Alice weiß nicht, warum sie hier ist. Der Ort zieht sie magisch an. Sie ist seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in Waldniel. In diesem kleinen Ort nahe der holländischen Grenze ist sie aufgewachsen. Sie hat den ganzen Tag nach Plätzen und Leuten gesucht, die sie von früher kennt. Das Haus an der Dülkener Straße, in dem sie damals wohnte, gibt es nicht mehr. Hier ist jetzt ein Parkplatz.
Es sieht alles so anders aus. Auch die Leute. Keiner erkennt sie und ihr kommt niemand bekannt vor. Alle schauen durch sie hindurch, als ob sie gar nicht da wäre. Jetzt hat sie genug gesehen. Sie will weg. Den Bahnhof gibt es nicht mehr, selbst die Bahnschienen sind weg. Es ist noch komplizierter als früher, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von hier zum Flughafen Düsseldorf zu kommen. Wohin sie fliegen will, weiß sie noch nicht. Nur weg.
Sie muss zuerst mit einem Bus zum Bahnhof nach Mönchengladbach und von da aus mit der Bahn zum Flughafen nach Düsseldorf. Auf dem Weg hierhin, ist sie an der ersten Bushaltestelle ausgestiegen, nachdem sie das Ortsschild gelesen hat. Dahin findet sie nicht mehr zurück. Sie geht zum Markt, weil hier früher viele Busse abfuhren. Hier fährt kein Bus mehr.
Auf der Suche nach einer Bushaltestelle sieht sie in einer Gasse hinter der Kirche plötzlich die alte Leuchtreklame: „Schauburg“. Das alte Kino gibt es immer noch? Sie geht näher heran. In den Schaukästen wird nur ein Film angekündigt: „Elsa geht in die Stadt.“ „Nur heute“ steht in allen 4 großen alten Schaukästen.
Von diesem Film hat sie noch nie gehört. Aber früher liefen hier auch oft Filme, die keiner kannte. Die aktuellen Filme waren hier, wenn überhaupt, ½ Jahr später als in den großen Kinos zu sehen.
Wehmütig denkt sie an die Zeit zurück, als sie hier viele Sonntagnachmittage und später auch einige romantische Abende verbrachte.
Sie sieht auf die Kirchturmuhr. Der Film fängt in 5 Minuten an. „Eine Bushaltestelle kann ich danach immer noch suchen.“, denkt sie und geht durch die alte Glastür. Hier sieht alles aus wie früher. Popcorn gibt es noch immer nicht. Die Süßigkeiten und die Cola an der Kasse sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Davon will sie bestimmt nichts kaufen.
Die Eintrittskarten-Verkäuferin sieht aus, als hätte sie schon damals hier gesessen. Sie lächelt freundlich und sagt: „Es ist voll heute. Ich habe nur noch einen Platz in der 1. Reihe für dich. Das macht 70 Pfennig, wenn du noch DM hast, sonst 70 Cent.“ Alice greift in die ihre Hosentasche. Einige Münzen klimpern darin. Tatsächlich sind das alles glänzende 50 Pfennig- und 10 Pfennig-Stücke. Sie gibt der Frau das Geld und bekommt eine Eintrittskarte.
Sie geht durch den schweren dunkelroten Samtvorhang in den Vorführraum. Dieselben unbequemen Klappsitze aus Holz wie früher. Das Licht ist schon aus. Ein Herr mit einer Taschenlampe reißt eine Ecke ihrer Eintrittskarte ab und bringt sie zu ihrem Platz in der 1. Reihe. Hat der nicht schon damals hier gearbeitet?
Vor dem Film läuft Reklame, wie in allen Kinos. Aber Zigarettenreklame ist doch seit Jahren verboten. Wieso reitet hier der Marlboro Cowboy, der Camel-Mann läuft bis er ein Loch im Schuh hat und dann geht auch noch das HB-Männchen in die Luft.
Schön das mal wieder zu sehen. Ist das hier etwa nicht verboten? Dann kommt endlich die Eisreklame, das Licht geht an und die Frau von der Kasse verkauft aus einem Bauchladen Eiscreme: Dolomiti, Brauner Bär, Grünofant, Cola Pop“ ruft sie. Wo haben die bloß die alten Eissorten her? Wer weiß wie alt das Zeug hier ist. Das Haltbarkeitsdatum muss spätestens in den 80ern abgelaufen sein. Endlich geht das Licht wieder aus und der Film fängt an:
Elsa zieht aus einem Dorf nach Berlin. Sie arbeitet dort 2 Jahre, dann ist die Firma pleite. Sie ist ein paar Monate arbeitslos und bewirbt sich in München um eine Stelle. Zum Vorstellungsgespräch geht sie zu einem Büro in einem Hinterhof irgendwo in der Stadt.
Ihr zukünftiger Chef ist ein gutaussehender, freundlicher junger Mann. Er erklärt, dass er nur heute alleine im Büro ist und bietet ihr eine Tasse Kaffee an.
Obwohl der Film eigentlich nicht langweilig ist, muss Alice eingeschlafen sein. Nur so kann sie sich erklären was als nächstes passiert.
Etwas kitzelt an ihren Füßen. Es bewegt sich. Ein Tier! Sie springt erschrocken auf und schaut nach unten. Ein weißes Kaninchen blinzelt zu ihr hoch. Das Kino ist leer und nur die Notbeleuchtung ist an. Sie ist mit dem Kaninchen allein in dem dunklen Raum. Wieso hat sie niemand geweckt als der Film zu Ende war? Wo kommt dieses Kaninchen her? Sie zuckt zusammen, als das Tier plötzlich redet.
Es zieht eine Taschenuhr aus dem Fell: „Es ist soweit, Alice.“, sagt es.
„Ein redendes Kaninchen? Ich bin wahrscheinlich übermüdet und träume immer noch.“, murmelt Alice.
„Du hast nicht mehr viel Zeit. Beeil dich.“, drängt das Kaninchen wieder. „Zeit wofür? Wovon redest du?“, fragt Alice.
„Du bist tot. Ich bin gekommen, um dich abzuholen.“, sagt das Kaninchen.
„Was soll der Quatsch? Außerdem weiß doch jeder, dass der Sensenmann kommt um einen zu holen. Auf keinen Fall ein Kaninchen.“, protestiert Alice.
„Weil den vor vielen hundert Jahren einige Leute gesehen haben. Das ist passiert als überall so viele Menschen an der Pest gestorben sind. Er hat in den vielen Krankenzimmern übersehen, dass manchmal nicht alle tot waren.“
Wir schicken immer jemanden, der den Leuten vertraut ist. Du heißt Alice und hast eine besondere Verbindung zu „Alice im Wunderland“. In dieser Geschichte zeigt auch ein Kaninchen Alice den Weg.“
„Wen meist du mit „wir“?“, fragt Alice.
„Wir haben keine Namen wie die Lebenden. Wir sind alle die ins Licht gegangen sind. Wir spüren, wenn jemand zu uns gehört und Hilfe braucht, den richtigen Weg zu finden. Dann wählen wir jemand aus, der dem suchenden Geist den Weg zu uns zeigt.“, erklärt das Kaninchen.
„Als Kind mochte ich diese Geschichte überhaupt nicht. Ich hatte immer Angst davor. Als der Film hier im Kino lief, bin ich schon am Anfang raus gerannt.“ „Darum sind wir hier“, sagt das Kaninchen.
„Du bist schon seit 3 Monaten tot. Mit den Geistern, die wir zu dir geschickt haben, hast du dich unterhalten und bist dann weitergezogen.“
„Es haben nur wenige mit mir geredet. Einige sahen wirklich merkwürdig aus. Die paar Leute, mit denen ich gesprochen habe……………………“ „…………… haben wir geschickt.“, bringt das Kaninchen den Satz zu Ende. Alice kann es nicht glauben: „Waren die etwa echt? Ich dachte, es ist Karneval und die Leute sind verkleidet. Die echte Marylin Monroe, der wirkliche Elvis- Auch John Wayne, John Lennon und George Harrison wollte ich schon immer kennenlernen. Und ich hab sie alle billige Kopien genannt.“
“Macht nichts. Hauptsache, es hat dir Spaß gemacht.“, sagt das Kaninchen freundlich.
„Was ist mit den Leuten, die eben noch hier saßen? Wer sind die?“, fragt Alice. „Die waren alle in ihrem Leben ganz extreme Kino-Fans. Sie hatten nie Zeit, soviel ins Kino zu gehen, wie sie wollten. Jetzt können sie einen Film nach dem anderen zu sehen. Die kommen gleich wieder. Dann fängt der nächste Film an.“
Alice ist total verwirrt. Sie versucht, sich ins Bein zu kneifen, um aus dem Alptraum aufzuwachen – und greift ins Leere.
„Das hätte ich dir gleich sagen können.“, schmunzelt das Kaninchen. „Glaubst du mir jetzt? Kommst du mit oder möchtest du lieber hierbleiben?“
„Wohin?“, fragt Alice verblüfft. „Ins Licht natürlich.“, antwortet das Kaninchen geduldig.
„Davon habe ich gehört und in Büchern gelesen. Das sind nur Endorphine?“, Alice glaubt dem Kaninchen noch immer nicht.
„Das mit den Endorphinen mag sein, aber danach kommt noch viel mehr. Das erfahren aber nur die, die ins Licht gehen.“, erklärt das Kaninchen wieder.
„Ich muss erst wissen, wieso ich gestorben bin!“, sagt Alice jetzt kleinlaut. „Wieso fühle ich nicht, dass ich tot bin?“
„Es ist fast 30 Jahre her, dass du von hier nach Berlin aufgebrochen bist. Nach 2 Jahren in Berlin hast du dich in München um eine Stelle beworben. Der Mann, den du für deinen zukünftigen Chef gehalten hast, hat dich betäubt und dann in seinem Keller, den er dafür vorbereitet hatte, eingesperrt.
Gefoltert oder vergewaltigt hat er dich nicht. Du warst für ihn ein Experiment. Er wollte wissen, wie sich jemand entwickelt, der sehr lange Zeit keinen Kontakt zu anderen Menschen hat.
Er hat dich mit Kleidung, Lebensmitteln, Fernsehen, Radio, Büchern und Zeitungen versorgt, aber dich rausgelassen oder mit dir gesprochen hat er nie. Sogar einen Fitnessraum hat er dir eingerichtet, mit Whirlpool und Sonnenbank.
In der ganzen Zeit hat er jeden persönlichen Kontakt zu dir ausgeschlossen. Er hat ein ausgeklügeltes Schließsystem gebaut, so wie im Zoo bei gefährlichen Raubtieren. Er ist immer nur in die Bereiche gegangen, die für dich zeitweise gesperrt waren. So konnte er dich mit allem versorgen, was du zum Überleben brauchtest. Er hat dich ständig mit Kameras beobachtet. Alles war perfekt organisiert - bis er vor 7 Monaten von einem Lastwagen überfahren wurde. Er liegt seitdem im Koma.
Er konnte dir nichts mehr bringen. Außer ihm wusste niemand, dass du noch lebst und dort versteckt bist. Deine Vorräte haben noch eine Weile gehalten. Dann bist du ganz langsam verhungert.
„Wieso kann ich mich an nichts davon erinnern? Ich weiß nur noch, dass ich mit dem Zug von Berlin nach München gefahren bin.“, sagt Alice bestürzt.
„Alle schrecklichen Erinnerungen sind mit dir gestorben.“, erklärt das Kaninchen.
„Ist dieser Mann etwa auch im Licht?“ fragt Alice.
„Böse Menschen gibt es dort nicht. Außerdem liegt der Mann im Koma und stirbt noch lange nicht. Komm mit, es wird dir gefallen.“
Das Kaninchen hoppelt auf die weiße Kinoleinwand zu. Es hebt den schweren Stoff an. Dahinter ist grelles weißes Licht.
Alice folgt dem Kaninchen.
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2008
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