Cover


1




Ich schrecke hoch. Mein rot-weiß gestreifter Pyjama klebt an meinem von schweißüberströmten Körper. Mein Atem ging schwer. Die furchteinflößenden Bilder tanzen noch vor meinen Augen, sie wirken so echt. Meine Erinnerung ist so klar, als wäre alles erst gestern geschehen. Jede Nacht wiederholt sich das schreckliche Erlebnis von vor drei Monaten in meinem Kopf. Sogar am Tag kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich habe versucht die schrecklichen Erinnerungen an damals auszulöschen, aber die erschreckenden Bilder lassen mich einfach nicht los.
Unsicher auf den Beinen steige ich vorsichtig aus meinem Bett und schaue in den kleinen, sechseckigen, von meinem Atem beschlagenen Spiegel neben mir. Mein Gesicht ist kreidebleich und meine sonst so welligen braun-blonden Haare hängen schlaff und verschwitzt von meinem Kopf hinunter. Unter meinen erschöpften blauen Augen zeichnen sich dicke, schwarze Ringe ab. Auf meiner Stirn und meinen Wangen sehe ich die Spuren von Schweißperlen. Ich habe schon seit Wochen nicht mehr ruhig geschlafen.
Im Moment sehe ich für eine 15-jährige Gymnasiastin wirklich ziemlich alt aus. Ich fühle mich so, als hätte ich mein ganzes Leben schon längst hinter mir gelassen.
Ich nehme ein Bild mit einem silbernem Rahmen, das auf meiner schulterhohen Kommode steht, in meine Hand. Vorsichtig streiche ich mit meinen zierlichen Fingerspitzen über die in der unteren Ecke, mit dunkelblauer Tinte in schöner Schnörkelschrift geschriebenen Worte:
,,Für Aimee“.
Ich merke wie mir bei dem Anblick meines Geburtstagsgeschenkes feuchte Tränen die Wangen hinunterlaufen. Es weckt so viele wunderschöne Erinnerungen in mir, aber es wird niemals mehr so werden wie damals. Alles ist vorbei. Diese Zeit liegt längst hinter mir. Wir können nie mehr abends im Baggersee schwimmen gehen, zusammen kein Eis mehr bei Sonnenuntergang genießen, denn einer wird dabei immer fehlen.
Das Bild zeigt die drei wunderbaren Personen, die immer für mich da sind, oder besser gesagt, es waren: Meine um neun Minuten und 37 Sekunden jüngere Zwillingsschwester Paula, die mir mit ihren immer ungekämmten, mittelblonden Haaren und ihrer silberglänzenden Zahnspange nicht besonders ähnlich sieht. Neben ihr steht unsere beste Freundin Linda mit ihren sehr hellen, leichtgelockten Haaren, die ihr sanft über die Schultern fallen, und ihren voller Lebensfreude strahlenden Augen. Zwischen den Köpfen der beiden grinst mir das Gesicht meines allerbesten Freundes Toni entgegen. Seine halblangen, straßenköterfarbenen Haare sind zerzaust vom frischen Wind. Die drei stehen in ihren bunten Badesachen am Rand des Freibadbeckens. Sie winken mir mit strahlenden Gesichtern zu.
Es ist ein wunderschöner Sonnenuntergang im Hintergrund zu sehen. Am Horizont ziehen sich rote, orange und violette Schleier.
Das Thermometer an der Wand des Schwimmmeisterraumes zeigt für die Außentemperatur herrliche 31° Celsius und für die Wassertemperatur angenehme 25° Celsius an. Das perfekte Wetter um im Freien baden zu gehen.
Dieser Ort war für uns wie ein zweites Zuhause, denn in der Nähe des Wassers fühlten wir uns wohl.
Was unsere Freundschaft kennzeichnete?
Ja, das fragten sich die meisten, denn auf den ersten Blick waren wir völlig verschieden. Es war nicht unser Aussehen, was den Unterschied machte. Es war unser Alter. Toni war zwei Jahre jünger, als ich und meine Schwester. Linda war wiederum ein Jahr älter, aber trotzdem konnte uns nichts und niemand auseinander bringen, fast nichts, denn wir alle waren leidenschaftliche, professionelle Wettkampfschwimmer und das geborene Team. Damals war alles noch völlig normal.
Dieser schlimme Unfall-Nein, kein Unfall! ereignete sich genau zwölf Tage nachdem diese wunderbare Aufnahme gemacht wurde. Am Anfang schien es ein ganz normales Schwimmtrainingslager zu werden, bis zu diesem verhängnisvollen Tag.




2



Es war Mitte Juni und zugleich der erste Samstag der heißesten Sommerferien der letzten Jahre. Eine halbe Stunde haben wir uns in unserer Heimatstadt Osnabrück verabschiedet, bis unsere Eltern uns endlich haben gehen lassen. Die Luft war stickig und hing schwer in dem von unserem Verein gemieteten Bus. Als ich mich in den hinteren Teil des Busses auf meinen Platz gesetzt habe, beobachtete ich durchs Fenster, wie die ersten Sonnenstrahlen die Felder und Häuser beschienen.
Ich stellte mir gerade vor, wie unser Hotel aussehen würde und wie der erste Tag wohl verlaufen würde, als Linda, die mir in unserem Vierer gegenübersaß, mich aus meinen Gedanken riss: ,,Hey Aimee! Ich hoffe wirklich, dass wir beide mit Paula zusammen auf ein Zimmer können.“
,,Ach, ich denke das wird schon klappen. Tara ist doch unsere Lieblingstrainerin und wir sind auch ihre bravsten Kinder, na ja, zumindest meistens. Aber armer Toni, der muss mit den ganzen Idioten auf ein Zimmer“, grinste ich.
„Leute das ist nicht lustig, ihr bekommt wahrscheinlich voll die Traumzimmer, und ich... Warum kann es denn keine gemischten Zimmer geben? Das wäre doch viel besser“, meckerte er aufgeregt.
„Mhh...warum gibt es wohl nur nach Geschlechtern getrennte Zimmer?“, meinte Linda sarkastisch und lachte dabei verschwörerisch. Ich musste grinsen, als er traurig auf den Boden schaute. Er war immer so schnell eingeschnappt.
„Ach ist doch nicht so schlimm“, tröstete Paula ihn. „Am Tag machen wir doch eh etwas zusammen.“
Meine Schwester ist immer so einfühlsam, das mag ich sehr an ihr. Wir haben uns noch nie richtig zerstritten. Sie weiß, wann man sie braucht, dann ist sie für einen da. Ihre meist so stille Art ist tröstlich. Sie hatte Toni wieder etwas beruhigt.
Der Rest der dreistündigen Fahrt verlief eigentlich ganz normal, es geschahen keine besonderen Ereignisse. Der Bus fuhr größtenteils über Autobahnen und Schnellstraßen, aber auch durchs Flachland. Wir hatten so viel zu lachen. Außerdem gab es keine Streiterein - wie eigentlich immer bei uns Vieren.
Um Zehn Uhr in der Früh standen wir mit unseren vollgepackten, schweren Reisetaschen, Koffern und Rucksäcken vor unserer neuen Unterkunft. ,,Wow, wie cool ist das denn?“, lärmten die Meisten.
Wir standen vor dem luxuriösesten Hotel Bochums. Der Eingang war einfach gigantisch. Alles war mit Glasscheiben versehen und überall standen Statuen aus Marmor. Hinter dem Prachtbau sah man einen riesigen Park mit Hecken in Form von populären Menschen. Da war zum Beispiel eine steinerne Gestalt die aussah wie Mozart, eine wie Columbus und eine wie Michael Jackson. Jede Figur war schön in Form gemeißelt und geschliffen. Es war einfach überwältigend. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen.
Tara ging auf die Eingangstür zu und gab uns zu verstehen, dass wir ihr folgen sollten. Hastig liefen wir ihr hinterher und warteten in der Vorhalle, während sie mit der Rezeptzionistin sprach. Die Jungs machten sich wie immer lautstark bemerkbar, was natürlich wieder komische Blicke von den anderen Gästen auf uns zog.
Nach einer Weile kam Tara mit den Zimmerschlüsseln in der Hand zurück und teilte uns laut und deutlich mit: ,,Es gibt vier vierer Zimmer. Zwei für die Jungs und zwei für die Mädchen. Merkt euch jetzt bitte eure Zimmereinteilung. Ich werde sie nicht noch einmal wiederholen. Zimmer Nummer 111 wird bezogen von Toni, Danny, Leslie und Timo. Nummer 113 bekommen Josh, Felix, Manuel und Karl. Auf Zimmer Nummer 114 gehen Sarah, Kathleen, Yasmin und Ria. Paula, Aimee, Linda und Nina wohnen in Zimmer Nummer 110. Falls ihr mich braucht ich bin in Zimmer Nummer 102 oder hier im Eingangsbereich zu finden. Wir treffen uns alle in einer Stunde wieder hier, nachdem ihr eure Koffer ausgepackt habt. Bitte beachtet noch, dass wir am Ende das ordentlichste Zimmer belohnen werden. Also gebt euch Mühe. Macht nichts kaputt, oder ihr müsst es selbst ersetzen.“ Während sie dieses sagte, guckte sie nur die Jungs an, die gar nicht richtig zuhörten. Zum Schluss fügte sie noch hinzu: „Zuerst gucken wir uns gleich erst mal die Umgebung an. Noch irgendwelche wichtigen Fragen?“
Alle schüttelten gleichzeitig die Köpfe und stürmten zum Fahrstuhl. Gemeinsam quetschten wir uns alle 16 in den großen Fahrstuhl, der zum Glück 1000 Kilogramm tragen konnte, fuhren in den ersten Stock und suchten unsere riesigen Zimmer auf.
Als ich die Tür zu unserem Appartement öffnete, blieb mir der Mund offen stehen. Es war einfach fantastisch. Die Wände waren Puderrosa gestrichen und der große Teppich in der Mitte des Raumes hatte einen leichten Beigestich. An den Wänden standen federweiße Betten und auf dem Teppich befand sich ein niedriger Kaffeetisch. Drumherum waren vier graue Hocker. Direkt neben der Einganstür sahen wir noch eine etwas kleinere Tür, welche zu dem Badezimmer führte. Eine schneeweiße Badewanne nahm die Hälfte des Raumes ein. Nina war die erste von uns, die die Besinnung wieder fand. Mit langen Schritten betrat sie den Raum. Langsam gingen wir drei ihr nach. Linda marschierte direkt zu dem großen Fenster, dass sich an der Wand gegenüber der Tür befand.
,,Boah, hier hat man eine mega große Aussicht“, staunte sie. Man konnte den ganzen Garten sehen mit seinen vielen Heckenskulpturen und dahinter noch die hoch aufragenden Gebäude der Stadt.
Ich schmunzelte: ,,Über die kannst du dich heute Abend noch freuen, jetzt müssen wir erstmal schleunigst unsere Koffer auspacken und unsere Schlafanzüge auf den Betten bereitlegen. Wir wollen doch nicht, dass wir heute Abend so müde sind, dass wir es nicht mehr schaffen sie rauszuholen und uns umzuziehen. “
Paula erkannte die Andeutung und sprang gleich auf das Doppelbett unter dem Fenster. Alle mussten sich über ihren stürmischen Angriff kaputt lachen. Immer noch grinsend legte ich meine Schlafsachen zu Paulas Pyjama auf die rechte Hälfte. Dann holte ich etwas aus meiner Tasche heraus. Ich wusste dass es sehr kindisch war, aber ich hatte Goldi immer dabei, sonst konnte ich nicht gut schlafen. Also setzte ich meine weiche Plüschgiraffe auf meine Sanddornfarbene Tagesdecke. Ich hoffte, dass Nina mich nicht auslachen würde und das tat zum Glück auch sie auch nicht. Stattdessen griff sie in ihren gelben Rucksack und zog eine kleine, graue Maus mit großen Ohren heraus. Ich musste lächeln.
Linda und Nina hatten anscheinend überhaupt kein Problem damit, sich ein Doppelbett teilen zu müssen. Ich hatte gedacht, eine der beiden würde sich vielleicht beschweren, aber so war es ja nicht.
Nachdem wir fertig waren, räumten wir noch schnell unsere Kleidung in den großen, dunkelbraunen Eichenholzschrank, unsere Kulturtaschen auf das Waschbecken in dem Badezimmer und fuhren aufgeregt mit dem Fahrstuhl wieder nach unten in die Eingangshalle.
Alle anderen waren schon dort und warteten nur auf uns.
Toni gesellte sich gleich zu uns. Er fing sofort an über seine ungewünschten Zimmergenossen zu lästern: ,,Die haben einen Pupswettbewerb veranstaltet. Man kann mein Zimmer nicht mehr ohne Gasmaske betreten.“
Mehr konnte mein bester Freund nicht sagen, da er von unserem schallenden Lachen unterbrochen wurde.
,,Das ist nicht lustig!“, beschwerte er sich, aber wir konnten uns nicht wieder einkriegen. Erst als unsere Lieblingstrainerin anfing mit lauter Stimme zu sprechen, beruhigten wir uns langsam wieder:
,,Schließt euch bitte in Stadtgruppen zusammen. Ihr müsst mindestens zu dritt sein. Wir gehen erst gemeinsam in die Stadt und teilen uns dann dort auf.“
Ich gründete natürlich mit Toni, Paula und Linda eine Gruppe, und nachdem die anderen sich auch endlich zusammengefunden hatten, konnte es sofort losgehen. Wir mussten ungefähr 800 Meter laufen, bis ich die ersten Geschäfte erblickte. Die Stadt schien nicht besonders groß zu sein. Als wir an dem ersten Geschäft ankamen, gingen die einzelnen Gruppen ihre eigenen Wege.
Meine eigene Gruppe schlenderte durch die Stadt, dabei schauten wir uns die wunderschöne Schaufensterdekoration der verschiedenen Läden an.
Doch Linda guckte sich immer wieder beunruhigt nach hinten um. „Fühlt ihr euch auch irgendwie beobachtet?“, fragte sie unsicher.
Paula erwiderte irritiert: „Nö, ich merke nichts.“
„Hmm.. Dann habe ich mir das wohl nur eingebildet“, murmelte Linda so leise vor sich hin, dass nur ich sie hören konnte. Damit war das Thema für diesen Moment abgeschlossen. Hätten wir doch nur auf Lindas Gefühl gehört. Dann wäre sie jetzt noch...
Bei einem Modeschmuckladen machten wir kurz halt, um hinein zu gehen. Kurz nachdem meine drei Freunde und ich den Laden betreten hatten, verfielen wir Mädchen gleich in den Kaufrausch.
Linda fand eine hübsche Kette mit einem kleinen, roten Herzchen als Anhänger, Paula kaufte sich orange Blumenohrringe, die immer klimperten, wenn sie den Kopf bewegte, und ich holte mir ein roséfarbenes Kunstlederarmband mit einem silbernen Glöckchen. Zufrieden mit den neu erwobenen Schmuckstücken bummelten wir weiter.
Nach einiger Zeit hatten wir alle interessanten Geschäfte abgeklappert und wir sahen uns die alten Lagerhallen und Fabriken in der näheren Umgebung etwas näher an. Wir hielten direkt auf eine besonders zerbrechlich aussehende zwei Stockwerke hohe Halle zu.
Toni erreichte als Erster eine Tür, neben der ein angerostetes Schild mit der Aufschrift: „Einsturzgefahr! Betreten verboten!“ stand.
Ich wusste nicht, warum ich unbedingt hinein wollte, aber ich spürte diesen unwiderstehlichen Drang in mir, zu sehen, was sich hinter der Tür verbarg. Ich schaute Paula in die Augen und sah, dass sie genauso neugierig war wie ich in dem Moment.
Gemeinsam versuchten wir beide, die schwere Stahltür zu öffnen. Und tatsächlich, nachdem meine Zwillingsschwester und ich mit aller Kraft, die wir aufbringen konnten, an ihr gezogen hatten, sprang sie endlich mit einem quietschenden Ton auf.
Uns stockte der Atem.
Vor uns lag nur Finsternis.


3



Ein furchteinflößendes Rascheln ertönte ein paar Meter vor uns und wir schraken zusammen. Ich spürte, wir mir der kalte Angstschweiß auf die Stirn trat. Ich wollte einfach nur noch wegrennen. Meine ganze Entschlossenheit von vorhin war einfach so verschwunden. Ich war kurz davor mich abzuwenden, als plötzlich ein riesiger Schwarm Langohr Fledermäuse auf uns zu flog und direkt über unsere Köpfe rauschte.
Vom Schreck getrieben machten wir einen Satz rückwärts. Die Tiere verschwanden in der Ferne hinter den Häusern.
Nun war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich die Fabrik betreten wollte. Ein leichter Hauch von Angst überkam mich. Jedoch wollte ich auch nicht mehr meine Meinung ändern.
„Oh mein Gott hab ich mich erschreckt. Wollen wir da wirklich rein? Ist das nicht etwas zu gruselig?“, keuchte Toni verängstigt und machte dabei ein angstverzehrtes Gesicht.
Ich ergriff seine zitternde Hand und erwiderte mit sicherer Stimme: ,,Lass uns da rein gehen und schauen was dort zu finden ist. Wir bleiben doch bei dir. Hab keine Angst.“ Ich wunderte mich, dass ich meine eigene Angst so gut aus meiner Stimme ausschließen konnte. Auch Paula und Linda nickten ihm ermutigend zu.
Bevor wir die Fabrik betraten, lächelte ich Toni an und drückte seine Hand noch einmal fest, um ihn (oder auch mich) zu bestärken.
Etwas sicherer als vorher lächelte er mir zurück, ließ jedoch seine zitternden Finger nicht aus meiner Hand gleiten und auch den angstvollen Ausdruck konnte er nicht aus seinen geweiteten Augen verbannen.
Paula wagte sich zuerst über die Schwelle der Tür. Die anderen folgten ihr langsam. Nur ich zögerte und blickte über meine Schulter zurück, weil ich doch einen Blick auf mir ruhen spürte, aber dort war niemand. Hatte Linda vielleicht doch recht gehabt? Oder täuschte ich mich auch? Beobachtete uns etwa jemand? Wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Nachdem ich mich noch einmal umgedreht hatte, um zu sehen ob da wirklich keiner war, ging ich den Anderen unbekümmert nach.
Hätte ich doch nur meinem Bauchgefühl vertraut, dann wäre das alles niemals passiert. Ich ahnte doch, dass wir nicht alleine waren. Warum war mir nur zu dem Zeitpunkt nicht klar geworden, dass etwas nicht stimmte? Ich hätte es verhindern können. Dann wäre jetzt immer noch alles so wie damals. Aber ich ignorierte meine Gefühle.
Plötzlich erhellte ein heller Lichtstrahl den Raum und ein Schreckenslaut entfuhr Linda. ,,Alles in Ordnung. Das ist nur der Taschenlampenmodus meines Handys“, erklärte Paula uns mit angespannter Stimme und deutete auf ihr Smartphone.
Der Lichtstrahl wanderte an den angerosteten Wänden entlang. Erschreckende Schatten wurden von den kaputten Maschinen zurück geworfen, die überall im Raum herumstanden. Wir vier sahen uns vorsichtig in der Halle um. Anscheinend wurden hier früher mal etwas hergestellt.
„Ich glaube das war eine illegale Waffenfabrik“, sagte Toni.
Ich spürte, dass seine Angst etwas geschwunden war - hiermit kannte er sich aus. Er schaute sich alles genau an und murmelte leise vor sich hin:
„Koppelschlosspistolen, Schnellfeuerpistolen, Maschinengewehre, ...“
„Ahh!!“, schrie Linda plötzlich. Sie fiel der Länge nach in den Dreck. „Aua! Ich bin auf diesen komischen Dingern da ausgerutscht“, meckerte sie entrüstet.
„Das sind Patronenhülsen“, meinte Toni fachkundig und nahm die rotbraun gerosteten Metallstücke in seine freie Hand. Paula half Linda wieder auf die Beine und schon ging die aufregende Erkundungstour weiter.
„Ich gehe mal hier lang. Kommst du mit mir Toni?“, fragte Linda ihn, und zeigte auf eine eingefallene Tür.
Nur zögernd löste sich seine Hand von meiner. Ich spürte, dass er Angst hatte, die Gruppe zu trennen. Doch er sagte nichts, weil er nicht als Feigling dastehen wollte. Paula drückte ihm ihr Smartphone in die von Angstschweiß überzogene Hand.
„Wir gehen nach oben. Da ist der Lichteinfall höher“, erklärte Paula den beiden auf Lindas fragendem Blick hin. Toni und Linda gingen durch die eingefallene Tür und folgten dann einer steilen Treppe in den einstigen Keller der stillgelegten Fabrik. Danach verschwanden sie aus meinem Blickfeld.
„Wollen wir mal die Treppe dort hoch gehen?“, fragte Paula und deutete dabei auf eine alles andere als sicher aussehende Stahltreppe, bei der schon einige Stufen fehlten.
Mittlerweile konnten wir die Umrisse der Gegenstände erkennen, weil gelbliches Licht durch die verblichenen Fenster in die Halle fiel. Natürlich waren wir aufgeregt, als wir den Aufstieg wagten, doch richtige Angst hatten wir nicht.
Die Treppe knartschte bei jedem Schritt, obwohl wir so vorsichtig wie möglich gingen. Eine Tür bahnte sich am Ende der Treppe vor uns auf. Als wir hindurchgingen, standen wir in einem Flur mit hoher Decke. An den Wänden fledderte die Tapete und es hangen alte Portraits von ungewöhnlich intelligent aussehenden Männern herum. Wir gingen durch eine klapprige Tür. In dem Raum dahinter war eine Theke, viele Stühle, Stehtische und ein alter Getränkeautomat. Alles sah aus wie in einer verlassenen Cafeteria, es lagen noch Scherben auf dem Fußboden und ein Geruch nach vergammeltem Essen und verwesten Tieren lag in der Luft.
„Anscheinend musste jemand die Fabrik fluchtartig verlassen, wenn er nicht mal das Essen mitgenommen hat“, erwähnte Paula angewidert und hielt sich die Nase zu.
Wir durchquerten flink den Raum, um auf die andere Seite zu zwei großen Fenstern zu gelangen. Paula erreichte sie gefühlte fünf Sekunden früher als ich. Als ich sie ansah fiel mir auf, dass sie auf einmal totenblass wurde. Voller Verzweifelung krächzte sie meinen Namen und zeigte mit ihrem rechten Zeigefinger aus dem Fenster hinaus.
Ich folgte der Richtung in die sie zeigte mit meinem erwartungsvollem Blick und erstarrte.
Literweise Wasser quoll aus den zerbrochenen Kellerfenstern. Der ganze Hinterhof war überschwemmt.
Paula stürmte in Richtung Tür. Ich erhaschte noch einen letzten Blick aus dem
Fenster und verharrte einige Sekunden. Ich registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Ich suchte den Hof nach Personen ab, doch da war niemand, ich hatte mich wohl getäuscht.
Schnell rannte ich Paula hinterher und holte sie an dem Anfang der Treppe ein. Wir vernahmen das leise Rauschen und Plätschern von Wasser und hilfesuchende Schreie - Schreie von Toni. Ich spürte, dass mir übel wurde und hielt mich an dem Treppengeländer fest. Ich versuchte mich zu konzentrieren, um die schrecklichen Schreie nicht hören zu müssen. Ich hatte Angst -Angst um Linda und Toni.
Ich wandte mich meiner Schwester zu. Ihre sonst so entspannten Gesichtszüge waren vor Angst verzerrt. Ich glaube sie fragte sich in diesem Moment genau dasselbe wie ich: Was war nur da unten los? Was war nur mit meinen beiden besten Freunden geschehen?


4

Ich eilte die klapprigen Stufen, die ich eben so vorsichtig wie möglich hochgestiegen bin, schnell hinunter und zog die vor Furcht gelähmte Paula hastig hinter mir her. Die Schreie von Toni wurden immer lauter. Es war unerträglich, ihn so leiden zu hören.
Ich bekam noch mehr Panik, da mir in diesem Moment klar wurde, dass von Linda nichts zu hören war, überhaupt nichts.
Für einen Moment hielt ich inne, um zu lauschen ob da nicht doch ein kläglicher Ruf von ihr zu hören wäre, aber nein. Da war nichts. Kein Ruf- kein Laut.
Als dann auch die Hilfeschreie von Toni leiser wurden, beeilten wir uns noch mehr um ihm helfen zu können. Ich hörte ihn husten und danach war nichts mehr zu hören.
Paula und ich hasteten im Dunkeln die Stufen zum Keller hinab.
Paula rutschte auf den glitschigen Treppenstufen aus und währe beinahe gestürzt, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte.
Am Absatz der Treppe blieben wir stehen. Unsere Füße waren bis zum Hosenansatz mit Wasser bedeckt und es stieg immer weiter. Doch von Linda und Toni war keine Spur.
Paula rief in die Dunkelheit: ,,Liiindaaa, Toooniiii, wo seid ihr?“ Eine unheimlich Stille folgte. Erst nach einiger Zeit ertönte ein jämmerlicher Laut aus der Finsternis. So etwas ähnliches wie ein Stöhnen.
Es gab nur noch eine Möglichkeit unsere Freunde zu retten, und die nutzen wir. Paula und ich stürzten uns in die immer weiter steigenden Wassermassen, die wie ein Wasserfall an den Wänden herunter glitten. Wir schwammen in die Richtung, aus der uns geantwortet wurde.
Plötzlich schrie Paula auf und zeigte auf den lebloserscheinenden Körper, der vor ihr im Wasser trieb.
Wir ergriffen den Arm der Person und zogen sie behutsam aus den Fluten heraus, um ihr nicht noch mehr weh zu tun. Schnell beförderten wir den Verletzten raus aus der verfluchten Fabrik.
Im hellen Licht der mittags Sonne erkannten wir ihn- es war Toni. Ich war schockiert. Eine große Wunde klaffte auf seiner Stirn. Sein Gesicht war blutüberströmt. Ich fiel schluchzend neben ihm auf die Knie.
Haben wir ihn schon verloren? Nein, ein leises Röcheln war zu hören. Ich beugte mich über seinen Kopf und rüttelte an seinen Schultern.
,,Toni, Toni“, rief ich verzweifelt. Meine Hand lag flach auf seinem Bauch und ich spürte seine leichten Atembewegungen. Meine erstarrte Haltung entspannte sich- er lebte.
„Ich gehe rein und suche Linda. Ich halte es nicht aus hier nur rum zu stehen und nichts zu machen! Bring Toni zurück ins Hotel und ruf den Notarzt, er braucht dringend Hilfe“, meinte Paula, die die ganze Zeit daneben gestanden hat und nun erleichtert bemerkte, dass Toni noch lebte.
Sie rannte schleunigst zurück zur Treppe. Ich nahm meinen besten Freund über meine Schultern und rannte vorsichtig los.
War es meine Schuld, dass er sich verletzt hat? Ich hätte ihn nicht ermutigen dürfen in die Fabrik zu gehen. Ich hätte Tonis Hand nie loslassen dürfen, ihn niemals gehen lassen dürfen.
Nach geschätzten fünfhundert Metern kam Paula mir hinterher gerannt. Mir fiel auf, dass sie bitterlich weinte und sie war am ganzen Körper nass.
„Das Wasser, es steht... zu hoch. Der Keller ist über...überschwemmt“, schluchzte meine Zwillingsschwester undeutlich. „Ich habe nach ihr getaucht, aber ich konnte sie nicht finden...“ Sie schluchzte so viel, dass ich sie fast nicht mehr verstehen konnte.
Mein Blick verfinsterte sich. Ich hatte die schrecklichsten Gedanken. Würde ich meine beste Freundin verlieren? Das könnte ich nicht ertragen.
Ich biss mir auf die Lippe, um die Beherrschung zu behalten. Wir mussten uns jetzt darauf konzentrieren Toni zu retten, auch wenn Linda wahrscheinlich gestorben ist. Gerade deshalb.
Das Hotel lag nur noch wenige Meter vor uns und ich rannte so schnell wie ich nur konnte auf den Eingang zu. Die automatische Glastür öffnete sich, als ich hindurch lief.
Ich sah mich Hilfe suchend um und legte Toni schließlich auf ein großes Sofa im Eingangsbereich, während Paula zur Rezeption eilte und den Notruf betätigte.
Eine Frau vom Hotelpersonal kam mit zwei Decken und Handtüchern, um erste Hilfe zu leisten. Sie wickelte Toni in die Decken ein, um zu verhindern, dass er unterkühlt und drückte die Handtücher auf seine Verletzung, um die Blutung zu stillen. Sie guckte mich fragend an, doch ich war außerstande ihr eine Erklärung zu geben. Ich sah Toni an und konnte vor Schreck nicht mehr sprechen.




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Tag der Veröffentlichung: 02.10.2011

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