Everybodys Hurts
Das Jahr der Liebenden
- Fortsetzungsroman -
Teil 1. :
Everybody Hurts - Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
2009
,,Prost - Neujahr!”, rief Ralf mir zu und umarmte mich. Meine Mutter schaute mich böse an.
,,Ja, dir auch”, murmelte ich und verschwand danach direkt wieder ins Bett.
“Wenn die Liebe schmerzt,
so geh und such dir den Tod,
denn ohne die Liebe,
kannst du nicht atmen.” -
schrieb ich.
Recht hatte ich! Man musste ja nur mal meine Mutter und mich anschauen - das allein sagte schon alles.
Die Schule hatte angefangen und die Verletzungen in meinem Gesicht waren schon längst so verheilt, dass kaum jemand noch was sah. Es war Januar und es ging langsam auf die Halbjahreszeugnisse zu. Sobald wir die hatten, wurde gesagt, wer in die 10 Klasse darf und wer nicht. Natürlich bestand die Liste jetzt schon, aber die Lehrer hielten zusammen und gaben nichts preis.
Ich schaute auf, der Lehrer schrieb wieder etwas an die Tafel, ich schob das Blatt mit dem Gedicht unter mein Helft und pinselte das, was der Lehrer an die Tafel geschrieben hatte, ab.
Der zweite Schultag nach den Ferien. Meine Mutter meinte zu mir, ich sollte mich fertig machen, sie würde mit mir wegfahren. Ich hatte ihr die Sache mit dem Balkon nicht verziehen, auch wenn es, dank meiner Sucht zum Lesen, schnell verheilt war. Vor Ewigkeit hatte ich mal ein Buch erwischt in dem stand, wie man welche Wunden verbindet und wie sie wieder schnell und möglichst ohne Narben heilen.
Ich machte mich fertig und wir fuhren mit dem Auto Richtung Kreuznach, an die Kreisverwaltung,
wo auch das Jugendamt war.
Ich saß auf einem Stuhl vor Herrn Uhl, meinem zuständigen Jugendamtmitarbeiter, und hörte meiner Mutter zu.
,,Ja, und Sissi ist total unsauber! Sie hilft nicht im Haushalt, noch nicht mal ein Handschlag tut sie!” - Wenn das so wäre.
Herr Uhl sprach mich an: ,,Warum tust du das, Sissi?”
Na gute Nacht! Wenn er schon so sprach, hatte meine Mutter ihn überzeugt und die Wahrheit blieb mal wieder auf der Strecke.
Weißt du was?
Leckt mich doch alle mal am Arsch!
Ich schaute ihn abwartend an.
,,Ja, Sissi, wird's bald? Keine Antwort?”
Ich blieb stumm. Wenn du mir die richtige Frage stellen würdest, dann würdest du auch die richtige Antwort kriegen. Und die richtige Antwort lautet: Sissi, stimmt das, was deine Mutter erzählt?
Aber daran dachte natürlich niemand und außerdem: ich rede nicht mit voreingenommenen Personen. So!
Ich verschränkte die Arme und er machte sich eine Notiz.
Wir fuhren wieder heim und kaum waren wir zuhause, ging`s los. Ich hatte mir noch nicht mal die Jacke ausgezogen, schon zog mich meine Mutter an den Haaren ins Wohnzimmer.
Ich schrie.
,,Woher wissen die das?”, schrie sie über mein Geschrei.
Augenblicklich wurde ich still.
,,Woher wissen sie was?”, fragte ich.
,,Was wohl? Jugendamt!”
,,Nicht von mir!”, verteidigte ich mich.
,,Ach ja?”, fragte sie zuckersüß.
Sie schlug mir voll ins Gesicht und ich kratzte sie.
,,Hörst du bald auf!”, verlangte sie. Ich hörte Ralf die Treppe hoch kommen - mittlerweile konnte ich schon wie ein Hund jedem am Schritt erkennen.
Ralf kam in den Flur, meine Mutter ließ mich los und ging Richtung Tür. Ich zitterte.
Ich wusste, was mir bevor stand.
Bitte nicht.
Nein.
Mein Körper zitterte.
Angst.
Angst.
Ralf kam rein.
Mein Mutter hinterher.
Ihre Augen waren fast schwarz - sie war sauer.
Ralf ging in aller Ruhe an den Wohnzimmertisch und griff nach einem der scharfen Pfefferminzbonbons.Er wickelte in aller Ruhe das Papier ab und steckte es sich in dem Mund.
,,Sissi”, stöhnte er. Ich zuckte zusammen obwohl er in Zimmerlautstärke gesprochen hatte. ,,Sissi, Sissi, Sissi.” Er schüttelte den Kopf.
Plötzlich stand er auf und kam rasend schnell auf mich zu, so dass ich noch nicht mal Zeit zum reagieren hatte. Auch Ralf schlug mir ins Gesicht, in meinen Ohren rauschte es und ich riss die ganze Deko von der Fensterbank runter. Dann kam auch meine Mutter, ich lag auf dem Boden und sie trat zu und traf mich in den Magen.
Ich stöhnte auf und zog die Knie an.
Sie wusste doch, dass ich Morbes Hirsprung hatte!
Uns sie wusste, dass ich eine 50 cm lange Narbe am Bauch hatte!
Und dass ich 12 mal am Bauch operiert worden bin!
Die Schmerzen schienen fast unerträglich und schon ging es weiter.
Ralf zog mich hoch.
,,So ...” Er kam nicht weiter. Ich wurde wütend.
,,Du bist eine Schlampe, weißt du das?”, sagte ich zu meiner Mutter und es tat mir nicht Leid, dass ich es gesagt hatte. Einen Moment herrschte Stille und Erstaunen.
Sie nahm meinen Arm, knickte ihn um und zwang mich auf die Knie, dann zog sie meine Haare nach hinten, so dass ich sie ansehen musste.
,,Weißt du, wer hier eine Schlampe ist?”, fragte sie. ,,Du! Und weißt du auch warum?”
Ich schluckte und suchte fieberhaft nach einer Lösung. Sollte ich mich lieber entschuldigen?
,,Weil du ekelhafte Fantasien hast! Das steht alles auf deinen Block!”, flötete sie.
Ekelhafte Fantasien? Ging`s noch? Ich hatte lediglich aufgeschrieben, wie ich mir einen Kuss mit Rouven vorstellte. Das war doch nicht ekelhaft! Oder doch?
,,Da sieht man mal, was für eine Schlampe du bist! Mit wie vielen Typen warst du im Bett? 10, 20?”
,,Ich bin noch Jungfrau”, flüsterte ich heiser.
,,Vielleicht als Sternzeichen, aber du schläfst mit allen Typen der Stadt und sie haben es mir schon selbst gesagt!”
„Das stimmt doch gar nicht! Mama? Das glaube ich nicht,” sagte ich.
Ich bekam ein Tritt in den unteren Rücken.
,,Lüg.”- Sie schmiss mich gegen die Wand, nahm einen Stuhl und holte damit aus. Ich drückte mich in die Ecke und bedeckte meinen Kopf mit den Händen.
,,Mich.”- Der erste Schlag - der Stuhl, der aus Metall war, klirrte leise und mir taten verdammt noch mal die Hände weh.
,,Nicht.”- Der zweite Schlag. Wieder auf meine Hände. Ich wollte sie einziehen, doch ich kannte das - hatte oft davon gelesen -, dass wenn man gesteinigt wird, es genau so passiert - anfangs bedeckt man mit den Händen das Gesicht und nach einer Zeit, weil man nicht mehr kann, zieht man die Hände ein.
,,An.”- Der dritte Schlag und ich konnte nicht anders, ich zog meine Hände ein und sah sie für einen Augenblick. Blutverschmiert. ,
,Hast.”- Der Schlag kam an, ohne dass meine Hände weh taten. Mein Kiefer zitterte vom Aufschlag.
,,Du” - Der Nächste. Sie traf mich wieder. Die Schmerzen waren nicht mehr auszuhalten. Bald würde ich weinen und das würde alles nur noch schlimmer machen.
,,Das.”- Borhh Scheiße. Das tat weh, weh, weh, weh und noch mal weh.
,,Verstanden?”
Ich hatte mich soweit zurückgerobbt, dass ich mich nun umdrehen konnte. Sie traf mich am Rücken. Sie ließ den Stuhl fallen und ich sah zu Ralf.
Er saß auf dem Sofa und schaute uns zu.
Sie kam runter auf den Boden und nahm mein Gesicht in ihre Hände, ich musst sie ansehen. Ihr Atem streifte mein Gesicht.
,,Sissi”, hauchte sie. Ich war verwirrt. ,,Es tut mir Leid! Okay? Es tut mir Leid!” Sie umarmte mich. ,,Aber dann darfst du auch nichts mehr dem Jugendamt sagen.”
Ich war froh, dass es vorbei war. Ich durfte wieder in mein Zimmer -Wunden lecken.
Wie kann man das machen?
Ich meine, in einer Sekunde noch jemand verschlagen und sich dann direkt danach entschuldigen?
Ich wusste einfach nicht, was ich davon halten sollte.
Am nächsten Morgen kam ich kaum aus dem Bett - ich sah schlimm aus. Ich hatte Glück, dass es noch Winter war. Blaue Flecken, rot umrandet, teilweise Blutkrusten. Langer dicker Pulli, der mir groß genug war, dass er nicht unbedingt die Wunden aufschrubbte, so einen suchte ich.
Im Kleiderschrank fand ich einen und ging darin zur Schule.
Es gingen Gerüchte in der Schule rum. Gerüchte, über die die einen lachten und Witze rissen und wieder andere so taten, als würden sie ihn kennen. Maik`s Bruder war gestorben. Ein tragischer Unfall. Ich fand es schlimm und hatte Mitleid mit der Familie. Vor allem die Sache, wie er gestorben war, machte die Sache so grausam.
Maik`s Bruder hatte ein Praktikum bei der Bahn gemacht, die Arbeiter hatten ihn auf die Gleise mitgenommen, wo sie gerade gebaut haben.
Menschliches Versagen sagt man dazu.
Ein Zug fuhr trotzdem über die Gleise, an denen die Bahnarbeiter und der Praktikant arbeiten. Und so starb er.
Völlig unerwartet.
Mir ging`s richtig dreckig, ich wusste, was das hieß.
Als ich noch klein und naiv war.
Ich war noch nicht mal in der Schule und meine Mutter schickte mich zum ersten Mal allein zu meiner Uroma nach Staudernheim, einem Dorf neben unserem. Ich brauchte insgesamt mit dem Bus fast 4 Stunden, bis ich bei meiner Uroma ankam und das waren aller höchstens 3 Kilometer von uns weg.
Der Bus hielt am Busbahnhof in Staudernheim, es stiegen Leute ein aber ich schaute den Jungen an, der gerade über die Gleise lief.
Ein roter Blitzt und er war weg, der Zug fuhr weiter, es war ein Schnellzug, der in Staudernheim nicht hielt. Ich saß im Bus und fing an zu schreien und zu weinen, der Busfahrer fragte, was los ist und ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gleisen.
Der Junge lebte noch.
Er lebte.
Aber man sah so viel von seinen Innereien.
Eines seiner Augen, das mich anblinzelte, das andere war schon gar nicht mehr vorhanden gewesen.
Geschrei.
Viele Menschen, die miteinander redeten.
Die fieberhaft in Handys redeten.
Und ich stand da und sah ihm zu beim Sterben.
Sein Auge blinzelte.
Krankenwagen.
Hubschrauber.
Polizei.
Es nützte alles nichts.
Er verstarb und ich hatte ihn gesehen, mit einem Auge blinzeln.
Ich fand schon die Vorstellung der Leiche widerlich.
Wie würden sie ihn den beerdigen?
Den letzten Abschied von ihm nehmen?
Zermatscht?
Das war das Top-Thema des Tages und jeder spielte sich irgendwie auf. Ich hasste das. Entweder man riss Witze und fühlte sich cool, oder man heulte in einer Ecke rum und tat so, als würde man ihn kennen. Das Meiste war sowieso gespielt, selbst ich konnte teilweise besser Schauspielern, als die. Wenn man wirklich so traurig ist, fragt man eben, ob man heim darf um sich dort auszuheulen. Fertig. Und versucht nicht Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das macht man eben nicht, man sollte Respekt vor der Familie haben und ihnen Hilfe anbieten, sonst nichts.
Daheim erzählte ich es meiner Mutter und wir gingen in die Stadt.
,,Wer?”, fragte sie. ,
,Maik”, sagte ich leise. ,,Den kennst du doch, der mit der weißen Kappe und den HipHop Hosen, er hatte eine Brille und war nicht schlank.”
,,Ach der”, keifte meine Mutter durch die halbe Fußgängerzone. Es drehten sich Leute nach uns um.
,,Mama, das muss nicht jeder wissen”, wies ich sie leise zurecht. ,
,Das steht doch eh in der Zeitung.”
,,Aber ohne Name.”, konterte ich. ,
,Na und? In ein paar Tagen weiß das jeder!”
Ja, weil du es darum schreist, dachte ich mir. ,,Mama! Ich hab dir das im Vertrauen erzählt, ich möchte, dass du es bei dir behältst”, spielte ich mich erwachsen auf.
,,Der ist doch ein Assi!”
Wenn man trinkt, heißt es nicht automatisch, dass man ein Assi ist. Wenn du wüsstest, dass ich keinen kenne, der in meinem Alter nicht säuft. Sogar Nadja macht das, und? Ich muss ja nicht mitmachen.
Wir gingen in ein Kaffee und die Bedienung kam. Statt etwas zu bestellen, erzählte meine Mutter der Bedienung was ich ihr gerade erzählt hatte. Ich hätte mir selbst am liebsten in den Arsch getreten. Ich wusste doch, dass man meiner Mutter nicht vertrauen konnte.
,,Mama”, flüsterte ich als die Bedienung weg war. Ich rückte näher zu ihr. ,,Ich hab doch gesagt, dass das unter uns bleiben sollte. Ich hab dir vertraut.”
,,Na und?”, sagte sie laut und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. ,,Das ist nun mal so, wenn die Assifamilie W. Ihr Kind verliert!” Die Leute glotzten uns an.
Okay. Das war's!
Ich stand auf.
,,Sissi, setzt dich”, meinte sie lächelnd und sich keiner Schuld bewusst.
,,Weist du was du bist?”, schrie ich sie an. Sie schaute perplex und die Leute drehten sich nach uns um, aber es interessierte mich nicht, sollten die doch ruhig mitbekommen, was abgeht. ,,Ich hab dir was anvertraut und du erzählst es überall rum! Familie W. trauert, ja, aber du musst sie nicht Assi nennen! Erstens das und zweites hat man vor so einer Familie Respekt, denn sie müssen es durchhalten! Man macht sowas einfach nicht!”
Ich rauschte ab.
Das war doch nicht mehr normal!
Warum erzählt sie nicht gleich der ganzen Stadt, was los ist?
Klar, das kommt nach einer Zeit raus, aber zunächst einmal sollte man sie doch in Ruhe lassen, so ein unerwarteter Tod verkraftet man nicht einfach so, jedenfalls würde ich es nicht!
Man könnte hingehen, sei Beileid ausdrücken und ihnen Hilfe und ein Gespräch anbieten aber mehr nicht!
Ich kannte die Familie nicht gut genug, um dort hinzugehen, deswegen ließ ich es, aber man sollte sie eben in Ruhe lassen!
Als ich heimkam, gab es Stress ohne Ende .
Du kannst doch nicht einfach abhauen, schrie meine Mutter durch die Gegend. Und Ralf schubste mich nach hinten. Ich glaube nicht, dass es beabsichtigt war, aber ich flog durch die Wohnzimmertür, die hauptsächlich aus Glas bestand. Ich hatte überall Schnitte und Glas in den Händen, in meinem Oberkörper und in den Beinen, ich hatte sogar Glas im Gesicht.
Ich verschwand im Zimmer und rief den Krankenwagen, so ging es nicht mehr weiter.
Der Krankenwagen kam auch und meine verblüffte Mutter ließ sie eintreten. Sie kamen direkt auf mich zu, ich hatte die Ganze Zeit auf den Notarzt im Stehen gewartet, weil ich bemerkt hatte, dass auch am Rücken und den Beinen Glas steckte.
Der Notarzt schaute mich an und untersuchte mich, er schloss die Tür und fragte mich, wie das passiert wäre. ,,Ich bin gefallen”, log ich. Er schüttelte den Kopf. ,,Wirst du verschlagen?”
Scheiße.
Die blauen Flecke von dem Stuhl.
Mein Innerstes brach zusammen und ich konnte nicht anders. Tränen liefen mir übers Gesicht, normalerweise müsste man mir eine runterhauen, aber wenigstens sagte ich nichts. ,,Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?”, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. ,,Nein, es geht schon.” Er sah mich mit ernsten Augen an. ,,Weiß das Jugendamt Bescheid?” ,,Ja”, flüsterte ich. ,,Gut, dann holen wir jetzt das Glas raus.”
Es tat weh, es tat wirklich weh und ich konnte mich nicht beruhigen.
>Wirst du verschlagen?
Am morgen darauf.
,,Wenn du das noch einmal machst....!”, drohte meine Mutter mir. Ich schlug die Tür laut zu und trampelte die Treppe runter. Die Tür ging auf.
,,Sissi!”
,,Fick dich!”, rief ich. Ich war wütend.
Kapiert sie das denn nicht?
Ich will das nicht!
Ich will normal leben!
Wie jeder andere, ohne Schläge!
Ich ging nach der Schule nicht nach Hause statt dessen wartete ich vor Nadja`s Haustür, aber sie kam ewig nicht. Nadja ging in die GTS (Ganztagsschule), daher hatte sie bis um 15.30 Uhr Schule. Irgendwann wurde mir das zu blöd und ich rief sie an, aber ihr Handy war aus. Wo blieb sie denn bloß?
Ich ging nach Hause, brachte ja nichts, und als ich heimkam, sah ich die Überraschung. Nadja ging ein Schritt zurück als ich die Tür öffnete.
,,Was machst du hier?”, fragte ich sie flüsternd.
Sie gab mir keine Antwort. Ich sah auf den Boden. Tausend Blätter verstreut, mit meiner Schrift, meine Zimmertür war zu, sie ging gerade auf als ich mir die Blätter näher ansah.
Meine Mutter.
Sie verschränkte die Arme.
,,Ja, Sissi, da siehst du mal, was du für ein Scheiss in deinem Zimmer hast!”
,,Mama, das habe ich alles geschrieben!”
,,Geschrieben? Das da?” Sie trat an einen Stapel Blätter, der im nu zusammenkrachte. ,,Du kannst nichts! Lies dir doch mal das durch! Und jetzt hat Nadja auch mal gesehen, wie viel Talent du hast! Gar keins, nicht wahr, Nadja?” Nadja gab keinen Ton von sich. Ich war empört.
Die will mich ja wohl verarschen!
Okay, ich hatte das schon öfter, dass meine Mutter mein Zimmer auf den Kopf stellte, aber ich regte mich immer wieder aufs Neue drüber auf!
Das sind meine Sachen!
Meine Gedanken, die auf den Blättern stehen, meine Geschichten, die das tiefste in mir widerspiegelte und in denen meine geheimsten Wünsche stehen!
Das ist alles meins!
Mein Innerstes, das ich auch nicht mit Nadja oder sonst jemandem teilen will!
Mein!
Mein!
Mein!
,,Mama, ich find das nicht gut.” Ich wollte nicht gleich Streit anfangen; versuchen wir es mal wie Erwachsenen, setzten uns zusammen und sprechen miteinander.
,,Das ist mir egal!”
Oha. - ,,Mama, bitte! Wir können darüber sprechen!”
Ich wusste es war sinnlos. Sie schmiss noch einen vollgeschriebenen Block raus.
,,Komm wir gehen”, flüsterte Nadja mir zu und zog mich am Ärmel mit.
,,Fräulein! Du hilfst mir aufräumen!”, forderte meine Mutter, aber wir verschwanden einfach.
,,Ich hasse deine Mutter!”, sagte Nadja zu mir. Wie oft hatte sie mir das jetzt schon gesagt?
Abends holte ich alle Dinge die mir wichtig waren ungesehen aus dem Mülleimer wieder raus und versteckte sie erstmal im Keller. Ich konnte es so nach und nach unbemerkt wieder in mein Zimmer bringen.
Mein Zimmer war fast völlig leer, ein paar Bücher, Schulbücher, Kleiderschrank, auf dem Tisch lag nichts, im Raum duftete es nach Putzmittel. Die Vorhänge und mein Bettzeug waren frisch gewaschen. Ich weiß nicht wieso, aber solche Zimmer konnte ich nicht leiden - ich wollte, dass irgendwo Zettel hängen, irgendwas rumfliegt und wenn nur Bücher auf dem Tisch liegen würden, fühlte ich mich schon wohler. Doch nun sah es aus, als würde hier niemand leben, selbst Gismos Platz war aufgeräumt und seine Decke lag ordentlich da. Ich hörte ihn vor meiner Tür umherlaufen, er wollte rein und ich machte die Tür auf. Er ging auf seinen Platz, scherte umher und schaute mich vorwurfsvoll an.
,,Tja, mein Schatz, musst du dein Bett wieder machen, wie es dir gefällt, hmm?”, flüsterte ich ihn zu. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, er scherte immer wieder, setzte sich, stand wieder auf um seine Decke wieder in die richtige Position zu bringen. Er nervte mich und so ging ich erstmal mit ihm gassi, danach richtete ich ihm heimlich seine Decke so, wie er sie sonst auch immer liegen hatte, damit er endlich Ruhe gab.
An nächsten Morgen tat ich etwas, was ich sonst nie tat. Ich schminkte mich so, das es wirklich jeder sah. Wimpertusche und schwarzer Kajal, ich wollte es einmal ausprobieren, wie die anderen auf mich reagierten und außerdem wusste ich, dass es meiner Mutter nicht gefiel.
Aber ich war 16!
Alt genug, um sowas zu machen!
Ich ging wie immer zuerst zu Nadja, sie sah mich und machte nur ein ,,Uiiii” Ich lächelte. Wir hatten uns schön öfter gegenseitig geschminkt. ,,Glaubst du, die werden mich dumm anmachen?“, sprudelte ich raus. ,,Wer?”, fragte sie und band ihre Schuhe zu. ,,Meine Klassenkameraden, die Schule eben.” ,,Nö, die werden sehen, dass du auch erwachsen geworden bist.” ,,Echt?” Ich war unsicher. ,,Mach dir keine Sorgen.” ,,Wie war das bei dir?”, fragte ich sie. Nadja ging schon eine Zeit lang geschminkt in die Schule. ,,Die haben nix gesagt.”
Meine Klassenkameraden sagten wirklich nichts, weder Lehrer noch Schüler schoben mich dumm an, ich erntete nur bewundernde und verwunderte Blicke, mehr nicht.
Als ich heim kam, blieb Ralf vor mir stehen und schaute mich an, ich senkte den Blick und wollte weiter gehen. ,,Schau mich mal an!”, forderte er. Ich schaute auf. ,,Hübsch”, meinte er und verschwand dann. Meine Mutter war natürlich nicht begeistert. ,,Wie siehst du denn aus?”, zischte sie mich an.
Sie sollte sich lieber mal an die eigene Nase greifen!
Sie schminkte sich auch!
Und noch besser, sie wischte sich immer so im Gesicht rum, das mindesten die Hälfte verschmiert war!
,,Rennst rum, wie ein Schlampe.”
Aha, und was war sie dann?
Von diesem Tag an, schminkte ich mich jeden Tag so.
Am Wochenende fuhr ich mit Nadja wieder nach Bad Kreuznach, wir schauten dort “Twilight”, die Verfilmung des Buches “Bis(s) zum Morgengrauen”. Als wir aus dem Kino rauskamen, waren wir begeistert.
,,Sau cool!”
,,Aber wie!”, pflichtete ich ihr bei. Ich kam Abends um 22.00 Uhr glücklich nach Hause, doch dort herrschte wieder dicke Luft. Ich verschwand gleich ins Bett, ohne mich vorher abzuschminken. Am nächsten Morgen sah ich nicht gerade gut aus, aber die Schminke war noch einigermaßen drauf.
Es war Samstag und ich hatte einen Auftritt mit meiner Tanzgruppe. Jetzt fing die „Fasenacht“ an und ich fror mir in meinem Kostüm einen ab. Außerdem schaffte ich es irgendwie, mir die Hand aufzuschlagen. Blöderweise bekam ich auch noch meine Tage mit Bauchschmerzen, aber ich hatte keine Schmerztabletten dabei.
Es war kühl in der Halle und wir hatten wirklich nicht viel an. Wir mussten nach unserem Tanz auf einem Podest sitzen, schön lächeln und immer wieder klatschen. Ich war durch die Kälte erstarrt und die Schmerzen wurden immer schlimmer - das war eine einzige Quälerei.
Als es endlich zu Ende war, war es schon nach Mitternacht, meine Mutter wusste von dem Auftritt und ich hatte das Problem, dass kein Zug mehr fuhr. So musste ich im Dunklem nach Bad Sobernheim laufen, mir war so arschkalt in dem Kostümaufzug, dass ich die Strecken teilweise singend rannte, der Mond hatte offenbar alle Hände voll zu tun und spendete mir kein Licht, und so lief ich teilweise im Gras oder durch Gräben. Als ich endlich an die erste Laterne kam, traute ich mich, hinter mich zu gucken. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich verfolgt wurde. Aber da war niemand und so rannte ich nach Hause. Daheim schminkte ich mich ab, zog mir einen dicken Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Obwohl ich jetzt in der Wohnung war, war mir immer noch kalt. Selbst unter der Decke fror ich. Ich lockte Gismo in mein Bett, er machte sich als lebendige und niemals abkühlende Wärmflasche nützlich. Er war total verschmust und ich musste kichern als er immer wieder meine Hand forderte, anstupste, nach dem Motto: ,,Kraul mich weiter!”. Wir wurden aufgeschreckt und Gismo verschwand schnell auf seinen Platz. Ich hört jemanden brechen und ging raus. Meine Mutter.
,,Mama, alles okay?”, fragte ich sie, doch sie machte die Tür zu. Ich sah Licht im Schlafzimmer und ging darauf zu. ,,Ralf?”, fragte ich. Er schaute auf. ,,Was ist mit Mama?” Ich machte mir Sorgen. Meine Mutter wurde äußerst selten krank. ,,Ich bin nackt”, gab er mir als Antwort. Ich zog mich direkt zurück. Ne, das wollte ich nicht sehen, dafür war ich doch etwas zu jung. Ich lief in mein Zimmer und schlief bald darauf ein.
Ich arbeitete am Sonntag einige Stunden, dann musste ich wieder tanzen. Um 15.00 Uhr sollten wir da sein, mal wieder in Staudernheim und wieder war es eine „Kappensitzung“. Mein Kostüm wurde verwechselt, aber ich hatte es schnell wieder gefunden, es wurde nochmals enger genäht.
Eine Mutter der Tänzerinnen machte es.
,,Du bist sehr dünn”, meinte sie zu mir Ich sagte nichts darauf. Der Notarzt hatte mir das auch schon erzählt. Ich kam Abends total fertig heim, mir war es wieder mal kalt und ich schmuste erstmal eine Runde mit Gismo. Dann machte ich mich an die Schulsachen ran.
Am Abend färbte ich meine Haare; lila Stränhnchen waren nun drin und da ich meine Haare die meiste Zeit zu hatte, fiel das eh nicht auf.
In Mathe wurde ich von Frau Watzker fertig gemacht, Herr Scheffler, der das Fach vorher unterrichtet hatte, wurde von der Schule verwiesen. Das war ein riesen Aufruhr gewesen. Aber ich hatte ihn gemocht; er war besser als die Neue.
Frau Watzker verlangte absolute Disziplin, kein Gespräch durfte geführt werden ohne ihr Einverständnis und auch kein Taschenrechner sollten wir bei ihr mehr benutzten. Ich hatte da ein riesiges Problem. Ich konnte überhaupt kein Kopfrechnen und so versuchte ich mich mündlich möglichst zu drücken. Schriftlich konnte ich immer noch ein wenig tricksen indem ich mit Bleistift Nebenrechnungen auf ein Schmierblatt schrieb. Ich hasste diese Lehrerin. ,,Sissi”, sprach sie mich an. ,,Was habe ich denn da gesehen?” Ich schaute auf mein Blatt. Ich hatte schön ordentlich abgeschrieben. ,,Du stehst in der Zeitung.” Ach ja, wegen dem Tanzen. ,,Schöne Kostüme habt ihr da.” - Ihr war nicht zu trauen; wie eine Katze schleicht sie um ihr Opfer herum und haut dann zu, wenn man glaubt, man sei in Sicherheit. ,,Aber eins verstehe ich nicht. Warum steht dein Name als erstes da?” War das nicht logisch? Ging nach den Nachnamen und ich hieß nun mal Sissi B. Und da keiner einen Nachname mit A hatte, wurde ich als erstes erwähnt. Ich hielt den Mund, aber die Klasse glotzte mich an. Sie lief langsam zu ihrem Pult. In der Klasse herrschte wie immer, wenn sie unterrichtete eine extreme Ruhe. ,,Sissi?”, hackte sie nach. ,,Weiß nicht.” ,,Wenn du mit mir sprichst, dann bitte in”, sie holte tief Luft und donnerte, ,,Hochdeutsch!” ,,Ich weiß es nicht”, korrigierte ich mich sofort. ,,Komm an die Tafel!”
,,So eine blöde Kuh!”, beklagte ich mich bei Jenny, die mit mir im Mathematik A-Kurs war. ,,Warum? Ich fand sie lustig.” Sie lachte. Gott sei Dank waren die anderen Lehrer nicht so, sonst hätte ich mich selbst begraben gehen können. Die schlimmsten Lehrer waren mein Deutschlehrer und meine Mathematiklehrerin, die besten jedoch Frau Wiedernroth und Herr Zepezauer.
Einige Tage später in Deutsch.
Wir sollten Gruppen bilden und ich kam mal wieder mit Müller zusammen, der Typ, der nervte einfach. Ich ging zu meinem Deutschlehrer, um mich zu beschweren, jedesmal machte ich die ganze Arbeit allein und das Arschloch wird mitbewertet obwohl er nebendran sitzt und zuguckt und nervt. ,,Ich will nicht in seine Gruppe und Sie wissen warum!” ,,Das ist mir herzlich egal”, gab er mir als Antwort. Was war das den für ein Lehrer? ,,Ich mach jedesmal seine Scheiße mit und er kriegt die gleiche Note wie ich!”, beschwerte ich mich. ,,Sissi”, sagte er -mittlerweile hörte die ganze Klasse zu -, ,,Du bist auch nicht besser mit deinen Rechtschreibfehlern, da ist sogar Müller besser als du.”
Das saß.
Am liebsten hätte ich ihn den Stinkefinger gezeigt.
So ein Arschloch!
Ich bemühte mich um meine Rechtschreibung, aber ich konnte es nicht, egal wie oft ich übte!
Und das wusste er!
Ich ging wieder zurück zu meiner Gruppe und gammelte mit.
Letztendlich bekamen wir alle eine 6 fürs nichts tun.
Am Donnerstag hatte ich Sturmfrei und ich hatte einen Zettel von meiner Mutter hingelegt bekommen ,was ich alles zu tun hatte. Nachdem ich alles erledigt hatte, setzte ich mich mal ausnahmsweise ans Fernsehen.
Ich machte es an und war schockiert.
,,Ach du Scheiße!”, rief ich und versuchte den Fernseher auszumachen, indem ich auf der Fernbedienung auf den Aus-Knopf drückte, aber es ging nicht, ich schmiss die Fernbedienung auf das Sofa ,auf dem ich eigentlich nicht sitzen durfte, rannte zum Fernsehen und zog den Stecker.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
Gismo kam gucken und schnüffelte durch die Gegend, ich hatte ihn mit meinem Gerenne aufgeschreckt.
Ich nahm mir das Telefon und rief Nadja an. Sie war gleich dran.
,,Nadja!”, hauchte ich ins Telefon. ,,Du glaubst nicht, was mir grade passiert ist!” ,,Was denn? Wart mal ich geh in mein Zimmer. So, jetzt.” ,,Ich wollte Fernsehen gucken und dann kam, kam sowas ekliges ...” ,, Ne Spinne?”, fragte sie. ,,Nein, nein, ich meine im Fernsehen.” ,,Was denn?” ,,Pornos”, hauchte ich ins Telefon. ,,Pornos?”, wiederholte sie erstaunt. ,,Wo hast du die denn her?” ,,Ich weiß nicht. Ich wollte nur Fernsehen schauen und dann sowas. Das ist im DVD-Player, glaub ich.” ,,Was geht ab? Wem gehören die?” ,,Naja, unsere DVD Sammlung kenne ich, die ist nicht allzu groß.” ,,Du denkst, das gehört Ralf?”, hackte sie nach. ,,Wem dann sonst? Gismo guckt son Scheiss bestimmt nicht.” ,,Alter, das ist ja mal brutal.” ,,Ich hab voll den Schock bekommen.” ,,Glaub ich dir. Aber jetzt hast du schon mal Erfahrung”, kicherte sie. ,,Ich find das nicht gut.” Sie lachte.
Als Ralf gegen Nachmittag heimkam, hatte ich ein ganz komisches Gefühl ihm gegenüber.
Wofür guckt er sowas, wenn er doch meine Mutter hat?
Würde man sich nicht als Frau beleidigt fühlen, wann man das wüsste?
Ich meine, die beiden haben doch so ein “Leben”, war das für ihn nicht genug?
Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte, auf der einen Seite wollte ich nicht nochmal so überrascht werden, aber zugeben, dass ich es gesehen hatte und nun davon wusste, wollte ich auch nicht.
Am Freitag bekamen wir gesagt, wer es in die 10 Klasse schaffen würde und wer nicht. Ich hatte Riesenbammel wegen Mathe, in dem Fach war ich übelst abgesackt seitdem wir die Watzker hatten.
Frau Wiedenroth nannte zuerst die Namen, die sowieso sicher waren; Streber wie man sie umgangssprachlich nannte. Alle, die genannt wurden, wurden in die Pause entlassen.
Irgendwann nannte sie auch meinen Name, ich setzte mich kerzengerade hin. Bitte, lieber Gott, bitte.
Sie schaute prüfend über ihr Blatt.
,,Klar schaffst du das.” Sie lächelte und zwinkerte mir zu.
Ja.
Wie cool!
Ich nahm meine Jacke und ging nach draußen.
,,Und?”, wurde ich befragt. ,,Geschafft!” Ich lächelte.
10 Klasse.
Realschulabschluss.
Besser als Hauptschulabschluss!
10 Klasse.
10 Klasse.
Ich hätte singen können, so glücklich war ich.
Es gab natürlich einige schlechte Nachrichten. Die meisten, die es nicht geschafft hatten, wurden wegen ihrer Mathenoten nicht zugelassen - klar, die Watzker eben.
Ich nahm mir fest vor, für die 10 Klasse viel zu lernen, die 10 Klasse würde ich mit Bestnoten verlassen, ganz sicher!
Mein Tag war gerettet, Nadja und Larissa freuten sich mit mir. Sie umarmten mich und Larissa meinte: ,,Irgendwann müssen wir sie Professorin ansprechen.” Wir lachten. Ich konnte nicht anders, als nur noch zu strahlen.
An diesem Tag bekamen wir die Zeugnisse und ich sah, dass ich in Mathe eine glatte drei hatte. Mit einer 4 wäre ich auch noch durchgekommen, aber eine 3 war eben besser als eine 4.
Ich war stolz auf mein Zeugnis und zeigte es meiner Mutter sobald ich daheim war. Am Zeugnis klebte noch ein Zettel, den meine Mutter unterschreiben musste, dass sie einverstanden war, dass ich in die 10 Klasse kommen würde.
Am Freitag, wie auch am Samstag, ging ich arbeiten, den Sonntag hatte ich frei. Mir ging es so gut, dadurch dass ich in die 10 Klasse durfte, ich freute mich schon auf Montag, dann würde man die Klasse neu zusammenstellen, die 10 Klasse wären wir dann.
Der Sonntagmorgen.
Wir frühstückten gemeinsam und dann verschwand ich ins Bad, mich duschen und fertig machen, ich hatte eine Jeans und ein weites T-Shirt an, das ich nur daheim trug.
Ich sortiere mein Zimmer um als meine Mutter rief, lief ich zu ihr. Sie war in der Küche am Kochen. ,,Ich geh kurz zu Renate, pass du bitte auf die Pellkartoffeln auf, die stehen auf 1, geh immer mal wieder schauen.” Wie nett sie war. Ich blieb am Herd stehen und hörte, wie sie das gleiche zu Ralf im Wohnzimmer sagte, er schaute fern.
Meine Mutter verschwand und keine paar Minuten später rief mich Ralf ins Wohnzimmer.
,,Setz dich neben mich!”, verlangte er und schlug mit der Hand auf das Sofa. Normalerweise durfte ich mich nicht auf das Sofa setzten, der wollte hundert pro wieder was. Ich setzte mich verunsichert neben ihn. ,,Komm doch ein Stück näher”, meinte er und zog mich an sich, ich wollte das nicht, hielt aber den Mund.
Ich war erstaunt, er ließ mich wieder los und ich versucht unauffällig etwas von ihm wegzurücken, ich mochte sein Parfüm nicht so - war zu aufdringlich. Mir fiel auf, dass er seine Brille nicht auf hatte. Er klatschte mir auf die Oberschenkel und ließ seine Hand gefährlich nahe an meinem Schritt liegen. Ich schluckte.
Was soll das das werden?
,,Ach, ist das nicht ein herrlicher Tag?”, fragte er mich und schaute aus dem Fenster. Ich war immer noch verwirrt, vor allem, wo er seine Hand liegen hatte. ,,Entspann dich doch, Sissi!”, meinte er und zwinkerte mir zu. Ich verstand nicht, was er von mir wollte und hatte keine Lust auf weitere Spielchen. ,,Ich geh mal nach den Kartoffeln gucken“, wollte ich sagen, war halb am Aufstehen als er mich zurückzog.
,,Du bleibst schön hier!”, sagte er leise und fing im Nu meine Hände ein. Er nahm mich im Genick und drückte mich nach unten, ich hörte es schon in meinem Rücken krachen und so ließ ich es geschehen.
,,Was willst du?”, fauchte ich und kratzte ihn. Ich biss ihn in seine Hand als er versuchte, mir mein Mund zu zuhalten. Er lies meine Hände los und ich versuchte mich zu wehren. Während ich kämpfte, glaubt ich ein Geräusch von einem Reißverschluss zu vernehmen. Dann hatte er wieder beide Hände im Spiel und ich verlor. Er nahm mich wieder im Genick und zwang mich aufrecht zu sitzen. Mit Erstaunen sah ich, dass seine Hose geöffnet war.
17.o4.2o11
Als ich das erste Mal darüber sprach, war ich 18, ganze 2 Jahre habe ich gebraucht, um den Mund aufzumachen.
Wenn mir alles zu viel wird, stell ich mir vor, dass meine Geschichte nicht meine ist, nein, meine Lebensgeschichte ist ein Buch, ein Buch, das ich schreibe und in dem man jeden Tag etwas Neues hinzufügt. Nur eine Geschichte, mehr nicht. Und Geschichten sind normalerweise nicht real.
Normalerweise.
Es ist schon wieder so ein komischer Tag. Ein Tag, an dem mir alles zu viel ist und ich merke, irgendwas stimmt nicht, es liegt nicht an meiner Umwelt, es liegt einfach nur an mir. Ich bin innerlich verkrampft, so, als hätte ich Angst, aber Angst zeigt Schwäche und die darf ich nicht zeigen. Nicht jetzt. Nicht hier.
Ich stell mir vor, wie ich mein Herz mit meinen Händen umschließe, damit es niemand sieht und damit mich niemand verletzten kann. Ich bin verdammt nochmal allein.
Alles habe ich verlassen müssen.
Meine Schule, mein Freundeskreis, meine Heimat. Und meine Familie ist in aller Welt verteilt und hat eigene Probleme.
Oft schon sagte man mir, dass ich stark bin und dass ich gelernt habe, mir selbst zu helfen. Stärke zeigt man normalerweise mit dem Kampf, aber ich kämpfe nicht, ich will Frieden, also bin ich schwach.
Ralf hatte mich immer noch im Genick. Wir keuchten beide, ich kämpfte weiter und es mischten sich Unsicherheit und Angst in meine Gefühle. Ich wusste, ich würde verlieren, dafür hatten wir zu oft gekämpft, dafür hatte ich zu oft verloren und er zu oft gewonnen.
Einen Moment hielt er inne und ich erstarrte, nun hatte er mich im Genick und meine Hände waren gefangen in seinen. Automatisch hielt ich die Luft an, ein Geist flüsterte mir ins Ohr, was jetzt kommen würde, aber ich versuchte ihn zu überhören.
Seine Hellblauen Augen, dieser Ausdruck darin, den man nicht beschrieben kann. Voller Wut und Hass und vielleicht auch Begehren. Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass er wieder in der Phase war, wo Gismo ihn normalerweise angeknurrt hätte.
Aber Gismo war nicht da. Gismo war in meinem Zimmer - eingesperrt. Und meine Mutter war bei ihrer Freundin.
Ob mir meine Mutter helfen würde?
Oder ob sie Ralf helfen würde?
Kein laut einweichte mir, als er wieder seine Muskeln anspannte, er rückte näher an mich. Ich roch seinen Schweiß, ich spürte wie es mir leicht schwindelig wurde.
Sein Atem streifte mein Gesicht, dann drückte er mein Genick runter und führte mein Gesicht zu seinem Schritt. Er ejakulierte in meinem Mund.
Einen Moment lang lies er locker und ich hoffte ich wäre entlassen, ich spuckte auf den Boden.
Wie widerlich!
Aber es genügte ihm nicht, ich machte Anstalten aufzustehen, doch er zog mich gleich wieder zu sich. Er griff grob in meinen Schritt und ich presst die Beine zusammen und lehnte mich nach vorne. Er zog mich an den Haaren nach hinten. Ich bekam meine linke Hand frei und wollte seine rechte Hand, die er in meinen Haaren verkrampft hatte, kratzen, auf dem Weg dorthin traf ich ihn irgendwie im Gesicht.
Ich war selbst darüber überrascht und schaute ihn an. Seine Hellblauen Augen schauten mich böse an.
Ralf setzte sich auf meine Knie und ich dachte meine Knochen brechen gleich. Ich kämpfte mit aller Kraft, die Verzweiflung und die Angst ließ mein Herz schnell schlagen; es raste.
Nein, nein, nein, nein.
Er zog mir am T-Shirt rum, was mir eh schon zu weit war. Ich konnte mich nicht richtig wehren, weil er halb auf mir saß und sein Gewicht auf mich stützte. Er fummelte an meiner Hose rum und ich versuchte meine Beine irgendwie frei zu bekommen. Ich kratzte ihn, versuchte ihn zu beißen und versuchte seine Hände von meinem Jeansverschluss abzulenken, indem ich sie einfangen und festzuhalten versuchte. Meine Fingernägel knickten ab und ich tat mir selber weh, aber ich wollte ihn aufhalten.
Irgendwie bekam er dann doch meine Hose auf. Er zog sie und meine Unterhose runter.
Diesmal schlug ich ihm bewusst ins Gesicht, er schüttelte leicht den Kopf, ich versuchte meine Beine anzuziehen - vergebens.
Doch dann hörte ich etwas. Schritte im Hausflur, er schien sie auch zu hören, denn er wurde auf einmal hektisch. Ralf rollte sich von mir runter und ich zog gerade die Hose hoch und rannte in mein Zimmer. Meine Mutter kam mir auf halben Weg entgegen, ich rannte sie fast um und sie meckerte noch irgendwas, aber ich hatte schon meine Zimmertüre hinter mir zugeschlagen.
Ich lehnte mich an die Tür und rutschte langsam runter.
Mir war schlecht. Kotzübel.
Speichel sammelte sich in meinem Mund und ich rannte ins Bad um mich zu übergeben.
Wie dreckig ich doch war!
Der dreck war in mir!
Ich brachte mich absichtlich zum würgen bis nur noch Galle raus kam, aber ich war immer noch dreckig.
Ich schaute mich im Spiegel an.
Braune Augen. Helle Haut. Natürlich.
Schmutzig war ich!
So konnte ich nicht raus!
Jeder würde bemerken, wie schmutzig ich war!
Man würde mich hassen!
Schmutzig. Dreckig. Widerlich.
Ich schaute auf meine Pulsadern, das Blut pulsierte in ihnen, mein Blut, es war dreckig!
Dreckiges Blut.
Verunreinigt.
Die Badezimmertür ging mit einem Ruck auf, fast wäre ich getroffen worden, aber ich zuckte rechtzeitig zurück. Meine Mutter.
,,Fräulein!” Sie nahm mich am Arm und zog mich in die Küche. Die Kartoffeln, verkohlt, das ganze Wasser war verdampft. Und es stank. Scheiße.
,,Was soll das?”, fauchte sie wütend. „Stattdessen bist du drüben und versucht Ralf anzumachen! Als er dir sagte, du sollst aufhören, hast du auf den Boden gespuckt! Das geht wirklich zu weit, Sissi!”
Sie wühlte im Wandschrank rum, wo das Hundefutter und das ganze Putzzeug stand, drückte mir ein Lappen in die Hand. ,,Weg machen!”, verlangte sie.
Ich soll dieses Zeug wegmachen?
Dieses widerliche Zeug?
Ich blickte ihr ganz offen ins Gesicht. Sie ist meine Mutter, sie würde mich bestimmt verstehen. ,,Ich kann nicht.” Einen Moment schaute sie mich an.
Sah sie nicht, dass ich dreckig war?
Das ich nichts mehr Wert war?
Sah sie nicht das Ekelhafte in mir?
Dann scheuerte sie mir eine und warf mir den Lappen über. ,,Putzen”, schrie sie und verschwand ins Wohnzimmer, zu diesem, diesem eben.
Ich legte den Putzlappen leise auf die Arbeitsplatte neben mich und schaute mich um. Unsere Küche kannte ich natürlich, aber es kam mir vor, als hätte ich sie noch nie gesehen.
In der Ecke am Fenster hing ein Plakat an der Wand, Ralf hatte es gezeichnet. Schon auf Anhieb sah ich, dass er überhaupt kein Talent dafür hatte, zu Zeichen.
“Die Wege, die wir zusammen gehen, sind am schönsten!”, stand da, im Hintergrund war ein Weg gezeichnet und ein Großes rotes Herz.
Liebe.
Liebe hat mit Sex zu tun.
Ich glaube, ich lass das mal lieber mit der Liebe, dachte ich mir.
Ich war jetzt dreckig.
Und dreckige Menschen haben keine Liebe verdient.
Schon gar nicht in einer Beziehung und von der Familie sowieso nicht.
Ich schaute an mir runter, auf einmal hatte ich das dringende Verlangen mich selbst zu verschlagen.
So wie ich da so stand.
Dünn.
Blass.
Was war das?
Wo ist mein Verstand hin?
Ich sollte dieses Monster wegen sexueller Belästigung anzeigen!
Oder eher wegen versuchten Totschlags meiner Seele!
Ich bekam eine Gänsehaut.
Was labberte ich da?
Ich hatte es doch provoziert!
Ich hätte mich besser wehren müssen!
Ich hätte gar nicht auf die Welt kommen dürfen, dann wäre das alles gar nicht passiert!
Man, was ging denn ab?
Alles war so durcheinander.
Es ist doch nichts geschehen und doch so viel passiert.
Ich schlich raus und nahm Gismo mit.
Gismo war normal wie immer, aber ich hatte das Gefühl, dass er anders war.
Vielleicht spürten Tiere, dass man unrein ist?
Ich rannte, Leute schauten mir hinterher, sie sahen es!
Sie sahen wie dreckig ich war.
Schmutzig.
Dumm.
Blöd.
Unrein.
Wertlos.
Gismo rannte mit mir, er konnte schneller rennen als ich und ich lief bis ich nicht mehr konnte, aber diese Gefühle waren nicht hinter mir, sie hatten mich verfolgt, nicht wie ein Schatten, nein - viel schlimmer.
Ein Fluch. Etwas Bösartiges.
Ich war bösartig.
Ich hatte was in mir, wovor ich mich selbst ekelte.
Aber es ging nicht weg, es bleib in mir.
Als hätte man Gift in mein Blut gespritzt, ein ansteckendes Gift oder etwa nicht?
Nein, das Gift war nicht ansteckend, aber jeder sah, dass ich es in mir hatte.
Ich kam an mein Lieblingsplatz, an der Nahe.
Hier waren Nadja und ich oft gewesen, aber ich darf Nadja nicht mehr sehen, sonst stecke ich sie noch an. Oder sie hasst mich.
Sie hasst mich bestimmt.
So was macht man doch nicht!
Nein, ich war pervers!
Abstoßend!
Die Natur, die nun um mich herum war, war sauber, rein, frisch.
Und ich war genau das Gegenteil.
Montagmorgen.
Ich hatte Angst. Ich wollte nicht in die Schule und zu Nadja schon gar nicht!
Sie würden das alles sehen, jeder wird denken, ich bin pervers. Nicht nur jeder würde es denken, es war Realität.
Bäh, wie eklig!
Meine Hände waren kalt und schwitzig, ich wollte nicht zu Nadja, ich wollte nicht in die Schule. Ich stand unschlüssig vor ihrem Haus.
Sollte ich schwänzen?
Ich würde riesigen Ärger bekommen, wenn das aufflog.
Und man würde mich noch blöder anmachen, wenn das andere raus käme. Wenn raus käme, dass ich widerwärtig war.
Die Haustür ging auf und Nadja kam raus.
,,Hey!”, sie lächelte über das ganze Gesicht, sie kam auf mich zu und umarmte mich. ,,Wo warst du so lange?” Ich zuckte mit den Schultern.
Wie kann man so etwas dreckiges wie mich berühren?
,,Wie war das Wochenende?” ,,Gut”, log ich. ,,Und deins?” ,,Sau cool! Ich hab mit Dennis geschrieben!”. ,,Ne, echt?”. ,,Ja!” Sie strahlte über das ganze Gesicht; Dennis war ihr Ex-Freund, den sie immer noch liebte. Sie erzählte mir über das Gespräch und ich beobachtete die Menschen an denen wir vorbei gingen und die uns begegneten.”
Ich hatte das Gefühl, dass in ihren Blicken das Wissen über das Gift in meinem Körper war. Innerlich zitterte ich.
Vor was hatte ich überhaupt Angst?
Alles war so anders. Jeden Blick, von Lehrern und Schülern, fürchtete ich und jedes Mal aufs Neue, fragte ich mich, ob sie das sahen.
Selbst die Farbe der Wände in den Fluren hatte sich für mich verändert, sie waren auf einmal so kräftig. Als ich Nadja danach fragte, meinte sie nur trocken, ich solle aufhören Drogen zu nehmen.
Meine Klasse schmückte den Klassenraum für Frau Wiedenroth, denn diese hatte letzten Freitag geheiratet und hieß jetzt Frau Lauterbach. Auch heute war ich geschminkt, die Schminke war nun meine Maske.
Frau Lauterbach freute sich riesig, als wir sie überraschten.
Das Leben war so komisch geworden.
Als hätte ich aufgehört zu atmen und würde warten bis mir die Luft ausging.
Ich konnte nichts essen.
Trinken mochte ich genauso wenig.
Es erinnerte mich an das Sperma im Mund.
An den Geschmack, der im Wasser nicht vorhanden war.
Aber trotzdem schmeckte ich „ihn“ auf der Zunge.
Ich stand nachmittags vor meinem Ganzkörperspiegel und schaute mich lange an.
Meine immer zu dunklen Jeans.
Mein Pulli.
Meine zugeknoteten Haare.
Die Figur meines Körpers.
Mein Gesicht.
Ich zog mein Haargummi aus meinen Haaren, sie fielen mir auf die Schulter, sie waren leicht gelockt, weil ich sie zu deinem Dutt zusammengebunden hatte.
Offene Haare - würde dass meine Mutter sehen, würde es direkt wieder Stress geben. Es war verboten, meine Haare offen zu tragen, warum wusste ich selbst nicht.
Meine dunkel umrandeten Augen und meine offenen Haaren, das war pubertierendes Rebellieren.
Ich beugte mich nach vorne und sah meinen Ausschnitt. Ich hatte viel zu viel Busen, da hatte meine Mutter recht. Irgendwas mit C, aber ich hatte was gefunden wie man so was kaschierte. Einfach kleinere BH`s anziehen, das quetschte zwar, aber man gewöhnte sich dran.
Ich richtete mich wieder auf.
Zu breite Hüften - o ja, ich hatte wirklich breite Hüften, sogar so breit, dass die Gürtel meiner Mutter mir noch nicht mal passten. Meine Mutter war auch dünn, zumindest sagte sie es immer, ich glaubte ihr das nicht so wirklich. 60 kg sagte sie, wiege sie, dafür hatte sie ehrlich gesagt zu viel Fett an sich. Ihre Hüftknochen sah man nicht direkt - meine schon, oft genug hatte ich bemerkt, dass sie eigentlich den ganzen Tag mit eingezogenem Bauch darum lief.
Meine Hände - klein, irgendwie fand sie ganz normal, aber immer, wenn ich sie mit anderen abmaß, also die Hände aufeinander legte, waren meine kleiner und ich hatte längst nicht zu viel Falten wie andere in meinen Händen - meine Mutter sagte immer, dass lag daran, dass ich nicht arbeiten würde.
Meine Zahnspange.
Ich hatte sie eigentlich nur, weil irgendein Idiot mal die blöde Idee hatte mir die Hände festzuhalten und mich zu schubsen. Das war schon ewig her - Grundschule. Mein Gesicht sah danach aus - schrecklich. Mein Unterkiefer hatte sich 3 cm nach hinten verschoben und ich musste sogar operiert werden.
Wie oft ich schon im Krankenhaus war, meine ersten Lebensjahre fast durchgehend.
Ich fuhr mit dem Fahrrad zu meinem Lieblingsplatz an der Nahe und betrachtete das Wasser. Das Wasser war so regelmäßig und es hatte doch was Unregelmäßiges an sich. Wie das Leben.
Auf einmal konnte ich diese Stille nicht mehr aushalten, stand ruckartig auf und fuhr mit dem Fahrrad heim und wie immer hatte ich ordentlich Tempo drauf.
Daheim erwartete mich eine Überraschung. Die Überraschung hieß Herr Bless Vom IB. IB heiß Internationaler Bund, so helle war ich auch, was genau die machten, wusste ich aber nicht.
Er stellte sich als Familienhilfe vor, deshalb war auch alles geputzt und aufgeräumt.
Wir gingen zum Küchentisch und setzten uns. Das Monster Ralf war nicht dabei. ,,Sissi, wie geht es dir?” ,,Gut.” ,,Wie läuft die Schule?” Ich verschränkte die Arme. Der Idiot soll uns helfen und kein Smalltalk mit mir halten. ,,Gut.”
Die CD in meinem Kopf war hängen geblieben - eindeutig!
Was dachte ich da?
Was für ein Schwachsinn!
Das sollte ein ernsthaftes Gespräch werden.
,,Was für Fächer magst du am liebsten?” Ich zuckte die Schultern, im Grunde kann es immer auf das Thema und den Lehrer in dem jeweiligen Fach an, so gesehen hatte ich keine dauerhafte Lieblingsfächer. ,,Bio und Sport.” Zumindest waren es die momentan. ,,Sehr schön.” Er lächelte. ,,Was für Noten schreibst du denn meistens?” Aha, da sieht man mal wieder, wie oberflächlich die Leute sind.
,, 2er und 3er”, sagte ich. Er schien überrascht. ,,Wirklich? So gut?”, fragte er meine Mutter. Meine Mutter nickte nur. Gut. Der hatte keine Ahnung, was gut ist. Gut sind 1er, nicht das, was ich hatte, das war ja eher Durchschnitt.
,,War sie schon immer so gut in der Schule?” Ich verdrehte die Augen.
War der blöde?
Ich saß doch direkt daneben, der konnte ja wohl mich selber fragen.
,,Naja, sie wurde erst besser, als sie die Klasse wechselte, ich habe das entschieden.” Schwachsinn. Sie labberte weiter.
Ich konnte mir mal wieder anhören, wie schlimm ich war. Diesmal fiel ich ihr ins Wort.
,,Mama! Bitte lüge Herr Bless nicht an!”, das war laut und deutlich, meine Mutter sprang gleich auf an und hob automatisch die Hand, ich saß da und zuckte mit keiner Wimper. Genau das wollte ich. Mach es. Mach es vor diesem Typ da. Vielleicht holen sie mich ja hier raus.
Aber sie lies die Hand gleich wieder sinken. ,,Sehen Sie jetzt, was ich meine?”, sagte sie zu ihm. Er nickte. ,,Ja, Sissi ist wohl sehr aggressiv.” Aggressiv. Ich glaub es ging los.
Ich stand auf.
,,Du bleibst hier!”
Ich zeigte den Stinkefinger, der eher für den IB Typ gedacht war, schnappte meine Jacke und verschwand mit dem Fahrrad.
Ich merkte wie aggressiv ich war, wie komisch, so war ich nie.
Ich fuhr so riskant, dass sogar einige Autos wegen mir bremsen mussten und sich beschwerten, aber ich fuhr einfach weiter. Und wenn schon, dann sollen sie mich doch überfahren, wenn sie Probleme haben!
Es wurde kalt draußen, aber ich wollte nicht heim.
Daheim war Ralf und meine Mutter.
Daheim war ich allein.
Und dort war auch die Angst.
Ich kam spät nach Hause, fast zu spät, aber sie schauten Fern.
Wenn sie das taten, war es gut, so waren sie beschäftigt und ich hatte meine Ruhe.
Auf meinem Schreibtisch lag mein Hausaufgabenheft, das erinnerte mich an die Hausaufgabe, die ich noch nicht gemacht hatte.
In Deutsch sollten wir ein Gedicht schreiben. Schnell suchte ich in meinem Ordner, der voller Gedichte war, was raus, ich wusste, dass ich kein neues nehmen durfte; zum einen würde das schocken, weil ich das niederschrieb, was ich fühle und zu anderem wusste ich, dass man es merken würde. Nicht dass ich Talent hatte oder so was, nein, sondern einfach am Aufbau sah man, dass ich öfters schrieb und das wollte ich vermeiden. Ging ja niemanden was an.
Ich nahm das erste Gedicht was ich jemals geschrieben hatte. Ich hatte über meinen Bruder geschrieben, als er geklaut hatte. Zu dem Zeitpunkt, als ich es schrieb, war ich zarte 8 Jahre alt gewesen.
Dann machte ich mich fertig und legte mich ins Bett. Schlafen konnte ich noch lange nicht. Ich war mal wieder unweiblich, wie es meine Mutter zu sagen pflegte. Das, was passiert war, ließ ich einfach mal so, ohne zu weinen oder so, ich brauchte immer eine Weile, bis ich zusammenbrach. Zuerst versuchte ich, einfach weiter zu leben, und irgendwann merke ich, es geht nicht und breche zusammen, es dauert bei mir.
Der Dienstag brachte mich an meine Grenzen.
Zum einen hatte ich Deutsch und ich kam dran; das war fast schon vorhersehbar gewesen, mein Deutschlehrer hatte mich auf den Kicker.
Ich atmete tief ein und einen Moment herrschte Stille, unterbrochen von normalen Geräuschen meiner Klassenkameraden. Ich bemerkte dass Ayse neben mir etwas auf ihr Blatt kritzelte und dann fing ich an vorzulesen.
,,Er sah schon sehr müde aus,
was jetzt passierte konnte er nur raten,
jetzt musste er büßen für seine Taten,
er wollte unbedingt hier raus!
Er war in einem Geschäft gewesen,
dort hatte er was interessantes gefunden,
er tat so, als hätte er sich in einem Buch festgelesen,
und streckte nebenbei was ein und man hatte ihn gesehen.
Er musste jetzt warten und ihm waren die Hände gebunden!”
Ich schaute auf und viele sahen mich an, ich erwiderte ihr Blick und war leicht verunsichert.
War das so schrecklich?
Mein Deutschlehrer drehte sich zur Tafel um und so konnte ich sein Gesicht nicht sehen, einige sahen mich immer noch an, aber keiner sagte was.
Jetzt glaubte ich erst recht dran, dass es überhaupt nicht gut war.
Marc, der ganz vorne, direkt vor dem Pult saß, fing an zu klatschen, einsam hallte der Ton durch den Klassenraum. Er schaute mich an und hob den Daumen nach oben. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte.
War das eine Verarsche?
,,Ganz Recht, Marc”, sagte mein Deutschlehrer und drehte sich zu mir, sein Gesicht verriet nichts und er verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken. Ich zuckte leicht zusammen, wenn er mich jetzt anmeckern würde, würde er einen sehr weichen Punkt bei mir treffen. Und mittlerweile konnte ich wetten, dass es grotenschlecht war.
,,Das Feedback, bitte.”
Einige meldeten sich. Er nahm Geogina dran, eine der besten im ganzen Jahrgang, sie war sehr, sehr hübsch und total nett, aber sie schwätze viel und legte viel Wert auf Make-up und Klamotten.
,,Oha, Sissi!” Ayse, die neben mir saß, nickte zustimmend. ,,Das war nicht nur gut, das war Talent!” Ich schluckte. Echt?
Lars kam dran. ,,Das Reimen ist voll gut! Wie machst du das?”, fragte er mich direkt. Ich zuckte die Schultern. ,,Irgendwie”, murmelte ich.
,,Sissi.”, sprach mich mein Lehrer an und kam zu mir. „Darf ich mal sehen?“ Ich gab ihm den Zettel, dabei fiel mir auf, dass ich am Rand das Datum vermerkt hatte. o6.o3.2oo1, stand da. Wenn dem das nicht auffiel, war ich Königin von China.
Er ging wieder an die Tafel.
,,Es hat keine Überschrift?”, fragte er mich. ,,Nein.” Er schaute auf das Blatt und runzelte die Stirn. ,,Wieso?” ,,Mir ist keine eingefallen”.,,Dann suchen wir jetzt eine!Vorschläge?”, fragte er die Klasse.
Am Ende hatte mein Gedicht die Überschrift “Konsequenzen” bekommen, aber ich bekam mein Blatt nicht zurück, obwohl wir schon längst nicht mehr bei meinem Gedicht waren. Ich sah das Blatt, es lag auf seinem Pult, über allen Büchern und Sonstigem, das dort lag. Ich wollte es wieder haben, also musste ich es mir nach der Stunde wohl holen gehen.
Jenny, die rechts von mir saß, nervte mich während der Stunde und irgendwann zickte ich sie an. Ich war angespannt wegen meines Gedichts, ich wollte es zurück. Hoffentlich schmiss er es nicht weg oder so. Beleidigt drehte sie sich zur Tafel und sprach nicht mehr mit mir. Solche Phasen hatte ich öfters mit ihr, irgendwie war das immer so, dass ich Rücksicht auf sie nehmen sollte, weil sie ja schließlich Probleme daheim hatte, aber wenn ich mal angespannt war, interessierte es keinen.
Ich bekam mein Gedicht bis zum Ende der Stunde nicht zurück, also musste ich es holen. Jenny zischte beleidigt ab und ich tat so, als würde ich in meinem Ranzen etwas suchen, obwohl ich eigentlich nur darauf wartete, dass alle aus dem Raum gingen.
Als fast keiner mehr da war, ging ich nach vorn.
,,Ähm”, ich spielte mit meinen Händen und hielt Abstand. ,,Kriege ich mein Gedicht zurück?” ,,Wie alt bist du?” - Was hat die Frage mit meinem Gedicht zu tun? - ,,16.” Er setzte sich auf den Rand des Pultes und hielt das Blatt in den Händen.
,,Jan, kannst du bitte die Tür hinter dir schließen?” Jan schloss die Tür und wir waren allein. Das fand ich nicht so gut, ich rückte ganz leicht nach hinten. ,,Wann bist du geboren?”. ,,13.9.” Er nickte, hatte aber immer noch die Augen auf dem Blatt. ,,Du warst 8, ist das richtig?” Ich ließ die Frage unbeantwortet. Mir fiel ein Ring an seiner rechten Hand auf, er war also verheiratet, wenn man verlobt war, zog man den Ring links an, normalerweise, aber heutzutage achtete man da nicht so darauf.
Verdammt, ich wollte mein Gedicht, nichts weiter. ,,Du hast Talent.”, sagte er und schaute mich gerade an. Ich zuckte leicht zusammen. ,,Schreibst du immer noch?” ,,Manchmal”, murmelte ich. Er nickte. ,,Mir ist das schon öfter aufgefallen, deine Satzbaustellung hat einen gewissen Schreibstil. Das einzige was ich bemängele ist deine Rechtschreibung, aber das weißt du ja.” Er atmete laut aus. ,, Du hast wirklich Talent, behalt es dir. Du bist noch jung, du kannst noch viel lernen. Ich glaube, du hast Potenzial, besser zu werden, viel besser.” Mit diesen Worten gab er mir mein Gedicht zurück und ich verschwand auf der Stelle aus dem Klassenraum.
Während ich Richtung Toilette lief, dachte ich nach und freute mich gleichzeitig.
Talent.
Ist das wirklich Talent?
Für mich war so was einfach, kann doch eigentlich jeder.
Blatt, Stift und paar Gedanken und los geht`s.
Ich konnte es kaum glauben.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich gute Kritik bekommen und dann auch noch gleich so etwas!
Das war doch mal cool.
Vor allem von einem Lehrer, von dem ich das gar nicht erwartet hatte! Er mochte mich nicht, dann das – puff, so schnell kann sich die Welt ändern!
Ich war total durchgeknallt und freute mich so sehr, dass ich es Nadja gleich erzählte. Sie freute sich mit mir.
,,Wow.” Sie zwinkerte mir zu. ,,Jetzt wirst du nicht nur Professorin sondern auch gleich Dichterin.” Ich lächelte. ,,So schwer ist das wirklich nicht.” Sie verdrehte die Augen: ,,Wie kann man so wenig lernen und so gute Noten schreiben?” ,, Ich lerne intensiver oder so, keine Ahnung!”,, Glaub ich nicht. Ich denk, du bist schlauer als ich.” Ich tippte an meinem Kopf. ,,Aber sonst geht es dir noch gut?”, fragte ich spaßeshalber.
Nach der Pause hatten wir Sport und ich ging auf den Schulhof, wo wir immer auf unsere Sportlehrer warteten. Nadja hatte normalen Unterricht und so ging ich allein runter.
Jenny, Anna, Sabrina, und Venessa standen zusammen und ich ging auf sie zu. ,,Hey.”, sagte ich und strahlte in die Runde. Ich erntete Blicke, mit denen man Massen von Menschen hätte umbringen können. Jenny hatte ihre Nase höher als die anderen und hatte einen selbstzufriedenen Ausdruck.
Ich überlegte mir kurz, ob ich sagen sollte, dass sie sich verraten hatten, lies es aber lieber.
Wie kann man das so offen demonstrieren?
War doch wohl klar, die Lady namens Jennifer J. Hatte Scheiße über mich erzählt und die anderen hatten ihr zugehört und waren hin und her gerissen.
,,Was glaubt ihr, machen wir in Sport machen?”, fragte ich, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Keiner gab eine Antwort und Anna zuckte nur mit den Schultern. Das war ja echt nicht zum aushalten. Normalerweise fingen sie immer bei dem Thema an zu sprechen. “O, ich hoffe wir machen nicht wieder das, weil blablabla.”
Das wurde mir zu dumm.
,,Ich geh, tschüss.”, und so verschwand ich. Ich lief zum Brunnen und setzte mich auf eine der Bänke.
Das war ja wohl wirklich Scheiße.
So eine blöde Kuh!
Kaum passt ihr was nicht, wird gelästert.
,,Was war denn los?”, fragte mich Anna in Sport. ,,Was soll denn los sein?”, ich behandelte sie leicht von oben herab, den Blick und die Null-Antwort hatte ich noch nicht verziehen. ,,Na, du bist einfach weg gegangen.”
Das ist ja wohl nicht wahr. Mit einem mal wurde ich sauer, und wie.
,,Ist ja wohl klar warum”, schrie ich. ,,Warum denn?”, kam die blöde Antwort. Ich drehte mich zu ihr um. ,,Glaubst du echt, ich hab das nicht mitbekommen?”, fauchte ich sie an. ,,Was denn?”, verteidigte sie sich. ,,Anlügen kannst du jemand anderes, mir reicht’s mit eurem Scheiß-Gelaber über mich, glaubst du echt, ich bin so blöde oder was?” Sie schaute mich erstaunt an. Jetzt kam ich erst recht in Fahrt. ,,Ja, und kannst du dumm gucken wie du willst, machts auch nicht besser!” Mit diesen Worten lief ich los und sprang über den Bock.
Sollen die mich doch alle mal am Arsch lecken, echt!
Nach den zwei Stunden Sport gab es Biologie, mit meinem Lieblingslehrer, Herr Zepezauer.
Venessa, Anna und Jenny ignorierte ich, Sabrina ging mir sowieso sonst wo lang.
Sabrina war ein echt sau dummes Mädchen. Ich konnte sie nicht leiden, weil sie einfach andere kopierte, ich hasste so etwas, diese Art von Überheblichkeit und Nachmache machte sie für mich hässlich. Niemand akzeptierte sie wirklich und die meisten ließen sie nur bei sich aus Mitleid verweilen. Wie oft hatten wir schon in ihrem Beisein über sie schlecht geredet und sie lacht einfach mit.
Da fragt man sich doch, wo ihr Stolz geblieben ist?
Außerdem log sie, und das nicht zu wenig. Sie erzählte von einem Freund, der nicht existiert und erzählt, wie sie zusammengekommen sind, dass irgendwie etwas von einer Hollywoodstory hatte.
Sie stellte die blödesten Fragen und warf Dinge ein, die eigentlich gar nichts mit dem Thema zu tun hatten, um das es gerade ging.
Und dann die Sache, wie sie manchmal sprach, wenn sie etwas wusste, von dem kein anderer eine Ahnung hatte, da machte sie sich gleich groß. Und wehe man machte Scheiß im Unterricht und wurde vom Lehrer ermahnt, dann mischte sie sich gleich mit irgendwelchen Kommentaren ein, die selbst die Lehrer nervten, der sie dann auch gleich ermahnte.
Für solche Kommentare konnte ich sie manchmal umbringen. Ich machte eben manchmal Scheiß, na und? Ich aß oft im Unterricht, wenn ich Hunger hatte oder las ein Buch unter der Bank, ich schrieb Gedichte während des Unterrichts und malte. Aber trotzdem war ich gut, auf jeden Fall besser als sie, denn sie kam gerade so mit ach und Krach in die 10 Klasse.
Und dann diese Sache - sie versuchte mich runterzumachen, keine Ahnung warum. Ihre Feedbacks fingen immer mit, “ War gut, aber....”, aber dass machte sie nicht nur bei mir, sie machte das bei allen, sie war ja selbst nicht besser -um ehrlich zu sein -, sie war eine der schlechtesten.
Eine Sache verzeihe ich ihr nie - die Sache mit meiner Narbe. Ich sprach gerade mit Georgina und Derya, ganz ruhig darüber, als sie sich einmischte und zwar mit: ,,Wenn ich so eine Narbe hätte, würde ich mich lieber umbringen! Mit so was, will dich kein Junge sehen!” Da griffen beide ein: ,,Bist du dumm oder was?”, fauchte Derya sie an und Georgina meinte ganz locker: ,,Wenn einer von uns so aussehen würde wie du, würde kein Mensch mehr leben!” Aua, das hatte gesessen und sie zog mit der Nase zur Sonne ab.
,,Sissi”, sagte Derya zu mir und nahm meine Hand: ,,Vergiss was Sabrina gesagt hat, das stimmt nicht!” Ich lachte: ,,Ich weiß das”, und zwinkerte ihr zu.
Aber ganz so unrecht wird Sabrina nicht gehabt haben.
So eine Narbe von 50 cm Länge wird von den Jungs keiner so locker wegstecken. Das würde ja eher wohl verschrecken.
Biologie mit Herr Zepezauer.
Die Vergangenheit holt einen ein, wenn man allein ist, aber vor allem holt sie einen ein, wenn man versucht, sie zu verdrängen.
Am Anfang der Stunde sollten wir uns einen Text durchlesen, wie immer kam ich dran um laut vorzulesen. Bei ihm kam ich immer dran, wenn ein längerer Text vorzulesen war, ich konnte ziemlich gut vorlesen, das lag hauptsächlich daran, dass ich meinem Hund Gismo teilweise ganze Bücher vorlas.
Doch heute wollte es nicht so klappen. Ich stockte immer wieder und legte meine Hände so über mein Gesicht, dass man meine Augen nicht sehen konnte. Das half nicht. Herr Zepezauer ließ mich trotzdem bis zum Ende vorlesen. Ich konnte dem Unterricht nicht folgen.
Ich hatte Angst, irgendeine Angst.
Es war 6 Stunde, die letzte vorm Heimgehen, und heute war Dienstag, da hatte Ralf früher frei.
Ich fing an völlig den Kopf zu verlieren.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, in der Zeit zurück versetzt worden zu sein, als wäre es wieder real. Als ob seine Hände wirklich mein Körper berührten, ich schaute auf mein Schoß, da war nichts. Ich strich über meine Hose und versuchte mich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren.
Doch wie ich Herr Zepezauer so sprechen sah, fingen meine Gedanken wieder an. Ich hörte nicht das, was er sagte, ich achtete ganz genau auf seine Körperhaltung, auf sein Gesicht.
Er hatte große Hände, die gewiss auch kräftig waren, wer weiß, was er mit Frauen macht.
Borrhh, ne.
Ich schaute auf meine Pulsadern. Diese weiße Haut lud förmlich dazu ein, ich sah die Adern, blau schimmerten sie durch meine Haut. Ganz Vorsichtig strich ich über meine Pulsadern. Was würde ich nicht dafür geben, es jetzt zu tun?
Ich schaute wieder zu Herr Zepezauer.
Ob er mich abstoßend fand?
Jetzt nach dem alles?
Ich wusste, dass er eine Freundin hatte, sie war sogar eine Freundin von Frau Lauterbach.
Ob er sie dazu auch zwang?
Vielleicht tut man das einfach?
Es war richtig so und niemand sprach darüber, weil es eben richtig war?
Ich ließ den Blick über meine Klasse kreisen.
Ich dachte an früher.
Was für eine blöde Angst ich doch hatte, als ich anfing meine Tage zu bekommen. Ich hatte einen Riesenschiss, dass man es merken würde. Meine Mutter sagte mir, dass man es merken würde und vor allem Jungs, die merken das am Schnellsten. Am liebsten wäre ich daheim geblieben, als ich sie hatte. Ich stellte mir vor, dass ich eine Zettel trug, den nur die männlichen Kandidaten sahen und auf dem stand, dass ich meine Tage habe. Irgendwann hatte ich festgestellt, dass es keiner wusste, solange ich es nicht verriet. Aber sie hat mir damit Angst gemacht.
Als ich daheim war, räumte ich auf. Sehr ungewöhnlich bei mir, aber manchmal machte ich es, weil es getan werden musste oder wie heute, weil mein Durcheinander im Kopf so groß war, dass ich irgendwo ein wenig Ordnung brauchte, und das war nun mal mein Zimmer.
Als ich fertig war, setzte ich mich auf meinen Stuhl und schaute den Schreibtisch an. Wie komisch, ich aß fast gar nichts mehr und nichts passierte.
Wofür essen Menschen, wenn doch nichts passiert, wenn man nichts isst?
Ich konnte auch mal wieder in die Bücherei gehen, ich hatte meine Bücher alle ausgelesen. Das machte ich - ich fuhr in die Bücherei.
Das Wort “unweiblich” schwamm im meinem Kopf rum. Vielleicht war es auch besser so, dass ich es war. Ich war gut, bisher keine besonderen Zusammenbrüche. Also nur noch 2 Jahre und dann würde ich irgendwie den Abflug machen und dann würde es mir besser gehen.
Mein Verstand sagte mir, dass 2 Jahre sehr, sehr lang sein können und er sagte mir, dass ich es nicht schaffen würde. Quatsch. Einfach verdrängen. Irgendwas anderes machen. Lesen zum Beispiel.
Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen ,die alles organisierten, kannten mich schon. ,,Hallo Sissi.” Ich lächelte: ,,Hallo.” Es waren zwei ältere Frauen, deren Namen ich nicht kannte. Dann ging ich wieder auf die Jagd nach guten Büchern, als ich welche gefunden hatte, lies ich sie abstempeln und verschwand wieder.
Lesen und Schreiben. Es gab niemanden mit dem ich großartig darüber sprach, aber es war so was wie mein tägliches Brot.
Da ich nichts anderes zu tun hatte, las ich. Ralf war zwar da, ließ mich aber in Ruhe, da meine Mutter zu Hause war.
Mittwoch.
Der Tag ist kaum der Rede wert.
Es gab nicht viel von ihm zu erzählen, außer, dass ich Venessa, Anna, Sabrina und Jenny ignorierte, und dass ich anfing, mich noch schlimmer zu benehmen. In Mathe hatte ich Herr Neumayer, ein sehr lieber aber sturer Lehrer. Als ich zu ihm ging, um von mir gerechnete Aufgaben zu kontrollieren, fasste er mich an. Ich wusste, dass es nur freundschaftlich war, aber für mich war das nicht gut. Er führte meine Hand zu einer Zahl und erklärte etwas. Ich sagte einfach ja. Ich wollte, dass er mich los ließ.
Direkt danach ging ich auf die Toilette. Ich hatte genau 6 Tabletten bei mir.
Schmerztabletten.
Paracitamol.
Normalerweise gegen die Schmerzen, wenn ich meine Tage hatte.
Ich nahm sie.
Alle auf einmal.
Ich wusste, dass ich daran nicht sterben würde, ich hatte auch schon mal 8 am Tag genommen. Alle 2 Stunden eine. Aber so ging es mir besser.
Damit das Innere von mir sich beruhigte.
Und ein Messer hatte ich immer noch nicht.
Ich musste mir eins besorgen.
Blut wollte die Welt sehen.
Und sie würde Blut sehen.
Mein Blut und damit verbunden meinen Tod.
Donnerstag.
Als ich aufstand, hatte ich ein komisches Gefühl, als würde heute etwas passieren, was überhaupt nicht gut ist.
In der ersten Stunde wurde ich aus dem Unterricht geholt von Herr Lamb, ich wollte hören wie es dir so geht sagte er mir. Ich log ihn an, im Innersten wusste ich, dass ich verloren hatte.
Er beobachtete mich extrem und ich fragte mich, ob mein Verhalten aufgefallen war.
,,Schlägt dich deine Mutter immer noch?”
Was für eine direkte Frage. ,,Ist okay, wird besser.”, ich sah, dass er mir nicht glaubte, ich hätte mir selbst auch nicht geglaubt, dafür zitterte ich zuviel. Ich versuchte es zu unterdrücken indem ich mich anspannte, aber so einfach ist es nun mal nicht. Ich wurde verrückt. Mein Blick schweifte immer wieder zur Tür, ich wollte aus dem Raum raus.
Eigentlich hatte das Ganze gar nichts mit dem Raum zu tun, sondern einfach nur damit, was er mit seiner Frau machte. Ich wollte das gar nicht wissen, aber irgendwie stellte ich es mir doch vor.
Männer hatten die Macht. Gewalt, dass war das, womit sie sich durchsetzten.
Der Mann zum Anlehnen, eine blöde Fantasie von Frauen, wie mir, die nicht von der Welt verstanden, die zu schwach, zu sensibel waren, genauso wie ich.
Romantik – so was gab es heute doch schon nicht mehr.
Eher ist doch die Frage, ob sie es jemals gab?
Ich wurde wieder entlassen und kehrte mitten im Unterricht in meine Klasse zurück. ,,Wo warst du?”, fragte mich Anna während des Unterricht, als wir ein paar Minuten für uns hatten. ,,Bei Herr Lamb.” ,,Warum?” ,,Ich habe Probleme.” Sie runzelte die Stirn und schaute mich an.
Nein, Anna das werde ich dir nicht erzählen, damit es gleich jeder weiß, dachte ich mir. Anna war vorsichtig ausgedrückt eine Tratschtante. Sie liebte, wie die meisten, Kinder über alles, was ich wiederum gar nicht verstehen konnte.
Vor allem bei Kleinkindern - ich fand die grausam, wie konnte man so was nur “süß” finden?
Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass es an den großen Augen und den großen Kopf, der Baby und Kleinkinder liegen würde, dass wir sie “süß” finden und natürlich an dem Mutterinstinkt. Ich glaub, ich hab keinen.
Sie schreien, kosten Geld und nerven auch noch, indem sie die Freizeit stehlen. Das war meine Meinung dazu und damit war ich so ziemlich allein.
In Deutsch hatten wir immer noch das Thema Dichten und wir sollten es diesmal spontan machen und klar, wer kam dran? Ich natürlich.
Ich trottete nach vorne, ich fand das nicht so witzig. Dichten hatte immer mit mir zu tun und das wollte ich, wenn möglich nicht preisgeben.
Mein Leben.
Meine Gefühle.
Das ging niemanden etwas an.
Punkt.
Auch nicht den aufgeblasenen Deutschlehrer, der glaubt, ich habe Talent und der mir das größte Kompliment, das ich je bekommen habe, gemacht hat.
Es war zum Glück nicht sehr viel und er zwang mich auch nicht zu mehr.
In Al (Arbeitslehre Wirtschaft) sprachen wir über die Zukunft. Viele hatten schon Ziele, ich war offenbar in der Hinsicht ein wenig verträumt, das, was ich wollte, schien niemand für nur erwähnenswert zu halten.
Wir bekamen die Aufgabe aufzuschreiben, was wir alles erreichen wollen in unserem Leben. Irgendwie hatten alle es auf Berufliche Zukunft abgesehen.
Was will ich erreicht haben, wenn ich alt bin?
Gute Frage.
Ich will gelebt haben. Das Schlimmste, wie auch das Beste auf der Welt erlebt haben. Ich will ein Buch veröffentlicht haben und mindestens ein Standart-Tanzkurs gemacht haben. Abitur, das ist auch so etwas, was auf meine Liste kam. Ich will in den Anden (Chile) gewesen sein, genauso wie über die Landschaft in Peru drüber geflogen sein. Ich will mal jemand treffen, der meinem Namen trägt, also nur meinen Vorname. Und ich will mal jemand treffen, der mit mir am selben Tag Geburtstag hat.(Und nicht nur im Buch, Bella Swan -> Twilight hat nämlich auch am 13.09 geb.) Und jemand, der mir sehr ähnlich ist. Ich will meinen Schreibstil verbessern und ich will von der Welt lernen. Viele verschiedene Menschen kennenlernen und dazu auch ihre Lebensweise. Das wars eigentlich.
Das Hauptsächliche konnte ich streichen, weil es nichts mit meiner Beruflichen Zukunft zu tun hatte, da blieb nur das Abitur.
Warum wollte ich ABI machen?
Ich war irgendwie die dümmste in meiner Familie, von den Kindern zumindest. Alle hatten sie ihr Abitur oder waren auf einer besseren Schule als ich. Und wenn ich mein ABI mache, würde ich mir selbst beweisen, dass ich nicht blöd bin.
Gut. Aber so konnte ich das ja nicht vortragen, ich brauchte andere Gründe.
Genau, mit ABI kam man besser im Berufsleben klar. Und hatte bessere Chancen, bla bla bla, das Übliche eben.
In Physik wurden wir in Gruppen aufgeteilt, ich kam mit Jenny zusammen, sie schien sich wieder beruhigt zu haben. Wir hatten natürlich auch das Schwierigste Thema.
“Ein Motorrad fährt konstant 60 km/h und hat eine Lautstärke von 80dz, daneben fährt eins mit 60 km/ h und es werden 100dz gemessen.”
Und dann gab’s Fragen dazu.
Schon die Erklärung, war irgendwie unlogisch, und so meldeten wir uns, um das aufzuklären.
Im ersten Moment dachte ich, es wäre vielleicht ein Druckfehler, doch wenn man da länger drüber nachdachte, hatte es doch irgendwie seine Logik. Aber bei Physik war ich mir nie so sicher.
Herr Zepezauer kam und lächelte. ,,Ja, das ist die schwerste Aufgabe.” Er bat um ein Blatt und ich gab ihm eins, er schnappte sich einen Stift und setzte sich neben mich. Er war Rechtshänder und so war sein Ellenbogen ziemlich nah bei mir, während er zeichnete, atmete er, das kommt vielleicht sau blöd, aber ich fand das nicht so gut.
Das zeugte davon, dass auch er nur ein Mensch war.
Ein Mann, mit Gewalt.
Sein Arm bewegte sich während er auf das Blatt kritzelte. Ich lehnte mich zurück und atmete möglichst nicht.
Übelkeit stieg in mir hoch.
Auf einmal hatte ich Angst um meinen Schoss, ich legte meine Füße rüber zu Jenny, die nichts zu bemerken schien.
Ich hatte Angst vor seiner Hose.
Vor seinen Bewegungen.
Ich hatte grade festgestellt, dass er lebt - klar lebt er, ist ja schließlich ein Mensch, aber ich hatte ihn noch nie so gesehen.
Die Sache, dass er ein erwachsener Mann war.
Das er auch irgendwie seine Sexualität hatte.
Ich schaute auf den Tisch.
Wenn ich jetzt erbrach, würden die anderen erst mal blöd glotzen.
Ich konzentrierte mich auf einem Punkt auf den Tisch, dennoch nahm ich alle seine Bewegungen wahr.
Bald würde es zum Schulschluss klingeln.
Hoffentlich.
Zeit, beeile dich mal.
Er drehte sich zu uns um, in einer einzigen Bewegung, ich schreckte zusammen und verkrampfte mich sofort.
,,Hier habt ihr was...”, weiter kam er nicht, denn es klingelte. Ich stand sofort auf und lief nach vorne, ich wusste nicht was ich dort tun sollte, also nahm ich mir ein Tuch und tat so als würde ich mir die Nase putzen. Als Herr Zepezauer mein Platz geräumt hatte, traute ich mich zurück zu meinen Sachen und packte, auch das Blatt, das er uns für die Erklärung gezeichnet hatte, ein.
Auf den Heimweg stellte ich meinen MP3-Player auf die höchste Lautstärke ein, die Musik sollte meine Gedanken übertönen. Ich kam halbtaub daheim an und wurde erstmal zusammengeschrien. Kaum kam ich zur Tür rein, kam mir Gismo entgegen, mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß, er hatte mal wieder eine Geschwindigkeit drauf, die ihn fast nicht um die Kurve kommen ließ und verschwand mit eingezogenem Schwanz in meinem Zimmer.
Ich wollte es ihm gleich machen und legte den Schlüssel leise auf die Ablage im Flur.
,,Sissi!” Ich fuhr zusammen - Meine Mutter. ,,Geh in dein Zimmer!”, ich ging hinein und tappte somit voll in die Falle. Sie schloss die Haustür ab und meine Zimmertür auch. Gismo hatte sich auf seinen Platz ganz klein gemacht.
Ich las ein wenig, mal wieder Eragon.
Es wurde Nachmittag und es geschah nichts. Ich fragte mich, wann sie mich raus ließ. Aber nachfragen wollte ich lieber nicht.
Ich seufzte: So`n Scheiss.
Das Lesen machte mir auch keinen Spaß mehr, ich hatte genug von Eragon, lernen wollte ich nicht, also legte ich mich auf mein Bett und versuchte zu schlafen, ich wusste eigentlich ganz genau, wenn mich meine Mutter tagsüber schlafend erwischen würde, dass es richtig Ärger gäbe. Aber was hätte ich tun sollen?
Irgendwann wachte ich wieder auf, ich fühlte mich komisch schläfrig und ich hörte jemand im Hausflur die Treppe hochkommen. Am Schritt erkannte ich Ralf. Meine Handy-Uhr sagte mir, dass es kurz nach 17 Uhr war.
Was ich nicht wusste, war, dass es der letzte Tag meines alten Lebens sein sollte.
Was ich nicht wusste, war, dass es mir jetzt nicht schlecht ging, sondern es mir noch nie schlecht gegangen war.
Was ich nicht wusste, war, dass man mir mein Leben mit einem Atemhauch nehmen konnte.
Ich hatte keine Ahnung was los war. Das einzige, was ich mitbekam, war, dass sie sich stritte und dass nicht gerade im Flüsterton. Direkt vor meiner Tür schrien sie sich gegenseitig an. Ich hörte meine Mutter, ihre typischen Streitsätze und wie Ralf aus der Wohnung wollte, meine Mutter ihn aber nicht ließ, vor der Tür stand und den Ausgang versperrte.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaute das Buch an. Natürlich las ich nicht, dafür war ich fiel zu neugierig und wollte wissen, was da vor meiner Tür abging. Aber falls einer auf die Idee kam, in mein Zimmer zu kommen, tat ich wenigstens so, als würde ich von alldem nichts mitbekommen. Durch das Milchglas in der oberen Hälfte meiner Zimmertür konnte ich aus dem Augenwinkeln Schatten erkennen.
Ralf schien wohl langsam die Geduld zu verlieren, ich hörte meine Mutter „Hör auf! Du tust mir weh!“ rufen, worauf Ralf verlangte, dass sie ihn durchlassen sollte worauf sie trotzig „Nein“ sagte. Ich hörte erstmal schön aufmerksam zu, bevor ich aus dem ganzen meine Schlüsse zog. Irgendwann verschwanden sie ins Wohnzimmer und stritten dort weiter. Es wurde auch ruhiger, ich hörte wie sie ein paar mal auf dem Balkon eine Zigarette rauchen gingen und sich weiter unterhielten.
Wenn sie auf dem Balkon waren, konnte ich sie am besten verstehen. Meine Mutter sprach von schnellstmöglichen Veränderungen zum Guten, Kur und etwas tun, während Ralf sich ergeben hatte und nur ab und zu, wenn er mal dran kam, kurz zustimmte.
Ich dachte, dass es um Geld ging. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, meist mit Männern kein Glück zu haben und dass die Männer immer weniger Geld verdienten, als sie selbst. Falls Ralf wirklich weniger Geld verdiente, wäre es sehr seltsam. Ralf hatte Abitur und ein abgeschlossenes Studium und meine Mutter – tja, sie eben nicht.
Heute würde ich sagen, dass es ihr Beuteschema ist, solche Männer zu haben. Abhänigkeit und Unterwerfung gehört praktisch zusammen und der, von dem man abhängig ist, hat natürlich Macht über einen. Und dass diese Männer, die meine Mutter hatte, immer irgendwie krank im Kopf sind – ich weiß auch nicht. Vielleicht mag sie ja Leute, die dümmer sind als sie, damit sie sich klüger fühlen kann? Oder überlegener? Weil diese Personen, die krank im Kopf sind, natürlich nicht normal denken können ?!?
Sie hatten sich ganz beruhigt und es war fast völlige Ruhe, ich hörte nur den Fernseher laufen und hin und wieder mal, wenn jemand in die Küche ging, um sich etwas zu essen zu machen.
Ich las wieder Eragon, aber mir war so verdammt langweilig, dass ich zwischendurch vor meinem Fenster stand, raus schaute und Leute beobachtete.
Ich saß am Schreibtisch über meinem Buch gebeugt, als ich die Wohnzimmertür wieder aufgehen hörte. Ich hörte auf zu lesen und horchte ohne meine Augen von den beschriebenen Seiten zu nehmen. Meine Tür ging auf und ich drehte mich mit meinem Drehstuhl zur Tür.
Ich war froh, endlich wieder frei zu sein.
Ich sah den Umriss von meiner Mutter schnell auf mich zu kommen und merkte, wie ich vom Stuhl flog, erst als ich auf dem Boden lag, merkte ich ein starkes Brennen in meinem Gesicht. Durch den Schreck wurde mir kurz schwindelig, mein Herz hämmerte und plötzlich war alles in meinem Körper auf Alarm gestellt.
Ich rappelte mich auf.
„ Was geht hier ab?“ Das war die erste Frage, die durch mein Kopf schoss. Ich verzog mich weite nach hinten, als ich meine Mutter vor mir bemerkte. Ich war geschockt und überrascht zugleich. Mir hatte es wortwörtlich die Sprache verschlagen. In einem Cartoon würden jetzt 5 dicke Fragezeichen über meinem Kopf stehen.
Ich brauchte eine Weile bis ich mich wieder gefangen hatte. Meine Mutter stand weiter vor mir, mit bösem Blick. Erst als ich mich innerlich zur Ruhe ermahnte, merkte ich, dass ich keuchte.
Ich fragte mich, was ich denn Angestellt hatte.
Ralf stand im Türrahmen und meine Mutter in ihrer typischen Pose, mit verschränkten Armen und dem Gewicht auf einen Fuß abgestützt, wobei sie es immer wieder verlagerte und mit ihren Absätzen auf dem Boden Töne erzeugte.
Ich warf einen Seitenblick auf mein Fenster, durch den überraschenden Angriff wusste ich nicht, wozu sie noch fähig war. Mein Seitenblick überprüfte mein Vermutung auf Fehler und glücklicherweise gab es keine!
Mein Plan war folgendermaßen:
Das Fenster war auf Kipp. Das war gut, sehr gut. Falls meine Mutter noch mal auf mich losgehen würde, würde ich ganz laut schreien. Durch das gekippte Fenster kann keiner sagen, dass man mich nicht gehört hatte. Niemand würde das sagen können! Und wenn man jemand schreien hört, dann wird man doch mal nachgehen wollen, warum derjenige den so laut schreit, oder? Und ich wäre gerettet.
Als mich meine Mutter kurz darauf ins Gesicht schlug, schrie ich wie am Spieß. Das war selbst für mich unglaublich, wie laut der Schrei war. Ich hatte Angst, dass mir das Trommelfell platz, weil es einfach zu laut war. Ich beugte mich nach vorne um wirklich die volle Lautstärke zu erreichen. Ich ballte meine Fäuste und betete darum, dass ich danach noch gescheit hören konnte. Meine Mutter, vor mir war erstarrt. Ich hätte nie von mir selbst gedacht, dass ich so was könnte.
Als ich fertig war, richtete ich mich wieder auf. Meine Mutter flüsterte: „Wie kannst du nur…?“ und lief an mein Fenster und schloss es. So verlor ich meine einzige Verbindung nach draußen. Ich fühlte mich sogleich eingesperrt und hoffte, dass es jemand gehört, und dadurch vielleicht alarmiert war.
Meine Mutter rollte mich irgendwie auf das Bett und setzte sich auf mich und auch Ralf mischte mit. Ich wurde sauer.
Solche .........!
Ich war allein!
Zwei gegen einen – so was ist ungerecht!
Aber ich kämpfte weiter.
Einmal schlug mich meine Mutter so hart auf den Rücken, dass ich keine Luft mehr bekam. In diesem Moment dachte ich, ich hätte nicht mehr lang. Ich versuchte verzweifelt, nach Luft zu schnappen und öffnete meinen Mund weit. In diesem Moment ließen Ralf und meine Mutter von mir ab. Ich sank auf die Knie, der Schmerz in meinem Rücken war scharf und erinnerte mich komischerweise an ein scharfes Hustenbonbon, nur das ich eben keine Luft bekam. Ich konnte auch nicht mehr ausatmen, ich richtete meine Augen Hilfe suchend auf meine Mutter. Sie musste mir helfen!
Irgendwas stimmte nicht mit meiner Lunge!
Ich bekam keine Luft!
Weit öffnete ich meinen Mund, ich spürte die Luft darin, auf meiner Haut, als etwas Trockenes und Hartes, aber es kam nicht in die Lunge.
Doch plötzlich kam sie.
Die harte, scharfe, trockene, schmerzhafte Luft war in meinen Lungen. Den bruchteil einer Sekunde war ich erleichtert.
Doch dann stand ich auf.
Ich durfte meine Mutter nicht vergessen.
Zum ersten Mal in meinem Leben tat meine Mutter etwas für sie total Untypisches. Sie kam auf mich zu, ich war gar nicht darauf vorbereitet - eher auf den nächsten Schlag – und sie nahm mich in den Arm.
"Sissi, es tut mir leid!", flüssterte sie mir ins Ohr.
Hatte sie noch alle Tassen im Schrank?
Aber ok. Frieden. Weiße Fahne.
Ich wusste selber nicht, was das sollte, aber besser als das davor. O Gott, Frieden, Frieden !!
Als sie mich losließ, labberte sie mich voll: "Sissi, es tut mir so leid! Ich wollte das nicht, ich weiß mir auch nicht mehr zu helfen...", u.s.w. Mir war das doch egal – Frieden. Frieden!
Frieden war immer gut. Sie nahm mich mit raus auf den Balkon, qualmte sich einen ab und mich zu, und erzählte mir, wie schwer ihr Leben ist. Wenn sie erzählte, brauchte man ihr nicht wirklich zuzuhören, ich tat es auch nicht wirklich, dafür war ich viel zu fertig. Normalerweise bin ich ein Mensch, der, wenn er geschlagen wurde, sich möglichst zurückzieht, sonstwohin verschwindet und sich um sich selbst kümmert. Ich hatte Schiss abzuhauen, denn das wäre vielleicht ein Grund für meine Mutter, den jetzigen Frieden dem Erdboden gleich zu machen. Und ich wollte ihn unbedigt behalten.
09.06.2012
Ich lief mit meinem Absätzen auf einem unsichtbaren, geraden Strich, hielt die Hände hoch, darin hielt ich die deutsche Flagge, die hinter meinem Rücken flatterte. Europameisterschaft, Deutschland hatte gegen Portugal gespielt, Deutschland hatte gewonnen.
Navies Schwarz - Rot - Gold.
Ich war so frei wie noch nie, die Luft hob leicht meinen Rock an und ich lächele rüber zu meinen neuen Freunden, meinem Fast-Familienersatz.
Frei und bekloppt, ja das war ich mit Sicherheit. Das Bekloppte ist bestätigt worden und die Freiheit auch. Ich spürte eine Art Energie in mir, eine jugendliche Energie, die Lust zu provozieren, etwas ausprobieren, zu entdecken, zu leben, Erfahrungen zu sammeln.
Jung und Wild und bekloppt. Und zu von Alkohol.
Als wir an das Haus kamen, empfing uns Chipsy, der wuschige Hund. Wir gingen rein, grölten Fussballlieder und spielten Sing-Star, aßen Pizza und machten Witze, fühlten uns dazugehörig, redeten.
Hier sah es schrecklich aus, aber das war egal - das war Freiheit -, sie ist nun mal chaotisch. Überall lagen und standen leere Flaschen rum, Wodka, Red Bull, Enegie Drink u.s.w. Die Ränder von der Pizza schmissen wir auf den Boden für den Hund.
Das Mikrofon in der Hand und Sing-Star spielen. Ich krächztze nurnoch, meine Stimme war eindeutig gestorben.
Irgendwann, schon viel zu spät, ging ich pennen, Matthias kamm nach mir ins Bett, er legte die Arme beschützend um mich, ich war verunsichert, was das jetzt heißen sollte. Typen waren mir gerade nicht so geheuer.
Aber da passierte nichts, außer,dass wir schliefen.
-
Da saß ich also, atmete dem Qualm der Zigarette ein, den meine Mutter ausatmete. Sie formte ihren Mund zu einem leichten O und blies den Rauch in die entgegengesetze Richtung. Sie redete wieder, stellte mir Fragen, die ich möglichst ausweichend beantworte oder ihr eine Antort vorlog. Als sie ihre Zigarette fertig geraucht hatte und ich aufstehen wollte, merkte ich, wie steif ich dasaß. Im Wohnzimmer kam ein Schwall warmer Luft auf mich zu, doch sie war nicht warm genug.
Mir war arschkalt, ich wusste, dass diese Schläge nichts anderes als eine Überanstrengung des Körpers waren, wie beim Sport. Demensprechend fühlte ich mich auch, ich wusste was zu tun war, traute mich aber nicht wegen meiner Mutter. Ich war nass geschwitzt, hatte Hunger, Durst, mir war schlecht, ich hatte Kreislaufprobleme und brauchte Ruhe.
Ich wollte mich abkapseln und meine Wunden lecken, aber meine Mutter quatschte weiter. Ich hätte sie verfluchen können. aber die Furcht vor ihr und weiterer Gewalt ließen das nicht zu.
Als ich endlich von ihr los kam und in meinem Zimmer allein stand, brach ich zusammen. Ich war fertig mit der Welt.
Ich ließ mich auf den Boden klatschen - aber nicht so laut, damit es meine Mutter nicht hörte - und heulte, die Tränen rannten mir übers Gesicht, ich hörte, wie Gismo vom Sessel runtersprng und zu mir kam. Er leckte mein Gesicht ab, denn er mochte das Salz in den Tränen.
"Okay", sagte ich mir, "ganz ruhig, heulen bringt dich nicht weiter, du muss locker bleiben." Ich atmete tief durch. "Locker bleiben. Heulen bringt nur Kopfweh und das kannst du nicht gebrauchen." Ich stieß Gismo weg und richtete mich auf, dann untersuchte ich meine Verletzungen. Sie waren okay, man sah nichts, aber ich spürte, wie bestimmte Bewegunen weh taten.
Dann setzte ich mich aufs Bett und versuchte "locker zu bleiben", ich überlegte meinen nächsten Schritt, es musste etwas Sinnvolles sein. Raus rennen war gestrichen, zu riskant. Ich dachte an Nadja, ich musste ihr Bescheid geben.
Ich war irritiert von der Reaktion meiner Mutter, sie hatte sich noch nie für sowas bei mir entschuldigt, sie hatte sich generell noch nie für etwas entschuldigt. Da stimmt was nicht. Ich überlegte mir, was wohl der Grund dafür war.
Irgendetwas Hinterlistiges, da war ich mir sicher.
Nur was?
Okay, hier kam ich schon mal nicht weiter, also musste ich an etwas anderes denken.
Panik stieg in mir hoch, weil ich nicht wusste, warum meine Mutter das gemacht hatte und was ich jetzt tun sollte. Ich versuchte ruhig zu bleiben und atmete ruhig.
Ganz locker.
Das war ich natürlich nicht, aber ich musste mich auf das wesentliche konzentrieren. Und das war nun mal mein Überleben.
Also wieder zurück zum logischen Nachdenken.
Nadja ?!
Ich musste Nadja Bescheid geben, wenn irgendwas Schlimmes passieren würde - z.B. mein Tod – NEIN!, ganz locker, tief durchatmen -, würde sie es als erstes merken.
Jetzt der zweite Schritt - wie gebe ich Nadja Bescheid ?
Handy: geht nicht. Abhauen: zu riskant. Telefon? - könnte funktionieren.
Ich saß auf meinem Bett und versuchte mich zu sammeln und irgendwo in mir noch Mut zusammenzukratzen, um rauszugehen und mein Plan durchzuziehen. Das war verdammt anstregend, da zu sitzen und nach den richtigen Worten zu suchen, wie ich den bitte das Telefon kriegen könnte. Es einfach holen, konnte böse ausgehen, sie hätte es mir wahrscheinlich schneller wieder abgenommen als ich Nadjas Nummer gewählt hätte. Ich musste danach fragen, das war meine einzige vernünftige Chance. Wenn sie nein sagte, hatte ich Pech. Sie würde hundertpro nein sagen, schoss es mir durch den Kopf, sie war schließlich auch nicht so blöd. Auch meine Mutter konnte denken, leider.
Ich überlegte mir eine Lösung für ein eventuelles Nein.
Sie wüsste dann ganz genau, dass ich Kontakt zur Aussenwelt suchte und dann würde sie die Haustür zu schießen und alles tun, damit ich genau das, was ich wollte nicht kriege. Ich stand auf und ging zum Fenster, ich schaute mit verträumten Blick raus ohne wirklich zu sehen, was da draußen los war.
Ich schaute auf die Wiese vor dem Haus, die genau unter meinem Fenster lag. Das erinnnerte mich an etwas.
Als die Wohnung zum Verkauf stand und meine Mutter sie besichtigtete, war ich dabei gewesen, damals hatten wir auf dem Balkon gestanden, es war noch kein Geländer da gewesen und ich hatte riesigen Schiss gehabt, weil ich Höhenangst hatte. Ich kann mich an ein Gespräch erinnern in dem es sich darum drehte, was passieren würde, wenn man vom Balkon runterfallen würde. Der Mann, der die Wohnung verkaufte, sagte : "Wenn man unglücklich fällt, dann bricht man sich das Genick. Aber aus der Höhe wird es wohl nur ein gebrochenes Bein sein."
Das war genial !!!
Wenn ich aus dem Fenster springe, wird bestimmt der gleiche Scheiß passieren, wie wenn ich vom Balkon aus springe, ist ja die gleiche Höhe.
Ich zweifelte keine Sekunde dran, Glück zu haben, da war ich mir sicher. Ich hatte sowieso nie Glück und bei der Sache auch nicht. Das war eigentlich eine recht gute Lösung. Wenn ich es schnell schaffte, dann ginge es aus - die Maus. Wenn Leute da wären, wäre es noch besser, Zeugen sind immer gut.
"Aber okay, ich versuche erst das Telefon zu kriegen, bevor ich hier völlig durchdrehe", ermahnte ich mich. An den Gedanken zu sterben, hatte ich mich noch nicht wirklich gewöhnt, sterben wollte ich nicht. Was passiert dann mit Nadja? Mit meinen Lehrern? Die wollen doch alle sicher wissen, wieso ich das gemacht habe. Naja, das wird schon.
Als Vorbereitung machte ich so leise wie möglich das Fenster auf und drücke es wieder zu, so dass es aussah als wäre es geschlossen. So würde man meine Absicht nicht gleich erraten können, wenn man in mein Zimmer kommt.
Ich horchte noch eine Weilen auf die Geräusche, die meine Mutter machte. Sie war im Wohnzimmer, was sie da genau machte, war mir nicht klar, aber es hörte sich an, als würde sie da was rumgrammen. Nach kurzer Zeit war mir klar, was sie da machte. Sie steckte dem Fernseher um. Sie wollte DVD oder Viedeo gucken. Gute Idee, für sie zumindest, damit sie ein bisschen runterkam.
Ich musste meinen Plan durchziehen, aber ich hatte Angst. Angst, dass etwas schief gehen könnte. Da könnte verdammt viel schiefgehen. Verdammte Scheiße nochmal!
Was mach ich denn jetzt ?!?
Nach langem Hin und Her, entschied ich mich für den Plan, Nadja anzurufen. Falls das nicht klappte, konnte ich ja im Notfall auf meinen Fenstersprung zurück kommen, obwohl ich beides nicht wollte. Der Fenstersprung würde gewiss unangenehm für mich werden, weil ich so eine blöde Höhenangst hatte, aber immerhin, ich durfte einmal fliegen in meinem Leben, bevor ich starb. Wieviele Leute träumten, dass sie einmal fliegen könnten wie ein Vogel, und ich durfte das - besser als nichts, würde ich mal sagen.
Okay, ich stand auf, verfickte Angst, man!
Irgendwie schaffte ich es, das Telefon zu kriegen, natürlich nicht ohne ausgesprochene Warnungen von meiner Mutter. Ich nahm das Telefon mit auf mein Zimmer und tada - am Arsch hängt der Hammer, pflegte meine Mutter immer zu sagen -, eine Ausnahme, jetzt tue ich es auch.
Ich hatte Milchglas in meiner Tür. Dadurch sah ich etwas verschwommen aber ganz klar:
Meine Mutter.
So eine blöde Kuh ! Die Tussi wollte mich belauschen, aber dann auch noch versuchen es heimlich zu machen und es nicht hinkriegen.
Ich wählte Nadjas Nummer und verdrückte mich möglichst in die entfernteste Ecke von meinem Zimmer, und dass war dort, wo die Heizung und der Schreibtisch standen. Ich quetschte mich zwischen Heizung und Schreitisch und wählte Nadjas Nummer. Ihr Vater ging dran, ich versuchte in völlig normaler Lautstärke und gut gelaunt nach Nadja zu fragen, er gab sie mir - es dauerte für mich Ewigkeiten, bis er Nadja endlich gerufen hatte und sie aus ihrem Zimmer rauskam. Ich beobachtete währendessen den Schopf meiner Mutter. Sie bewegte sich zwar, ging aber nicht weg. Kein gutes Zeichen.
"Nadja", flüssterte ich ins Telefon und möglichst nicht in die Richtung der Tür. "Warum flüssterst du?" "Meine Mutter", hauchte ich und schaute, ob sie immernoch vor meinem Zimmer stand. Ja, sie stand noch da. "Hört die zu oder was? Ich versteh dich kaum." "Ja". Ich versuchte Nadja mit Flüsterstimme zu erklären, dass sie irgendjemand Bescheid sagen sollte, wenn ich morgen nicht in die Schule komme. Weil ich so leise sprach, fragte sie immer wieder nach, was ich gesagt hatte.Schließlich meinte sie, dass niemand auf sie hören würde, wenn sie sowas sagt.
In dem Moment war ich fast am verzweifeln, ich hatte keine Geduld mehr, ihr das nochmal zu erklären, weil ich Angst hatte, meine Mutter würde das mitkriegen. Zum Teil hatte ich es Nadja sogar auf Englisch erklärt, weil ich wusste, dass meine Mutter kein Englisch konnte, aber sicher war ich mir da auch nicht.
Ich hatte keine Lust auf die Sache: "Niemand hört mir zu, ich bin depri", aber ich ermahnte mich, locker zu bleiben. "Es ist total wichtig! Sag es Larissa oder so, es muss irgendjemand mitkriegen, der sich dann daran erinnern kann okay?". Wir einigten uns auf Larissa und legten auf. Sobald ich das Wort Tschüss ausgesprochen hatte, verschwand meine Mutter, als ich aus dem Zimmer ging und das Telefon auf die Ladestation legte, kam sie aus dem Wohnzimmer und tat so, als wäre sie total unschuldig, was mich wütend machte.
"Du hast mit Nadja telefoniert", stellte sie fest. Ich sagte nichts dazu, ich wusste, sie hatte mehr mitbekommen, als mir lieb war.
Ich verschwand wieder in mein Zimmer, hier sah es aus wie Sau; durch den Kampf war vieles umgeschmissen worden, was sich überall verteilte, von Bücher bis Stifte. Ich fing an, aufzuräumen, und einer Eingebung folgend, steckte ich Sachen ein. In meine Hosentasche quetschte ich eine Wimperntusche und ein Haargummi rein - zu mehr war nicht Platz, weil es sonst aufgefalle wäre.
Dann räumte ich weiter auf, als wäre nie was gewesen.
Ich spürte, dass meine Mutter auf etwas wartete, dass sagte mir mein Gefühl, sie würde mich ja nicht umsonst in mein Zimmer einsperren. Mir war die ganze Zeit nicht klar, auf was sie wartete, bis ich die Schritte von Ralf im Flur hörte.
Ich war fassungslos, sie hatte tatsächich auf Ralf gewartet, um mich richtig zu vermöbeln??
Oha.
Als er in die Wohnung kam, hörte ich, wie meine Mutter ihn pracktisch überfiel. Sie gingen ins Wohnzimmer und ich konnte kein Gespräch hören. Dann musste es ja etwas wirklich Wichtiges sein.
Ich überlegte mir, was sie vorhatten und ging meine Erinnerungen durch, aber sowas war mir noch nie passiert.
Dieses Gefühl in mir nahm überhand, es sagte mir, dass mich etwas Schreckliches erwartete. Ich war irritiert, weil alles Tatsachen für dieses Gefühl sprachen, und ich hielt mich für bekloppt, weil mir das alles ein Gefühl sagte.
Ich blätterte Bücher durch, und war total nervös, ich veruschte zuzuhören, als sie auf den Balkon Eine rauchen gingen, aber ihre Unteraltung drehte sich nur um belanglose Dinge, die für mich in dem Augenblick nicht wichtig waren. Ich blätterte gerade mein Englischbuch durch, als ich jemanden im Flur hörte und meine Mutter mein Zimmer aufschloss. Ich saß auf meinem Drehstuhl und drehte mich zu ihr.
Schnell kam sie auf mich zu und klatschte mir ohne Vorwarnung Eine ins Gesicht, ich ging zu Boden. Mein Gesicht brannte, ich rollte mich automatisch zusammen und bedeckte mein Kopf mit meinen Händen und Armen.
Sie riss mich an einem Arm wieder hoch, ich stand vor ihr und hielt mit der freien Hand mein Gesicht. Hinter ihr stand Ralf.
Ich schluckte - zwei gegen einen. Brutal.
Dann ging`s ab.
Ralf kam auch noch dazu, ich wehrte mich, was Ralf wahrscheinlich auf den Plan rief. Ich lag irgendwie auf dem Bett, meine Mutter kniete auf mir, ihre Beine waren auf meinen Armen, so konnte ich mein Gesicht nicht schützen. Ich kam einfach nicht mit den Armen frei und so schlug sie
mir ins Gesicht.
Ich schrie alle möglischen Schimpfwörter, die mir gerad einfielen.Von "fick dich" bis "Hure" war alles dabei.
Nach einiger Zeit kam ich frei, ich war auf die Idee gekommen, meine Mutter von hinten anzugreifen, was anstregend war, aber funktunierte. Mit einem Ruck riss ich meine Beine in die Luft und erwischte so ihren Rücken, so ging das immer wieder, bis sie von mir abließ.
Ich rollte mich auf dem Bett mögichst weit weg von ihr, aber leider war Ralf noch da. Er zog mich an meinen Klamotten auf die Beine. Ich zitterte am ganzen Körper vor Angst und Anstrengung. Warum auch immer, ließ er mich los, sobald er merkte, dass meine Mutter sich wohl ernsthaft weh getan hatte. Sie hatte sich immernoch nicht aufgerichtet. Ralf drehte sich zu meiner Mutter, und ich ging ein Schritt zurück und drückte mich mit dem Rücken zur Wand und beobachtete das Ganze.
Ralf brachte meine Mutter wieder auf die Beine und irgendwie verschwanden sie aus meinem Zimmer, die Tür wurde geschlossen und es herrschte Stille. Es war so komisch - so still war es im Raum und in mir tobte es, Krieg war in mir. Ich gleitete die Wand entlang auf den Boden. Ich war sowas von erschöpft, mir tat alles mögliche weh, meine Arme brannten, meine Beine fühlten sich an als wären sie überdehnt worden. Ich war dermaßen tot, aber ausruhen konnte ich mich nicht - 1. Ich hatte Angst. 2. Ich war innerlich viel zu aufgewühlt, um mich auszuruhen. Ich hatte immernoch diesen Widerstand in mir, gegen meine Mutter, ich versuchte mir selbst gut zuzureden und trotzdem meinen Wiedrstand aufrecht zu erhalten. Was sie da machte, durfte sie nicht. Ich würde gerne NORMAL leben, ich wusste, was es hieß, normal zu leben, das war Nadjas Leben.
Ich fand mein Händy irgendwo und ließ es etwas aufnehmen, ich ging zu meiner Tür und horchte, mein Handy in der Hand. Das Gehen bereitete mir Probleme und ich fluchte leise. An der Tür hörte ich kaum was von meiner Mutter oder Ralf. Ich hörte zwar, dass sie redeten, aber ich konnte nichts verstehen. Irgendwann gab ich es auf.
Nach ewiger Zeit, so kam es mir vor, hörte ich die beiden im Flur. Ich hatte das Gefühl, sie stritten sich. Die Wohnzimmertür ging auf und ich sah durch mein Milchglas, wie meine Mutter vor der Tür stand, nun konnte ich jedes Wort hören, aber ich saß an meinem Schreibtisch und tat so, als würde ich absolut nichts mitbekommen, ich blätterte wieder irgendwelche Bücher durch, ohne wirklich auf sie zu achten. Manchmal schlug ich auch ein Buch auf und tat so, als würde ich lesen, obwohl ich in Wirklichkeit nur eine Zeile anstarte und mich darauf konzentriete, was sie draußen redeten.
Ralf wollte raus, meine Mutter stand aber vor der Tür und wollte ihn nicht raus lassen. Ich hörte Ralf immerwieder den inhaltlich gleichen Satz wiederholen: er wollte raus. Meine Mutter sagte das Typische: "Aua, du tust mir weh!" - Bla, bla, bla. Da war auch ein bisschen Gewalt dabei, Ralf schubste sie offenbar, das hörte ich aus den Wortfetzen, die ich verstand.
Irgendwann hörten sie auf und setzten ihre Auseinandersetzung im Wohnzimmer fort. Ich überegte mir, was wohl der Auslöser dieses Streits gewesen war und hörte ihnen heimlich zu, als sie auf den Balkon waren.
Ganz leise stellte ich mein Fenster auf Kipp und wagte kaum zu atmen. Mir war klar, dass Ralf wusste, dass ich manchmal lauschte.
Himmel, war ich tot; zwei Angriffe für heute, Schule, und es war gerade nachmittags.
Nach unendlicher Warterrei ging es weiter. Ich saß die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen, wusste nicht, ob das Ganze jetzt vorbei war oder nicht und was als nächstes passieren würde. Ich versuchte ernsthaft zu lesen, um mich damit abzulenken was aber nicht funktunierte, ich schreckte beim kleinsten Geräusch auf. Ich war so auf Geräusche fixiert, dass ich sogar die Nachbarn reden hören konnte, ich konnte jedes Wort verstehen. Sie redeten über vollkommen normale Dinge, als wäre die Welt in Ordnung.
.
Niemandem schien der Tomult in userer Wohnung erwähnenswert zu sein. Meine Hoffnung ging wieder den Bach runter, aber ich versuchte, sie zu stabiliesieren. Kinder haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, das stand sogar in irgendeinem Gesetzbuch. Ich hatte die Gesetzbücher meiner Mutter mal aus Langeweile durchgelesen und dabei hatte ich diesen Paragrah gefunden. Ich dachte an Nadja, falls mir etwas passieren sollte, würde sie mich retten. Es sieht komisch aus, wenn ich in der Schule fehle ohne Grund, ich war fast immer da - als Streberin musste ich es ja auch. Nadja würde etwas sagen und man würde nach mir suchen und ich wäre gerettet, redete ich mir ein. Wobei ich bei der Sache nicht ganz sicher war. Aber ich musste daran glauben, woran hätte ich denn sonst glauben sollen?
Meine Mutter kam in mein Zimmer, ich war schon längst aufgestanden, hatte meine Hände zu Fäuste geballt und wartete in dieser Position auf sie.
Sie kam rein.
Schaute sich betont gleichgültig um.
Sah mich an.
Und als wäre das ein Spiel bei dem der Startschuss gefallen war, gingen wir aufeinander los.
Boxen, live in Bad Sobernheim. Die Mutter gegen das Kind.
Eine Wette gefällig? Auf wen setzten Sie? Kind oder Mutter? Und wieviel?
Ganz so spielerisch war es natürlich nicht.
In der Rauferei tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte, ich schlug meine Mutter ins Gesicht, besser gesagt, mit der Faust aufs Auge. Das tat ihr weh, merkte ich, weil sie kurz innehielt und dann nochmals mit mehr Wut auf mich losging.
Als dann endlich wieder Ruhe eingekehrt war, meine Mutter aus dem Zimmer verschwunden war und ich meine Wunden geleckt hatte, kam sie rein. "Du hast mir ein blaues Auge geschlagen", sagte sie. Oha. Ich war natürlich total auf Abwehr und sagte, dass das nicht stimmte. Sie verschwand wieder im Wohnzimmer und ich zitterte in meinem Zimmer was wohl jetzt passieren würde. Mir war glasklar, dass Konsequenzen auf mich zukommen würden , nur wusste ich noch nicht welche.
Ich betrachtete mich im Spiegel. Verheulte, rote Augen. Das Haar stand wirr von meinem Kopf ab. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Man sah, dass ich erschöpft und müde war. Mein Gesichtsausdruck schrie mir Entsetzten. Ich erschrak mich ein bisschen, als ich mein Spiegelbild sah. Ich sah schrecklich aus, so würde mich niemand erkennen, man würde mich für irre erklären, wenn man mich so sehen würde. Ich versuchte meine Haare zu glätten, wischte die Tränen weg und saugte das Blut von meinen Lippen in dem Mund. Es schmeckte bitter, süß und metalisch zugleich. Bittersüß ist das Leben. Ich fragte mich, wo das Süße daran war.
Schmerzen?
Sind Schmerzen süß?
Wenn ja, steh ich eher auf bitter.
Also:
1.Regel: locker bleiben.
2. Nachdenken.
Konsequenzen. Ich schloss die Augen, ich kannte mein Mutter besser als jeder andere Mensch. Niemand kannte meine Mutter besser als ich, also musste ich auch wissen, was sie nun tat. Ich kam nicht drauf. Weil ich mir selbst soviel Druck machte, lief ich im Zimmer auf und ab, natürlich leise. Ich musste nachdenken. Ich setzte mich auf mein Bett, schloss die Augen.
Tief durchatmen.
Meine Mutter ...
Als ich die Augen öffnete, war ich eine andere Person. Ich hieß nicht mehr Sissi, ich hieß Michaela, mein Kind hieß Sissi. Ich stand auf und bewegte mich genauso wie meine Mutter. Als erstes schaute ich durch das Schlüsselloch, es lagen Jacken auf der Komode und der Autoschlüssel darauf.
Natürlich !!!
Sie wollten mich wegbringen. Oh man. Falls das mal jemand mitkriegen würde, würde man mich einsperren. Wo genau es hinging, war mir ein Rätsel. Ich horchte, sie waren im Wohnzimmer, also brachten sie mich nur fort und fuhren nicht mit, sonst hätten sie ihre Klamotten gepackt und das macht man ja bekanntlich im Schlafzimmer.
Wo ging`s hin?
Polizei?
Jugendamt?
Wenn sie wirklich daran dachten, mich zum Jugendamt zu bringen, mussten sie sich aber beeilen; es machte um 16, 17 Uhr zu. Polizei war bescheuert; sie kommen doch eher, als man hinfährt, ist außerdem bequemer, kein Spritverbrauch u.s.w. Hmm.
Es gab aber auch eine gute Nachricht. Wo auch immer sie mich hinbringen wollten, vielleicht kam ich ja nie dahin. Auto = rausgehen = abhauen. Ich freute mich ein wenig. Abhauen hört sich immer gut an. Außerdem wollten sie bestimmt keine unnötige Aufmerksamkeit von den Nachbarn haben. Sowas ist immer unangenehm, die fragen nämlich nach und dann muss etwas Plausibles rauskommen, damit man es halbwegs glauben konnte.
Okay ich war bereit. Ich setzte mich wieder hin, horchte und sammelte mich, um meine Kräfte zu mobilisieren.
Irgendwann war es dann soweit. Die Tür ging auf.
Meine Mutter und Ralf kammen gleichzeitig rein, ich war darauf vorbereitet, aber irgendwie auch nicht. Ich hatte ein sehr selsames Gefühl, was mich im inneren lähmte. Sie nahmen mich grob an den Armen und ich wehrte mich. Ich ließ mich fallen und mein ganzes Gewicht hing an meinen Armen, was mir weh tat. Sie schleiften mich trotzdem weiter und ich blieb mit meinen Beinen und Füßen an allen möglichen Dingen extra hängen. Ich bohrte meine Nägel in die Hände meiner Gegner und kratzte sie. Dann ließ mich meine Mutter überraschend los, mit der einen Seite klatschte ich gegen den Boden und kümmerte mich direkt um Ralf. Er fing meinen zweiten Arm ein und ich bekam am Rand mit, wie meine Mutter Schlüssel und Jacken nahm. Sie hatte nur ihre und Ralfs Jacke dabei, meine wurde nicht mitgenommen.
Ich ging dazu über, Ralf zu beißen, er fuchtelte wild mit den Händen umher, damit ich nicht richtig zielen konnte, dabei bekam ich einige Hiebe ins Gesicht versetzt. Die Haustür wurde von meiner Mutter offen gehalten und Ralf schleifte mich in den Flur, ich versuchte mich überal festzuhalten, wo ich etwas fand und schmiss sämtliche Sachen um.
Der Kampf war recht still verlaufen bis auf die umfallende Gegenstände.
Ich wollte nicht weg.
Ich wollte da bleiben.
Ralf zog mich auf die Beine und wir kämpften halb stolpernd einen Teil der Treppe runter.
Da sah ich einen Kaktus am Fensterbrett stehen und versuchte Ralf darein zu schubsen. Als das nicht klappte, versuchte ich den Kaktus zu nehemen und auf Ralf zu schmeißen. Den Katktus konnte ich in die Hand nehmen, aber ihn auf Ralf zu werfe, schaffte ich nicht, weil er meine Arme fest im Griff hatte.
Der elende Schuft kannte sich aus mit den fiesen Tricks.
Ich ließ den Kaktus fallen und hörte wie meine Mutter nach Luft schnappte, automatisch schaute ich zu ihr.
Ui, jetzt war sie böse. Das war der Kaktus der Nachbarn gewesen. Wie will sie das nur erklären? dachte ich böse. Tut mir leid, ich habe mein Kind verschlagen !?!
Ralf drückte meine Arme immer fester zusammen, und meine Hände stellten den dumpfen Schmerz ein, ich spürte sie nicht mehr und konnte nurnoch erahnen, dass sie da waren.
Dann kam ich auf die Idee, weil die Gelegenheit so günsitg war, Ralf in die Beine zu treten, richtig getroffen hatte ich ihn nicht, aber es hatte auch so seine Wirkung. Er ließ mich los und schützte automatisch sein Rumbaumelteil.
Den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Zeit, um meine Arme auszuruhen und das Gefühl darin wiederzukriegen.
Ralf, noch wütender als zuvor, zog mich die Treppe runter, ich krallte mich überall fest und schrammte an der Wand entlang. Überall dort, wo ich mit der Wand in Berührung kam, blieben blutende Schrammen, aber das war mir in diesem Moment egal.
Dann kam mir eine blendende Idee.
Eine, die mich retten würde.
Frau Roland !!
Die Nachbarin, die Klingel !!!
Sie war gewiss da, wenn sie das sah, würde sie bestimmt gleich die Polizei holen.
Ganz bestimmt !!!
Dann hatte der Schrott hier ein Ende!!
Ich wehrte mich nicht mehr und hörte wie meine Mutter die Tür zuzog. Ralf, der fälschlicherweise glaubte, ich würde nichts mehr machen, schaute zu ihr, ich hörte sie irgendwas reden, in diesem Moment klingelte ich.
Ich hielt die Luft an und wartete auf Ralfs Reaktion.
Da kam nichts, anscheinend hatte er überhaupt nichts gemerkt.
Umso besser, dachte ich mir.
Und fing wieder an mit ihm zu kämpfen.
Der Schmerz in seiner Hand von meinen Zähnen veranlassten ihn wieder dazu, sich zu mir zu drehen.
Er war echt so blöd und merkte nichts.
Meine ganze Hoffnung ruhte jetzt auf Frau Roland und ich vertraute ihr.
Sie würde etwas machen.
Ganz sichter.
Sie würde mir helfen.
Frau Roland.
Ich versuchte im Kampf möglichst an der Tür von Frau Roland zu bleiben, wenn sie die Tür aufmachen sollte, konnte sie das direkt sehen. Es gab einen Moment, in dem Ralf mir die Finger umbog und zurück ging, er ließ mich los und den Bruchteil einer Sekunde standen wir da, den anderen ins Gesicht keuchend und berührten uns nicht. Ich sah das Schreckliche in seinen Augen und war zutiefst erschrocken. Als wäre ich in Eis gesprungen. Ich fragte mich, ob ihn das anmachte, wenn ich mich wehrte. Kinderpornografie. Ich schob den Gedanken beiseite und kämpfte weiter.
Dann endlich ging die Tür auf.
Alle - meine Mutter, Ralf und ich blieben wie erstart stehen.
Ich stand da mit flehendem Gesichtsausdruck und der Hoffnung im Brustkorb brennend.
Frau Roland starte uns an.
Meine Mutter war die erste, die wieder zum Normalen überging.
"Guten Tag, Frau Roland, tut mir leid, meine Tochter dreht durch."
WIE BITTE ????
Ging`s noch?
Hier stand ein Mensch und meine Mutter will ihr allen Ernstes verkaufen, ich sei die Böse???
HALLLLOOO ??!!!
Ralf schubste mich, ich fiel fast hin, konnte mich aber noch fangen. Ohne darüber nachgedacht zu haben, was die Polizei einem jetzt raten würde oder sonstwas, tat ich aus meiner Sicht das Nächstliegende.
"Hilfe!", schrie ich, schaute dabei Frau Roland an und wich Ralfs Hände aus. Meine Mutter redete immernoch auf sie ein.
"Hiiiilllffee!" Ich schrie und es war schlecht zu überhören.
Einen Moment schauten wir uns in die Augen, und ich dachte, ich hätte es jetzt geschafft, aber stattdessen schaute sie wieder meine Mutter an.
Vielleicht holte sie Hilfe, wenn wir weg waren...?
Vielleicht holte sie später die Polizei....?
Vielleicht hatte sie Angst es jetzt zu tun wegen meiner Mutter...?
Vielleicht wird sie ihren Sohn anrufen, der hier um die Ecke wohnt und man wird mir helfen...?
Vielleicht wird sie gleich etwas tun...?
Weil ich so in Gedanken war, konnte mich Ralf die gesammte Treppe runterstubsen. Mit einem Schlag kämpfte ich wie ein Tiger. Frau Roland hollte bestimmt dann Hilfe, wenn meine Mutter nicht mehr blubberte. Bis dahin musste ich noch aushalten.
NURNOCH BIS DAHIN.
Ich war fertig und gab alles, um dem Idiot weh zu tun.
Dann kamm die Tür, ich sah eine neue Chance.
Tür.
Freiheit.
Abhauen.
....
Ralf hatte seine linke Hand in meine Haare gekrallt, und er schlug immer wieder mit der Rechten auf mein Gesicht ein während er mich an den Haaren zog. Verzweifelt versuchte ich Schritt mit ihm zu halten, weil das verdammt weh tat. Ich kratze ihn und wollte unbedingt, dass er meine Haare losließ.
Das war unfair !!!
Ich keuchte und hatte das Gefühl, dass mir gleich der Brustkorb vor Schmerzen und Stechen explodiert.
Ich hörte mich selbst schnell laut ein- und ausatmen, hörte die Vögel, spürte die warme Sonne. Das war ein Bild, das nicht passte. Ich schaute umher. Sah den schönen Baum, der anfing zu blühen und sah leere Balkone.
Das konnte doch nicht wahr sein!!! Zu jeder Tageszeit saßen hier irgendwelche Idioten auf den Balkonen und fielen fast runter, weil sie zu neugierg waren und jetzt, gerade jetzt, war niemand da.
ARSCHKINDER !!!!!
Die wollten das nicht sehen. So kam es mir vor.
Ein leichter Wind kam auf und bewegte die Zweige des wunderschönen Baumes. Ich spürte noch immer die Schmerzen an meiner Kopfhaut. Vögel, die friedlich sangen. Meine Hände waren kalt. Der Baum raschelte immernoch. Keuchen, mein Mund war trocken. Die Sonne wurde stärker, eine angenehme Wärme. Ich stolperte, Ralf riss mir Haare aus und es ging weiter. Ich sah ein Eichhörnchen, das den Baum nach oben hüpfte - wie schön. Ich passte meine Schritte denen von Ralf an, damit ich nicht nochmal stolperte und kam auf die Idee, ihm ein Bein zu stellen. Immernoch keine Menschen auf dem Balkonen, aber gute Nachricht: Da kam bald ein Kindergarten. Schlechte Nachricht: Es war verdächtig ruhig. Ich stellte Ralf ein Bein, er fiel tatsächlich drüber, riss mir dabei noch mehr an den Haaren und hielt mich weit weg von sich. Kindergarten kam langsam in Sicht. Das alles passierte wie in Zeitlupe, als hätte jemand die Zeit langsamer werden lassen.Ich sah die Grashalme und hatte das Bedürfnis, mich ins Gras zu legen und den Baum zu beobachten. Kindergarten. Wie erwartet, keiner da.
SCHEIßE !!!!!!!
Okay. Türkenhaus. Da vorne war ein Haus, in dem nur Türken wohnten und deren Kinder und ein paar Erwachsene waren immer draußen. Wir kamen an Blumen vorbei, ich sah die Knospen, bald würden sie blühen. Am Arsch Türkenhaus. Da war keiner.
Ich wusste mittlerweile wo es hinging... Auto.
Die Ecke, wo Gismo immer hinmachte. Straßenschild.Leute.
Leute ??
LEUTE !!!!
Um Gottes Willen, Leute !!!
Ein paar Frauen, noch nie gesehen, um 40 oder 50.
Ein Blick zu Ralf, dann Hilfe schreien. Eine von ihnen zuckte zusammen und schaute mich an, meine Mutter kam hinterher, und ich glaubte, dass sie ihnen etwas zurief. Hilfe schreien. Ich wurde weitergezogen. Es hatte sich ausgeschrien. Da fuhr ein Auto vorbei, silber. Dann ...
tot.
Einfach so.
gestorben.
Wie in ein Kokon gehüllt.
Nur war ich kein Schmetterling und würde nie einer werden.
Aber meine Seele war es, sie flog nämlich weg.
Keine Ahnung wohin, aber weg aus meinem Körper.
Meine Seele war weg.
War allein.
Körper hatte keine Lust mehr, mir zu gehorchen.
Ja, auch gut.
Dann leck mich doch am Arsch!
Leck mich alle mal am Arsch !!
Ich hab kein Bock mehr auf euch !!
Fickt euch und lasst mich in Ruhe !!
Mein Körper ging weiter über die Straße, Ralf hielt meinen Körper immernoch schmerzhaft fest.
Ich blieb stehen.
Sah mich selbst davon gehen.
Ich überlegte mir, ob ich mir selbst zuwinken sollte, ließ es aber bleiben.
Sehr interessant, ich hatte mich selbst noch nie von hinten gesehen.
Und dieser Gang war unmöglich.
Körper wurde geschubst, ich glaube, sie wollten ins Auto mit meinem Körper.
Wenn sie jetzt wegfuhren, verlöre ich den Körper vielleicht.
Seele war auch schon weg, ist doch egal, wenn der Körper auch noch weg ist.
Okay, ist egal.
Alles ist egal.
Körper wurde ins Auto geschubst und gequetscht.
Sah schmerzhaft aus.
Vielleicht sollte ich dem Körper mal helfen ?
Ne, sieht anstregend aus, ich war müde.
Motor ging an.
Nadann, machs mal gut, ehmaliger Körper.
Rote Bremslichter gingen an.
Körper saß im Auto, mehr konnte ich nicht sehen.
Brennen.
Körper da. Körper weg. Schmerz.
Flackern.
Körper da. Körper weg. Schmerz.
Atmen.
Körper da. Körper weg. Schmerz.
Bin im Auto.
Körper da.
Höre Pochen in meinem Kopf, spüre Schmerz, sehe runter zu meiner Hand und bewege sie.
Körper hört.
Auto fährt. Ich sotiere mich.
Gefühl fährt in all meine Glieder, spüre jedes Härchen schmerzhaft auf meiner Kopfhaut. Spüre die Anwesenheit eines Menschen neben mir. Spüre nassen Schweiß meinen Rücken und Bauch runterlaufen. Höre Klingeln und Rauschen. Spüre schmerzhafte Muskeln und Sehnen. Spüre heißes Blut. Und neben mir ist immernoch etwas Menschliches. Bewege meinen Kopf und meine Augen sehen Ralf. Meine Augen schauen an mir runter und ich sehe wie mein Körper sich automatisch schützt, die Hände vor dem Brustkorb, jederzeit bereit, das Gesicht und den Kopf zu schützen. Laufen noch nicht so glatt, die Bewegungsabläufe, denk ich mir. Da war ich wieder. Ich überlegte mir, wo meine Seele geblieben war und schaute aus den Augenwinkeln zu Ralf, eine plötzliche Eingebung sagte mir, dass er meine Seele hatte. Ich war schockiert. Er hat sie aufgefressen !!!
Labber hier mal nicht so einen Schrott, sagte ich mir selbst und versuchte, die Angst zu vertreiben. Locker bleiben und logisch nachdenken. Wie kommst du hier am besten raus?
Gute Frage, keine Ahnung ?
Keine Ahnung gibts nicht, du brauchst eine Lösung.
Okay, okay. Ich überleg ja.
Was für seltsame Dinge in mir vorgehen. Ich rede mit meinem eigenen Ich.
Meine Mutter fuhr schnell, wir waren mittlerweile auf der B41 Richtung Bad Kreuznach. Sie fuhr schneller als erlaubt.
Also, ich hab was sagte Ich; Autotür aufmachen und einen auf James Bond machen.
Boarh ne, also ich habe Bewegnungsfreiheit, Ralf hält mich nicht fest, aber es muss schnell gehen und mit einem Griff.
Okay. Hmmmmm Handbremse ziehen ??!!??
Ich schluckte.
Ich wusste zwar nicht, was das genau hieß, aber ich hatte es im Gefühl, dass es nichts Gutes war. Bei so einer Geschwindigkeit plötzlich zu bremsen, führt zu gewissen Risiken. Ich hatte keinen Gurt un, aber meine Mutter und Ralf sehr wohl, das würde bedeuten, ich fliege durch die Scheibe. Auch nicht schlecht. Fliegen als letzter Lebenstraum. Aber da waren ja noch andere Autos, dass würde Unfälle geben und nicht wenige. Aber so merken die Leute, dass was los war. Ich schaute auf die Handbremse
Bereit zum sterben ?
Okay. Hau rein. Oder sterb rein. Wie auch immer.
Ich beobachtete Ralf und meine Mutter. Sie schaute kein einziges Mal in den Rückspiegel. Ich schaute auf die Strasse, vor und hinter uns fuhren Autos. Das war verdammt riskant! Wenn ich das machte, musste ich verrecken, ich wollte nicht am Ende vor Gericht landen, weil ich Menschen umgebracht habe. Ralf schaute nach draußen. Das Tacho zeigte 150 an. 120 waren erlaubt. Ich erinnere mich an einen Witz von meiner Mutter, den sie immer machte, wenn andere Leute dabei waren und den ich schon so oft gehört hatte, dass ich darüber nicht mal mehr lächeln musste. 120 pro Person. Das wären 360, das Tacho ging aber nur bis 250. Ich war neugierig, wo`s hingehen würde, aber es war auch schwachsinnig, ich würde sowieso sterben bevor wir am Ziel ankammen. Wir kamen auf den Strassenabschnitt, wo es erstmal eine zeitlang bergab ging und dann wieder bergauf.
Ich beobachtete die Handbremse, ich schaute, wie genau ich meine Hand legen musste, um das Gewünschte herauszuforden, noch ein Seitenblick auf Ralf.
Er war vertieft in die Aussicht.
Meine Mutter fuhr stur geradeaus.
Ich erlaubte mir nicht, tief einzuatmen, das würde Ralf eventuell aufmerksam machen.
Also los.
Ich legte meine schwitzige Hand neben meinen Schoß, ich würde es mit der Rechten machen.
......... 3 .............
Autos hinten und vorne
...................... 2 ....................
Ich
................................ 1 .....................
STERBE ................!!!!
Ich hatte Angst. Ich wollte niemanden verletzen.
Versuche mir selbst gut zuzureden.
Na los. Nix na los! Ich war ein Feigling.
Irgendwann wars zu spät, dann fuhren wir ein Dörfern entlang und mir dämmerte es, wohin es ging.
Mein Opa, der Vater meiner Mutter.
Aber warum?
Um ihm zu erzählen, was für ein schreckliches Kind ich bin?
Wir kommen bei Opa an. Ein seltsames Gefühl bei Opa anzukommen, ohne Hund. Kein freudiges Gebell. Ich steige freiwillig aus, traue meinem Körper nicht, aber er nimmt alle Kommandos an und führt sie fließend und sicher aus. Opa freut sich. Er besprengelt mich mit seiner Spucke, wie immer, wenn er redet. Wie immer hat er viel zu erzählen. Vom Schwind, seinem Nachbar und den Gemüsebetchen hinterm Haus. Wir sind in seiner Küche, ich weiß nicht mehr wie ich dahin gekommen bin, aber ich ahne etwas Böses. Meine Mama kann das. Sie kann das sehr gut. Manipulieren.
Ich sitze auf dem Platz meines Opas, meine Mutter fängt an zu erzählen. Von mir. Wie böse ich bin. Ich höre es. Sehe wie Opa immer wieder nickt. Ralf sitzt daneben, sagt gar nichts. Mein Opa sagt, ich hätte mal eine ordentliche Tracht Prügel verdient. Er verstehe meine Mutter. Ich verstehe meine Mutter nicht. Ich glaube, ich bin im falschen Film. Wahrscheinlich in MICHEL oder so, wollte eigendlich in HARRY POTTER. Und was mach ich jetzt? Zu Ende gucken oder umsetzten? Umsetzten, glaub ich.
Ich werde ich.
Höre zu.
Werde sauer.
Kommt mir alles so abgehackt vor. Irgendwie.
Play. Pause. Play. Pause. Play. Pause.
So kommts mir vor.
Ich beobachtete den Seelenfresser Ralf. Er verdaute meine Seele bestimmt grade. Nadann, guten Appetit.
Höre meiner Mutter zu.
Ich bin ein böses Kind.
Schrecklich bin ich.
Da meldet sich in mir etwas. Ich dachte "Eine neue Mitteilung" und musste ein Kichern unterdrücken.Ich bin doch bekloppt. Ich öffnete die Mtteilung. Ja, die Nachricht ist okay. Die Mitteilung sagte mir, ich soll die Flasche auf dem Tisch nehmen sie seitlich aufschlagen, dann mit dem Rest der Flasche den Seelenfresser bedrohen und dann auf nimmerwiedersehen abhauen.
Ich sage das meinem Körper. Er sagt, es sei okay.
Dann gehts los.
Mein Körper steht mit einem Ruck auf nimmt die Glasflsche und haut sie auf dem Tischrand auf. Die Flasche geht aber nicht kaputt. Es kommen drei weitere Körper und halten meinen auf. Sie tun meinem sehr weh. Der Körper meines Opas haut meinen Körper. Mein Opa hat ordentlich was drauf, sieht man ihm gar nicht an. Seine Schläge sind fast schon stärker als die von Ralf. Dann weiß ich kaum etwas mehr. Mein Erinnerungsvermögen ist im Arsch. Ich weiß nurnoch, dass die Dinge schlecht waren. Die Dinge waren schlecht zu mir. Da waren böse Wörter, Beleidigungen und böser Schmerz in meinem Körper.
Irgendwann ist es Abend und ich soll ins Bett, sagt meine Mutter. Mein Körper will das sowieso und flüstert, dass ein Artzt vielleicht auch nicht schlecht wäre. Ich schlafe auf dem blauen, alten Sofa, da liegen mehrere Decken. Im Raum ist es kalt. Mein Opa hat nie die Heizung an, im ganzen Haus nicht, außer in zwei Räumen - die Küche und das Wohnzimmer. Ich bin noch lange wach, schaue in einen Spiegel, der die Laternenlichter von draußen spiegelt. Ich weiß nicht, wieso ich nicht schlafen kann. Irgendwann gehen die Laternen aus, die Uhr von meinem Opa sagt, es sei Mitternacht. Ich denke mir, was ist das für ein Kaff, dass es um 12 Uhr nachts stockdunkel ist?
Ich wache früh auf, mein Opa weckt mich. Mir geht es nicht gut. Mir ist schlecht und die Schmerzen sind schlimmer geworden, jetzt sieht man auch all die blauen Flecken. Bodypainting mit Fäusten. Ist auch Kunst. Orginell. Heute ist Freitag, ich frage mich, wie ich in die Schule komme. Ich mache mir Sorgen, wie ich das am Montag erklären soll, warum ich gefehlt habe. Und ich denke an Nadja, sie hilft mir.
Ich frühstücke nicht viel. Ich esse das Essen, das mein Opa isst, nicht sehr gerne. Irgendwie sieht das Essen eklig aus. Ich beobachte meinen Opa beim essen und sehe wie er frisst. Er hat kein Benehmen. Mir fällt auf, dass Menschen, die essen, hässlich aussehen. Wie kann man nur vor anderen essen?
Mein Opa sagt, ich sei verwöhnt, weil ich mein Essen nicht esse, er sagt, er wird es mir schon austreiben. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das Wasser aus dem Wasserhahn ist eiskalt hier.
Mein Opa sagt warmes Wasser ist Energieverschwendung, ich denke mir, dass man merkt, dass er aus dem letzten Jahrhundert kommt. Er labbert die ganze Zeit über alles mögliche. Ich mag meine Ruhe haben, will aber auch nicht unfreundlich sein. Irgendwann mittags kommt meine Mutter, sie will im Haus meines Opas tapezieren und dann will sie hier einziehen. Sie geht durch die Räume und sagt, was zu tun ist. Ich denke, sie ist bekloppt, hier könnte ich niemals leben. Sie ist immer noch böse auf mich. Ich sage Wörter, die sie besänftigen. Mir macht es nichts aus, mich für etwas zu entschuldigen, was ich nicht gemacht habe. Mir ist alles egal. Dann geht sie und lässt mich übers Wochenende allein.
Ich komme langsam zu mir, es ist sehr schwer, mich wieder kennenzulernen.
Ich durchsuchte die Räume und fand nichts Brauchbares. Oft verschwand ich aufs Klo und nicht mehr die Stimme meines Opas hören zu müssen. Er sagt oft, dass ich schlimm bin, und als ich mal etwas in der Küche fallen gelassen hatte, sagte er, er könnte meine Mutter verstehen. Mit Essen hatte ich immernoch Probleme, mein Kopf sagt mir, ich soll nichts essen, aber ich aß ein bisschen.
Am Montagmorgen wurde ich von meiner Mutter geweckt, sie meinte, ich soll zur Schule und sie brachte mir frische Klamotten. Ich zog mich schnell um und dann gings los - und wie es los ging, und zwar mächtig nach hinten.
Ich freute mich schon auf die Schule, endlich wieder Nadja und Larissa sehen, aber am Ende parkten wir ganz wo anders. Meine Mutter sagte, dass ich jetzt auf eine neue Schule gehen würde, ich fand das nicht so toll. Ich glaubte, dass sie extra diese Schule ausgewählt hatte, weil das Gebäude größtenteils aus Glas bestand und ich Höhenangst hatte. Wir gingen ins Direktorbüro und ich spürte, wie mich der Direktor genau beobachtete. In dem Moment wusste ich, dass meine Mutter ihm etwas Schreckliches über mich erzählt hatte. Es gab ein Gespräch, in dem meine Mutter sagte, dass sie wegen dem blauen Auge (sie hatte wirklich ein Veilchen da) zum Arzt gegannen war und dokumentieren lassen hat, damit sie mich anzeigen konnte .Toll, dachte ich mir, jetzt kann ich auch noch in den Jugendknast wandern.
Ich durfte dann gleich ein WPF (Wahlpflichtfach) wählen und das war Sport, dann wurde ich direkt in den Unterricht geschickt, obwohl ich das gar nicht wollte. Vor dem Klassenzimmer traf ich Herr Beuscher, meinen Klassenleher, er unterrichtete Mathematik. Ich fragte ihn belanglose Sachen über den Stoff nur um die Vorstellung vor der Klasse hinauszuzögern.
Nachdem man genug Witze über meinen Name gemacht hatte und alle mich mal angeglotzt hatten, durfte ich mich neben ein Mädchen names Felica setzten. Sie hatte schulterlanges, schwarzes Haar und grünblaue Augen. Ich bemerkte wie die Lehrer mich alle beobachteten und ich hatte das Gefühl, dass sie Aggressionen erwarteten.
Nach ein paar Tagen wusste ich, dass es zwei Zwillinge in der Klasse gab. Als ich das meiner Mutter erzählte, meinte sie, dass Zwillinge immer zu zweit wären. An dieser Aussage merkte man, wie blöd meine Mutter war. Jeden Abend bekamm ich einen Anruf von ihr, zuerst war Opa dran mit Labbern und dann ich. Meistens war es ganz okay, mein Opa beschwerte sich nur, dass ich nicht genug essen würde, weil ich zu verwöhnt wäre. Im Haushalt meines Opas übernahm ich dem Job der Haushälterin, das hieß, dass ich nach der Schule kochte und die Wäsche wusch, was sich als ziemlich schwierig rausstellte. Denn mein Opa hatte weder Trockner noch Waschmaschine. So musste ich die Wäsche in der Wanne per Hand waschen und mit dem Wasserkocher das Wasser heiß machen und dann immer wieder da rein schütten. Zum Schleudern gab es ein Drehding und unten lief dann das wasser raus. Dann musste ich runter in den Keller, die Wäsche aufhängen. Das hat ziemlich geschlaucht, denn von so einer Arbeit bekam ich Rückenschmerzen, mein Opa meinte wie immer, ich sei sehr verwöhnt.
Die ganze Woche war ich am überlegen, wie ich an Nadja kam. Ich wollte sie unbedingt nochmal kontaktieren, mein Händy wurde mir abgenommen und Internet gab es nicht, an Briefmarken und Umschläge kam ich nicht dran und ans Telefon auch nicht, weil Opa ja ständig in der Nähe war oder ich die Befürchtung hatte, er könnte das mithören, was er dann naturlich brühwarm meiner Mutter erzählen würde. An einem Donnerstagabend hatte ich die Chance. Mein Opa ging irgendwie feiern mit seinen Dorfkumpels und ich war allein zuhause und das Telefon auf der Ladestation. Ich schaute Fern und linste immer wieder zum Telefon, es war wie eine Verführung. Aber ich wollte warten, bis meine Mutter ihren abendlichen Kontrollanruf gemacht hatte, denn dann hieß es meistens, dass ich ins Bett gehen sollte, was für mich noch zu früh war.
Ich konnte nicht warten, ich wollte Nadja hören, ich wollte Nachrichten von der Welt da draußen. Von meiner Schule, meinem Leben. Ich wählte Nadjas Nummer. Sie war froh, mich zu hören, und es gab ein paar neue Gerüchte, die ich natürlich gleich mit Nadja diskutierte. Es klingelte an Nadjas Tür und da sie allein zu Hause war, machte sie auf. "Sissi", sagte sie atemlos, "da war grad Ralf, ich soll aufhören mit dir zu telen"Ich war schockiert. "Scheiße." Als ich mich dann endlich getraut hatte aufzulegen, rief meine Mutter an, das erkannte ich an der angezeigen Nummer, ich hatte Angst dran zu gehen, aber genauso viel Angst hatte ich, nicht dran zu gehen.
Während das Telefon klingete war ich in heller Aufregung, ich suchte fieberhaft nach einer Lösung fand aber keine.
Ich konnte froh sein, wenn meine Mutter nicht Hackfleisch aus mir machte.
Ich hatte ene verdammte Angst.
Am Ende zog ich den Stecker raus, hoffte da würde eine Ansage kommen, dass keine Verbindung besteht. Aber im nächsten Moment verwarf ich diese Idee; meine Mutter würde mich trotzdem dafür verantwortlich machen, sicher.
Ich steckte den Stecker wieder rein.
Das Telefon klingelte wieder.
"Was soll ich den jetzt machen?", schrie ich das Telefon an.
Ich war vollkommen von der Rolle. Wenn die morgen vorbeikommen würde, da wäre was los - oje.
Ich zog wieder den Stecker und lief auf und ab.
Lösung. Lösung. Lösung.
Ich hatte keine Lösung dafür.
Ich steckte den Stecker wieder rein bis es klingelte und dann steckte ich den Stecker wieder raus. Es ging so lange, bis mir klar wurde, dass meine Mutter nicht eher aufhören würde bis ich dranging.
"Leb wohl", flüsterte ich mir zu und ging ans Telefon.
Das gab natürlich ordentlich Anschiss. Sie tobte richtig rum, drohte mir, ich würde morgen mein blaues Wunder erleben.
Als ich aufgelegt hatte, versuchte ich einen Weg zu finden, um der morgigen Strafe zu entkommen. Abhauen nützt nur etwas für jetzt, auf lange Sicht gesehen machte es mir sogar mehr Ärger. Ich fand keine Lösung und schlief dementsprechend spät ein.
Im Traum fiel mir dann die Lösung ein. Als am nächsten Morgen dann der Wecker um kurz vor sieben klingelte, schlich ich zuerst in das Zimmer, wo meine Klamotten lagen. Meine Mutter hatte mir eine ganze Packung Paracetamol eingepackt, weil ich immer so schlimme Regelschmerzen bekam. In der Packung waren 20 Stück, ich wusste, dass man über den Tag verteilt nicht mehr als 8 nehmen sollte. Ich packte die Paracetamol zu meinen Schulsachen.
Das einzige gute an der neuen Schule war, dass ich später aufstehen konnte, in Bad Sobernheim bei meiner Mutter begann die Schule um 7:30 und ich musste um 6:30 Uhr aufstehen. In Wallhausen war 08:15 Uhr Schulanfang, und da dieses Dorf nun mal das nächste Dorf von meinem Opa ausgesehen war, hatte ich auch eine nicht allzulange Busfart.
In der ersten Pause nahm ich die ganzen Tabletten auf einmal auf dem Schulklo. Hier war es viel sauberer als in meiner alten Schule, deswegen konnte man auf der Toilette länger bleiben als nur die Zeit, in der man die Luft anhalten konnte. Ich merkte die Auswirkungen schon in der nächsten Stunde und interpretierte es als Vergiftungserscheiungen. Mir wurde es grotenschlecht und meine Hautfarbe wurde gräulich.
In Mathe dann hatte ich wieder mein Klassenleher, die Klasse bekam ein Blatt, das wir in Stillarbeit durchrechnen sollten. Ich meldete mich und er kam zu mir, ich fragte ihn völlig sinnlose Dinge über das Thema, das wir grade hatten. In meiner alten Schule hatten wir das Thema schon längst durchgehabt. Er gab mir antworten und ich stellte die Fragen extra so, dass er sie nicht verstand. Irgendwie wollte ich Aufmerksamkeit, ich wollte, dass er was merkte und eingriff. Am Ende war er nur irritiert und ich am Ende mit meinen Nerven. Ich hatte keine Lust, diese Aufgaben zu machen und chillte deswegen, wenn der Lehrer nach mir schaute, tat ich so, als würde ich etwas machhen, damit man mich bloß in Ruhe "arbeiten" ließ.
In Bad Sobernheim hätte ich mir öffters erlaubt, mich mitten in der Unterrichtsstunde auszuruhen, aber hier war das ja anders.
Bei diesen Tabletten passierte gar nix, ich ärgerte mich darüber. Kein Anfälle oder Ohmnacht, nichts. Mir gings nur beschissen, hatte ein dumpfes Kopfweh. So kam ich wohlbehalten zu meinem Opa nach Gutenberg zurück.
Auf der Fahrt zurück schimpfte ich in mich hinein. Das konnte man ja keinem erzählen. Selbstmordversuch und da passiert nichts, das ist doch mal völlig verblödet. Kurz nach mir kam meine Mutter, ich erwartetet die Schlacht des Jahrhunderts, aber es kam nichts, ich war erstmal erleichtert. Sie sah mir an, dass es mir nicht gut ging und wir stellten fest, dass ich eine Menge Wasser in den Beine eingelagert hatte, meine Mutter schob es auf die Regel, ich hoffte drauf, dass das Wasser mir in die Lunge stiege, davon konnte man nämlich wirklich sterben. Aber irgendwo war mir auch klar, dass es nicht soweit kommen würde.
Meine Mutter fühlte mich mit Pfefferminztee ab, denn ich ungesüßt nicht gerne trinke.
Wir rissen die Tapeten runter und ich durfte gnädigerweise immer wieder Pausen machen, weil ich ja angeblich meine Periode bekam.
Tatsächlich bekam ich einige Tage danach meine Tage, das Dumme war nur, ich hatte kein Schmerztabletten mehr und so erfand ich die Lüge, ich hätte die Paracetamol in der Schule verloren, meine Mutter nahm mir das ab.
Da ich in den Pausen immer allein war, wurde ich oft von meinen neuen Mitschülern angesprochen. Das war mir sehr unangenehm, weil ich nie so wirklich wusste, was ich von mir erzählen sollte. Da ich oft genug gefragt wurde, weshalb ich die Schule gewechselt hatte, erzählte ich die Lüge, dass ich mit meiner Mutter bald nach Gutenberg ziehen würde. Ich hatte sie von meiner Mutter, denn sie erzählte den selben Scheiß. Ansonsten konnte ich nicht viel erzählen, außer vielleicht: Guten Tag, meine Mutter hat mich hierher geprügelt, und das ging ja schlecht.
Hinsichtlich Essen wurde es nicht besser. Man konnte sagen, es fühlte sich fast an wie eine Beziehung, als ob das Essen zu mir sprach.
Ich fing wirklich an zu spinnen und mir vorzustellen, wie das Essen auf dem Teller rumhüpfte und laut sang: "Ess mich und ich mach dich fett."
Da es ja kein warmes Wasser gab, wusch ich mir jeden zweiten Tag in einer Wanne, deren Wasser ich mühevoll im Wasserkocher warm gemacht hatte, die Haare und wusch mich. Es gab bei meinem Opa zwar einige Bücher, aber das lesen war mir vergagen. Am liebsten hätte ich viel lieber geschrieben, aber meine Mutter gab mir immer nur grade soviel Papier, dass es für die Schule reichte.
In dieser Zeit fing ich auch an zu nähen und mir Kleider vorzustellen. Da mein Opa ja eine Hand drüber hatte, wann ich Fernsehen durfte und da wenn das Radio lief - nur Operette oder sowas -, ließ ich ihn lieber im warmen Raum allein. Ich fing an, mich immer mehr zurückzuziehen und mich mit mir selbst zu beschäftigen. Man konnte das Gelabber meines Opas auch nicht allzu lang aushalten, das war ja wirklich pausenlos. Vor allem das mitgesprenkelte Gespuckte war sehr unangenehem, aber er merkte es nichtmal, obwohl ich ihm das oft genug sagte. Es gab auch eine neue Regel mit dem Telefon, mein Opa nahm es seit neusten immer mit, wenn er schlafen ging oder weg ging.
Ich lernte einen Jungen kennen.
Robert. Er war ganz witzig.
An dem Tag, als ich ihn das erste Mal traf, verpasste ich blöderweise auch meinen Bus. Ein türkisches Mädchen half mir, dank ihr nahm ich den nächsten Bus nach Bad Kreuznach, der über mein Dorf fuhr, ich kam nur etwas später an, aber ich war froh, überhaupt angekommen zu sein.
Eines Mittags kam ich nachhause und war grade beim Kochen, als meine Mutter anrief, sie sagte, ich solle mal N-TV anschlaten, es wäre etwas passiert. Ich hatte keine Ahnung von was sie da sprach, ich dachte an irgendwas Politisches, vielleicht eine Diskussion über das Kindergeld oder so. Stattdessen war da was viel Schlimmeres. Als ich es begriff, musste ich fast heulen.
Der Amoklauf von Winnenden.
Ich kochte nebenbei ,während ich mir die News von diesem Amoklauf reinzog. Richtig aufs Kochen konnte ich mich dabei nicht konzentrieren und mein Opa konnte man in dem Moment fast mit meiner Mutter vergleichen. Er schimpfte vor sich her, von wegen, so wie der Junge schon aussah, konnte man ihm das zutrauen u.s.w..
Einen kurzen Moment flackerte in mir auch die Idee, einen Amoklauf zu machen. Aber das schob ich schnell wieder weg, ich war viel zu gutmütig, um so etwas zu machen. Die Waffe auf mich selbst zu richten, wäre kein Problem, aber auf andere, das war schon etwas, was man nur mit Mut machen konnte. Und den hatte ich nicht - sah man ja schon an der Handbremse-Sache.
In der folgenden Woche gab es nur ein Thema: der Amoklauf. Wer, wieviele, wieso, warum. Jeder durfte dazu mal ein Wörtschen sagen. Mein Opa hatte die BILD am Sonntag aboniert und so erfuhr ich auch mehr darüber. Es gab ein großen Bericht über jeden einzelnen toten Schüler, was er mit seiner Zukunft machen wollte und wie er oder sie so war. Die meisten wurden geehrt, besonders sportlich, viel Lebensfreude usw.
Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte da irgendwie einen anderen Blick drauf. Ich sah mir die Menschen an. Nichts schlechtes über die Toten, es gibt so einen Spruch und soweit ich wusste, wurden die Toten immer geehrt, egal wie schlecht sie wirklich waren. Außerdem sah ich diesen Amokläufer nicht als Schuldigen sondern als Opfer, er hatte sich selbst umgebracht - dass ist schon mal eine Sache, die Mut braucht. Aber man tut nie jemanden weh, der einem nicht weh getan hat, es gibt Menschen, die das tun, bestes Beispiel ist meine Mutter, aber sowas kommt eher selten vor. Da muss etwas vorher geschehen sein. Man kann auch nicht sagen, das die Toten schuldig sind, aber ich glaube, man sollte kein Schuldigen suchen, sollte in so einer Sache Neutralität walten lassen. Die armen Eltern, die wurden als schrecklich dargestellt, aber vielleicht hatten sie damit ja gar nichts zu tun. Dieser Amoklauf unterstützte mich in meiner Theorie, dass ein Baby, vollkommen unschuldig, niemals krank im Kopf zur Welt gebracht wird. Wir sind das, was das Umfeld ist. Wir sind Rudeltiere, sehr anpassungsfähig.
Wie oft wurde ich im Unterricht aufgerufen und wusste nichts, ich wusste schon, wollte aber nichts sagen. Es war eine Art Verweigerung, weil ich zurück zu meiner alten Schulen wollte. Ich fühlte mich wie Farbe die langsam durch die Sonneneinwirkung verblaste - ausgeblichen.
Eines Tages nahm meine Mutter mich mit nach Hause und seit dem musste ich von Bad Sobernheim nach Wallhausen fahren. Das war eine heiden Anstregung, da ich das auch nicht gewöhnt war. Erst zum Bahnhof laufen, dann mit dem Zug nach Bad Kreuznach und von dort aus mit dem Bus nach Wallhausen. Das war über eine Stunde Fahrt und da ich sowieso schon schlecht schlief, war das eine Verschlechterung.
Ich lernte Robert immer besser kennen. Und ich veränderte mich langsam.
Ich ging dazu über, immer dick geschmikt in die Schule zu fahren, weil die Schminke mich davon abhielt, zu heulen. Ich konnte wirklich nichts mehr in der Schule, es war, als wäre ich noch nie in der Schule gewesen. Ich hatte offene Haare, was meine Mutter nicht gern sah und ich hatte eine Art Körperbewusstsein entwickelt. Ich wusste mit welchen Ausschnitt ich Robert und seine Freunde entzückte. Und auch meine Klasse nahm die Veränderung wahr, obwohl ich gar nicht so lange dort war.
Ich fing an zu glauben, dass dieser Vorfall, als man mir nicht geholfen hatte und ich nach Hilfe gerufen hatte, nur geschehen war, weil man mich hasste. Ich hatte es verdient. Das redete ich mir andauernt ein. Jeden Tag.
Komischerweise war ich sehr gut in Sport obwohl ich schon sehr, sehr wenig aß.
Und dann kam der Abbruch.
Eines morgens in der Pause war ich wieder bei Robert und dessen Freunden, sie rauchten. Aber nichts Normales – Gras, und nein, es kam nicht von der Wiese. Ich zog auch einmal dran und es tat gut, diesen scheiß Leben endlich mal zu entfliehen, ich konnte mich wegträumen, irgendwohin, wo es lustig war.
Es war zu einer Normalität geworden, mich zu ritzen, ich tat das andauernd, denn dieser Schmerz ließ mich spüren, dass ich noch am Leben war. Ich liebte Schwarz, weil es zu mir passte und ich liebte meine weiße Haut.
Oft zog ich nur Schwarz an, was meine Mutter verärgerte. Aber ich hatte in der Hinsicht eine Art Theorie. Ich wollte meine Leben nach außen tragen und das war weiße Haut, die Unschuld in mir, was die Männer verführte und das Dunkle in mir, das Böse, weswegen mich die Menschheit hasste, und rot, das Blut, das Lebenselexier, das waren rote Lippen oder je nachdem, mein Arm. Jeden morgen puderte ich mich mit Babypuder ein, was die Haut noch weißer machte. Einige in meiner Klasse machten sich darüber witzig, sie sagten ich sei weiß wie Käse, doch ich wusste insgeheim, wollten sie mal näher in mein Ausschnitt schauen. In der Zeit hatte ich ein Gefühl dafür entwickelt, was Menschen fühlten. Das ging komischerweise auch für Tieren.
Ich trug meine Arme oft offen, weil eigentlich nie jemand darauf achtete, und da ich mich nicht auf den Handrücken ritze, sondern da, wo die Pulsadern lagen, sah man das meisten sowieso nicht. Ich wusste, dass ein Freund von Robert es wusste. Einmal hatte ich ihn beobachtet wie er mich beobachtete, ich zeigte ihm meinem Arm und er war verschreckt. Ich fand seine Reaktion sehr interessant. Dieses Augen entsetzt aufgerissen, Hand vor dem Mund schlagen.
Ich bekamm Probleme mit Felica, meiner Sitznachbarin, weil sie Kreide auf meinen Platz warf und ich sie zurückschmiss. Ich lernte sie als Superzicke kennen. Sie fing mich in der Pause ab und wollte gefälligst wissen ( Anmerkung: Im Hintergrund mit kräftiger Unterstützung), was das soll. Ich musste wirklich über sie lachen, worauf sie mir androhte, dass ihr Freund kommen würde, worauf ich antwortete, meiner kommt auch - Pause - in mir. Das hat sie schockiert. Ich fand es sehr interessant, die Leute zu verschrecken, es war ja nicht die Wahrheit, ich hatte ja keinen Freund, aber es hatte was, die Leute schauten einem dann so blöd an.
Mir war es scheißegal, was man über mich dachte, ich wusste es sowieso, weil ich irgendwie die Menschen lesen konnte.
Am Wochenende durfte ich bei Nadja übernachten, aber in Wirklichkeit übernachtete ich nicht bei ihr, ich war in Kreuznach unterwegs. Mit meinen und vor allem Roberts Freunden.
Zuerts standen wir nur ein bisschen am Bahnhof rum, dann meinte einer die Luft wäre rein, wir könnten zu ihm gehen. Ich wusste nicht wer gemeint war und ging einfach mal mit, weil ich nicht blöd und allein in der Ecke stehen bleiben wollte. Mit ihm war ein Mann um die 40 gemeint, er erzählte uns, er sei Optiker, aber ich wusste nicht, ob ich ihm das glauben sollte oder nicht. Er baute Kanabis an. Aber er hatte auch anderes da. Aber alles eben nur gegen Geld. Ich hatte kein Geld, aber ich bekam was von Robert ab, ich zog aber nicht richtig dran, weil ich Angst hatte, ganz die Besinnung zu verlieren und am Ende irgendwo aufzuwache und nicht zu wissen, wo ich bin. Außerdem machte mir das Zeug Probleme, weil ich dann husten musste und das peinlichst uncool war. Wir liefen in der Stadt rum machten Scheiß von dem Shit beflügelt. Wir wurden an einer Seitenstrasse von jemandem abgeholt, während wir warteten, riefen wir vorbeigehenden Passanten irgendwas zu und lachten, wenn sie sich umdrehten oder Antwort gaben.
Ich schaute mich in meinem kleinen Handtaschenspiegel an und sah den blanken Wahnsinn in meinem Gesicht wohnen. Meine Pupillen waren geweitet und ich hatte das Gefühl, dass die ganze Welt mir gehörte, wenn ich was anfasste.
Dann kam der Wagen der uns abholten sollte, es waren zwei und mir fiel die Kinnlade runter.
Ein leichter, summender Klang, es schnurrte sich die Strasse entlang und blieb stehen. Ein kleiner Blick in die Innenausstattung ließ eranhmen, wie brutal geil dieses Auto sein musste. Das zweite war ähnlich.
Ich strich über die Motorhaube, während sie sich alle begrüßten und fragte mich, wieviel PS der wohl ziehen konnte. Das Auto sah eindeutig nach einer Rennmaschine aus, die veranstalteten doch jetzt kein Rennen? Ich dachte an den Ärger mit den Bullen, wenn die mich erwischten und meine Mutter. Bekifft Autorennen gefahren. Oje.
Ich schaute zur Gruppe rüber und ich wurde näher gewunken. "Du scheinst dich für`s Auto zu interssieren?“ Ich nickte. "Hast dun Lappen?" Ich schüttelte den Kopf und schaute nochmal das Auto an - es war einfacher als meinem Gesprächspartner in die Augen zu sehen. "Wir können ja eine Runde zusammen fahren." Er zeigte mit dem Kopf zum Auto. Ich sah ihn entsetzt an. Er breitete die Arme aus: "Hey, ich werd dir schon nichts tun." Ich hatte übelsten Respekt vor dem Ding. Schnelle Autos sind brutal. "Wir fahren mal ne Runde", hörte ich meinen Gesprächspartner zu jemandem sagen. Er klingelte mit dem Autoschlüssel und ich stieg in den Beifahrersitz ein und versank fast darin. Ich schnallte mich an und erschrack, weil das Auto den Gurt nach hinten zog.
Mein Gesprächspartner stieg ein und steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und schnur. Das Kätzchen so süßer Unschuld wurde zum Tiger erweckt. Zu Deutsch: der Motor war an.
Er schaute mich an und grinste. "Na, alles paletti?" "Alles paletti", wiederholte ich. Dann fuhren wir los. Es war ein super Sound vom Motor als auch von der Musik. Schon in den ersten paar Sekunden merkte ich, dass er sehr riskant fuhr, was mich zu einer Gewohnheit brachte, die ich heute noch an mir habe, ich tat so als würde ich bremsen, natürlich war in meinem Fußraum keine Bremse, das war einfach ein Reflex.
An einer Ampel mussten wir halten und er ließ den Motoer laut aufheulen, ich merkte, wie die wenigen Passanten uns anschauten und kopfschüttelnd weitergingen. Die Jugend von heute, das konnte ich fast von ihren Gesichtern ablesen. Es wurde gelb und dann grün. Mit quitschenden Reifen und ordentlich Geschwindigkeit ging's los, er nahm scharf die Kurve und drückte voll aufs Gas, um drauf nur wieder hart zu bremsen, weil die nächste rote Ampel schon wartete. Ich glaube, wir hatten so scharf gebremst, dass es sogar Spuren auf der Straße hinterließ. Ich war völlig von der Rolle und atmete keuchend, das war absolut der Hammer!
Ich schaute zu ihm und er grinste mich an. "Ich zeig dir gleich nochwas" Er zwinkerte. Ich wusste damals nicht, dass er drauf wartete, dass kein Auto in der Nähe war. Die Ampel schlug auf grün und er gab wieder Gas und wir rutschten schliternd nach rechts, ich war schockiert, ich dachte da kommt ein Unfall auf mich zu. Aber so war es nicht. Er hatte die Kontrolle noch, mit der Handbremse, das war driften. Das Auto gab Geräusche von sich wie ein sterbener Schwan und ich hatte Angst. Mein Herz klopfte laut und schnell und ich stütze mich mit der Hand gegen die Tür, weil ich andauernd auf meinem Sitz so hin und her flog, trotz Gurt. Dann blieben wir seitlich mitten auf der Straße stehen. Er stieg aus und ich tat es ihm nach, meine Hände zitterten, die Angst saß noch tief in meinem Gliedern. Es war niemand da, kein Menschen zu sehen, kein Auto.
Er ging den Spuren seiner Räder nach, wenn ich sowas manchmal sah, dachte ich immer, jemand hatte ein Unfall gebaut, aber jetzt wusste ich, wo sie wirklich herkammen. Ich lehnte mich gegen das Auto ohne ihn aus dem Blick zu lassen. Die kühle vom Auto beruhigte mich etwas und kühlte mich, ich war geschwitzt vor Angst. Ich fühlte mich müde und überdreht, ich war vollkommen durchgedreht, was tat ich hier überhaupt?
Oder waren dass die Drogen?
Ich fühlte mich eigendlich völlig normal.
Er kam zurück und grinste mich an. "Prinzessin Sissi", sagte er und er warf mir den Autoschlüssel zu. Ich fing ihn auf. Ich war verblüfft. Das war doch kein Film, oder? Irritiert und fragend schaute ich ihn an, aber er ignorierte mich und ging ums Auto rum auf meine Seite, als er schließlich vor mir stand sagte er: "Deine Seite ist die andere.“ Ich fing an zu stottern, ich konnte dieses Auto doch nicht fahren, ich konnte gar kein Auto fahren - O Gott, was habe ich für eine Scheiße gebaut? Hilfe?
„Ich kann nicht fahren“, brachte ich schließlch raus, er meinte dazu nur ganz frech: "Du kannst es lernen." Das schockierte mich. Ne, Ne, ich BIN BEKLOPPT. ICH TRÄUME DAS, WEIL ICH VORHIN DROGEN GENOMMEN HABE. Ich schwor mir nie weder so einen Dreck zu nehmen, man sieht ja, wo das hinführt, wahrscheinlich erträumte ich mir das grade. Außerdem dieser Typ, er sah nicht schlecht aus. Nur kaputt. Ne, das war viel zu sehr auf einem Film zugeschnitten, das war nicht mein richtiges Leben, das war irgendein Scheiß, den ich mir da erträumte, ganz sicher. Sowas gab es nicht, niemals, hast du gehört Sissi, NIEMALS!
Vorsichtig setzte ich mich ins Auto, die ganzen Griffe und Zeichen waren mir fremd. Ich schloss die Tür und schnallte mich an, wieder zog das Auto den Gurt eng nach. Ich hatte absolut kein Plan vom Autofahren. Er wartete. Ich steckte den Autoschlüssel ins Schloss und drehte. Die Musik ging an, er drehte sie leiser. Ich drehte nocheinmal weiter, diesmal war es schwerer zu drehen und ich hörte den Motor und das Vibrien und dann, ganz plötzlich, gab es einen Sprung nach vorn, reflexartig ließ ich den Schlüssel wieder los und der Motor erstarb. Okay. Okay, ruhe bewaren. Das Auto springt seit neuestem, auch ganz interessant, ich dachte dieses SCHEIß DING FÄHRT.
Okay. Okay. Puh. Das war ein Herzinfarkt.
Er lächelte. "Angst?"
Ich kniff meine Augen zusammen, ich glaube der Typ wollte mit mir flirten. "Ich will zurück zu den anderen." "Dann fahr doch, du hast doch den Schlüssel." "Ich kann nicht fahren", sagte ich leise und schaute ein Auto an, das einen großen Bogen um uns fuhr, weil wir mitten auf der Straße standen.
"Du musst die Kupplung treten, wenn du den Motor anmachst." Na klar, ich wusste das ja, hatte es iregndwie vergessen, ich ärgerte mich über mich. Ich wollte grade fragen, wo die Kupplung ist, aber er kam mir zuvor. Ich drückte die Kupplung durch und machte den Motor wieder an, er starb nicht ab und es gab keinen Sprung nach vorne. Ich war erleichtert, aber hatte doch Schiss. "Und jetzt Gas, aber langsam." Ich hatte Angst und war aufgeregt, es fühlte sich an, als würde etwas in mir flattern, ich fragte mich, was wohl geschieht, wenn ich einen Unfall bauen würde, aber ich traute mich nicht zu fragen.
Mein Fuß lag auf dem Gaspedal und ganz vorsichtig drückte ich es runter. Erstmal passierte gar nichts, doch dann spürte ich, wie es ganz langsam fuhr, sofort schaute ich auf die Starsse, hatte gleichzeitig den Tacho im Auge und drehte das Lenkkrad. Damit das Auto wenigstens wieder normal auf der Strasse stand. "Kupplung", erinnerte er mich. "Welcher Gang?", fragte ich. "Das siehtst du neben dem Tacho." Ok, das Anzeigeding neben dem Tacho war auf einer eins, ich schaute runter zur Kuplung und hoffte, dass ich in den richtigen Gang schalten würde. Das Auto schnurrte ganz normal und ich glaubte zu wissen, dass ich es richtig gemacht hatte.
"Ruhig ein bisschen schneller." Ich warf ihm einen entsetzten Blick zu. Noch schneller?
Er grinste nur und schnallte sich an. Ich drückte das Gaspedal noch ein bisschen mehr runter und sofort hatte das Auto mehr Geschwindigkeit, ich musste die Kupplung in den 3. wechseln und gleichzeitig schauen, dass ich auch in die richtige Richtung fuhr. Das waren ziemlich viele Anforderungen auf einmal. Irgendwie schaffte ich es ohne großes Trara. Ich fuhr auf einer Straße ordnungsgemäß, aber ziemlich lahmarschig. Ich dachte an meine Mutter, die immer während des Autofahrens redete. Dann kam eine Ampel in Sicht und ich drückte die Bremse bis wir standen, wir standen einigermaßen richtig und ich fragte mich, ob ich den Motor ausschalten sollte, ließ es aber bleiben bei dem Gedanken, wie es meine Mutter immer machte.
Mein Herz klopfte, meine Güte.
Was, wenn uns jemand sehen würde?
Ich komme in den Knast!
Die Ampel schlug auf grün und das Auto machte einen Hüpfer und ging aus, ich erschreckte mich und drückte die Bremse ganz durch. Er lachte: "Ist okay, nochmal, aber langsam de Kupplung treten." Ich schaffte es nicht. "Ich kann das nicht, fahr du." "Nochmal", sagte er bloß. Ich war sowas von überfordert, dass meine Hände schon zitterten, ich schafften es, ich fuhr weiter, irgendwohin. Verdammte Scheiße! Das war vielleicht peinlich! Himmel ? Hilf mir, bitte! Ich mach das nie wieder, versprochen!
Langsam traute ich dem Ding und drückte das Gaspedal weiter nach unten, sofort wurde die Geschwindigkeit erhöht. Ich ließ das Gaspedal los und das Auto rollte aus. Meine Fresse aber auch. Wie im Film, das war doch nicht normal, ach Gottchen. Ich versuchte möglichst cool zu bleiben und schaute ihn an, er zog die Handbremse und stieg aus, ich tat ihm gleich. Als wir die Plätze getauscht hatten und er wieder am Steuer war, fuhr er relativ normal. Ich erkannte, dass wir wieder in Richtung Bahnhof unterwegs waren. Wenn ich das jemand erzählen würde, man würde mich als bekloppt abstempeln!
Als ich aus dem Auto wieder aussteigen durfte, war ich mir sicher: nicht nochmal so eine Fahrt! Ich kann kein Auto fahren, bzw. ich durfte es nicht. Egal, wie auch immer, NIE WIEDER. Ich konnte nicht mehr schlafen.
Nadja erzählte ich nichts von der Sache, sie fragte mich auch nicht danach. Wer wollte schon von mir was wissen? Niemand, meine liebe Sissi. Grade von dir will absolut niemand etwas wissen und deine Meinung wird in der Welt nicht gebraucht, also halt die Fresse.
Ich konnte nicht mehr schlafen, absolut gar nicht mehr. Einmal stand ich auf, mitten in der Nacht, als meine Mutter sich grade bettfein machte und sagte ihr, dass ich nicht schlafen konnte. Sie schlug mich, ehrlichgesagt, ich hätte nichts anderes erwartet, sie war schon immer so, das kannte ich selbst aus den Kindertagen. Diesmal waren die Schläge anders - die Tussi konnte mich mal. Sie gab mir eine Backpfeife und anstatt mich zusammenzukrümmen vor Schmerz und möglichst schnell das Weite zu suchen, schaute ich sie einfach an.
Einen Moment lang war sie irritiert. Dann schlug sie mit beiden Händen auf mich ein, immer wieder. "Was soll das ?", schrei sie. Ich ging zu Boden, keuchend. Als sie fertig war, stand ich wieder auf, am ganzen Körper zitternd, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, weil die Gegenwehr nur so in mir tobte, doch ich versuchte diese zu unterdrücken. Mein Blick ruhte auf ihrem Gesicht.
Das war sehr interessant, sie wurde noch saurer, wenn ich keine Gegenwehr zeigte, wer hätte das gedacht?
Und sie schlug fester zu. Ich glaubte zu wissen, wieso sie so reagierte, sie wollte, dass ich Angst vor ihr hatte, zeigte ich ihr das nicht, wurde sie brutaler, damit ich merkte, wie stark sie durch ihre Schläge war. Sehr seltsam, aber durchaus logisch.
Es gab so Kleinigkeiten, die ich weiter analysierte. Zum einen war da die Sache mit dem aus Versehen schubsen oder berühren. Das geschah oft beim Einkaufen, wenn ich sie aus Versehen irgendwie streifte, schlug sie mich dafür, obwohl ich natürlich gleich entschuldigung sagte.
Emotional drehte ich mich in eine Art Strudel, immmer wieder um mich selbst und der Ausgangspunkt war meine Mutter, die ich durch das schnelle Drehen nicht mehr sehen konnte.
Ich hasste mich. Und es gab Regeln. Harte Regeln.
Und wehe ich verletze diese.
1. 1 mal die Woche nicht mehr als 300 kcal
2. 1 Schluck Wasser am Tag
3. Joggen, eine Runde in 8 Minuten, wenn ich es nicht schaffte, dann so oft wiederholen, bis ich es schaffe.
Das ganze hatte auch Konsequenzen. Zum einen hatte ich immerzu Kopfschmerzen und Schmerzen in meinem ganzen Körper. Ich konnte fast hören, wie meine Sehnen sich streckten, wenn ich mich bewegte. Und mir war immerzu kalt, selbst im Hochsommer, während alle anderen schwitzten, fror ich mir enen ab. An den Beinen und Armen fing es an, später weitete sich das aus. Ich hatte auch Bauchschmerzen, mir war nicht genau klar, ob es von dem nichts essen kam oder von den Sorgen. Paracetamol nahm mir so manchen Schmerz. Ich war unglaublich kraftlos und jedes mal, wenn ich was gegessen hatte, ging es mir körperlich eine Zeit lang viel besser als sonst. Ich rechnete aus, dass ich jeden Tag über 100 Gramm abnahm, weiter rechnete ich, wie lange ich brauchen würde, bis ich unter 40 kg war. Irgendwie war 40 kg meine Todesgrenze, so sah ich es jedenfalls, unter 40kg = tot. Und ich hatte viel mehr Zeit als alle die anderen Menschen, ich musste nicht auf die Schüssel und ich konnte nicht schlafen. Ich wurde zu einer Art Genie, ich kaierte zwar alles, was die Lehrer von sich gaben, aber ich stellte mich absichtlich dumm, ich konnte meinen Kopf ein-, und ausschalten, wie einen Schalter. Klick - Konzentration, Klick - weg. Wenn ich weg war, dann war ich mit meinen Gedanken weg. Meine Gedanken wanderten in keinem Paradies, das war Höchstverrat, meine Gedanken dachten, dass meine Mutter recht hatte. Ich sah mein Blut als verunreinigt, als wäre etwas Giftiges darin, das Gift wurde durch meinen Körper gepumpt, immer wieder und immer wieder, weder mit noch ohne das Gift konnte ich leben. Ein weiterer Fluch. Die Kinder in Afrika hatten das Essen mehr verdient als ich, sie waren nicht schmutzig, zumindest nicht innerlich. Mein Kreislauf sackte ab und ich mit ihm, nach einiger Zet hatte mein Umfeld sich daran gewöhnt und schien es als nicht mehr dramatisch wahrzunehmen. Was solls auch, wenn Dreck in sich zusammenfällt, dann muss man es beiseite kehren und das wars. Dieser Dreck, ich, wurde wirklich einfach zur Seite geschoben, besonders in Sport war das mit dem Umfallen wirklich extrem, aber irgendwann wussten alle Bescheid. Wenn ich im Weg rumlag, schob man mich beiseite und das wars dann. Der Rest war mein Problem. Damit hatten sie auch Recht. Dreck zu Dreck. Blut zu Dreck. Dreck zu Blut.
Es kamen Nachteile hinzu, wie, dass meine Hüftknochen nicht mehr durch Fett gepolstert waren und wenn ich mich irgendwo anstieß, tat das doppelt so weh. Auch die Schläge meiner Mutter trafen nurnoch Knochen. Oft genug tat sie sich selbst weh, weil ich so spitz war, bzw. meine Knochen.
Meine Idee war, so zu verschwinden, dass meine Mutter mich irgendwann nicht mehr schlagen konnte, was klein ist, muss man erstmal suchen! Verschwinden hieß hungern.
Ich hatte ein Maßband gefunden, das sich biegen ließ. Ich maß alles an mir ab, mene Taille, meine Oberschenkel und der Unfang meiner fetten Wurstfinger, wie es meine Mutter zu sagen pflegte. Bevor ich zu hungern begann, war ich schon verdammt dünn. Ich hatte die perfekten Modelmasse, doch während der Hungerkur wurden diese weniger. Mein Taillenunfang ging unter die 60 cm Marke genause wie mein Brustumfang, der unter die 90 cm Marke ging. An meiner Hüfte war nicht viel zu machen, Knochen konnte man nicht abhungern. Leider. Das waren immer um die 89cm. Ich Träumte davon, mir die Knochen brachen zu lassen, damit ich noch dünner wurde. Die Hüftknochen. Die Hüften sollen enger werden und meine Schultern auch. Da ich zu feige war, mir die Knochen zu brechen, trug ich unter meinen normalen Klamotten ein sehr eng geschnallten Gürtel, um meine Hüfte schmaler zu machen.
Ich machte mir nicht die Mühe, Spickzettel zu schreiben oder bei anderen abzugucken. Ich schrieb irgendein Scheiß hin und gab es ab. Hausaufgaben gab es keine mehr für mich. Ich verbrachte viel Zeit mit Musikhören. Vor allem nachts, da ich nicht aufstehen konnte, weil meine Mutter sonst die Krise bekam und mich windelweich schlug, blieb ich ruhig liegen, hörte Musik oder die Geräusche meiner Umgebung. Ich verbrachte eine Ewigkeit damit, mich zu schminken und die Haare zurecht zu machen, ich hatte ja auch Zeit. Noch nicht mal einen Wecker brauchte ich zu stellen, ich war ja sowieso wach.
Ich war wieder unterwegs. An dem Abend lernte ich Dinge fürs Leben.
Weißt du wie man Drogen herstellt?
Oder sie streckt?
Nein?
Ich schon.
Strecken war nichts anderes als irgendwas zu dem reinen Stoff, also der Droge, hinzuzumischen, damit man mehr von dem Zeug bekam. Bei Eis (Amphitamine) war es zum Beispiel Ethan. Ja,ja, Chemie. Ethan kann man auch als Paracetamol bezeichnen. Und Paracetamol war nicht verschreibungspflichtig, also ganz locker zu kriegen. Ritalin, das ist ein Medikament gegen ADHS, eine Aufmerksamkeitsstörung, darin ist Amphtamin enthalten, aber diese Medikamente sind verschreibungspflichtig. Wir zogen die Droge aus nicht verschreibungspflichtige Medikamenten. Manch einer mischt auch Phosphor dazu, das ist richtig gefährlich, wenn man da was falsch macht, kanns explodieren.
Aus Cannabis wird Marihunna, das ist recht leicht. Cannabis ist die Pflanze, man braucht die Öle und dann kann man Haschkuchen backen - ja wirklich.
Um Ecstasy herzustellen muss man verdammt viel von Chemie verstehen, da ist praktisch nur Chemie drin. Meist wird das Pulver zu Tabletten gepresst und es kommt ein Zeichen drauf, unser Zeichen.
Heroin wird hauptsächlich aus Morphin hergestellt, das ist nichts anderes als Morphium und das ist wiederum ein hartes Schmerzmittel. Mittels der Chemie wird das Morphium, das Schmerzmittel, extrem stark in der Konzentration erhöht.
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2011
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