Diese Kurzgeschichte beruht auf wahren Umständen. Thomas Lupo gibt es wirklich, genauso wie sein Aufenthalt in den Favelas. Das Mädchen Rebecca und der Junge Pedro existieren auch. Nur die Hauptperson Luano und seine Familie sind frei erfunden, doch sie spiegeln den Durchschnitt in den Favelas wieder.
Dai.Takahashi.
Das Leben in den Favelas ist nicht immer leicht. Man muss vorsichtig sein. Überall lauern Gefahren. Wenn man nicht aufpasst, gehört man zu denen, die in den Favelas verloren gingen.
Langsam lief ich durch den engen Weg. Durch die Wände neben mir höre ich Stimmen, es sind Kinder und Mütter. Väter gibt es hier wenige. Viele wachsen hier ohne einen Vater auf. So wie ich.
Mein Name ist Luano. Ich bin zehn Jahre alt und wohne in am Morro do Papagaio, das heisst übersetzt Papageienberg. Meine Mutter und mein Grossvater wohnen auch bei mir. Meinen Vater habe ich nie gesehen, ich weiss nicht mal, ob er noch lebt. Er hat damals meine Mutter verlassen und sie ist mit mir in die Favelas gezogen.
Unsere Hütte ist klein, aber ich mag sie. Viel haben wir hier nicht stehen, aber das was wir haben, ist uns sehr wichtig. Grossvater geht manchmal in die Stadt und verdient ein bisschen Geld. Deshalb können wir uns manchmal was zu essen kaufen. Meine Mutter kann nicht in die Stadt gehen. Sie hat Angst davor.
Der Alltag hier ist ziemlich langweilig.
Ich gehe vormittags auf eine Schule. Dort lernen wir die wichtigsten Sachen - Rechnen und ein bisschen Schreiben. Den Rest des Tages verbringen wir in Gruppen zusammen und machen irgendwas zusammen.
Der Alltag hier ist aber auch gefährlich.
Banden streifen durch die Favelas. Hier gibt es kein Gesetz, das sie bindet. Kein Gesetz, das uns schützt. Wenn sie dich im Visier haben, dann bist du in grosser Gefahr. Deshalb muss man aufpassen, wenn man allein herumläuft. Und Nachts ist es besonders riskant.
Es hat sich schnell verbreitet: Jemand neues ist eingezogen. Ein Mann aus Europa. Ich weiss nicht genau, was ich davon halten soll. Ein Europäer am Morro do Papagaio. Warum sollte jemand, der aus einer besseren Welt kommt, hierher kommen? Pedro, ein guter Freund von mir, zupft an meinem T-Shirt. „Gehen wir dahin?”, fragt er mich und schaut mich schief an. Ich zögere kurz.
„Hmm, ich weiss nicht...”
Doch er lässt nicht locker. „Nur mal schauen.”
„Na gut” Ich gebe nach. „Nur mal kurz vorbeischauen.”
Pedro dreht fröhlich eine Runde um mich und saust los. Mühsam folge ich ihm – er ist ganz schön schnell.
Nach ein paar Minuten erreichen wir die kleine Hütte, mitten im Zentrum. Ein fröhlich aussehender Mann kam heraus. Er war um die 35 Jahre alt und ging auf uns zu.
Er sagte etwas, doch ich verstand es nicht. Fragend schaute ich zu Pedro, doch er zuckte nur mit den Schultern. Er verstand wohl genauso viel wie ich.
Ich versuchte nun etwas zu sagen: „Hallo, ich bin Luano. Schön, Sie kennen zu lernen.“ Doch er verstand mich wohl auch nicht. Ich blickte zu meinem Freund.
„Der versteht uns wohl nicht.“
Wieder zuckte Pedro mit den Schultern. „Ein Versuch war es wohl wert.“
Wir winkten ihm kurz zu, er winkte zurück und lächelte unsicher.
Dann gingen wir.
Der nächste Morgen verlief im Schnelldurchgang. Rebecca, ein Mädchen, welches in meiner Nähe wohnte, verbreitete allen, dass sie den unbekannten Mann verstehe. Ihre Mutter hat ihr früher Englisch beigebracht und der Mann dort sprach Englisch! Nach dem Unterricht flitzten wir zur Hütte des Fremden und klopften an seine Tür. Er öffnete und sah uns alle gut gelaunt an. Rebecca ging zu ihm und sagte ihm etwas, er antwortete ihr, dann sah sie uns an und sprach:
„Das ist T..Thom..“ Sie hielt inne und blickte zu ihm hinauf. Er sprach wieder etwas und sie begann von vorne.
„Das ist Tom. Er ist gekommen zum Basteln.“
Fragend sahen wir uns an. Ich blickte zu Tom. Ich war unsicher. Warum kommt jemand einfach so her, um zu Basteln?
Andererseits habe ich nur einmal etwas gebastelt. Und das war schon etwas länger her.
Tom tauschte wieder ein paar Worte mit Rebecca aus.
„Er hat Farben im Haus“, übersetzte sie dann, „wir sollen sie nehmen und malen.“
Ein Junge meldete sich. „Was denn zeichnen?“
„Alles.“, gab es als Antwort, „alles, worauf du Lust hast.“
„Worauf warten wir noch?“, rief jemand in der Menge, „malen wir!“
„Aber das ist doch komisch“, rief ich, „warum kommt er einfach her und will mit uns malen?“
Die anderen Kinder tuschelten unsicher untereinander. Rebecca fragte Tom etwas, er lächelte verständnisvoll und antwortete ihr. Sie übersetzte uns:
„Er will einfach nur malen mit uns. Wenn wir nicht wollen, müssen wir ja nicht...“ Sie zögerte. „Den Rest habe ich nicht verstanden...“
Ein paar Jungen kicherten. Jemand aus der hinteren Reihe ging langsam nach vorne, an Tom vorbei, ins Haus und kam mit einem Eimer und einem Pinsel raus. Strahlend sah er uns an.
„So viel Farbe!“ Er hielt den Eimer hoch, als wolle er damit eine Grösse anzeigen. „Soo viel“
Die anderen Kinder schienen nun überzeugt zu sein. Sie gingen an Tom vorbei und kamen mit Farben zurück. Sie lachten alle und waren glücklich. Der Mann strahlte vor Freude. Auch er holte sich einen Eimer, zeigte auf eine Wand und rief in brasilianisch mit stark europäischen Akzent:
„Malen wir!“
Bald darauf waren alle mit dem Gestalten der Hauswände beschäftigt. Ich wollte aber nicht Stur sass ich auf einem Stein. Dieser Tom, dachte ich, der hat sie doch nicht alle. Kommt her mit Farbe. Geld oder was zu Essen wäre gut gewesen, nein, er kommt mit Farbe. In meiner Wut schmiss ich einen Stein weg. Mit leichtem Linksdrall flog er den Weg entlang, schmiss einen Farbeimer um und blieb in der Farbe liegen. Im selben Moment kam Tom um die Ecke und sah die Sauerei. Er blickte zu mir und hob leicht warnend den Finger.
„No“, sagte er. Ich verstand ihn, denn das war das einzige englische Wort, das ich kannte.
„No“, sagte er noch mal und kam auf mich zu.
Ich blickte gen Himmel. Das schien ihn zu verärgern. Sein Gesicht verfärbte sich leicht rötlich, doch es verschwand wieder. Fragend zeigte er auf den umgefallenen Eimer und dann auf mich.
Ich nickte.
Er holte einen Pinsel aus seiner Tasche und hielt ihn mir hin, doch ich nahm ihn nicht an.
Ich erwartete einen Wutausbruch. Erst der Eimer, dann die Arbeitsverweigerung. Doch nichts der gleichen kam. Tom nickte verständlich und legte den Pinsel auf den Boden und ging.
Das überraschte mich.
Nachdenklich sah ich den Pinsel an.
Warum eigentlich nicht, dachte ich mir. Ein bisschen Malen...
Nein! Nein, Nein, Nein!, schrie mein innerer Pessimist, der hat sie doch nicht mehr alle! So weit kommt‘s noch, dass du ihm in die Hände spielst!
Aber vielleicht doch nur ein bisschen...
Nein!
Ich bestätigte die sture Meinung in meinem Kopf und verschränkte die Hände. Das mache ich nicht mit. Genervt stampfte ich nach Hause.
Das Gesprächsthema am nächsten Tag war klar: Tom und seine Malstunden. Die Kinder schwärmten von ihren Bildern, die sie an die Wände gemalt hatten. In dieser Menge fühlte ich mich ziemlich fehl am Platz. Ich konnte mit niemanden mitreden und summte vor mich
Hin. Nach einer Weile sah ich Pedro und ging auf ihn zu.
„Pedro, Pedro“, begrüsste ich ihn. Er strahlte übers ganze Gesicht.
„Luano, das musst du auch machen!“
„Was denn?“
Pedro sah mich kurz verwirrt an, fuhr aber fort.
„Die Monster an den Wänden. Die UFOs. Es ist einfach nur toll.“
„Monster?“
Pedro nickte. „Ja, wir haben alle Monster gezeichnet. Mach doch mit!“
So verschwand er wieder in der Menschenmenge und liess mich allein.
Der Nachmittag verlief genauso wie der letzte. Alle waren wieder am Zeichnen und Wände verzieren. Ich sass wieder auf meinem Stein und starrte in die Wolken. Ich merke nicht, dass Tom sich neben mich setzte. Ich bemerkte ihn erst, als er mir einen Pinsel reichte. Wieder mit seinem Lächeln. Ich überlegte.
Vielleicht will er doch wirklich nett sein, dachte ich. Vielleicht will er doch wirklich nur malen.
Zögernd nahm ich den Pinsel. Tom nickte mir ermutigend zu und deutete auf einen Eimer Farbe. Er war offen. Ich liess den Pinsel in die Farbe eintauchen, zog ihn wieder heraus und malte einen Strich auf die Wand.
Was dann passierte, weiss ich nicht mehr genau. Ich weiss noch, dass ich mich wieder auf den Stein setzte und mein Kunstwerk anschaute. Es war ein riesiges Alien. Eine Sprechblase kam aus dem Mund heraus und in ihr stand: „Caramba“
Tom klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Er stand auf und zeigte auf das Bild.
Ich nickte.
Dann zeigte er auf mich und strecke die Daumen nach oben. Dann ging er weiter, wohl zu den anderen Kindern. Zurück blieb ich. Noch fasziniert von dem, was ich geschaffen hatte.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Wir malten weitere Wände an. Irgendwann bastelten wir aus Stoff kleine Monsterpuppen. Ich weiss noch, dass ich sie meiner Mutter geschenkt hatte und sie sich gefreut hatte.
Die Zeit ging so schnell vorbei. Wie im Flug. Vielleicht war es ja das ungewohnte Glücksgefühl, was mich berauscht hat.
Ich weiss nicht mehr genau, was mit mir passiert ist. Aber meine Erinnerung fängt wieder an, als ich an einem Flughafen stehe. Als wäre ich plötzlich hier erschienen, schaue ich mich um. Noch nie war ich in einem Flughafen. Meine Mutter hat mir ein paar Mal davon erzählt, aber glauben konnte ich es ihr wenig. Ich sah Tom sich von Pedro verabschieden. Pedro umarmte ihn und fing an zu wimmern. Tom wuschelte ihn durchs Haar und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich musste grinsen. Kann er ihn denn überhaupt verstehen?
Dann kam er zu mir. Ich umarmte ihn und sagte ihm:
>> Graças homem, que pinta <<
Danke, malender Mann. Tom lächelte gütig. Er fuhr auch mit seiner Hand durch meine Haare und ging zur Lounge.
Texte: Dai Takahashi
Bildmaterialien: Thomas Lupo
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2012
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