1.Kapitel
„Natalie!“, schreie ich entsetzt, als sie wie ein Stein auf den kalten Asphalt knallt. Obwohl ich nur etwa zehn Schritte von ihr entfernt stehe, kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich endlich zu ihr gelange.
Oh mein Gott, ist sie tot? Vorsichtig beuge ich mich über ihr Gesicht und checke ihren Atem. Nichts! Mist! Was soll ich tun? Mein Handy hat keinen Akku mehr und niemand ist da, der Natalie helfen könnte ausser mir. Natalies Teint ist kreidebleich. „Natalie! Natalie kannst du mich hören?“…keine Antwort. Wie funktioniert die Wiederbelebung denn schon wieder? Wir hatten doch mal einen Erste Hilfe Kurs in der Schule vor etwa zwei Jahren. Ich beginne mit beiden Händen auf ihrer Brust, im Takt eines bekannten Liedes, herumzupumpen. Das hab ich mal in Galileo gesehen. Leise und mit zittriger Stimme beginne ich zu singen: „Ha-ha-ha-ha staying a life!“ Lebe! Bitte…stirb nicht!
Natalie zeigt keinerlei Reaktion. Wie eine Leiche liegt sie mitten auf dem Boden, der kleinen Gasse. Verzweifelt pumpe ich weiter, bis mich plötzlich eine grosse, kühle Hand an der Schulter wegzerrt.
„Lass mich! Du machst das ganz falsch!“, sagt der Fremde energisch. Wie peinlich! Wie ein Häufchen Elend weiche ich ein paar Schritte zurück, setze mich auf den Boden und umfasse meine Knie um mich selbst zu wärmen.
Ein eisiger Wind heult mir entgegen. Der Fremde, ein junger Mann, pumpt mit seinen starken Händen auf Natalie ein. Immer und immer wieder. Es sieht fast so aus, als wolle er sie erdrücken. Doch es nützt nichts. Verunsichert nimmt er seine Hände weg von Natalies Körper und beugt sich über ihr Gesicht. Er beginnt Natalie…zu KÜSSEN?! Wie hat er denn jetzt den Mut dazu so etwas zu tun?!...Ach nein…Im Gegenteil. Er reisst ihr mit den Händen den Mund auf und pustet auf sie ein wie ein Verrückter. Dabei hält er ihr die Nase zu. Macht man das tatsächlich so?
Er pustet und pustet und pustet…wie der Wolf bei den drei kleinen Schweinchen, welcher ihnen die Häuser wegpustet.
Doch…ja! Oh Gott! Natalie atmet! Verkrampft hustet sie. Ein riesengrosser Stein fällt mir vom Herzen. Ich springe sofort auf und will zu ihr rennen und sie umarmen. Doch…es gelingt mir nicht. Ich renne zwar in ihre Richtung…aber irgendwie wird die Distanz zwischen uns immer grösser. Was zum Teufel…?! Renne ich etwa rückwärts? Unmöglich!
Plötzlich nehme ich aggressive Töne wahr. Sie werden lauter...Verwirrung. Es ist ein Lied! Ich kenne es sogar. Ich höre es doch jeden Morgen…Moment mal…das ist doch…oh Mist! Mein Wecker. Ein grelles Licht sticht mir in die Augen als ich sie vorsichtig öffne. Einen Schlag auf meinen Wecker und er verstummt. Einen kurzen Moment lang widme ich meine Gedanken wieder meinem Traum. Oder eher “meinem Alptraum“! Horror pur! Aber wer war dieser junge Mann? Ein Engel? Ich schlucke nervös. Zu gerne hätte ich weiter geträumt und erfahren wie es mit Natalie und dem Engel ausgegangen wäre.
Doch das Schlimmste am Ganzen ist, dass mir Natalie einmal erzählte, dass sie als kleines Kind einmal einen Herzstillstand erlitten hatte und das jeder Zeit ein zweites Mal passieren könne. Eine Träne kullert mir langsam die Wange hinunter.
Aber jetzt ist es Zeit um aufzustehen! Es ist sieben Uhr morgens und ich habe noch genügend Zeit bis ich zur Arbeit muss.
Ich stemme mich aus meinem Bett und gehe als erstes zu meinem Kleiderschrank um mich umzuziehen. Nach längerem Herumwühlen entscheide ich mich für die brave, weisse Bluse und die blauen Röhrenjeans. Verschlafen schlendere ich die Treppe hinunter in die Küche. Am Esstisch sitzen mein Vater und meine ältere Schwester Leslie, welche mich feindselig betrachten.
„Was ist denn euch über die Leber gekrochen?“, frage ich verdutzt. Keine Antwort… Verärgert öffne ich den Kühlschrank und entnehme den Butter und den Honig. Entnehme…das tönt so schrecklich fachmännisch. Na ja was soll’s. Mit einer Brotscheibe setze ich mich zu meiner Familie.
„Was gibt’s neues?“ Mein Vater lässt sich lange Zeit für die Antwort auf meine Frage. „Deine Mutter…sie hat uns zum Frühlingsputz verdonnert, während sie einen ruhigen Tag bei ihrer Cousine verbringt.“ Ohne Worte verschlinge ich mein Honigbrötchen und leere den Orangensaft mit ein paar gierigen Schlücken in mich hinunter. Ich stehe auf, versorge meinen Teller und laufe zur Küche raus. „Tiffany, Wo willst du hin?“, ruft mir meine Schwester hinterher, doch ich antworte ihr nicht. Auf einmal habe ich es furchtbar eilig. Vielleicht weil ich mit putzen fertig sein will, bevor ich zur Arbeit muss, damit ich nach der Arbeit noch was mit meinen Freunden unternehmen kann.
Müde lasse ich mich in den weichen Sessel plumpsen, welcher in der Ecke meines Zimmers steht. Ich habe einen langen und anstrengenden Arbeitstag hinter mir. Oh Stress, lass nach.
Meine Müdigkeit ist jedoch noch lange kein Grund, nachher nicht mit meinen Freunden abfeiern zu können. Schon bald wird mich meine beste Freundin Natalie abholen. Doch bis dahin, ruhe ich mich noch ein wenig aus, trinke Kaffee und bereite mich für den Abend vor.
Ding dong…
„Dad, öffne die Tür, es ist Natalie!“, rufe ich von meinem Zimmer aus hinunter, während ich mich in den engen Jeans-Minirock zwänge.
„Keinen Respekt haben sie, die Jugend von heute! Haben das Gefühl ihre Eltern rumkommandieren zu können, ohne auch nur einmal “Bitte“ zu sagen…“, höre ich meinen Vater meckern.
„BITTE!“, füge ich mit lauter Stimme schnell noch hinzu.
Meine Haare und mein Make Up sind schon gemacht. Es klopft an meiner Zimmertür…
„Komm rein.“
„Hi“, sagt Natalie fröhlich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, wie das der Grinsekatze aus “Alice im Wunderland“. „Bist du schon fertig?“, fragt sie. Ich nicke nur, währenddessen ich mir meine Ohrringe anstecke. Handy, Portemonnaie, Geld…okay, ich hab alles dabei.
Gemeinsam mit Natalie stürme ich die Treppe hinunter zur Garderobe und ziehe meine pinken High Heels an. So jetzt geht’s los.
Einige Minuten später stehen wir schon in der laaaaangen Warteschlange vor dem Club “Star Flash“. Neben uns stehen Jeremy und Luke, welche wir auf dem Weg noch abgeholt haben. Die Schlange geht leider nur sehr langsam vorwärts. Ungeduldig wechsle ich mein Gewicht vom einen Bein aufs andere. Natalie stöckelt nervös auf ihren Pumps rum.
„Aaaaah...ich muss mal!“, zischt sie mir durch ihre zusammengepressten Zähne ins Ohr. „Warum bist du nicht zu Hause gegangen? Oder bei mir?“
„Zu der Zeit musste ich ja noch gar nicht! Ich hoffe nur die Schlange geht schnell vorwärts.“
„Natalie?!“
Wie ein Wirbelwind dreht sich Natalie in Richtung des Jungen, der weit vorne in der Schlange steht, welcher sie gerufen hat.
„Jake!“ Mit freudiger Stimme ruft sie seinen Namen. „Was machst du denn hier?“
„Feiern natürlich! Kommt zu mir nach vorne, sonst kommt ihr hier nicht vor Mitternacht rein!“
Auf ein Wort drücken wir uns aus der Warteschlange raus, laufen einige Meter nach vorne und quetschen uns dort, wo Jake steht, wieder rein.
„Danke viiiiiielmals!“, lächelt Natalie.
Jake lächelt nur zurück und beschimpft die zwei Mädchen, welche hinter uns stehen: „Die gehören zu mir okay?! Und wenn ihr ein Problem damit habt, dann klärt das mit den Türstehern oder so!“
Ich schmunzle. Ach…ich wünschte, ich hätte auch einen älteren Cousin, der immer für mich da wäre und einfach alles für mich täte.
„Der Nächste!“, brummelt einer der Türsteher mit tiefer Stimme.
Jake macht einen kleinen Schritt nach vorne, während der Türsteher ihm einen Stempel auf die Hand drückt, damit man weiss, dass er zugelassen ist, falls er kurz das Gebäude verlassen will. Und schon verschwindet er im Club.
„Nächster!“
„Hi“, piepst Natalie mit ihrem zuckersüssen Lächeln. Auch sie und Luke bekommen einen Stempel auf den Handrücken und verschwinden.
„Nächster!“ Jetzt sind ich und Jeremy dran. Erwartungsvoll strecken wir dem Türsteher unsere Hände entgegen, von denen er nur Jeremys Hand packt und ihn stempelt. Jetzt wendet er sich mir zu. Meine Hand zeigt immer noch ausgestreckt in seine Richtung.
„Du nicht!“
Einen kurzen Augenblick lang, stockt mir der Atem.
„Was?“
„Du nicht, hab ich gesagt! Ausweis bitte.“
Aus lauter Nervosität beginne ich zu zittern.
„Hab ich nicht dabei.“
„Und wie alt bist du?“
„Sechzehn…“
„Das glaub ich dir nicht. Los verschwinde!“, schimpft der junge Türsteher unhöflich. Ich gib ihm keine zwanzig Jahre…
„Aber ich bin wirklich sechzehn! Sogar schon sechzehneinhalb! Sie können sogar meine Freunde fragen!“ Langsam beginne ich, mich aufzuregen. Was fällt dem eigentlich ein, mich so zu behandeln?!
„Ja das bestätige ich!“, ruft uns Jeremy vom Eingang aus entgegen, welcher alles mit offenem Mund beobachtet.
„Verschwinde!“
„Aber ich muss da rein! Meine Freunde sind hier drin!“
„Tja, dann wartest du am Besten draussen auf sie. Oder du gehst nach Hause!“
Was für eine Frechheit! Wütend stampfe ich aus der Warteschlange hinaus in die Dunkelheit und setze mich vor dem Club auf eine Sitzbank. Die Tränen steigen mir in die Augen. Dann warte ich halt. Was für ein Arsch!
Ich warte immer noch. Inzwischen sind schon eineinhalb Stunden um und Natalie hat mir schon etwa fünf SMS geschickt. Dass ich nicht reinkommen dürfe und draussen auf sie warte, habe ich ihr zurück gesimst.
Die Kälte da draussen ist kaum auszuhalten. Doch ich habe keine Lust nach Hause zu gehen, da ich sonst gleich wieder den Haushalt erledigen müsste, da mein Vater sich wahrscheinlich ein Baseballspiel anschaut und meine Schwester bei ihrem Freund ist. Meine Mutter kommt, laut ihrem Anruf am Mittag, erst morgen wieder.
Verachtend schaue ich zum Club, vor dessen Eingang die Warteschlange enorm geschrumpft ist. Die drei Türsteher wechseln sich anscheinend jede halbe Stunde ab. Dieser Trottel, welcher mir nicht geglaubt hat, dass ich sechzehn bin, ist vor ein paar Minuten in der Dunkelheit verschwunden, Richtung Bahnhof. Wie entwürdigend das ist, nicht reingelassen zu werden, weil dir jemand nicht glaubt, dass du sechzehn bist! Am ganzen Leibe zitternd, kuschle ich mich in meine Jacke ein und lege mich auf die Bank. Meine Hände verwende ich als Kopfkissen. Erschöpft schliesse ich meine Augen…
„Buuuuh!“ Die tiefe Stimme, welche mir nur zu bekannt vorkommt, reisst mich aus meinem Nickerchen. Verärgert setze ich mich auf.
„Was?!“, fauche ich.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Hast du aber und jetzt verschwinde!“ äffe ich den jungen Türsteher nach. Doch er bleibt hartnäckig und setzt sich neben mich.
„Hier ist besetzt!“
„Ach ja und für wen, bitteschön?“ Er mustert mich mit kritischem Blick.
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall nicht für dich!“ Ich zittere wieder.
„Frierst du?“
„Neeeeiiiiiin…ist ja schliesslich “nur“ deine Schuld, dass ich da draussen in der Kälte auf meine Freunde warte!“ Die Ironie in meiner Stimme ist nicht zu überhören.
„Du hättest auch nach Hause gehen können?“
„Tja, wer weiss…vielleicht bin ich ja obdachlos?“ Dieser Trottel regt mich immer mehr auf. Was will der überhaupt? Soll er doch gehen und auch noch andere Gäste nach Hause schicken! Eine Schweigepause folgt.
„Hast du Durst? Soll ich dich auf einen Kaffee einladen?“, fragt er unsicher.
„NEIN! GEH EINFACH!!“
Mit einem leisen Seufzer steht er auf und geht davon. Wieder in Richtung Bahnhof. „Schönen Abend noch!“, ruft er.
„Danke, den werde ich haben!“ Erneut steigen mir Tränen in die Augen. Aus Wut, Kälte, Hunger…
2.Kapitel
„Verstehst du mich nicht mal ein kleines bisschen?“, fragt mich Natalie unsicher, während sie ungeduldig vor mir hin und her geht.
„Doch, doch…!“ Ich klinge anscheinend nicht gerade überzeugend, denn Natalie mustert mich jetzt verärgert.
„Ach komm schon! Du würdest doch das Selbe tun!“
„Würde ich das? Hmm…Lass mich nachdenken…NEIN das würde ich NICHT! Niemals würde ich meine beste Freundin alleine in der Kälte auf einer Parkbank sitzen lassen, während ich mich im Club mit ein paar fremden Jungs amüsiere!“ So, jetzt bin ich wohl deutlicher geworden!
Natalie hält einen Moment inne. Wahrscheinlich grübelt sie gerade darüber nach, wie sie auf meinen Vorwurf reagieren soll.
„Wenn du wüsstest, wie heiss diese “fremden Jungs“, wie du sie nennst, sind, dann würdest du das Selbe tun!“ Triumphierend stöckelt sie wieder zum Eingang des Clubs und streckt dem Türsteher die gestempelte Hand unter die Nase, worauf der nur nickt und sie eintreten lässt.
Und schon wieder sitze ich alleine in der Dunkelheit…in der Kälte…ohne Essen...
In solchen Momenten wie diesen, hasse ich Natalie. Wie kann sie mir so was antun?! Es scheint, als wäre da ein riesengrosser Klumpen in meinem Hals, welcher alles noch unerträglicher macht.
Jedoch verzeihe ich Natalie immer wieder schnell. Irgendwie liebe ich sie zu sehr, um ihr einfach so die Freundschaft zu kündigen. Sie bedeutet mir zu viel. Und das weiss sie auch...
Die dunkle Gestalt, die sich neben mich setzt, habe ich gar nicht kommen hören.
„Na wie geht’s?“, fragt der fiese Türsteher.
„Pff…als ob dich das auch nur im Geringsten interessieren würde! Was willst du schon wieder?!“ Natürlich gebe ich mir grosse Mühe, so unsympathisch wie nur möglich, zu klingen.
„Du tönst ja nicht gerade zufrieden…“, stellt er mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen fest.
„Ach wirklich? Na dann bitte ich natürlich um Verzeihung!“
„Nicht so sarkastisch bitte…Hast du eigentlich auch einen Namen?“, fragt er, während er angespannt in Richtung des Clubs schaut, vor dessen Tür sich eine riesige Szene abspielt.
Oh Gott…was soll ich antworten? Hunderte von Namen sausen mir durch den Kopf...
„Frieda!“
„Hier ich hab dir einen Kaffee Latte mitgebracht. Entschuldige mich bitte einen Moment, Frieda.“ Er stellt den warmen Becher neben mich auf die Bank.
Verdutzt betrachte ich den Becher.
Mit grossen, energischen Schritten steuert er auf die vier Jugendlichen zu, welche sich vor dem Club mit seinem Kollegen streiten.
„Was ist hier los, Alex?“, höre ich ihn fragen.
„Dieser Sp-Sp-a-ast lä-ässt u-u-uns eiiiiinfaa-ach niich in den Clu-ub reeiiin!“ Diese vier Gestalten scheinen ohne Zweifel betrunken zu sein.
„Ich rede nicht mit dir Kleiner!“
„Die vier wollen da rein, aber sie sind zu betrunken und würden nur Ärger bringen. Deswegen lasse ich sie nicht rein“, hilft ihm, sein deutlich kleinerer, Kollege Alex auf die Sprünge.
„Ach so….“ Er wendet sich wieder zu den anderen Vieren. „Tut mir leid Jungs, ihr kommt da nicht rein!“
Wie eine Furie, stürzt sich einer von denen auf Alex und beginnt auf ihn einzuschlagen. Jedoch hat der keine Chance gegen den kräftigen Körperbaus des Türstehers. Als hätte dieser das Gewicht eines Kleinkinds, hebt er ihn am Kragen hoch und drückt ihn anschliessend so auf den Boden, dass der Betrunkene sich nicht mehr bewegen kann.
Drei weitere Türsteher kommen angerannt, helfen Alex auf und setzen die vier Jugendlichen ausser Gefecht, welche dann hilflos abgeführt werden.
„Gute Arbeit Jungs!“ Der Besitzer des Clubs nickt den jungen Türstehern zufrieden zu. Während sich Alex seine blutige Nase abwischt, stolziert der kräftige Türsteher wieder in meine Richtung.
„Frieda sagst du? Ein hübscher Name! Ich bin Ron. Also eigentlich Ronan…aber alle nennen mich Ron.“
„Wie nett…“, säusle ich genervt.
„Du hast den Kaffee ja nicht mal angerührt!“ Er scheint leicht verwirrt zu sein.
„Keine Lust, danke!“ Das ist natürlich gelogen. Und wie ich Lust habe! Aber mein Stolz lässt es nicht zu etwas von diesem Arsch anzunehmen. Und zudem will ich ihn absichtlich nerven…was mir auch gelingt…
Beleidigt setzt er sich neben mich. Eine Schweigeminute folgt…
Mühsam drücke ich mir den linken Arm in den Bauch, um zu verhindern, dass er wegen des Hungers knurrt.
„Grmmmpf….“
„Mist!“, schimpfe ich.
„Wäre es nicht besser den Kaffee zu trinken? Du weißt schon…wegen der Kälte…und wegen deinem armen Bauch…“, witzelt er.
Ohne Worte greife ich nach dem Becher und führe ihn zu meinen Lippen.
Wie herrlich er duftet…gierig trinke ich den, inzwischen schon abgekühlten, Kaffee. Es vergehen keine zehn Sekunden, bis ich den leeren Becher in den Mülleimer neben mir, knalle.
„Hat dich wohl ziemlich viel Überwindung gekostet…“, lacht Ron.
„Ja schon….“ Vergebens versuche ich nicht zu lächeln.
„Kauft man mir tatsächlich nicht ab, dass ich sechzehn bin?“, frage ich schüchtern.
Der Türsteher räuspert sich einige Male, bevor er antwortet.
„Ehmm…was das angeht…“ Er spielt nervös mit den Kieselsteinen unter unseren Füssen. „Also…ich muss dir da was beichten…“
Gestresst schaue ich ihm in seine dunklen Augen.
„Also…es ist so, dass…“
„SAG SCHON!“, kreische ich beinahe.
„Ich glaube dir, dass du sechzehn bist.“ Er kneift die Augen zu, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
„Wie jetzt?“, schnaube ich verärgert.
„Na ja…als ich dich gesehen habe, verspürte ich irgendwie den Drang, dich kennenzulernen. Deswegen liess ich dich nicht eintreten und hoffte, dass du hier auf deine Freunde warten würdest, so dass ich die Gelegenheit habe, mich mit dir zu unterhalten und so….“ Er lächelt verlegen.
Ich fühle, wie sich die Wut in mir staut. Immer mehr…Ich drohe schon fast zu explodieren…DIESER MISTKERL!
„Du verlogener Mistkerl!“, tobe ich. „Wer denkst du, wer du bist?! Nur ein kleiner, egoistischer Lügner bist du! Jawohl….“ Ich stocke…also eigentlich ist er eher gross…wahrscheinlich um 1.85m oder ähnlich. Auf jeden Fall ziemlich gross, für eine 1.58m kleine Frau, wie mich…
„War das schon alles?“, fragt er überrascht.
Stocksauer springe ich auf und stapfe davon. Was für ein Scheisstag!
Wieso geschehen solche Dinge immer nur mir?! Gott…magst du mich nicht mehr? …Na ja, vielleicht übertreibe ich auch ein wenig…
„Frieda warte!“, ruft mir Ron verzweifelt nach.
„Ich heisse Tiffany, du Idiot!“
„Tiffany?“, wiederholt er überrascht.
„Jawohl!“ Am Liebsten würde ich den Kaffee, den ich von ihm angenommen habe, wieder rauskotzen! Jedoch…wenn ich so darüber nachdenke…eigentlich war das, was Ron gesagt hatte, ziemlich schmeichelhaft…oder etwa nicht? Doch! Es war ein Kompliment…
Ich höre rasch gehende Schritte hinter mir.
„Tiffany! Hör mal, ich hab bis jetzt noch nie so was gefühlt, wie heute! Also, auf jeden Fall nicht auf den ersten Blick…!“ Und schon steht er neben mir…
„Was willst du?!“, fauche ich.
„Dass wir Freunde sind! Okay?“
„Lässt du mich dann in Ruhe?“
Plötzlich schweigt er. Ich schiele kurz über die Schulter, um zu sehen, was passiert ist. Es scheint, als würden ihm die Worte fehlen, doch er geht immer noch hinter mir.
„Ich versuche es“, sagt er gerade so laut, dass ich es noch halbwegs hören kann. „Ja oder nein?!“ Ungeduldig bleibe ich stehen und wende mich Ron zu.
„Ja“, wispert er. „Schön! Dann sind wir also Freunde…Und jetzt lass mich alleine!“
Texte: copyright by Michelle Simon
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2010
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