Viola war die Neue in der Klasse, eigentlich nichts Besonderes, aber Viola war anders. Ich habe gleich gemerkt, dass sie anders ist, als sie in unsere Klasse kam. Ihre ganze Aufmachung. Die blonden, ungekämmten und stellenweise verfilzten Haare. Verwaschene, abgetragene Jeans und ein fast farbloser Pullover. Eigentlich weiß-rot gestreift, aber wohl schon so oft gewaschen worden, dass das Rot kaum noch zu erkennen war. Schwarze Turnschuhe, so weit abgelaufen, dass sie fast in Socken auf dem Boden stand. Und das Schaf um ihre Hüfte, sollte wohl eine Tasche darstellen. Sie schaute nicht besonders freundlich, eher ängstlich und leicht verloren durch ihre müden Augen. Klar, die würde keine Freunde haben. Patricia und Nele, die konnten eh niemanden leiden und Olaf und seine Jungs hatten nur Augen für die Mädchen. Ich kam eigentlich mit allen gut aus, was mich sehr froh machte, denn Patricia und Nele wollte ich nicht als Feinde haben. Keine guten Karten für die Neue, diese Viola. Sie wurde von unserem Klassenlehrer Herr Wolf vorgestellt als Viola Müller und wurde direkt gebeten sich neben mich zu setzen. Obwohl sie einen ungepflegten Eindruck machte, roch sie nicht unangenehm, womit ich zuerst gerechnet hatte. Und ihre Hände und ihr Gesicht schien mir auf den zweiten Blick schon fast zu sauber. Ich stellte mich ihr vor und wollte ihr meine Hand geben, doch sie lächelte bloß verblasst und drehte sich nach vorn. Im Klassenraum hörte man die ganze Stunde über leises Getuschel aus allen Ecken.
Zuhause erzählte ich meiner Mutter von meinem Schultag und der Neuen. Wie sie aussah und wie sie sich gab. Meine Mutter schien daran jedoch nichts Komisches zu finden. Sie konzentrierte sich nicht weiter darauf, was ich von Viola erzählte sondern war eher daran interessiert zu wissen, ob ich ihr heute nach den Hausaufgaben im Haushalt behilflich sein könnte.
Als es morgens zum Schulanfang läutete, stand ich schon vor dem Klassenraum zusammen mit Nele und Patricia. Die Neue war das Gesprächsthema Nummer Eins. Patricia konnte gar nicht genug davon bekommen, sich über Violas Kleidung auszulassen und über ihr Haar zu lachen. Sie stellten sie mit Courtney Love gleich.
Gedankenverloren und leicht verwirrend wirkend schlenderte Viola den Gang Richtung Klassenzimmer entlang. Es war jetzt schon 09.05 Uhr und sie hatte echt Glück gehabt das Herr Wolf sich verspätete. „Hi Courtney“ rief Patricia ihr mit einem spöttischem Unterton zu. Nele und die anderen lachten. Viola schien das nicht zu stören, sie schien nicht einmal auf demselben Planeten zu sein. Was war bloß los mit ihr? Den ganzen Unterricht schaute ich immer wieder neben mich und beobachtete alles was Viola tat. Jede ihrer Bewegungen wurden von mir genauestens beäugt. Etwas später viel mir auf, dass nicht nur ich so interessiert war, an dem was Viola tat. Durch das Getuschel und Gelache fiel genau auf, dass alle Viola interessanter fanden als den Untericht von Herr Wolf. Daher entging den meisten fast, welche Hausaufgaben bis morgen erledigt werden mussten. Eine Hausaufgabe würde mir persönlich besonders schwer fallen, denn wir sollten eine Kurzbiographie einer beliebigen Persönlichkeit vorstellen. Ich wählte Christina Aguilera, die fand ich schon immer klasse.
Am nächsten Morgen wiederholte sich das Prozedere mit dem Geläster über Viola abermals. Dieses mal kam sie zeitgleich mit Herr Wolf. Er schien sie gar nicht zu bemerken.
Heute konzentrierte ich mich mehr auf den Unterricht, auch wenn ich zwischendurch zu Viola schielte und ihre Bewegungen studierte. Das Getuschel hielt sich bis zur 5 Stunde in Grenzen, dann wurde Viola als erste hervorgerufen um ihre Kurzbiographie vorzustellen. Als sie sich erhob und wie in Trance zur Tafel schlurfte, wurde alles leise und keiner sagte etwas. Sie drehte sich zur Klasse, neigte den Kopf leicht schräg, lugte vom Papier hoch und begann zu sprechen. Sie erzählte eine Kurzbiographie über die Soulqueen Amy Winehouse. Sie begann zu erzählen, wie Amy aufwuchs, über ihre Eltern, ihre Musik, den cometenhaften Aufstieg und schließlich ihrem Absturz. Sie erzählte über das Fehlverhalten von Amy , die Selbstverletzungen und wie sie von Millionen trotz ihrer enormen Fehltritte und ihrer komischen Art geliebt und verehrt wurde. So wie Viola dort stand schien es als berichtete sie über eine Person, die sie nur zu gut kannte. Je mehr sie über Amy und ihre Art sprach desto mehr bekam sie etwas freundliches, liebenswertes, fast vertrautes. Ihre abnormale Art sich zu Kleiden änderte sich für mich zu einer Art Stil. Und ihr müder, verlorener, abwesender Blick war weniger ein Blick, als einfach ihre persönliche Ausstrahlung. Ohne Frage war sie etwas besonderes. Aber sie war nicht mehr komisch, sie war eher einzigartig. Wenn ich so darüber nachdachte fand ich sie vielleicht doch nicht so doof diese Viola.
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2012
Alle Rechte vorbehalten