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Das Tor zur Freiheit

Es war einmal ein kleines Mädchen, das immer sehr ehrlich war und voll der Liebe für das Leben.
Alles, woraus es bestand war so wahrhaftig und so einzigartig unschuldig, dass es, wo immer es erschien, mit seiner strahlenden Energie jedes Lebewesen einhüllte und berührte mit seiner Natürlichkeit.
Als es das Licht der Welt erblickte stürzte es sich voller Neugier in das Abenteuer Leben, um es mit allen Sinnen zu erfahren und zu spüren, wie es ist, zu sein ... einfach nur zu sein, zu fühlen wie es ist zu leben, wie es ist zu lieben, wie es ist geliebt zu werden, wie es ist das Leben mit all seinen Möglichkeiten zu spüren, um zu erfahren, was es wirklich ist.

Die erste Zeit seines so jungen Lebens war es auch noch recht einfach, seine Natürlichkeit zu leben.
Solange es sehr zurückgezogen im Schutze seiner Reinheit und Unschuld lebte, konnte es sich ausbreiten in all seinen Möglichkeiten. Es lernte, wie es sich anfühlt, geborgen zu sein, beachtet und respektiert zu werden, Bedürfnisse zu haben und sie zu stillen, enttäuscht zu werden und damit umzugehen, wütend, verletzt und getrennt zu sein. Es erfuhr, dass in ihm so viele verschiedene Möglichkeiten stecken, das Leben wahrzunehmen, wie es ist ... ein ständiger Fluss von unendlichen Eindrücken, wahrgenommen durch die Sinne und die Liebe zu allem, was ist.

Das Mädchen liebte seine Unschuld und Natürlichkeit so sehr, dass es eines Tages seine Obhut verlassen wollte, um der Welt und seinen Lebewesen zu zeigen, wie sehr es das Leben mit allem, was dazu gehört in seinem Herzen trug. Es spürte den Impuls, alles mit anderen zu teilen … die Leichtigkeit, die Freude, die Kreativität, die Neugierde, die Unbekümmertheit und alles, was ihm innewohnte.

Voller Übermut und mit einem Lächeln auf dem Gesicht machte es sich auf in die Freiheit …

… jedoch …

… schon nach einigen Schritten endete plötzlich seine Reise … es stand vor einem großen, schwarzen Tor, dass in einer endlosen Mauer eingearbeitet war und sich ihr in den Weg stellte.
Ein großes Schild, dass es nicht lesen konnte hing an dem Tor und die roten Symbole signalisiertem ihm, dass es etwas sehr Wichtiges sein musste, was ihm hier den Zutritt verweigerte.

Es klopfte an das Tor, konnte aber nicht wissen, warum hier auf einmal der Weg zu Ende ist.
Da es aber unbedingt seinem Herzen folgen wollte, klopfte es noch ein paar Mal an das Tor …
immer wieder … und siehe da, es öffnete sich ganz langsam und vor ihm stand ein alter Mann …

Mit seinem kurzem, nach hinten gekämmten Haar und seinem in Form gehaltenen Schnurrbart, mit seiner etwas zu kleinen Brille und seinem schwarzen Frack, sah er sehr „geordnet“ aus.
Viele graue mischten sich unter die anderen schwarzen, ein wenig vor Fett glänzenden Haare und die Augenbrauen wölbten sich in der Mitte ein ganzes Stück nach oben, fast schon arrogant …
so wie er auch seine Nase ein wenig höher trug, was diesen Eindruck noch verstärkte.
Mit verschränkten Armen stand er vor dem Mädchen, welches ihn aber freundlich anlächelte und
sich nur wunderte, warum er so unglücklich, fast leblos aussah …

„ Hallo, ich freue mich, dass du mir aufgeschlossen hast, denn ich würde gerne in die Welt hinaus gehen, um meine Welt mit allen anderen zu teilen. Ich möchte verbunden sein mit allen Lebewesen in Leichtigkeit, Natürlichkeit und Liebe, die uns alle frei sein lässt!“ so sprudelte es aus dem Mädchen heraus und es hüpfte voller Ungeduld von einem auf das andere Bein. Ein Strahlen in ihren Augen zeugten von ihrer bedingungslosen Liebe.


Der alte Mann schaute auf das kleine Mädchen hinab, beugte sich zu ihm runter, schaute ihm tief in seine unschuldigen Augen und sprach:“ Das würde ich mir aber noch einmal gründlich überlegen!“

„Was ist das … überlegen?“ wollte das Mädchen wissen, „Ich weiß nicht, wie das geht!“

„Ich meine, du solltest erst einmal nachdenken, ob es auch richtig ist, was du vorhast!“ erwiderte der Mann

„Nachdenken? Auch das kenne ich nicht … ich kenne nur fühlen und empfinden oder spüren … ist es etwas dergleichen?“ fragte es in seiner Einfachheit

„ Ach, du hast auch keine Ahnung, von was ich rede? Das ist ja interessant, du bist nicht das einzige kleine Mädchen, was keine Ahnung hat von der großen, weiten Welt. In der Welt, die du beglücken willst mit deiner Liebe ist es sehr gefährlich, fast schon lebensgefährlich. Überall findest du Feinde, die dir etwas Böses wollen, die dich mit ihren Füßen treten, die dich ausnutzen, dich zur Marionette machen. Du wirst verletzt und rennst immer nur dem Geld hinterher, wovon nicht genug da ist, um gut zu leben. Ungerechtigkeit und Leid schüren immer mehr Krankheiten und Katastrophen beherrschen das tägliche Leben auf dem Planeten Erde!
Willst du wirklich in diese Welt und dich dem ausliefern, was dich dort erwartet?“ der alte Mann redete auf das Mädchen ein, doch bevor er noch mehr sagen konnte fuhr ihm das kleine Mädchen ins Wort:
„ So wie du das sagst, klingt das aber gar nicht schön und es tut mir auch sehr leid, dass du so schlechte Erfahrungen gemacht hast. Doch ich kann dir trotzdem nicht folgen, weil ich es nicht fühlen kann. Das einzige, was ich fühle ist, dass du nicht glücklich bist und dass du Angst hast.
Deine Augen schauen so traurig und dein Körper sieht angespannt aus. Das fühle ich und es macht mich traurig!“

Doch der Mann ließ sich nicht beirren und die Worte des Mädchens prallten an ihm ab und fielen klirrend zu Boden.
Mit einer fast angst einflößenden Strenge verschränkte er seine Arme vor seinem Bauch und stellte sich aufrecht vor das kleine Mädchen.
Es spürte die Unnachgiebigkeit und die Selbstdisziplin des alten Mannes, der fest an seiner Meinung festhielt und um seine Haltung noch zu stärken fuhr er fort in seiner Belehrung:

„ Was weißt du schon vom Leben! Du hast nicht erlebt, wie es ist, nichts zu sein. Du kannst nicht mitreden, wenn es darum geht, wie schwer es ist, Arbeit zu finden. Du hast noch nicht erfahren, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden von einem geliebten Menschen. Du hast noch nicht gespürt, vor lauter Schmerzen nicht mehr funktionieren zu können. Du hast … ach, du weißt gar nichts!
Ich habe alles erlebt oder mitbekommen, wie es anderen ging, wenn sie die falschen Entscheidungen getroffen haben. Wenn einer weiß, wie gefährlich das Leben ist, dann bin ich das! Dir, kleines Mädchen möchte ich nur den guten Rat geben: bleibe lieber, wo du bist und ziehe dich zurück in die Obhut, in der du sicher bist! Diese Welt ist nichts für dich, wenn du nicht verletzt werden möchtest ...“

Er schien auf einmal so zerbrechlich, als würde er unter all seiner Erinnerung niederfallen und sich auflösen in einem See aus ungeweinten Tränen … doch irgendwie behielt er die Kontrolle über sich und fasste sich wieder, indem er sehr konzentriert auf seine Uhr blickte und und sich räusperte:

„ Mhmm … schon so spät! Die Zeit vergeht immer schneller … doch auch das kennst du sicher nicht, oder!?“

Das kleine Mädchen hatte sich ganz still angehört, was der alte Mann ihr erzählte und es regte sich in ihr eine Stimme, die ihr zu flüsterte, dass sie sich nicht von ihm zurück schicken lassen sollte.

„Lieber alter Mann“, sprach sie mit ganz leisen, aber klaren Worten,“ Ich danke dir für deine Sicht, von dem, was du für Erfahrungen gemacht hast und für deine gutgemeinten Ratschläge, aber ich muss trotzdem hier meinen Weg weitergehen und darf mich von dir nicht aufhalten lassen.
Du sprichst aus deiner eigenen Erfahrung und meinst es gut mit mir, dass ich nicht auch so verletzt werden soll, wie du. Das fühlt sich sehr gut an und ich respektiere deine Sicht des Lebens.
Und doch kann ich nicht zurück, ohne mich in meiner Freiheit selbst ein zu schränken. Meine Freiheit besteht darin, meinen eigenen Weg zu gehen und all das zu fühlen, von dem du erzählt hast … wenn ich mich von dir aufhalten lasse, käme es gleich einem Rückzug in ein Gefängnis, dessen Schlüssel ich dir überlasse und du bestimmst, wann ich Ausgang habe oder nicht!
Nein, ich bin kein kleines Mädchen, dass sich in Sicherheit wiegen möchte, ich will leben, aus dem Leben schöpfen, meine Freude hinausschreien, mein Leid mit den Tränen fließen lassen, meine Vollkommenheit spüren und diese Vollkommenheit mit allen teilen, bis in die tiefste Faser meines Seins!“

Der alte Mann, mittlerweile ganz ruhig und sanft, bückte sich wieder dem Mädchen entgegen,
in seine Augen schimmerte ein Hauch von Glanz, ganz tief innen … und ein leichtes Lächeln, ganz unscheinbar, verwandelte sein Gesicht für einen kurzen Augenblick in einen Knaben …
in diesem einen Moment konnte er sich erinnern … damals, als er noch unschuldig und frei war …

„ Kleines Mädchen, lauf durch das Tor und lass dich niemals mehr aufhalten!“, so sprach er, indem er zur Seite trat, um dem Mädchen den Weg frei zu machen.

„Ich danke dir, lieber Mann, und wünsche dir alles Liebe,“ freute sich das kleine Mädchen und hüpfte frohen Mutes durch das große Tor.

„Doch bitte, würdest du mir noch deinen Namen nennen?“ rief er ihm hinterher.
„ Ich heiße „Gefühl“ und wie ist dein Name?“ wollte es von ihm wissen.
„ Mein Name ist „Verstand“! … und ein Lächeln begleitete seine Worte ...


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Texte: © 2010 Alle Rechte bei Cäcilia Wentker Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2010

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