf musste ich meinen Sohn vom Kindergarten abholen. Es war aber niemand da, dem ich die Kinder anvertrauen konnte. Also schrieb ich einen Zettel, legte ihn auf den Küchentisch, schnappte mir die beiden Jungs und wir holten gemeinsam meinen Lütten ab. So hatte ich mit einem Schlag drei Jungs im Haus und mir schwante: 'Na, das kann ja lustig werden!'

Und es wurde lustig!

 

In den nächsten Tagen erfuhr ich mehr, als ich eigentlich hören oder wissen wollte. Ihre Version: Sie war einmal seine Sekretärin und löste den Ehestand der vorherigen geehelichten Sekretärin ab. Nun gab es eine neue Sekretärin, ein junges Ding von etwa zwanzig Jahren und diese sei nun die neue Favoritin des Hausherrn.

Seine Version: Er habe sie aus einfachen Verhältnissen rausgeholt und was ist der Dank dafür? Sie lässt ihn nicht mehr ran und betrügt ihn mit dem gemeinsamen Hausarzt. Alles klar?! Ich dachte nur: 1 : 1 - 

 

Mich erschütterte nichts mehr, ich kümmerte mich um die Kinder und gar bald waren es nicht mehr zwei, sondern drei. Denn mein Kleiner hasste die im Kindergarten angeordnete Mittagsruhezeit auf kleinen Pritschen. Er war es auch nicht gewohnt, zu bestimmter Zeit gefälligst müde zu sein und das wollte ich ihm auch nicht antun. Also nahm ich ihn mit und er war bald inmitten der Runde und verstand sich vor allen mit Steven, dem gleichaltrigen Sohn meiner Arbeitgeber sehr gut. 

 

Die Atmosphäre in diesem Hause war sehr oft unter dem Nullpunkt, die Sommermonate verbrachte ich mit den Kindern meistens draußen und ab Oktober gingen Steven und mein Sohn vormittags zusammen in einen neu gegründeten Montessori-Kindergarten. Für Marc, den jüngsten der drei, fand ich eine Kinderspielgruppe, die abwechselnd von den Müttern und mir angeleitet wurde. 

Eines Tages fragte ich mal nach dem VW, der draußen im Carport stand und nie benutzt wurde. Madame schaute mich an und meinte spontan: „Den können Sie gerne haben, der gehört meinem Bruder, aber der hat keinen Führerschein mehr und bis der den je wieder bekommt, will der das Auto nicht mehr, da bin ich mir sicher. Aber Sie müssten ihn auf eigene Kosten wieder durch den TÜV bringen, die Schlüssel und die Papiere habe ich hier.“

So kam ich innerhalb von wenigen Minuten zum eigenen Auto, fuhr ihn rückwärts aus dem Carport auf die Straße und landete gleich sanft aber direkt am einzigen Lichtmast weit und breit. Die erste eigene Macke in der hinteren Stoßstange und ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes mein neues Auto gleich mal "eingefahren". Aber für insgesamt 280 Mark Werkstattkosten bekam ich ihn durch den TÜV und dann war er meiner. Oh, ich war ja so stolz!

 

Zwei Tage vor Weihnachten stand ich morgens mit meinem Sohn vor einem leeren Kinderzimmer und auch das Schlafzimmer der Hausherrin war unberührt. Ihn wähnte ich schlafenderweise oben in seiner Dachbehausung. Doch das war ein Irrtum. Gegen elf Uhr klingelte das Telefon:

„Meine Frau ist gestern Abend mit den Kindern zu ihren Eltern abgedampft und ich bin bei meiner Freundin. Können Sie noch ein Weilchen bleiben? Ich komme gleich!“

Klar konnte ich, hatte mir zum Verschwinden von ihr und den Kindern schon so etwas gedacht und hütete nun das Haus bis er kam. Was war geschehen? Freunde von beiden hatten ihn in der Nacht zuvor in Düsseldorf in der Bar „Femina“ mit Freundin gesehen und dies natürlich gleich gestern Nachmittag seiner Frau brühwarm erzählt. Darauf sei sie mit den Kindern abgehauen und habe ihm lediglich einen Zettel auf den Tisch gelegt.

 

Und dann kam seine Frage: „Würden Sie sich weiter um die Kinder kümmern, wenn ich es schaffe, sie hierher zurück zu holen?“ Meine Antwort kam nur sehr zögerlich, denn ich wusste, dass ich ihm einige unangenehme Tatsachen an den Kopf werfen musste. Der Herr Papa hatte ja nun einige „Hobbies“, die ziemlich konträr zu einer hingebungsvollen und liebevollen Fürsorge und Erziehung seiner beiden Jungs lagen.

Und ich teilte ihm genau meine Bedenken mit und: „Wenn die Lütten einige Wochen hier zu Besuch sind, gerne und sofort und dann bleibe ich samt meinem Sohn auch hier. Aber ich denke, dass die Kinder in erster Linie ihre Mutter brauchen, beachten Sie mal das Alter der beiden. Ich bin gerne und jederzeit für sie da, bin aber für Steven und Marc immer nur ein Ersatz!“

Meinem Arbeitgeber fiel zwar die Kinnlade runter, aber meine Worte schienen ihn auch ein wenig nachdenklich zu machen. Das Resultat: die Kinder blieben weiterhin bei der Mutter und ich wurde sozusagen seine Hausdame: ich bereitete ihm wohl zum ersten Mal in seiner verkorksten Ehe zumindest werktags das Frühstück, bevor er gegen zehn Uhr in seinen Konzern fuhr, beschäftigte möglichst sinnvoll Putz-, Waschfrau und den Gärtner, der im Winter allerdings nicht viel zu tun hatte.

 

Ab und zu hatte ich jetzt allerdings auch 'Nachtdienst', denn Monsieur hatte nun zunehmend Ärger mit seiner derzeitigen Sekretärin und zugleich Geliebten. Sie hegte natürlich große Hoffnungen darauf, dass ihr Chef und Geliebter ein Gewohnheitstier ist und sie gar bald - samt Ehering - einen Sprung in die edle Villa machen könne. Aber er dachte gar nicht daran, besuchte sie ab und zu, ohne jegliche Verbindlichkeit. Und das war wohl ein bisschen zu viel Unverbindlichkeit für die junge Frau.

Mein Einsatz und Notdienst war immer dann gefordert, wenn sie mal wieder versuchte, sich mit Alkohol und Tabletten zu vergiften. Es war immer der gleiche Ablauf: Er holte mich ab, da er einen Türschlüssel zu ihrer Wohnung hatte, ich checkte die Situation: reicht es, wenn ich sie über den Badewannenrand 'hänge' und zum Kotzen bringe oder brauchen wir den Krankenwagen. Meistens reichte die erste Maßnahme völlig aus, denn sie war glücklicherweise relativ einfallslos in ihren Bemühungen, sich umzubringen - bzw. ihn auf diese Weise von sich überzeugen zu wollen. 

Das ging aber nun völlig in die Hosen, denn er dachte nicht im Traum daran.

 

Dann plötzlich die Wende, das Wochenende direkt nach Karneval nutzte das Ehepaar zur Versöhnung und am 24. Februar war die Familie wieder komplett und wir fuhren kurz danach allesamt in die Schweizer Berge nach Parpan zum Skifahren. Vierzehn Tage nahezu eitel Sonnenschein und das Wetter passte sich an. Auch für meinen Sohn und mich eine herrliche Zeit.

 

Die Harmonie dauerte bis Mitte Juni, dann eröffnete sie mir: „Ich halte es hier nicht mehr lange aus und fahre nächste Woche erst mal in Urlaub. Mit wem, können Sie sich ja vielleicht denken! Ohne die Kinder. Mein Mann hat auch Urlaub und zusammen können Sie das doch gut schaffen, nicht wahr?“

Da die Möglichkeit: Absprache mit Betroffenen oder gar Rücksicht auf dieselben, in diesem Hause nicht sonderlich gepflegt wurde, nickte ich nur und sagte: „Okay, aber Mitte August brauche ich auch einige Urlaubstage, denn der ist bereits gebucht."

 

Das machte auf sie allerdings nur wenig Eindruck, denn sie kam nicht zurück, ließ auch nichts von sich hören und ich musste notgedrungen alles absagen bzw. verschieben, denn beim Vater wollte und konnte ich die Beiden nicht lassen. Der, so dachte ich, amüsierte sich derweil offensichtlich mit seiner Dulcinea auf einer Kreuzschifffahrt.

Anfang September trudelte der Hausherr wieder in Köln ein. Da seine Freundin seltsamerweise mit keinem Wort mehr erwähnt wurde, fragte ich irgendwann nach und bekam zu hören: „Das ist vorbei! Ich war mit meiner Neuen auf dem Schiff, die passt einfach besser zu mir!“

Aha! Günstiger Augenblick, dachte ich und schob nach: „Gut, aber passt sie auch zu den Kindern? Denn Ende November ist meine Zeit hier zu Ende, da ich am 1.12. heirate und dann nicht mehr in Köln, sondern in Sindelfingen wohnen werde.“ –

 

Obwohl ich ihm schon einige Male von meinem Verlobten und unseren Plänen erzählt hatte, dass meine Zeit hier begrenzt sei, ihn gefragt hatte, ob er oder ich mal eine Suchanzeige inserieren sollte - erst jetzt schien er zu kapieren, dass sich hier irgendwann was verändern wird bzw. werden muss!

 

"Sie wollen wirklich weg? Ich dachte, Sie bleiben dann in Köln und ..., ich weiß nicht, Marlene kennt die Kinder ja noch gar nicht“, kam da ein wenig erschrocken zurück, „wie machen wir denn das am besten?“

Also entwarfen wir einen Schlachtplan: ich lernte Marlene zunächst mal ohne die Kinder kennen, eine patente Frau, sie gefiel mir gut, gab sie dann als „meine“ Freundin aus, die uns nun öfter besuchte und mit uns allen spazieren oder einkaufen ging. 'Glücklicherweise' verstand sich Marlene nicht nur mit dem Papa der beiden Jungs sehr gut, sondern auch mit den Kindern selbst - und wir haben es tatsächlich geschafft, das eigentliche Dilemma in ein positives Ende zu manövrieren ... 

 

Die eigentlich traurige Geschichte nahm einen durchaus positiven Verlauf. Steven und Marc mochten Marlene und sie mochte auch die Kinder und die „Übernahme“ erfolgte peu á peu ohne Heulen und Zähneklappern.

Und ich konnte mich beruhigt samt Sohnematz dem Abenteuer neue Ehe und dem Umzug von Köln nach Sindelfingen widmen.     

Impressum

Texte: Gittarina
Bildmaterialien: eigene
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011

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