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Kapitel 1

Das war doch total bescheuert, oder?

Natürlich war es bescheuert, auf dem Weihnachtsmarkt zu stehen, sich im hintersten Eck des Glühweinstandes zu verstecken und den blonden Typen vom Stand gegenüber zu beobachten. Und das nun schon seit drei Tagen. Drei Tage! Ich hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ich war doch kein Stalker!

 Nicht nur, dass ich Winter (viel zu kalt, nass und matschig, um sich draußen aufzuhalten), Weihnachten (zu kitschig, zu kommerziell) und besonders Weihnachtsmärkte (zu voll, zu viele Kinder, zu viel Weihnachtsmusik) nicht ausstehen konnte.

 Nein, mein absolut größtes Problem war dieser Kerl, der in der mit Tannenzweigen und künstlichem Schnee dekorierten Bude stand und mit einer Engelsgeduld und Hingabe Abend für Abend Krippenfiguren verkaufte. Was hatte der an sich, das mich so faszinierte?

 Gut, für einen Kerl sah er wirklich nicht schlecht aus. Er war groß, schlank, und soweit ich das unter dem dicken schwarzen Norweger-Pullover und der dunkelroten Steppweste erkennen konnte, gut durchtrainiert. Seine blonden Haare waren frech nach oben gegelt, die hellblauen Augen bildeten einen schönen Kontrast zu den vor Kälte geröteten Wangen.

 Der schön geschwungene Mund lächelte die ganze Zeit, während er den Kindern, die seine Figuren und die liebevoll dargestellten Krippenszenen bewunderten, nette Geschichten erzählte. Ich schätzte ihn so auf Mitte bis Ende zwanzig.

 Fast schon frustriert knallte ich meine Tasse mit inzwischen kaltem Glühwein auf den Tisch. All das erklärte trotzdem nicht, warum ich seit drei Tagen, seitdem mich meine ältere Schwester dazu überreden konnte, am ersten Tag mit ihr auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, nur noch an ihn denken konnte.

 Hallo, ich war nicht schwul! Seit ich vor zehn Jahren herausgefunden habe, wofür das Ding zwischen meinen Beinen noch so da war, habe ich jedes Mädchen, das mir gefiel, angebaggert. Mit nicht gerade geringem Erfolg. Ich war der beliebteste Junge an meiner Schule und konnte mir die Mädels praktisch aussuchen.

 Vor Kurzem ist meine erste richtige Beziehung in die Brüche gegangen. Meine Ex fand es anscheinend ganz toll, sich mit ihrem Kollegen in unserem Bett zu vergnügen. Vor einem Monat habe ich sie kurzerhand aus der Wohnung geworfen.

 Nun stand ich hier und schmachtete seit drei Tagen diesen Krippenverkäufer an. Ich, Niklas Wagner, der vierundzwanzig Jahre lang gedacht hatte, hetero zu sein, bekam plötzlich wegen eines Mannes Herzrasen und feuchte Träume.

 Eigentlich wollte ich heute gar nicht herkommen. Wollte diesem Drang, diesen unmöglichen Gefühlen, diesem verstörenden Verlangen endlich nicht mehr nachgeben.

 Doch keine Ablenkung hat geholfen. Um achtzehn Uhr war meine Unruhe schließlich so groß geworden, dass ich meine Sachen gepackt habe und trotz Schneefall auf den Weihnachtsmarkt gegangen bin.

 Ich sah auf meine Uhr. Es war fast acht Uhr. In fünfzehn Minuten werden die Buden geschlossen. Ich war total durchgefroren, hatte aber immer noch keine Lösung für mein Problem.

 Ich konnte ja schlecht zu ihm gehen und ...

 Und was? Ihn nach einem Date fragen? „Hey du, seit drei Tagen krieg ich dich nicht mehr aus meinem Kopf. Würdest du mit mir ausgehen?“

 Klar, und dann hätte ich sofort seine Faust im Gesicht, weil er ein totaler Schwulenhasser ist. So ganz wohl war mir ja auch nicht bei dem Gedanken, einen Kerl anzubaggern. Aber so langsam merkte ich, wie meine Neugier wuchs und die Träume, die sogar tagsüber in meinem Kopf schwirrten, sprachen Bände.

 Aber wie erkannte man eigentlich, ob ein Mann an Männern interessiert war? Gibt es da irgendwelche Erkennungszeichen, ein Signal?

 Himmel war das alles kompliziert. Gut, bei den Mädels wusste man vorher auch nie, ob sie dir ihre Knie in die Eier rammen würden. Doch diese Sache war eine ganz andere Hausnummer.

 

 So dermaßen in meine Gedanken vertieft, bemerkte ich die Hand, die vor meinem Gesicht herumwedelte gar nicht. Erst als eine Stimme ziemlich deutlich „Hey, hallo!“, rief, schreckte ich auf und richtete meine Augen auf die Person, die vor mir stand.

 Ach du heilige Scheiße!

 Der Krippenverkäufer! Seine hellblauen Augen blickten mich amüsiert an, der Mund war zu einem Lächeln verzogen.

 „Geht es dir gut?“, fragte er. Der leicht besorgte Unterton in seiner Stimme ließ merkwürdigerweise mein Herz hüpfen.

 Was war denn nun los? Normalerweise war ich die Selbstsicherheit in Person, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, gerade beim Flirten. Doch jetzt war mein Hirn wie leer gefegt. Ich konnte nur in dieses intensive Blau seiner Augen starren. WOW! Die hauten mich echt um.

 „Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte er sich noch einmal. „Du kippst mir hier jetzt nicht um, oder?“ Kalte Finger legten sich an meine Stirn, fuhren über meine Schläfe, bis sie auf meiner Wange liegen blieben.

 Oh mein Gott!

 Warum fühlte sich diese Berührung so verdammt gut an? Jetzt hätte ich tatsächlich umfallen können. Total absurd, aber trotz der Kälte brannte meine Wange wie Feuer. Dazu noch dieser warmherzige, intensive Blick ...

 Ich musste dringend irgendetwas sagen. Und wenn möglich etwas Intelligentes. Reiß dich zusammen!

 „Nein, mir geht es gut“, brachte ich nach einem kurzen Räuspern heraus.

 „Gott sei Dank. Du bist plötzlich so blass geworden. Ich dachte schon, ich müsste dich auffangen“, sagte er lächelnd und zog seine Hand weg.

 Dagegen wollte ich schon protestieren. Doch gerade noch rechtzeitig biss ich mir auf die Lippe, denn sonst wäre mir auch herausgerutscht, dass ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn ich in seinen Armen gelandet wäre. Einige meiner Gehirnzellen funktionierten also noch.

 „Entschuldige, dass ich dich einfach so anspreche“, redete er weiter, „aber du bist mir schon vor Tagen aufgefallen.“

 Na Bravo! Und ich dachte, ich hätte mich so gut versteckt. „Aha.“ Super, was Intelligenteres konnte mir jetzt nicht einfallen, oder?

 Zum Glück sah mein Gegenüber darüber hinweg. „Stundenlang stehst du hier, immer an demselben Stand und scheinst auf jemanden zu warten“, fuhr er nun fort.

 Ja, auf dich, wäre mir beinahe rausgerutscht. Gott sei Dank hielt ich meinen Mund.

 

 Dann trat plötzlich ein merkwürdigerweise nicht unangenehmes oder peinliches Schweigen zwischen uns ein. Diese intensiven Wahnsinnsaugen ließen mich alles um mich herum vergessen. Ich merkte weder, wie die Musik und Lichter abgeschaltet noch, wie die Buden heruntergeklappt wurden.

 Das Einzige, was ich wirklich registrierte, war eine kleine Narbe oberhalb seiner rechten Augenbraue. Gerade noch so konnte ich mich zurückhalten, mit meinen Fingern darüberzustreichen. Was wohl die Geschichte dahinter war?

 Langsam machte er einen Schritt auf mich zu. Er war ein Stückchen größer als ich, somit musste ich meinen Kopf ein wenig nach hinten neigen, um ihm in die Augen sehen zu können.

 Sein Blick fiel auf meinen Mund. Wow, was passierte hier gerade? Mein Herz fing an, wie wild zu pochen, meine Lippen prickelten. Würde mich dieser fremde Kerl jetzt wirklich hier auf dem Weihnachtsmarkt küssen?

 Zu meinem Erstaunen, oder auch Entsetzen stellte ich fest, dass ich ihn nicht davon abhalten würde. Eines war damit aber klar: Schwul war er definitiv. Noch nie hatte mich ein Mann so angesehen. Und ich musste zugeben, dass es nicht mal unangenehm war.

 Da leckte er sich über die Lippen. Ich schluckte. Wie konnte diese simple Geste bei einem Mann nur so sexy sein …?

 „Ich heiße übrigens Ben“, stellte er sich vor und streckte mir seine Hand entgegen.

 „Niklas“, erwiderte ich und ergriff seine Hand. Man, der musste mich ja für komplett bekloppt halten mit meinen einsilbigen Sätzen.

 Doch er lächelte nur und legte seinen Kopf etwas schief. „Was hältst du davon, Niklas, wenn wir noch irgendwo ein Bier trinken gehen? Hier ist jetzt sowieso Schluss. Außerdem ist mir kalt.“

 Na ja, zumindest musste ich mir jetzt keine Gedanken mehr machen, ob und wenn ja wie ich ihn ansprechen sollte, um mit ihm auszugehen. „Ähm .., ja klar. Klingt gut.“

 

In einer Seitenstraße vom Rathausplatz, auf dem jedes Jahr der Weihnachtsmarkt stattfand, gab es ein paar Kneipen. Zusammen gingen wir ins Cheers, eine der besten Kneipen in der Stadt, in der man sich auch normal unterhalten konnte und sich nicht anschreien musste. Da es mitten in der Woche war, war auch nicht zu viel los.

 Wir setzten uns in die hinterste Ecke und endlich wurde ich ein wenig lockerer. Lag wahrscheinlich an dem Bier.

 Ben und ich unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir kamen vom Hundertste ins Tausendste. Ich erfuhr, dass die Krippenmanufaktur, in der auch viele andere Sachen aus Holz hergestellt wurden und auch eine Glasbläserei beinhaltete, schon seit vier Generationen im Besitz seiner Familie ist, er BWL studiert hat und irgendwann das Unternehmen führen wird.

 Mit viel Leidenschaft und glänzenden Augen erzählte er von seiner Arbeit. Ich merkte, wie sehr er liebte, was er tat. Wenn ich das von meinem Job doch auch nur sagen könnte. Seit acht Jahren schuftete ich in einer Autowerkstatt und war drauf und dran alles hinzuschmeißen. Ich machte diesen Job nur, um Geld zu verdienen, das ich für meinen Traum brauchte: das Fliegen.

 „Dann mach das auch“, sagte Ben, als ich ihm davon erzählte, und sah mir dabei fest in die Augen. „Solche Träume muss man sich erfüllen.“

 Dankbar erwiderte ich seinen Blick. Es tat gut, endlich Zuspruch von jemandem zu bekommen. Meine Freunde hielten von meinem Wunsch, Pilot zu werden, nicht viel. Sie nannten es ein Hirngespinst und dass ich doch lieber mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben sollte. „Das Geld für die ersten Flugstunden habe ich schon zusammen“, erzählte ich weiter. „Bei drei Flugschulen habe ich mich beworben. Jetzt warte ich darauf, von einer angenommen zu werden. Dann kann ich die ärztlichen Tests machen und loslegen.“

 Ben lächelte, zog einen Stift aus der Innentasche seiner Weste und schrieb etwas auf seinen Bierdeckel, den er mir zuschob. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, ruf mich einfach an.“

 Seine etwas tiefere Stimme verriet, dass er mir seine Nummer nicht nur wegen des Angebots, mir zu helfen, gegeben hatte. Er flirtete mit mir, doch ich wusste nicht, ob ich mich wirklich darauf einlassen sollte. „Danke … ich … werde darauf zurückkommen“, sagte ich und steckte den Bierdeckel in meine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Regine Günther
Bildmaterialien: Martina Leib
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2746-5

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